Helge Schneider und die Weiterentwicklung der Realitätstheorie
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Helge Schneider und die Weiterentwicklung der Realitätstheorie
Der folgende Beitrag gibt im Wesentlichen den Text meines Helge-Schneider-Artikels wieder, der in der Internet-Zeitschrift F. L. O. B. (Frei literarisch orientierte Beiträge) im Juni 2006 erschienen ist. An zwei Stellen habe ich geringfügige Modifikationen eingebracht, eine weitere Fußnote eingebracht und das Literaturverzeichnis um einen Titel erweitert. Bitte besuchen Sie unbedingt die Internet-Zeitschrift F. L.O. B. Sie müssen nicht erst lange im Stadtplan suchen oder einen Navigator befragen. Klicken Sie einfach HIER Helge Schneider und die Weiterentwicklung der Realitätstheorie oder Das Märchen von Händel und Gretel Die Welt wird zum Globus, in dem mittendrin eine 15-Watt-Birne für Aufhellung sorgt.1 Studenten haben mir zum Abschied von meiner Universitätstätigkeit ein ganz besonderes Geschenk überreicht: Eintrittskarten für die beiden Gewandhaus-Auftritte von Helge Schneider.2 Selbstverständlich wollte ich mich auf die Konzerte sorgfältig vorbereiten und nahm deshalb den „Wörner“3 zur Hand. Aber dort fand ich nichts über den Musiker. So habe ich wenigstens zweieinhalb Mal das Supermaus-Thema chromatisch auf- und abwärts gesungen und mir nebenbei ein Käsebrot geschmiert, mit einem Bitter-Messer aus Suhlingen, und mit Käse. Dann bin ich losgezogen, ohne Navigator, denn das Gewandhaus ist leicht zu finden. Die Atmosphäre wirkte schon nach wenigen Augenblicken als eine ganz besondere auf mich. Ich stellte Überlegungen zum Publikum an, blickte mich neugierig um und bemerkte: Viele Jüngere saßen in den Stuhlreihen, aber auch Ältere, darunter Kinder und andere Junggebliebene. Niemand brauchte Sorge zu haben, irgendetwas „falsch“ zu machen, beispielsweise in einem als unschicklich geltenden Moment zu klatschen, zu lachen oder zu 1 Helge Schneider: Globus Dei. Vom Nordpol bis Patagonien. Ein Expeditionsroman. Köln 2005, S. 124f. Für Chronologen und Chroniker: Die Konzerte fanden am 28. Februar und am 1. März 2007 im Großen Saal des Neuen Gewandhauses statt. 3 Karl H. Wörner: Geschichte der Musik. Ein Studien- und Nachschlagebuch. Göttingen 8/1993 2 weinen. Kommunikation funktioniert bei Helge Schneider nicht in alterehrwürdigen Konventionen, sondern als unverkrampfte Lebensäußerung. … Lernen, lernen, lernen, popernen … Markus Oswald beschreibt Helge Schneider als „Realist“, „Radikal-Existenzialist“ und einen „der genialsten Köpfe aller Epochen“.4 Seine Pointen haben es in sich. Manchem erschließen sie sich erst an der roten Ampel beim Nachdenken über Mensuralnotation, beim Blick in den WG-Kühlschrank am letzten Mittwoch im Monat oder wenn bei Sabine Christiansen mal wieder keiner den anderen ausreden lässt. Ein sensibler Kenner hat einmal geäußert, Helge Schneiders Humor fresse Löcher in die Schädeldecke.5 Dieser Erkenntnis kann ich aus eigener Erfahrung nur zustimmen. Seit ich mir abends eine Gute-Nacht-Geschichte von ihm vorlese, ist nichts mehr wie zuvor: Ich stelle mir das Leben seitdem mit einem viel tieferen Blick auf der Zunge vor und suche das Glück nicht mehr in den Gewissheiten. Alltägliches wird mir wieder bewusster. Denn Helge Schneider besingt kleine und große Begebenheiten, die auch ich kenne: den Hering zum Beispiel und das Käsebrot, die Pubertät und das Arbeitsamt, Klaus-Erwin und das Huhn. Der Künstler nimmt seinen Bildungsauftrag ernst. Angesichts von PISA und einer von Kurzsichtigkeit zu Kurzsichtigkeit stolpernden Politbürokratie kann sein Rätsel-Lied nur schließen: Lernen, lernen, lernen, popernen. Und zwar außerhalb von Normen, mit Mut zu Widerständen und unerwarteten Ergebnissen. Entsprechend lassen sich seine Texte, Lieder und Filme selten vorausbestimmen. Meist entwickeln sie sich als Prozess über viereinhalb Ecken. Der Anspruch, den Helge Schneider an sich stellt, ist hoch und hat nichts gemein mit austauschbarer Comedy-Massenware: „Wenn alle lachen, ist es gut, aber wenn wenige lachen, heißt es immer noch nicht, dass es besser wäre wenn alle lachen.“ – „Andere zum Lachen bringen, sollte man nur mit den eigenen Schwächen. Mit schlechtem Charakter bringt man niemanden zum Lachen. Deswegen sind Judenwitze nicht lustig.“ – „Man sollte den Leuten immer was bieten, aber nicht das, was sie erwarten.“6 Erwartungshaltungen zu durchkreuzen, versteht er virtuos. Auch in Interviews, etwa zum Film Texas: Mit Pelzmütze bekleidet sitzt er neben seiner Modelleisenbahnanlage, auf der ein Zug geduldig seinen Lebenskreis abfährt, und beantwortet Fragen von üblichem Zuschnitt. Doch bald bemerkt er, dass etwas nicht in Ordnung ist und bricht ab. Vieles ist nicht in 4 http://www.moviemaze.de/forum/about3715.html, Datum der Einsicht: 9.5.2007 http://www.jamba.de/jcw/goto/music/artist/artistid-5266, Datum der Einsicht: 7.5.2007 6 Neon, Januar 2007, http://www.neon.de/kat/wissen/alltag/172203.html, Datum der Einsicht: 9.5.2007 5 Ordnung auf der Welt: Kriege, Mord im Namen von Religionen, menschliche Kälte, Existenzängste, Einsamkeit. Über viele Unzulänglichkeiten singt Helge Schneider bittere Satiren: über Seniorenheime, in denen viele Menschen vereinsamt auf den Tod warten, über Menschen, die enttäuscht vom Leben tagtäglich am Kiosk warten, oder über hungernde Kinder (Der Meisenmann). Beethoven: fast wie ein Märchen Helge Schneider stelle ich mir als spannenden Gegenstand für Wissenschaftler unterschiedlichster Fachdisziplinen vor: für Kultursoziologen, Psychologen, Ornithologen, Existenzphilosophen, Universitionskundler, Entomologen, Inner-space- und Outer-SpaceForscher, Projektanten, Sozialhygieniker, Ethologen, Historiker, Sport- und Musikwissenschaftler und – nicht zu vergessen – Philosophen. Jörg Seidel hat Schneiders Beziehung zur Philosophie ein ganzes Buch gewidmet. Es ist ein gutes Buch, denn es betrifft unakademische Pfade. Der Titel „Guten Tach!“ knüpft an Helge Schneider an: „Alle rennen aneinander vorbei! Keiner sagt heute gerne: ‚Guten Tach!’“ Aber: „Wenn man nur einmal jemandem Guten Tag sagt, wird das Leben schön.“7 . Seine Gedankengänge dürften vielfältige Brückenschläge anregen, den Blickwinkel für die Zusammenhänge von Kunst und Leben öffnen und frischen Wind in intellektuelle Elfenbeintürme wehen. Fragen werden überwiegen. Das ist gut so. Viel zu schnell versuchen wir, Antworten zu geben. Auf diese muss man sich jedoch ernsthaft vorbereiten wie auf alle Dinge des Lebens. Man muss sich zurücklehnen, die Augen schließen, ein Glas Rotwein trinken (oder auch zwei) und sich dabei vorstellen, man übt den dritten Takt aus Bachs vierter zweistimmiger Invention: die untere Stimme auf einem pythagoräisch gestimmten Schlagwerk aus der Bongolei, die obere Stimme auf der Trompete aus Mexiko oder auf einem Piano, das in Es gestimmt ist. Man sollte sich überhaupt viel öfter nur vorstellen, man übt, als es wirklich tun. Die meisten üben nämlich viel zu lange, und es kommt nichts heraus dabei. Die Konzentration fehlt. Die Lust sowieso. „Man kann auch im Kopf üben“, hat Helge Schneider von Dizzy Gillespie gelernt: „Ich träume vom Klavierspielen, im Schlaf zucken meine Finger. Irgendwann kommt das im Nervensystem an. 7 Jörg Seidel: „Guten Tach!“. Helge Schneider und die Philosophie. Giessen 2002/2005. Jörg Seidel nähert sich in seiner anregenden Studie Helge Schneiders Werk „aus anthropologischer Sicht“ an. Dabei kommt „der Kynismus und seine späteren Spielformen, der Stoizismus, die Bohemebewegung, der Dandy und der Flaneur, schließlich der Zynismus ins Blickfeld“. Vgl ebenda, S. 152. Dann können die Nerven Klavier spielen.“8 Zum Beispiel die Seite 249 von Beethovens Mondscheinsonate. Helge Schneider spielt immer nur die Seite 249 aus diesem Werk. Dies ermöglicht völlig neue Erfahrungen. Wie verblüffend wirkt es, wenn eine Komposition mitten im Stück beginnt und an der spannendsten Stelle abbricht, weil die Seite endet. Einerseits ist diese Situation viel realitätsnäher. Wann kann im wirklichen, nackten Leben schon mal ein Gedanke zu Ende verfolgt werden, ehe der nächste Termin drängt oder das Telefon schellt? Andererseits beflügelt dieses Interpretationsmodell die Phantasie. Es wird einem kein Ziel vorgeschrieben, sondern ein Weg angeboten. Der Hörer fragt sich, wie der Bursche das Stück wohl weiterkombiniert hat und macht sich selbst ans Werk. Vielleicht stellt er à la Bobby McFerrin ein gesungenes Prélude voran oder unternimmt einen Abstecher zu Duke Ellington. Auch die Musik einer Schokoriegelwerbung bietet sich als Fortsetzung an oder ein Boogie-Woogie, mit Mickey Mouse als vitale Soprette, „die verspätet zum Benefiz eintrifft“9. Schneider selbst bietet verschiedene Möglichkeiten an und gewinnt bereits dem Beethovenschen Torso neue Seiten ab. Denn er spielt langsam. Wie die Pianistin und Wissenschaftlerin Grete Wehmeyer10 misstraut er den guinessbuchverdächtigen Tempi vieler Interpreten. Stattdessen vertieft er sich, gemächlich voranschreitend, lieber in Details. Dabei kommt er Beethoven auch mimisch-gestisch nahe. Dies ist kein Wunder, hat sich Schneider doch wiederholt in Vorträgen intensiv mit dem Meister auseinander gesetzt. Er versteht, an E. T. A. Hoffmann anknüpfend, Beethoven als Romantiker, dem sich viele Frauen zu Füßen warfen und dessen Leben fast wie im Märchen verlief: „Beethoven […] verbrachte sein Leben in einem gläsernen Sarg. Eines Tages stach er sich mit einer Spindel in den Finger, ein Blutstropfen tropfte auf seinen Tanzschuh, den er auf der großen Freitreppe liegen ließ. Das Mädchen, das bei Beethoven zu Hause die Asche puttelte, fand den Schuh, küsste den Schuh, und Beethoven wurde so groß wie ein Daumen. Er nannte sich Däumling. Mit einer Gans unter dem Arm kam er eines Tages nach Hause. So tauschte er die Gans gegen einen Klumpen Gold. Fast wie ein Märchen sein Leben.“11 In diesem Zusammenhang ist wohl auch Beethovens enge Freundschaft zu Händel – den Bruder von Gretel – zu sehen. 8 Neon, Januar 2007, S. 154: An dieser Stelle wäre auch Joseph Beuys zu zitieren: „Schon als Kind wusste ich, je weniger ich übe, umso besser werden die Töne.“ Zit. nach: Mario Kramer: Klang & Skulptur. Der musikalische Aspekt im Werk von Joseph Beuys. Darmstadt 1995, S. 11 9 Vgl. Jailhouse Rock, auf: I Brake Together, EMI 0946 3 84194 2 6 10 Grete Wehmeyer: prestißißimo. Die Wiederentdeckung der Langsamkeit in der Musik. Reinbek bei Hamburg 1992 11 Aufgeschrieben nach CD Hefte raus – Klassenarbeit, 548 094-2. Außerdem geht Schneider davon aus, dass Beethovens Tod 1827 auf einem Versicherungsbetrug beruht. Vor diesem Hintergrund wäre überhaupt einmal die Identität des Meisters zu prüfen. Wenigstens erwogen werden sollte, ob es sich bei Beethoven nicht sogar um ein Pseudonym handelt, zum Beispiel für die Installateurin Helga Maria Schneider, die Anfang des 19. Alles hat einen Anfang … … auch im Leben. Helge Schneider wurde geboren. Am 30. August 1955 erblickte er das Licht der Welt und seine drei Jahre ältere Schwester. Sie ist es noch heute: drei Jahre älter als er. Im Alter von vier entstand Schneiders erste Komposition – Texas. Ihre Wurzeln sind aber schon wesentlich früher zu sehen, beim Liegen in der Tragetasche. Eines Tages musste Helge Schneider auf das Bügelbrett, denn er hatte Windpocken. Etwas später kam er zu einer Klavierlehrerin und zu seinem ersten Auftritt: im Omacafé bei Cramer und Meerbusch in Essen. Schnell durchschaute er den ganzen Schwindel. Beim nächsten Vorspiel war er lediglich anwesend. Er weigerte sich, zu spielen. „Ich will nicht funktionieren, ich will kreativ sein“, kommentiert er in seiner Autobiografie. „Die Kreativität eines Menschen kann sich durchaus manchmal dergestalt vollführen, daß man überhaupt nichts macht, gar nichts.“12 Dann hörte er in seinem kleinen Batterieradio Jazz. Diese Ausdruckswelt, die von der Unmittelbarkeit des Augenblicks lebt, ließ ihn nicht wieder los. Ihn faszinierten Miles Davis, Louis Armstrong, Dave Brubeck, Archie Shepp, Thelonious Monk und vor allem der blinde Roland Kirk aus Columbus, Ohio, der mehrere Instrumente gleichzeitig spielte, eine komödiantische Begabung besaß und in seinen Shows Geschichten erzählte. Die 1987 aufgenommene Scheibe The last Jazz wurde eine zwangsläufige Folge. „Welcher jazzversessene Kneipengänger aus Essen und Umgebung wäre nicht schon livehaftig dabei gewesen“, fragt Berthold Klostermann im CD-Booklet, „wenn Helge auf zahllosen Sessions die alten Standards jammte. Da war er nicht ‚Johnny Flash’ oder die ‚singende Herrentorte aus dem Ruhrgebiet’, nicht der Clown mit dem Witz zum Auaschreien, sondern er spielte ganz einfach Jazz. Und zwar mit echten, ausgewiesenen Jazzmusikern. Nur mit dem typisch Helgeschen Unterschied, daß er mal auf dem Pianoschemel, mal auf dem Schlagzeughocker, mal an Tenorsaxophon oder Trompete und dann wieder am Kontrabaß zu finden war. Und niemand wußte so ganz genau, welches denn nun Helges eigentliches Instrument war. Mit The Last Jazz sei diese Frage endlich beantwortet: Helge Schneider ist eine komplette Jazzband.“13 Und er ist noch viel mehr: Bei Auftritten liegt ein riesiges Arsenal an Instrumenten jeder Art parat, für Musik jeder Art. Schneider bedient sie alle: unbeschreibbar leicht und mit Witz. Jahrhunderts ein Patent für Kirchenheizungen erworben hat (daher der Name „Bet-Ofen“, später irrtümlich zu „Beethoven“ abgewandelt). Wenn dieser Verdacht sich bestätigt, müsste neu geklärt werden, von wem die Werke stammen, die heute in den Konzertsälen der Welt unter „Beethoven“ firmieren, darunter seine drei Sinfonien: die Dritte, die Fünfte und die Neunte. 12 Helge Schneider: Guten Tach. Auf Wiedersehn. Autobiographie, Teil 1, Köln 21/2004, S. 14f. 13 Berthold Klostermann in: Booklet zu: Helge Schneider: The Last Jazz, KD 12 33 10 In das Korsett von institutionalisierter Ausbildung passte er dabei allerdings nicht. Als er Cello lernen wollte, lehnte ihn die Jugendmusikschule ab, „weil ich unmusikalisch wäre und zu dünne Finger hätte“.14 Er kam zu einem Privatlehrer, der ihn unterrichtete, bis er so spielen wollte wie Jimi Hendrix. Das war zu viel. Schneider sollte sich nie wieder bei ihm blicken lassen. Das Cello warf er deswegen nicht weg. Er benutzte es bei seinem ersten Bandauftritt als Sologitarre. Existentialistische Katharsis Bereits als Zweijähriger entwickelte Helge Schneider ein geradezu philosophisches Verhältnis zu Vögeln. Damals träumte er, wie er zu Weihnachten als Krähe das Böse und Gute im Leben erkundet. Später widmete er sich auch den Meisen, Hühnern, Klappersträußen, Pinguinen und der Gazelle. Einige Vögel entwickelten sich sogar zu Leitfiguren in seinem Schaffen. Neben dem Schachtelhalm wurde vor allem der Rabe zum symbolträchtigen Medium zwischen Mensch und Tier, Erde und Universum, Musik und Kartoffeln. In einigen Werken gelangte er zu äußerster philosophischer Verdichtung, die selbst Marcel Prousts Suche nach der verlorenen Zeit übergipfelt: „Ein Rabe ging im Feld spazieren! Da fällt der Weizen um!“15 Fachleute und auch -menschen schlagen vor, „die Szene im Weizenfeld als Reflexion einer existentialistischen Katharsis zu interpretieren, auch auf eine mögliche Verbindung zum Tod Vincent van Goghs wurde hingewiesen“.16 Neuerdings bleibt zudem der wachsende Lärm in den Großstädten zu berücksichtigen, infolgedessen Vögel heute viel höher singen oder zu ungewöhnlicher Nachtzeit ihren Gesang anstimmen, damit sie überhaupt noch gehört werden. Mit der außergewöhnlichen ornithologischen Fundierung seines künstlerischen Schaffens befindet sich Schneider in großer Tradition. Beethoven beginnt seine fünfte Sinfonie mit dem genmanipulierten Ruf eines Kuckucks im Winter, und Olivier Messiaen, der Synästhet und Zeitkünstler, führt den gesamten musikalischen Kosmos auf den Vogelgesang zurück. Schneider geht noch einen Schritt weiter. In der Fluchtszene seines Huhnliedes führt er den Frosch ein. Den Frosch! Er heißt … – an dieser Stelle muss Helge Schneider improvisieren. Improvisierte Welten Die Spontaneität ist, auf allen Gebieten, Helge Schneiders vielleicht größtes Potential. Während ihm auf der Bühne jeder beim Denken zusehen kann, wird selbst der vermeintlich größte Un-Sinn zum philosophisch aufgeladenen Passagenwerk à la Benjamin. Oft 14 Autobiographie, S. 35 Helge ABC, http://www.helgeschneiderdvd.de/abc/abc.htm, Datum der Einsicht: 7.5.2007 16 Ebenda 15 improvisiert er gesamte Veranstaltungen. Dadurch ist es ihm möglich, wie kaum ein anderer unmittelbar auf sein Publikum zu reagieren. Nicht selten greift er Einwürfe auf, vermeintliche Flapsigkeiten, und bewegt sie durch ein gedankliches Labyrinth, um ganz woanders herauszukommen, zum Beispiel in Grönland, auf den Osterinseln, am Mississippi oder bei Ari ben Hulla Ibn Saud al Fatrhanmhuth17. So glaubt der Hörer, einen Musiktitel zu kennen und ist doch immer wieder verblüfft, welche neuen Wege er sich jedes Mal bahnt. Das fand ich auch bei den beiden Gewandhaus-Auftritten so eindrucksvoll. Zwar war die Abfolge der Lieder, bis auf das Käsebrot, gleich, dennoch hatte ich nicht das Gefühl, am zweiten Abend eine Wiederholung zu erleben. Ganz unterschiedlich verliefen die Geschichten, die Schneider zwischen den musikalischen Beiträgen erzählte. Und die Musiktitel selbst schienen zuvörderst als offenes Gefäß für immer wieder neue Ideen zu dienen. Diese lebendige Art der Aufführungspraxis erinnert mich an eine CD mit Musik aus Nubien (Nordsudan). Darauf ist u. a. das Lied eines Jungen aufgenommen, der auf einem Wasserschöpfwerk arbeitet. Um sich die Zeit bei der eintönigen Tätigkeit zu vertreiben, stimmt er einen Gesang an, meist über Liebe, Liebesschmerz, sein Leben. Ethnologen schreiben, sie hätten den Jungen gebeten, sein Lied im Haus zu wiederholen. Dabei stellten sie fest, dass nur noch der Anfang identisch war. Danach wurde der Text anderen Melodieabschnitten unterlegt. Der Junge improvisierte. Auf diese ursprüngliche Weise entsteht der größte Teil der Musik auf dem Globus Dei. Nur haben wir Mittel- und Westeuropäer die komponierte Musik zu lange überbewertet, die traditionelle Ausbildung in ein Korsett gezwängt und uns allzu oft einseitig gefragt, ob wir ein Stück „richtig“ oder „falsch“ interpretieren. Und Ideologen, Zensurensingen und nicht zuletzt die (Gott hilf!) Allesingen-und-klatschen-fröhlich-mit-Veranstaltungen, die Schneider in seiner Nummer Es klappert die Mühle – klippklapp, klippklapp, klippklapp – so herrlich parodiert, haben lebendigen Singtraditionen sehr geschadet. Schließlich: Sollte nicht jeder Musiker, egal welcher Richtung, sich mit Jazz beschäftigen? Dies würde ihn Lebendigkeit lehren. „Notenlesen ist auch gar nicht meine Sache […]. Ich bin Jazzmusiker, die brauchen keine Noten“, bekennt Helge Schneider und begründet damit zugleich, warum er nach einiger Zeit sein Klavierstudium in Duisburg abgebrochen hat.18 17 Helge Schneider: Globus Die. Köln 12/2006, S. 96. Offenbar handelt es sich, wie Schneider an dieser Stelle schreibt, um einen „Phantasienamen“. Wer sich dahinter verbirgt, ist ungewiss und auch aus den Indizien nicht zu erschließen. Nur scheint gesichert zu sein, dass er „aus dem Fernsehen“ bekannt ist, sich aber „verkleidet […] und sehr im Gesicht verändert“ hat, „wegen einer Party, wo eine Öllampe umgefallen war und die Flüssigkeit sich entzündet hat, nichts Schlimmes, aber sein Gesicht wäre jetzt nicht mehr das alte“. Beethoven kann es nicht gewesen sein, denn damals hatten die Menschen noch keinen Fernseher, wie Helge Schneider feststellen konnte. Vgl. Beethoven-Vortrag auf CD: Hefte raus – Klassenarbeit, 548 094-2 18 Autobiographie, S. 65 Etwas Vorgegebenes auszufüllen, war noch nie seine Sache gewesen, weder in der Musik noch im Leben. So verweigerte er beharrlich den „Dienst an der Waffe“, ließ sich auch durch Versprechungen, er könne bei der Bundeswehr ja in einer Kapelle spielen, nicht ködern. 1976 erhob er sogar Klage beim Kreiswehrersatzamt Duisburg.19 Auch nahm er lieber existentielle Durststrecken in Kauf, als sich musikalisch vom Mainstream einfangen zu lassen. Er spielte – wie im Film Jazzclub zu sehen – in leeren Sälen oder in der Ecke. (Auch im Gewandhaus hat er mal in der Ecke gespielt, um zu zeigen, wie das ist.) Ständige Geldnot war lange Zeit die Folge. Deshalb suchte sich Schneider den Lebensunterhalt mit anderen Tätigkeiten zu verdienen, und konnte daneben die Musik spielen, die er wollte. Er nahm eine Bauzeichnerlehre auf, stand am Fließband in einer Gabelstaplerfirma, zählte beim Amt für Statistik Vieh und arbeitete als Straßenreiniger. Straßenreiniger war sein „Traumjob“20. Lediglich im Zoo hielt er es keinen Tag aus. Auch lebte er geraume Zeit von 100 Mark pro Monat (für alles). Sein Hauptnahrungsmittel wurden: nein, nicht Käsebrote, sondern – Kartoffeln.21 Er lernte das Leben also von „unten“ kennen. Einführung von Irrsinn in die Logik Wer sich auf Filme Helge Schneiders einlässt, die auf den ersten Eindruck nur schwer verdaulich wirken, wird herzhaft lachen, aber ihm wird das Lachen, bei genauerem Hinsehen, an vielen Stellen im Halse stecken bleiben. Er wird nachdenklich, ja sehr still werden. Hinter vielen vermeintlichen Absurditäten verbergen sich unbestechliche Sozialporträts. So endet der Arzt Dr. Angelika Hasenbein, der in der Stadt Karges Loch eine Praxis betreibt, in einem der sozialen Ghettos, in denen Menschen vereinsamt den Vorabend des Todes verbringen: in einem Altersheim. Er ist medikamentenabhängig. Die einzige Insel in seinem Alltag bietet die Musik22. Auch der Film Jazzclub wird zur Karikatur unserer zivilisierten Welt mit ihrer überzüchteten Sattheit auf der einen Seite und dem Verlust an menschlicher Wärme auf der anderen. Sehr treffend beschreibt Markus Oswald den Streifen, der stark von Schneiders eigener Biografie gezeichnet ist, als „großen Film über das gegenwärtige Deutschland oder 19 Das Schreiben ist als Faksimile abgedruckt in: Autobiographie, S. 72 Ebenda, S. 71 21 Aus diesen Erfahrungen heraus erklärt sich auch die Überzeugungskraft, mit der Helge Schneider die Kartoffel als komplexe Lebensäußerung in seinem Erzgebirge-Männchen-Schnitzer-Blues besingt. Auf der CD Füttern verboten, 06024 98700043 3 22 Zum Beispiel das assoziative Lied Fitze, fitze, fatze. Dieses lässt sich übrigens, in Moll gespielt, mit etwas improvisatorischem Geschick leicht in eine Ungarische Rhapsodie à la Johannes Brahms verwandeln. Brahms war ein Sommerkomponist. Im Winter hatte er kaum Zeit zum Komponieren. Da schrieb er an seinem Tierleben, Brahms’ Tierleben. 20 besser: über seine überall vorhandenen Abgründe – Arbeitslosigkeit, Ausnutzung, Ausverkauf der Religionen, Kommunikationsunfähigkeit, Ungerechtigkeit, Einsamkeit in Paarbeziehungen und nicht zuletzt des Deutschen Abneigung gegen Kunst, die er nicht auf Anhieb versteht. Und die Hoffnung! Im schneiderschen Sinne ist sie […]: Einführung von Irrsinn in die Logik […] Rettung kann nur von einem anderen Planeten kommen. Denn der unsrige ist ohnehin verloren: kulturell schon lange, menschlich sehr viel länger.“23 Thomas Schinköth Postskriptum: Beim Verfassen dieses Textes habe ich eine Aufnahme vom Meisenmann (мейсэнманн) in einer Version gehört, die Helge Schneider gemeinsam mit Udo Lindenberg singt, ohne dass dieser anwesend ist. Aber keine Panik. Dabei habe ich durch aufmerksames Hin-Hören herausbekommen, dass der Schauspieler, der im Gewandhaus Helge Schneider gespielt hat, er selbst war! Zur Wiederholung: Klausur im Fach Alternative Musikwissenschaft: Thema: Helge Schneider und das Märchen von Händel und Gretel Ein Rabe! Der Weizen fällt um! Beschäftigen Sie sich mit dem oben stehenden Gedicht (das nicht von Rilke ist, dafür aber kurz) aus dem Blickwinkel der Alternativen Musikwissenschaft. Entwickeln Sie mindestens zweieinhalb Wissenschaftsstrategien, indem sie beispielsweise existenzpsychologische, entomologische, sozialkritische, ornithomusikologische und hypologische oder artithmetische Sichtweisen einbeziehen. Setzen Sie dabei den Text in Beziehung zu Helge Schneiders Interpretationskonzept des Klavierstückes Pour Eliza, welches unter dem Künstlernamen (Pseudo-Nym) Beethoven kursiert und oft missverstanden wird. Bieten Sie ferner eine triftige Möglichkeit an, obenstehendes Gedicht kompositorisch umzusetzen, sei es als „Brater roster“ im Stile des Schneider-Codex aus St. Helga von Mühlheim an der Ruhr oder als Heavy Metal 23 http://www.moviemaze.de/forum/about3715.html, Datum der Einsicht: 9.5.2007. Auf den Film Mein Führer, in dem Helge Schneider Adolf Hitler spielt, kann ich an dieser Stelle nicht eingehen, da ich selbigen noch nicht sehen konnte. Dies wird einem späteren Beitrag vorbehalten bleiben. Vgl. Dani Levi: Mein Führer. Die wirklich wahrste Wahrheit über Adolf Hitler, hrsg. von Michael Töteberg. Reinbek bei Hamburg 2007 für drei erwachsende erste Tenöre. Wenn Sie bei dieser Aufgabenstellung zur Rekreation des Gemütes eine Weile unterbrechen wollen oder ohnehin zu endigen gedenken: Fertigen Sie für mich letzten Schlusses bitte eine Skizze zum Ausmalen an, dabei sind ganzseitige Abbildungen durchaus möglich! Buntstifte gehören zu meinem musikwissenschaftlichen Handapparat. Sie können mich also ruhig fordern! Interessenten senden ihren Klausurtext bitte an: Thomas Schinköth, Wächterstr. 36/036, 04107 Leipzig. Es können zwar keine Creditpoints erworben werden, auch keine Kopf- und Fußnoten. Aber bei besonders originellen Beiträgen biete ich zur Rekreation des Gemütes eine private Gehörbildungsstunde an (72 Minuten, Schwerpunkte: Rhythmusdiktat, Kirchentonleitern, Erfinden eines Sprechstückes auf den Text „Stallpflicht für Geflügel“ und Anstimmen mit der Stimmgabel). Kaffee wird gereicht. Bitte Wechselsachen nicht vergessen! Verwendete Literatur: • Helge Schneider: Guten Tach. Auf Wiedersehn. Autobiographie, Teil 1. Köln 21/2004 • Helge Schneider: Globus Dei. Vom Nordpol bis Patagonien. Ein Expeditionsroman. Köln 2005 • ‘Helge ABC’, http://www.helgeschneiderdvd.de/abc/abc.htm, Datum der Einsicht: 7.5.2007 • Jörg Seidel: „Guten Tach!“. Helge Schneider und die Philosophie. Giessen 2002/2005 • Dani Levi: Mein Führer. Die wirklich wahrste Wahrheit über Adolf Hitler, hrsg. von Michael Töteberg. Reinbek bei Hamburg 2007 • Berthold Klostermann, Booklet zu: Helge Schneider: The Last Jazz, KD 12 33 10 • Karl H. Wörner: Geschichte der Musik. Ein Studien- und Nachschlagebuch. Göttingen 8 /1993 • Bernhard Devriès/Denys Lemery/Michael Sadler: Geschichte der Musik in Comics, Bd. 3. Stuttgart 1983 • Grete Wehmeyer: prestißißimo. Die Wiederentdeckung der Langsamkeit in der Musik. Reinbek bei Hamburg 1992 • Phänomen Zeit. Spektrum der Wissenschaft Spezial 1/2003 • Alice Miller: Das Drama des begabten Kindes. Frankfurt a. M. 1997 • Erich Moritz von Hornbostel: Musikpsychologische Betrachtungen über Vogelgesang, in: dgl.: Tonart und Ethos. Leipzig 1986 • Roy Brown/John A. Ferquson/Michael Lawrence: Federn, Spuren und Zeichen der Vögel Europas. Ein Feldführer. Wiebelsheim 2005 • Mario Kramer: Klang & Skulptur. Der musikalische Aspekt im Werk von Joseph Beuys. Darmstadt 1995 • James Monaco: Film verstehen. Kunst, Technik, Sprache, Geschichte und Theorie des Films und der Medien. Reinbek bei Hamburg 2006 • Marcel Proust: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit, 3 Bde. Frankfurt a. M. 2000 • http://www.jamba.de/jcw/goto/music/artist/artistid-5266, Datum der Einsicht: 7.5.2007