Jugend im Blick – Regionale Bewältigung demografischer

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Jugend im Blick – Regionale Bewältigung demografischer
Abschlussbericht der Studie
Jugend im Blick –
Regionale Bewältigung
demografischer Entwicklungen
Projektergebnisse und Handlungsempfehlungen
Sarah Beierle, Frank Tillmann, Birgit Reißig
Sarah Beierle, Frank Tillmann, Birgit Reißig
Jugend im Blick – Regionale Bewältigung demografischer
Entwicklungen
Abschlussbericht
Projektergebnisse und Handlungsempfehlungen
Das Deutsche Jugendinstitut e.V. (DJI) ist eines der größten sozialwissenschaftlichen Institute für Forschung und Entwicklung in Deutschland in den Themenbereichen Kindheit, Jugend, Familie und den darauf bezogenen Politik- und Praxisfeldern. Als außeruniversitäre Forschungseinrichtung an der Schnittstelle zwischen unterschiedlichen wissenschaftlichen Disziplinen, föderalen Ebenen,
Akteursgruppen, Politikbereichen und Fachpraxen bietet es aktuelle Erkenntnisse
aus der empirischen Forschung, zeitnahe wissenschaftsbasierte Politikberatung
sowie Begleitung und Anregung der Fachpraxis der Kinder- und Jugendhilfe.
Der Forschungsschwerpunkt „Übergänge im Jugendalter“ steht in einer Forschungstradition des DJI, die, ausgehend von der Analyse der Übergangsbiografien von Jugendlichen und jungen Erwachsenen, auch die Strukturen und Institutionen, Politiken und sozialen Folgen der Veränderungen des Übergangssystems
zum Gegenstand gemacht hat. Dieses Forschungsengagement am DJI legitimiert
sich nicht zuletzt aus dem im KJHG formulierten Auftrag an die Jugendhilfe, die
berufliche und soziale Integration von Jugendlichen zu fördern und dabei eine
Mittlerfunktion im Verhältnis zu anderen, vorrangig zuständigen und in ihren Ressourcen leistungsfähigen Akteuren wahrzunehmen.
Das Projekt „Jugend im Blick“ und die Veröffentlichung des Abschlussberichtes
wurden gefördert von der Beauftragten der Bundesregierung für die neuen Bundesländer.
Verfasst wurde der Bericht von Sarah Beierle, Frank Tillmann und Birgit Reißig,
unter Mitwirkung von Gabriele Kämpfe, Anke März sowie der studentischen Hilfskräfte Sarah Zehner, Michael Dettmer, Sarah Hettstedt und Gerrit Kwaschnik.
Überarbeitete Fassung vom 10.05.2016
© 2016 Deutsches Jugendinstitut e. V.
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ISBN: 978-3-86379-186-5
2
Inhaltsverzeichnis
1
Einführung
4
2
Ausgangslage und Fragestellungen der Studie
5
3
Die Anlage der Studie „Jugend im Blick“
7
3.1
3.2
Auswahl der Untersuchungslandkreise
Verlauf der Studie
7
10
4
Indikatorengestützte Abbildung von Teilhabechancen
Jugendlicher
13
4.1
Beschreibung eines Indikatorensystems zur Abbildung von
Teilhabe
Ausprägungen des Jugendteilhabeindex´ im interregionalen
Vergleich
Dimensionen von Teilhabe als regionale Haltefaktoren
18
20
Analyse von jugendpolitischen und demografiestrategischen
Dokumenten der untersuchten Landkreise
21
5.1
5.2
5.3
Worauf basiert die Analyse?
Strategische Ansätze und das Bild von Jugend
Handlungsbedarf aus Sicht der lokalen Akteure
21
22
25
6
Die Sicht (jugend-)politischer Akteure
26
6.1
6.2
26
6.3
6.4
Wie wurden die Sichtweisen (jugend-)politischer Akteure ermittelt?
Die Situation in den Untersuchungsregionen aus Sicht (jugend-)
politischer Akteure und der Umgang damit
Netzwerkaktivitäten
An die Bundesebene adressierte Handlungsbedarfe
27
31
34
7
Die Sicht der Jugendlichen in den Untersuchungslandkreisen
35
7.1
7.2
7.3
7.4
7.5
7.6
Wie wurde die Sicht der Jugendlichen ermittelt?
Zufriedenheit mit dem Aufwachsen auf dem Land
Gefühlte Benachteiligungen gegenüber anderen Gruppen
Jugendliche Freizeittypen
Berücksichtigung jugendlicher Belange und Jugendpartizipation
Handlungsbedarf aus Sicht der Jugendlichen
35
36
38
39
44
45
8
Handlungsempfehlungen
46
8.1
8.2
Wie sind diese entwickelt worden?
Empfehlungen für eine jugendgerechtere Demografiepolitik
46
46
9
Ausblick
50
10
Literatur
53
4.2
4.3
5
3
13
1
Einführung
Aufwachsen auf dem Land – für viele klingt das nach Idylle, nach Weite und
Natur. Andere denken an Krise, an „ausgeblutete“ Orte und Perspektivlosigkeit. Auf diesem Kontinuum bewegt sich die aktuelle Diskussion über ländliche Räume.
Wurden seit den 90er Jahren strukturschwache ländliche Räume insbesondere mit Ostdeutschland in Verbindung gebracht, so handelt es sich bei Konzentration von demografischen und den damit verbundenen sozialen und
strukturellen Problemen nicht mehr länger um ein originäres „Phänomen Ost“
(Schubarth/Speck 2009). Zwar ist das stark ländlich geprägte Ostdeutschland
nachwievor in stärkerem Ausmaß von Strukturschwäche, Abwanderung und
Alterung betroffen, ein genauerer Blick auf die regionalen Entwicklungen offenbart allerdings, dass inzwischen auch viele westdeutsche ländliche Regionen
vor ähnlichen Entwicklungen stehen und somit die Bewältigung demografischer Herausforderungen zu einer gesamtdeutschen Aufgabe geworden ist
(Maretzke/Weiss 2009).
Dennoch liegen für diese Räume nur wenige aktuelle Forschungen zu den
Lebensverhältnissen der dort aufwachsenden Menschen vor. Dies ist insofern
verwunderlich, als dass die Bedeutung von jungen Menschen für die Vitalität
ländlicher Räume immer wieder betont wird (Höhne 2015) und Jugendliche
durch ihre Abwanderung eine „Abstimmung mit den Füßen“ zu ihren Zukunftsperspektiven vor Ort durchzuführen scheinen. Während mit dem Thema des demografischen Wandels in erster Linie die Sicherung der Lebensqualität der älteren Generationen in den Blickpunkt gerät, sind es gerade in ländlichen Gegenden Kinder und Jugendliche, welche die Auswirkungen zuerst zu
spüren bekommen, etwa indem sie sich in ihren Wohnorten einer zunehmenden Vereinzelung sowie der Schließung von Schulstandorten und Freizeitangeboten gegenübersehen.
Vor dem Hintergrund dieser demografischen Entwicklungen entstand das
Vorhaben, die Bedingungen des Aufwachsens von jungen Menschen in ländlichen Räumen differenziert zu untersuchen. Dafür entwickelte das Deutsche
Jugendinstitut gemeinsam mit Vertreterinnen und Vertretern des Arbeitsstabs
der Beauftragten der Bundesregierung für die neuen Bundesländer die Projektstudie „Jugend im Blick – Regionale Bewältigung demografischer Entwicklungen“.
Ein wichtiges Anliegen bestand dabei darin, die aktuelle Lebenswirklichkeit
von Jugendlichen in strukturschwachen ländlichen Räumen deutschlandweit
abzubilden. Dabei sollten sowohl jugendpolitische Akteure in den Regionen,
als auch Jugendliche selbst zu den Bedingungen des Aufwachsens in strukturschwachen, ländlichen Räumen befragt werden. Zudem sollte ein enger Austausch zwischen verschiedenen jugendpolitischen Akteuren der Untersuchungsregionen (Landkreise), des Landes und der Bundesebene initiiert und
gemeinsam an praxisnahen Handlungsempfehlungen für die Bundesebene gearbeitet werden.
Im Laufe der Umsetzung des Projekts sind auf der Bundesebene die Themen Jugend, Demografie und ländlicher Raum verstärkt in den politischen
4
Fokus geraten. Somit konnten die Ergebnisse unmittelbar in politische Willensbildungsprozesse auf der Bundesebene, etwa in die im Jahr 2014 einberufene Arbeitsgruppe „Jugend gestaltet Zukunft“ beim BMFSFJ zur Weiterentwicklung der Demografiestrategie des Bundes eingebracht werden.
2
Ausgangslage und Fragestellungen der
Studie
Auch wenn in der Diskussion oftmals von „dem ländlichen Raum“ die Rede
ist, so ist sich doch die Wissenschaft einig, dass es diesen als solchen gar nicht
gibt.
Im Zuge von Modernisierungs- und strukturellen Wandlungsprozessen sowie durch den Umbau von der Plan- zur Marktwirtschaft in Ostdeutschland
haben sich ländliche Räume in der Bundesrepublik regional sehr unterschiedlich entwickelt. Städtische Räume und deren infrastrukturell gut erschlossenes
Umland erleben einen Zuzug, wohingegen peripher gelegene Regionen zunehmend an Bevölkerung verlieren.
Zeigten sich nach der Wiedervereinigung insbesondere im Osten Deutschlands starke demografische Veränderungsprozesse, so geht inzwischen auch in
Westdeutschland in der Hälfte der ländlichen Regionen die Bevölkerung zurück. In den strukturschwachen ländlichen Räumen in Ost und West altert die
Gesellschaft, wandern überproportional viele, insbesondere junge Menschen
ab und steigt das Durchschnittsalter entsprechend. Kennzeichen der Entwicklungen sind dabei regional sehr unterschiedliche Ausprägungen, die eine zunehmende räumliche Spaltung entstehen lassen und zu einem Nebeneinander
von Wachstums- und Schrumpfungsräumen führen (Faulde 2014: 212).
Für Jugendliche auf dem Land haben sich die Bedingungen ihres Aufwachsens in den vergangenen Jahrzehnten erheblich verändert. Ihr Leben ist einerseits aus einer gesamtgesellschaftlichen Perspektive – wie das von den in Städten aufwachsenden jungen Menschen – durch Globalisierung, Internationalisierung, Inter- und Transkulturalität, Mobilität, Heterogenität und Urbanisierung
geprägt (Stein 2013: 25). Andererseits haben sich die sozialräumlich gerahmten
Lebenswelten von städtischen und ländlichen Jugendlichen nicht gänzlich angeglichen. Vielmehr konstatierte Böhnisch (1992: 5) ein Nebeneinanderstehen
verschiedener Lebenswelten:
Jugendliche in ländlichen Räumen leben heute zwischen der urbanindustriellen Welt der Bildung, der Medien, der Freizeit und des Konsums auf der einen Seite und der Welt der dörflichen Kontrolle, der
Durchgängigkeit der alltäglichen Lebensbereiche, der Tabus und traditionellen Selbstverständlichkeiten, aber auch der Vertrautheit, Geborgenheit und sozialen Sicherheit auf der anderen Seite.
Andere Autoren gehen noch weiter. So spricht Herrenknecht vom „regionalen
Dorf“, in dem sich eine kaum überschaubare Menge von kulturellen Strömungen und Ausdifferenzierungen treffen, so dass nicht mehr zwischen den beiden
oben stehenden konkurrierenden Welten der Tradition und der Moderne
5
unterschieden werden könne (Herrenknecht 2000: 48). Eisenbürger und Vogelsang formulieren, dass Landjugendliche durch die erhöhte Mobilität gleichsam in mehreren Welten leben, jedoch nur in einer Welt wohnen würden (Eisenbürger/Vogelsang 2002: 36). Aus den sich verändernden Bedingungen des
ländlichen Raums ergeben sich für junge Menschen sowohl neue Freiräume
und Chancen, als auch neue Anforderungen. Sie haben weitaus größere Entfaltungsmöglichkeiten in ihrer Lebensgestaltung als es bspw. ihre Eltern hatten.
Die „neuen“ Kommunikationswege (sozialen Netzwerke) eröffnen ihnen weitreichende Möglichkeiten des Austauschs mit Gleichaltrigen.
Die deutliche Verschiebung der Altersstruktur zu Gunsten der höheren Altersjahrgänge wirft auch die Frage auf, welchen Stellenwert die betroffenen
Kommunen und Landkreise den Belangen und Bedürfnissen junger Menschen
als kleiner werdender Gruppe überhaupt noch einräumen (können). Nachwievor lassen sich in den lebensweltlichen Settings von Jugendlichen (Bildung,
Familie, Freunde, Freizeit, Vernetzung) anhand des DJI-Surveys „Aufwachsen
in Deutschland: Alltagswelten“ (AID:A) von 2009 Unterschiede zwischen
Stadt- und Landjugendlichen ausmachen. Diese zeigen sich insbesondere in
den Teillebensbereichen der Mobilität sowie in der Nutzung und Erreichbarkeit von kommerziellen, insbesondere aber auch nichtkommerziellen Angeboten (Tully/Schippan 2014: 207f.).
Denn oftmals werden die Mindestgrößen, die zur Aufrechterhaltung von
Einrichtungen und Angeboten für Jugendliche erforderlich sind, nicht mehr
erreicht und somit Schulen zusammengelegt oder geschlossen und der öffentliche Nahverkehr nur noch während der Schulöffnungszeiten aufrechterhalten.
Jugendclubs schließen und Kommunen können sich ihre Schwimmbäder nicht
mehr leisten. Vereine ringen um den jungen Nachwuchs und kommerzielle
Angebote wie Diskotheken, Kinos oder Läden sind bestenfalls in den Kreisstädten angesiedelt; doch auch dort richten sich die Angebote vermehrt an den
Bedürfnissen der älteren Generationen aus.
Im Jugendalter stellen allerdings gerade solche Orte und Gelegenheitsstrukturen, an denen sich junge Menschen mit Gleichaltrigen treffen können, wichtige Lern-, Erfahrungs- und Experimentierräume bereit. Der Erwerb von Normen und Verhaltensweisen erfolgt dabei zunehmend im Freundes- und Bekanntenkreis und außerhalb des Elternhauses. In diesem Kontext von ungleichen Zugängen zu jugendbezogenen Angeboten gewinnt die Frage an Bedeutung, wie das im Grundgesetz festgelegte Postulat der „Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse“ (Artikel 72, Absatz 2 GG) für junge Menschen dauerhaft gewährleistet und ausgestaltet werden kann.
Im Zuge der Klärung, was zu den starken Abwanderungsbewegungen junger Menschen aus ländlichen Regionen beiträgt, stand lange Zeit die fehlende
Verfügbarkeit von Ausbildungs- und Arbeitsstellen im Vordergrund. Qualitative Studien mit jungen Menschen weisen jedoch darauf hin, dass es sich bei den
Dagebliebenen oder Rückwanderungsorientierten – bezogen auf die Bildungsaspirationen und Lebensorientierungen – um eine durchaus heterogene Gruppe handelt, deren (vorläufige) Entscheidung für das Dableiben in der Region
von den unterschiedlichsten Motiven geprägt ist (Beetz 2009; Speck/Schubarth/Pilarczyk 2009). So scheint sich die soziale und kulturelle Infrastruktur
maßgeblich auf die Lebensqualität und somit auf die Bleibeorientierung junger
6
Menschen auszuwirken (Neu 2009) und sollte auch bei einer Verbesserung der
Lage auf dem Ausbildungs- und Arbeitsmarkt nicht vernachlässigt werden.
Fragestellung der Studie
Aus den dargestellten Herausforderungen der demografischen Entwicklungen
für Jugendliche in ländlichen Räumen wurde die Konzeption der Studie „Jugend im Blick“ entwickelt, um die Diskursstränge zu bündeln und handlungsorientierte Perspektiven zu eröffnen.
 Zum einen wurde die Perspektive von den in strukturschwachen ländlichen Räumen aufwachsenden Jugendlichen ermittelt. Dabei wurde
analysiert, wie junge Menschen ihr Aufwachsen in solchen Regionen
wahrnehmen und welche typischen jugendbezogenen Herausforderungen sich für sie durch ihren Wohnort ergeben. Zudem wurden die Zukunftsperspektiven der heranwachsenden jungen Menschen beleuchtet.
 Da insbesondere auch interessierte, wie die Landkreise auf die demografischen Veränderungsprozesse reagieren, wurden zum anderen jugendpoltische Entscheidungsträger/innen dazu befragt, wie sich die
Wandlungsprozesse aus ihrer Sicht auf Jugendliche auswirken und wie
Jugendpolitik in ihren Landkreisen ausgerichtet ist.
 Auf Basis der zuvor genannten Analyseschwerpunkte wurde daraufhin
unter Zuhilfenahme von Regionaldaten die Frage beantwortet, wie sich
das Aufwachsen junger Menschen in räumlicher Perspektive – insbesondere in Hinblick auf gleichwertige Teilhabechancen – unterscheidet.
Das Ziel des Projekts war es schließlich, auf Basis der empirischen Erkenntnisse in einem Diskurs zwischen Akteuren der Kreis-, Landes- und
Bundesebene praxisnahe Handlungsempfehlungen für die Bundesebene zu
entwickeln, welche den spezifischen Bedürfnissen heranwachsender Menschen in ländlichen Räumen gerecht werden.
3
Die Anlage der Studie „Jugend im Blick“
3.1
Auswahl der Untersuchungslandkreise
Da seit den 90er Jahren Ostdeutschland in starker Weise von demografischen
Entwicklungen betroffen war, wurde davon ausgegangen, dass hier ein Erfahrungsvorsprung vorliegt, von dem andere Regionen, die nun vor ähnlichen
Herausforderungen stehen, profitieren können. Daher sind neben den fünf
ostdeutschen Bundesländern ebenso die westdeutschen Bundesländer Rheinland-Pfalz, Hessen und Bayern als Bundesländer, in denen jeweils ein Landkreis untersucht werden sollte, vorausgewählt worden.
Die Landkreisebene wurde aus folgenden Gründen als eine adäquate Analyseebene gesehen:
 Auf der Landkreisebene liegen relativ ähnliche verwaltungsstrukturelle
und rechtliche Gegebenheiten und Zuständigkeiten vor (z.B. Jugendhilfeplanung, Verantwortung für Jugendarbeit, Öffentlicher Nahverkehr).
7

Für die Landkreisebene sind relativ gleichwertige Informationen der
amtlichen Statistik frei verfügbar. Dies erlaubt eine Auswahl und einen
Vergleich der Untersuchungsregionen, aufgrund von Strukturdaten.
Jedoch wurden die Landkreise nicht als starre Untersuchungsgröße behandelt,
zumal diese unterschiedlich groß sind. Vor allem bei den qualitativen Befragungen von Expertinnen und Experten sowie Jugendlichen ging es darum, wie
diese ihre Bezugsregion wahrnehmen und in welchem Aktionsraum sie agieren.
Dieser Aktionsradius konnte also deutlich kleiner als der Untersuchungslandkreis sein, aber auch über Landkreisgrenzen hinweggehen.
Die Ermittlung der innerhalb des jeweiligen Bundeslandes am stärksten von
demografischen Herausforderungen betroffenen Untersuchungsregionen
(Landkreise) erfolgte anhand der Indikatoren Bildungswanderung, Anteil junger
Menschen an der Gesamtbevölkerung und siedlungsstruktureller Kreistyp1 (BBSR 2012).
Für die schlussendliche Entscheidung für einen in Frage kommenden Landkreis war neben der Bereitschaft der Landkreise zur Teilnahme ausschlaggebend, dass bereits Erfahrungen im Themenfeld „Jugend und Demografie“
vorlagen und somit von einem Erfahrungsschatz ausgegangen werden konnte,
von dem andere Regionen profitieren können. In Tabelle 1 sind die schlussendlich ausgewählten Landkreise mit ihren Ausprägungen der Auswahlindikatoren aufgeführt.
Tabelle 1: Auswahlkriterien Landkreise
Bildungswanderungssaldo der
18- bis 24-Jährigen
Anteil der
18- bis 24Jährigen
Siedlungsstruktureller
Kreistyp
2010
2010
2010
Birkenfeld, Rheinland-Pfalz
-29,59
8,0
4
Kyffhäuserkreis, Thüringen
-48,88
7,1
4
Mansfeld-Südharz,
Sachsen-Anhalt
-57,03
6,7
4
Prignitz, Brandenburg
-64,14
7,5
4
0,68
8,7
4
Werra-Meißner-Kreis,
Hessen
-25,65
7,4
4
Vogtlandkreis, Sachsen
-39,15
6,8
3
Wunsiedel im
Fichtelgebirge, Bayern
-37,12
7,4
3
Vorpommern-Greifswald,
Mecklenburg-Vorpommern
Quelle: INKAR. Indikatoren und Karten zur Raum- und Stadtentwicklung. BBSR 2015.
1
Bei dem Indikator handelt es sich um den Indikator „siedlungsstruktureller Kreistyp“ des BBSR. Unter
Verwendung verschiedener Siedlungsstrukturmerkmale wird in vier Gruppen unterschieden: Kreisfreie Großstädte (1), städtische Kreise (2), ländliche Kreise mit Verdichtungsansätzen (3) und dünn
besiedelte ländliche Kreise (4).
8
Westdeutsche Untersuchungsregionen
Mit dem Werra-Meißner-Kreis und Wunsiedel im Fichtelgebirge handelt es
sich um zwei Landkreise, die durch ihre Lage an der ehemaligen innerdeutschen Grenze lange Zeit von der „Zonenrand-Förderung“ profitierten, die in
den 90er Jahren wegfiel. Zugleich weist Wunsiedel i.F. die Besonderheit der
gemeinsamen Grenze mit Tschechien auf. Entgegen der beiden anderen westdeutschen Untersuchungsregionen zeigt Wunsiedel i.F. Ansätze von Verdichtung (vergleichsweise höhere Einwohnerdichte, strukturstärker), dennoch weist
der Landkreis einen hohen negativen Bildungswanderungssaldo und einen geringen Anteil junger Menschen auf.
In den Bundesländern Hessen und Bayern sind die regionalen Disparitäten
innerhalb des Bundeslandes besonders hoch. Insofern unterscheiden sich die
Untersuchungsregionen stärker von Landkreisen im eigenen Bundesland, als
von den ausgewählten ostdeutschen Untersuchungsregionen. Birkenfeld ist in
besonderer Weise von dem Wegfall ehemaliger Fertigungszweige (Kohleabbau,
Edelsteinfertigung) geprägt. Ein Blick auf die Indikatoren der Tabelle 1 zeigt,
dass die drei westdeutschen Landkreise bezogen auf die Auswahlkriterien in
geringerem Maße von demografischen Entwicklungen betroffen sind, als die
ostdeutschen Untersuchungsregionen. Jedoch ist auch zu beachten, dass starke
Abwanderungsprozesse später als in Ostdeutschland eingesetzt haben und
somit ein relativer Rückgang von jungen Menschen landkreisbezogen insbesondere auf die westdeutschen Untersuchungslandkreise zukommen wird.
Ostdeutsche Untersuchungsregionen
Auch wenn die gleichen Auswahlkriterien innerhalb der fünf ostdeutschen
Bundesländer herangezogen wurden, so weisen auch die einzelnen ostdeutschen Untersuchungsregionen spezifische regionale Besonderheiten auf. So
verfügt Vorpommern-Greifswald nach einer Kreisgebietsreform über eine
Fläche, die 6,5-mal so groß ist wie die kleinste Untersuchungsregion Wunsiedel i. F.. Zusammen mit der Tatsache, dass es der einzige untersuchte Landkreis mit einem Universitätsstandort ist (Universität Greifswald), erklärt sich
auch der fast ausgeglichene Wanderungssaldo im Jahr 2010, denn dieser erfasst
die Umzüge über Landkreisgrenzen hinweg. Zudem liegt Vorpommern-Greifswald an der Außengrenze der Bundesrepublik (zu Polen), ebenso wie der Vogtlandkreis und Wunsiedel i.F. (zu Tschechien). Der Vogtlandkreis verfügt als
zweites Bundesland neben Wunsiedel i.F. über Verdichtungsansätze, aber auch
über eine extrem hohe Bildungswanderung. Der Landkreis Mansfeld-Südharz
und der Kyffhäuserkreis als benachbarte Landkreise sind schon über viele Jahre anhaltend in starker Weise von deutlichen Bevölkerungsrückgängen – insbesondere bei jungen Menschen – betroffen.
9
Abbildung 1: Untersuchungsstandorte der Studie „Jugend im Blick“
Vorpommern‐
Greifswald
MecklenburgVorpommern
Prignitz Mansfeld ‐ Südharz Sachsen-
Brandenburg
Anhalt
Werra‐Meissner‐ Kreis Kyffhäuserkreis Thüringen
Sachsen
Hessen
Rheinland-
Vogtlandkreis
Pfalz
Wunsiedel i. F.
Birkenfeld Bayern
3.2
Verlauf der Studie
Die Umsetzung des Forschungsprozesses erfolgte, wie in Abbildung 2 dargestellt, über Sekundäranalysen vorhandener Daten und Dokumente sowie über
eigene Erhebungen durch Experteninterviews und Gruppendiskussionen. Diese Untersuchungsergebnisse werden im vorliegenden Bericht ausführlich dargestellt.
Forschungsbegleitend fanden Workshops statt, in denen die Zwischenergebnisse der Erhebung vorgestellt und diskutiert wurden. Auf diese Weise fand
eine interne Validierung der Ergebnisse statt und Kontextinformationen
10
konnten in die Interpretation der Ergebnisse aufgenommen werden. Der diskursive Prozess setzte sich aus folgenden Veranstaltungen zusammen:
Abbildung 2: Umsetzung der Studie "Jugend im Blick"
Die Sicht der
ExpertInnen
Gruppendiskussionen
Voraussetzungen und
Strategien für
Jugendliche
Zusammenspiel
der Ergebnisse,
Handlungsempfehlungen
Die
Perspektive
der
Jugendlichen
Okt.
Auftaktveranstaltung
Jan . – Dez. 2015
Mai
April
Diskursiver
Prozess
Experteninterviews
Okt.
Sekundäranalysen
Jan. – Dez. 2014
Nov.
April – Dez. 2013
Abschlussveranstaltung
Erster Workshop (28. November 2013): „Demografischer Wandel und
regionale Disparitäten – Die Lage des ländlichen Raums“ in Halle
Auf der Auftaktveranstaltung wurden Ergebnisse der Sekundäranalysen sowie
der Dokumentenanalyse vorgestellt. Der Teilnehmerkreis bestand überwiegend
aus jugendpolitisch Verantwortlichen der Untersuchungslandkreise sowie Vertretern der Bundesebene. Nach der Diskussion über die vorgestellten Ergebnisse traten die Teilnehmenden in einen regen Erfahrungsaustausch und erarbeiteten gemeinsam über die Methode des Worldcafés erste Ideen für eine „jugendgerechte Demografiepolitik“. Die Hinweise und geäußerten Interessensschwerpunkte der Teilnehmenden bezüglich der Projektumsetzung waren für
das Projektteam von großem Wert und flossen in den weiteren Forschungsverlauf ein.
Zweiter Workshop (05. April 2014): „Aufwachsen in strukturschwachen
ländlichen Regionen – Die Perspektive der Experten“ in Weimar
Auf dem zweiten Workshop des diskursiven Prozesses wurden erste Auswertungsergebnisse der Experteninterviews vorgestellt. Da der Schwerpunkt des
Teilnehmerkreises auf den Akteuren der Bundesministerien, Bundesinteressensverbände und der Forschung lag, wurden insbesondere jene Aspekte der
Experteninterviews vorgestellt und diskutiert, welche sich auf die Bundesebene
bezogen. Auch gaben zwei externe Vortragende (Frau Schlee, Bundesverband
der Landjugend und Frau Prof. Stein, Universität Vechta) inhaltliche Impulse
zu den Bedingungen des Aufwachsens von jungen Menschen in ländlichen
Räumen. Anhand einer Kraftfeldanalyse (Workshop-Methode) konnten dann
in Gruppenarbeit Standpunkte zu förderlichen und hinderlichen Faktoren einer
11
Vitalisierung ländlicher Räume zusammengetragen sowie Handlungsbedarfe
und Bewältigungsstrategien diskutiert werden.
Der dritte Workshop (25.11.2014): „Lokale Voraussetzungen und Strategien für Jugendliche“ in Kassel
Der Teilnehmerkreis setzte sich aus Akteuren der Landkreise, der Landesebene
sowie der Bundesebene zusammen. Inhaltlich wurden zum einen weiterführende Ergebnisse aus den Experteninterviews vorgestellt und diskutiert. Dabei
lag der Fokus auf der Akteurskonstellation und den Netzwerkaktivitäten im
Bereich „Jugend und Demografie“ in den Landkreisen. Zum anderen wurden
erste Erkenntnisse aus den drei bis dato geführten Gruppendiskussionen mit
Jugendlichen vorgestellt. Der Auswertungsfokus lag dabei auf Mobilität aus
Sicht der Jugendlichen. Einen Einblick in jugendbezogene Ansätze einer anderen Nation mit ähnlichen demografischen Problemlagen bot der Beitrag einer
finnischen Sozialwissenschaftlerin, die über finnische Jugendpolitik und deren
Entwicklungen, Maßnahmen und Diskurse berichtete. In Kleingruppen wurde
auf Basis der Inputs und einem sich daran anschließenden Erfahrungsaustausch an einem Masterplan für eine „jugendgerechte Demografiepolitik“ gearbeitet.
Der vierte Workshop (04.05.2015): „Aufwachsen in strukturschwachen
ländlichen Räumen: Die Perspektive der Jugendlichen“ in Potsdam
Im vierten Workshop des diskursiven Prozesses wurde der Fokus auf die Perspektive der Jugendlichen und die in den Untersuchungsregionen durchgeführten Gruppendiskussionen gelegt. Zudem erhielten die Teilnehmenden, die sich
aus Praktikerinnen sowie Akteuren der Bundesebene zusammensetzten, einen
tiefen Einblick in die Bedürfnisse und Bedarfe der Jugendlichen und leiteten
aus dem Interviewmaterial die Handlungsbedarfe für die Jugendlichen ab.
Die Abschlusstagung (20.10.2015): „Land in Sicht – Jugend in strukturwachen ländlichen Räumen“ in Berlin
Im Oktober 2015 wurden im Bundesministerium für Wirtschaft und Energie
die zentralen Ergebnisse und Handlungsempfehlungen der Studie auf einer
Abschlusstagung des Projekts vorgestellt. Im Zuge der Veranstaltung diskutierten die (jugend-)politischen Tagungsteilnehmenden aus Bund, Land und
Kommune ausgehend von den Studienergebnissen darüber, wie eine jugendgerechte Demografiepolitik aussehen und umgesetzt werden müsste und welche
Rolle hierbei den verschiedenen Akteuren der Jugendpolitik auf den unterschiedlichen föderalen Ebenen zukommt.
12
4
Indikatorengestützte Abbildung von
Teilhabechancen Jugendlicher
Vor dem Hintergrund der oben dargestellten Ausrichtung des Projekts auf die
Perspektive der Jugendlichen bestand die Absicht, über die acht einbezogenen
Untersuchungsregionen hinaus, anhand verfügbarer quantitativer Daten zu
generalisierbaren Erkenntnissen über die Lebenswirklichkeit von Jugendlichen
in ländlichen Räumen zu gelangen. Für die hier interessierenden Gebietseinheiten der Flächenkreise stehen dazu Daten der amtlichen Statistik sowie eigene
erschlossene Datenquellen zur Verfügung, um Aspekte der Teilhabe junger
Menschen in verschiedenen Lebensbereichen abzubilden.2 Ausgangspunkt stellen die von den Jugendlichen geäußerten Wahrnehmungen dar, wie sie in den
durchgeführten Gruppendiskussionen thematisiert wurden (siehe hierzu Abschnitt 6) und in denen sich eine lebensphasenspezifische Problembewältigung
(Bönisch/Schröer 2002) widerspiegelt. Die Diskutantinnen und Diskutanten
artikulierten darin ihre aktuellen Bedürfnisse an die Rahmenbedingungen ihrer
derzeitigen Situation, aber auch perspektivische Erwartungen an zukünftige
Verwirklichungsoptionen in der Region.
4.1
Beschreibung eines Indikatorensystems zur
Abbildung von Teilhabe
Dem im Projektkontext eigens für ländliche Räume aus dem Blickwinkel von
Jugendlichen entwickelten Indikatorensystem liegt ein subjektiver Begriff von
Teilhabe zugrunde, wie er bei Iris Marion Young Verwendung findet (Bönisch/Schröer 2002). Demnach ist einerseits eine vor Ort bestehende Zugangsteilhabe zu betrachten, welche den Jugendlichen durch die Beseitigung von Zutrittsbarrieren zu gesellschaftlichen Arenen eingeräumt wird. Dies erfordert,
dass Zugangsregeln geöffnet und Zugangsfähigkeiten gestärkt werden, um zunächst Teilhabegrundlagen zu schaffen. Andererseits ist eine, durchaus voraussetzungsvollere Mitwirkungsteilhabe für Jugendliche einzuräumen, was die
gleichberechtigte Mitwirkung im Rahmen gesellschaftlicher Arenen beinhaltet,
nachdem eine Zugangsteilhabe besteht. Dazu sind Prozessregeln zu verändern
und die Mitwirkungsfähigkeiten der jugendlichen Zielgruppen zu erhöhen.
In dem hier vorgestellten Teilhabeindex sind somit zugangsbezogene Ermöglichungsstrukturen berücksichtigt, wie z.B. die örtliche Beschäftigungssituation
oder Ausbildungsangebote, auf deren Vorhandensein die Jugendlichen meist
nur wenig Einfluss haben. Ebenso werden auch mitwirkungsbezogene Aspekte,
also das Auftreten aktiver Teilhabe im Sinne einer Beteiligung an vorhandenen
Optionen abgebildet, etwa in Bezug auf Bildung oder politische Entscheidungsprozesse. In dem zugrundeliegenden Teilhabekonzept finden folglich
struktur- und handlungsbezogene Aspekte der Teilhabe Jugendlicher ihren
Ausdruck. Das Ausmaß an Teilhabe als Frage der gesellschaftlichen Zugehörigkeit ist für Jugendliche insbesondere in ländlichen Regionen von Relevanz,
2
Falls nicht anders angegeben, wurden hierfür INKAR-Daten des BBSR (2014) auf Landkreisebene
genutzt.
13
da es sich hier zumeist um räumlich periphere Lebensorte handelt.
Wenngleich nicht zu allen, der für die befragten Jugendlichen bedeutsamen
Teilhabeaspekte (wie z.B. kommerzielle Freizeitangebote und Einkaufsmöglichkeiten), quantitative Zugänge auffindbar waren, konnten in diesem Analyseschritt sechs empirische Dimensionen herausgearbeitet werden, welche
durch ein oder mehrere quantitative Indikatoren auf Grundlage der verfügbaren Daten untersetzt sind.
Dimension A – Beschäftigungsperspektive
Einen zentralen Aspekt von Teilhabe stellt der Zugang zum Arbeitsmarkt dar.
So war für die im Projekt befragten Jugendlichen prospektiv vor allem entscheidend, welche beruflichen Erwerbsmöglichkeiten sich für sie später auf
dem regionalen Arbeitsmarkt bieten. Vielfach gehen in strukturschwachen
ländlichen Räumen hiervon ein ökonomischer Abwanderungsdruck und ein
damit verbundenes pessimistisches Regionalklima aus. Angesichts bestehender
Perspektivlosigkeit fällt es Jugendlichen demnach oft schwer, persönliche Lebensentwürfe und Zukunftsorientierungen zu entwickeln (Höhne 2015: 86f).
Dabei ist zu beobachten, dass insbesondere junge Menschen am Beginn ihrer Erwerbslaufbahn – teils im Niedriglohnsektor – von prekärer Beschäftigung betroffen sind (Buchholz/Kurz 2008; Hans-Böckler-Stiftung 2010). Zudem jobben sie überproportional häufig in Leiharbeitsverhältnissen. Obwohl
die unter 30-Jährigen nur einen Anteil von rund 22% an allen Beschäftigten
ausmachen, sind sie mit knapp 40% in der Berufsgruppe der Leiharbeiter/innen deutlich überrepräsentiert (ebd.). Insofern wurde für die Abbildung der
Beschäftigungsperspektive der Indikator des Medianeinkommens von Erwerbspersonen im Landkreis hinzugezogen (A1). Dieser gibt Auskunft über
das allgemeine Lohnniveau im Kreis.
Doch selbst nach erfolgreich abgeschlossener Ausbildung ist ein großer Teil
der Absolventinnen und Absolventen erst einmal arbeitslos (BiBB 2013: 284).
In strukturschwachen Landkreisen liegt die Arbeitslosenquote der 15- bis 25Jährigen nicht selten bei über 10%, während sie sich insgesamt in den Kreisen
bei durchschnittlich 5,6 % bewegt. Demnach wurde auch diese Quote als Indikator (A2) aufgenommen.
Der Anteil Jugendlicher und junger Erwachsener an den Arbeitslosen aller
anderen Altersgruppen ist stets überproportional hoch (Hans-Böckler-Stiftung
2010: 2). Das heißt die Jugendarbeitslosigkeit liegt schon deshalb generell höher als die allgemeine Arbeitslosenquote, da junge Menschen mit und ohne Berufsabschluss in einen Markt drängen, der meist bereits von älteren Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern besetzt ist. Da sich in diesem Indikator (A3)
der Zugang zum Arbeitsmarkt im intergenerationellen Vergleich und damit
dessen Aufnahmekapazität gegenüber nachrückenden Generationen widerspiegelt, wurde auch er in das Indikatorensystem aufgenommen.
Dimension B – Weiterführende Bildung/Ausbildung
Eine zumeist zeitlich vorausgehende Übergangsepisode für junge Menschen ist
in den Regionen mit vorhandenen Voraussetzungen an weiterführenden Bildungsoptionen verbunden. In den ausgewerteten Gruppendiskussionen war
das Vorhandensein von Bildungsangeboten, die über den Sekundarschulbe14
reich I hinausgehen, ebenfalls ein bedeutsames Standortmerkmal. Wenngleich
Bildung heute keine hinreichende Zukunftssicherheit mehr garantiert, ist sie
dennoch eine zumeist notwendige Mindestanforderung an Beschäftigung
(Höhne 2015: 89). Da sich nach dem Erwerb des Schulabschlusses für die Jugendlichen vorrangig die Frage nach einem Anschluss im Bereich einer beruflichen Ausbildung stellt, ist hier der Indikator der Angebots-Nachfrage-Relation
(B1) des Ausbildungsstellenmarktes im Landkreis relevant. Denn darin äußert
sich, welche Ausbildungschancen ihnen vor Ort eingeräumt werden. Um eine
ausreichende Auswahl zu ermöglichen und Berufswahlfreiheit zu gewährleisten, müssten weitaus mehr Plätze zur Verfügung stehen, als dies heute selbst in
prosperierenden Regionen der Fall ist. Denn nach einem Urteil des Bundesverfassungsgerichts müsste das Angebot an Ausbildungsstellen die Nachfrage um
12,5% überschreiten, um die freie Wahl der Ausbildungsstätte und des Berufs
zu garantieren (vgl. BVerfGE 55, 274).
Auch wohnortnahe tertiäre Bildungsangebote im ländlichen Raum werden
von den Jugendlichen geschätzt, weshalb hier die bestehenden Studienmöglichkeiten aufgenommen wurden – ausgedrückt im Indikator der Anzahl Studierender je 1.000 Einwohner (B2). Aber auch die Bildungsangebote zum Erwerb
der dafür notwendigen Hochschulzugangsberechtigung können in vielen Landkreisen nicht mehr in der Fläche abgesichert werden. Somit dient der Indikator
des Anteils der Gymnasiastinnen und Gymnasiasten an der altersbezogenen
Referenzgruppe (B3) hier ebenfalls zur Abbildung weiterführender Bildungsoptionen.
Dimension C – Angebote der Jugendarbeit
In Bezug auf die Teilhabechancen von Jugendlichen in ländlichen Räumen ist
die Bedeutung der sozio-kulturellen Integration nicht zu vernachlässigen, von
welcher die Lebensqualität ebenso abhängt wie eine positive Einstellung junger
Menschen zu ihrer Herkunftsregion (Höhne 2015: 86). Dies spiegelte sich auch
in den Aussagen der durchgeführten Gruppendiskussionen wider, wenn beispielsweise auf fehlende Freizeitangebote bzw. Jugendtreffs verwiesen wurde.
Als ein Indikator für diesen Teilhabeaspekt diente demnach die Anzahl von
Einrichtungen der Jugendarbeit, bezogen auf die Anzahl der Jugendlichen im
Landkreis (C1). Als ein weiterer Indikator des Umfangs der dortigen Angebotsstruktur wurde die Anzahl der Vollzeitstellen in der Jugendarbeit herangezogen, ebenfalls in Relation zur Anzahl der Jugendlichen (C2).
Dabei ist anzumerken, dass vielerorts aufgrund der Fokussierung auf
Benachteiligtengruppen trotz zahlreicher Einrichtungen durchaus Defizite in
den Angebotsstrukturen für die übrigen Jugendlichen bestehen, wodurch sie
somit oft vielfältige Anregungen aber auch Irritationen, Sozialkontakte und
soziale Interaktion vermissen müssen (ebd.: 87f).
Dimension D – Mobilität
In den Gruppendiskussionen wurde von den Jugendlichen außerdem verschiedentlich die Bedeutung der peripheren Lage ihrer Herkunftsorte mit ihren
nachteiligen Konsequenzen geschildert, etwa im Hinblick auf ihr Zeitbudget,
die Abhängigkeit von elterlichen Fahrdiensten oder öffentlichen Verkehrsanbindungen zu Bildungs- und Freizeitorten. Somit kommt der Mobilität insbe15
sondere in Mittel- und Oberzentren, in denen sich zahlreiche Freizeit- und
Einkaufsmöglichkeiten bzw. kulturelle Angebote konzentrieren, eine entscheidende Rolle zu.
Vor diesem Hintergrund wurden die Indikatoren der durchschnittlichen
PKW-Fahrzeit zum nächsten Mittel- bzw. Oberzentrum (D1), zu 3 von 36
Agglomerationszentren im In- und Ausland3 (D2) sowie der durchschnittlichen
Bahnreisezeit zu diesen Agglomerationszentren (D3) berücksichtigt. Wenngleich auch die Angebotsstrukturen des ÖPNV mit seinen Streckennetzen und
Taktzeiten für die befragten Jugendlichen nach eigenem Bekunden eine hohe
Relevanz für die Lebensqualität hat, standen für die Abbildung dieses Mobilitätskriteriums keine landkreisbezogenen Daten zur Verfügung.
Dimension E – Digitale Erreichbarkeit
Für Jugendliche erfüllt die leitungsgebundene, vor allem aber die mobile Internetnutzung in erster Linie eine sozial-interaktive Funktion. Neben der Nutzung
zur Kommunikation kommt für sie dem Internet eine wichtige Bedeutung als
Unterhaltungs- und Entspannungsmedium zu (Koob u.a. 2012: 31). Aufgrund
der inzwischen erreichten hohen Reichweiten innerhalb der jüngeren Generation wird von einer zunehmenden Habitualisierung der Teilhabe an digitalen
sozialen Netzwerken gesprochen, die in alterstypischen sozialen Rollen fest
verankert ist (Busemann/Gscheidle 2012). So ist auch in den Gruppendiskussionen mit Jugendlichen aus den acht ländlichen Untersuchungsstandorten
immer wieder von der Unzulänglichkeit digitaler Erreichbarkeit die Rede, bis
hin zu der persönlichen Erfahrung, von der Kommunikation innerhalb Gleichaltriger häufig abgeschnitten zu sein. Dabei sind virtuelle Interaktionsmedien in
ländlichen Gebieten aufgrund der hohen Mobilitätskosten und der räumlich
verstreuten Freundeskreise umso wichtiger. Demzufolge wurden hier die Indikatoren des leitungsbasierten Versorgungsanteils der Haushalte einerseits
(DSL) (E1) sowie andererseits der drahtlosen Breitbandversorgung (LTE) (E2)
hinzugezogen.4
Dimension F – Politische Mitsprache
Jugendliche in ländlichen Regionen sind von einschneidenden Folgen des demografischen Wandels in besonderem Maße betroffen, wie z.B. von der finanziellen Erschöpfung gegensteuernder öffentlicher Akteure, von Schulschließungen und kulturellen Verödungsprozessen. Dabei besteht hier eher selten
eine Kultur der Beteiligung junger Menschen an politischen Entscheidungsfindungsprozessen. Von den befragten Jugendlichen wurde der Aspekt demokratischer Teilhabe in den Gruppendiskussionen in verschiedenen Zusammenhängen eingefordert. An dieser Stelle sehen sich die Jugendlichen jedoch häufig
in ihren berechtigten Belangen politisch deutlich unterrepräsentiert, da aus
3
Aus dem qualitativen Projektmaterial zu Mobilitätsbedürfnissen der Jugendlichen geht gerade für
grenznahe Untersuchungsstandorte hervor, dass vielfach auch nahegelegene Großstädte im Nachbarland beliebte Ziele der Freizeitmobilität sind – so z.B. Prag für Jugendliche aus dem Landkreis
Wunsiedel i.F. oder Stettin für diejenigen aus dem Landkreis Vorpommern-Greifswald.
4
Dafür wurde auf landkreisbezogene Daten des vom BMVI herausgegebenen Breitbandaltlas für
Deutschland aus zurückgegriffen (BMVI 2015).
16
ihrer Sicht kaum eine Vertretung ihrer Interessen als Bevölkerungsgruppe stattfindet. Auf der Basis einer eigenen Bestandsaufnahme5 konnte dem Teilhabeindex ein Indikator zum Anteil der durch Kinder- und Jugendparlamente bzw.
-beiräte demokratisch repräsentierten Minderjährigen im Landkreis (F1) hinzugefügt werden. Zwar handelt es sich hierbei nicht um die einzige demokratische Partizipationsform für Jugendliche. Dennoch spricht die Existenz eines
solchen Gremiums einerseits dafür, dass der Kinder- und Jugendbeteiligung
seitens der Kommune ein hoher Stellenwert beigemessen wird. Andererseits ist
daraus die Mitwirkungsteilhabe von Seiten der Jugendlichen ablesbar, die von
ihnen offenbar als adäquates Mittel der Vertretung ihrer Belange genutzt wird.6
Das Indikatorensystem
In der Zusammenschau der verschiedenen Teilhabeaspekte, die von den Jugendlichen selbst zum Gegenstand der Gruppendiskussion gemacht worden
waren, ergibt sich das Bild des entwickelten Teilhabeindex.
Auf der Grundlage standardisierter Variablen konnte auf diese Weise ein
Mittelwertindex gebildet werden, wobei die Indikatoren als gleichrangige Aspekte in die Bildung der einzelnen Dimensionen und diese wiederum gleichwertig in die Bildung des gesamten Teilhabeindex´ eingeflossen sind.
Abbildung 3: Indikatorensystem zum Teilhabeindex Jugendlicher in
ländlichen Räumen
A1: Medianeinkommen von Erwerbspersonen
A-Beschäftigungsperspektive
A2: Jugendarbeitslosigkeit
A3: Anteil der Jüngeren an den Arbeitslosen
B1: ANR betrieblicher Ausbildungsstellen
B-Weiterführende Bildung/Ausbildung
B2: Studierende / 1.000 EW
B3: Anteil der Gymnasiasten
C1: Einrichtungen der Jugendarbeit / 1.000 Jug.
C-Angebote der Jugendarbeit
C2: Personal der Jugendarbeit / 1.000 Jug.
D1: Durchschn. PKW-Fahrzeit zum Mittel-/Oberzentrum (min)
D-Mobilität
D2: Durchschn. PKW-Fahrzeit zu 3 v. 36 Agglomerationszentr. im In- u. Ausland (min)
D3: Durchschn. Bahn-Reisezeit zu 3 v. 36 Agglomerationszentr. im In- u. Ausland (min)
E-Digitale Erreichbarkeit
E1: Leitungsbasierte Breitbandversorgung der Haushalte
E2: Drahtlose Breitbandversorgung der Haushalte
F-Politische Mitsprache
5
6
F1: Anteil d.i. demokr. Gremien repräsentierten Minderjährigen
Zur Abbildung dieses Indikators wurde eine bundesweite Online-Recherche aller kommunalen Kinder- und Jugendparlamente sowie -beiräte durchgeführt, deren letzte dokumentierte Aktivität nicht
länger als zwei Kalenderjahre zurückliegt. Dabei konnte auf die Partizipationsdatenbank des Kinderschutzbundes sowie auf Suchlisten sozialer Online-Netzwerke zurückgegriffen werden. Die Anzahl
der in den Gemeinden mit solchen Parlaments- oder Beiratsstrukturen vertretenen Minderjährigen
wurde dann zu derjenigen der übrigen im Landkreis ins Verhältnis gesetzt.
Grundlage hierfür bildeten umfangreiche eigene Online-Recherchen auf Portalen sowie in sozialen
Netzwerken zur Ermittlung solcher Vertretungsgremien für die Belange von Minderjährigen, welche
eine Aktivität innerhalb der letzten zwei Jahre aufwiesen.
17
4.2
Ausprägungen des Jugendteilhabeindex´ im
interregionalen Vergleich
Anhand des gewonnenen Jugendteilhabeindex´ wurden Betrachtungen dazu
angestellt, inwiefern seine Ausprägung insgesamt bzw. in Bezug auf Teildimensionen regionale Disparitäten aufweist. Zur Veranschaulichung der auftretenden Unterschiede wurden der metrische Gesamtindex sowie seine Teildimensionen in Quintile klassifiziert. Das heißt, die bundesweit 296 Landkreise wurden in Abstufungen zwischen 1 (niedrigster Wert) und 5 (höchster Wert) fünf
zahlenmäßig gleichstark besetzten Gruppen zugeordnet. Bezogen auf die acht
Untersuchungsstandorte werden die folgenden Ausprägungen der sechs Dimensionen sichtbar.
Abbildung 4: Unterschiede der Teilhabedimensionen in den Untersuchungsstandorten
A – Beschäftigung
A B C D E F B – Weiterführende Bildung
VorpommernGreifswald
C – Jugendangebote
D – Mobilität
A B C D E F Prignitz
E – Digitale Erreichbarkeit
A B C D E F F - Politische Mitsprache
A B C D E F MansfeldSüdharz
Werra‐
Meissner‐Kreis
A B C D E F Kyffhäuserkreis
A B C D E F Vogtlandkreis
Wunsiedel
Birkenfeld
Der obigen Abbildung ist zu entnehmen, dass die vorliegende Kombination
der sechs Teilhabedimensionen sehr unterschiedlich ausfällt. Demnach kann
jede Region angesichts eines bestimmten Teilhabeprofils auf besondere Standortvorteile verweisen, weist gleichzeitig aber auch sichtbare Rückstände gegenüber anderen auf.
18
Teilhabe Jugendlicher in Flächenlandkreisen Deutschlands
Eine Einfärbung der Flächenlandkreise mit der jeweiligen Einordnung in eines
der gebildeten Quintile liefert für Gesamtdeutschland die folgende Teilhabekarte.
Abbildung 5: Jugendteilhabeindex in den Landkreisen
sehr niedrig
niedrig
moderat
hoch
sehr hoch
Stadtkreis/
fehlende Daten
Dabei waren Stadtkreise von vornherein von der Zuordnung ausgeschlossen,
ebenso wie Landkreise mit fehlenden Regionaldaten (hier grau dargestellt).
Auch wenn davon ein gewisser Teil der Landkreise betroffen ist, zeichnet sich
dennoch eine im Osten Deutschlands tendenziell niedrigere Ausprägung des
Teilhabeindex´ ab. Hier zeigt sich das Merkmalsbündel im Hinblick auf den
Arbeitsmarkt und eine weniger ausgebaute Infrastruktur insbesondere für die
neuen Bundesländer als nachteilig.
19
4.3
Dimensionen von Teilhabe als regionale
Haltefaktoren
Viele Jugendliche in ländlichen Räumen sehen sich vor dem Hintergrund lokaler Rahmenbedingungen zu einem „mobilen“ und/oder einem „mentalen Ausstieg“ veranlasst, wobei letzterer zumindest den Verlust der Identifikation mit
der Herkunftsregion einschließt (Höhne 2015: 88). Dazu können die jeweiligen
Abwanderungssaldi strukturschwacher Landkreise nach einzelnen Altersjahrgängen betrachtet werden, d.h. die Netto-Bilanz der Zuzüge und Fortzüge
einer Gebietskörperschaft.
Hierbei zeigt sich, dass insbesondere der Abwanderungssaldo der Jugendlichen und jungen Erwachsenen, also die Alterskohorten der 18- bis 22-Jährigen
besonders negativ ausfallen. Somit sind sie als die Schlüsselgruppe für die demografische Entwicklung einer Region anzusehen. Tatsächlich gehören diese
jungen Menschen derjenigen Bevölkerungsgruppe an, bei der die vor Ort kollektiv geteilten Überzeugungen zu den Perspektiven einer Region unmittelbar
entscheidungs- und verhaltensrelevant werden. Dies wird für sie institutionell
mit dem Verlassen der Schule initiiert, wobei sie gleichzeitig die Generation bilden, welche nicht in dem Maße wie andere durch Arbeit und familiäre Verantwortung an ihren Herkunftsort gebunden ist. Demgegenüber sind ältere Generationen bereits für ihre eigenen Kinder oder später teils für die Pflege ihrer
Eltern verantwortlich.
Nun kann auf der Basis der vorliegenden Daten zu den beschriebenen Teilhabeaspekten untersucht werden, inwiefern die einzelnen Dimensionen im Zusammenhang mit der Bildungswanderung stehen, d.h. dem landkreisbezogenen
Wanderungssaldo der 18- bis 24-Jährigen. Die folgende Abbildung stellt die
Höhe des gemessenen Einflusses auf die Bildungswanderung der Landkreise7
dar:
Abbildung 6: Effektstärken der Teilhabedimensionen auf die Bildungswanderung (N=281)
A - Beschäftigungsperspektive
,339
B - Weiterführende
Bildung/ Ausbildung
,306
D - Mobilität
E - Digitale
Erreichbarkeit
F - Politische
Mitsprache
C - Angebote der
Jugendarbeit
7
,165
,054
,024
,000
Dieser Darstellung liegt ein multivariates Regressionsmodell zugrunde, welches die ausgewiesene
Varianzaufklärung als Reineffekte der einzelnen Teildimensionen errechnet.
20
Wenngleich aufgrund von beobachteten Zusammenhängen auf der Aggregatebene keine Kausalzusammenhänge zu den individuellen Motiven abgebildet
werden können, werden hier dennoch die in den Gruppendiskussionen artikulierten Push- bzw. Pull-Faktoren für Abwanderung sichtbar, d.h. die Aspekte,
die eine Region für junge Menschen attraktiv oder unattraktiv erscheinen lassen. Eine Absicherung solcher Wirkungshypothesen kann jedoch lediglich mittels Erhebungsdaten auf der Individualebene erfolgen. Angesichts der aufgeklärten Gesamtvarianz von ca. 40% bleibt dennoch ein Großteil der Motive für
die Abwanderung im Dunkeln. Gleichzeitig kann jedoch nachvollzogen werden, dass nicht nur die prospektiven Kriterien der lokalen Ausbildungs- und
Beschäftigungssituation sowie eine eingeschränkte Mobilität dabei von Bedeutung sind, sondern offenbar auch Faktoren wie die digitale Erreichbarkeit und
sogar die politischen Mitsprachemöglichkeiten einen messbaren Beitrag als
Haltefaktoren leisten. Wenn die Dimension der Angebote der Jugendarbeit
hier auch keinen Zusammenhang mit dem Wanderungsverhalten aufweisen
mag, ist sie doch zumindest aus den Statements der Jugendlichen als wichtiger
Beitrag zur aktuellen Lebensqualität für die biografische Phase „Jugend“ herausgestellt worden.
5
Analyse von jugendpolitischen und
demografiestrategischen Dokumenten der
untersuchten Landkreise
5.1
Worauf basiert die Analyse?
In Dokumentenanalysen wurde recherchiert, welche Formen des strategischen
Engagements im Handlungsfeld Demografie in den acht betrachteten Landkreisen entwickelt wurden, wie jugendliche Belange innerhalb von Projekten,
Analysen und Strategien berücksichtigt werden und wie das Thema Jugend und
Demografie administrativ und zivilgesellschaftlich auf verschiedenen administrativen Ebenen angebunden ist. Nach Identifizierung aussagekräftiger Dokumente und deren Einordnung in Textsorten und in die jeweiligen thematischen
Felder erfolgte die inhaltliche Analyse derselben.
Als ein erstes Instrument zur Gewinnung eines Überblicks diente eine
Stichwortsuche mittels der Suchbegriffe „Jugend“ oder „Jugendliche“. Um den
Suchraum zu vergrößern, wurden die einzelnen Dokumente im Anschluss daran themenfeldspezifisch analysiert, d.h. unter dem Gesichtspunkt der Relevanz für die Jugend im ländlichen Raum. Dies erfolgte durch selektives Exzerpieren der Textinhalte in den Schwerpunkten, welche im Feld des Erkenntnisinteresses von „Jugend im Blick“ stehen.
21
Tabelle 2: Basisinformationen zur Dokumentenanalyse
Rechercheverfahren
Online-Recherche
Art der Dokumente
Grundsatzpapiere
Strategiepapiere
Untersuchungen / Erhebungen
Demografie-Leitbilder
Suchfokus
Dokumente der acht Untersuchungsregionen
Zeitraum der untersuchten Dokumente
Januar 2008 bis Juni 2013
Auf der Grundlage der zusammengetragenen Textauszüge in einem Gesamtdokument konnte eine qualitative Frequenzanalyse der jugendbezogenen strategischen Inhalte vorgenommen werden (vgl. Prior 2003). Anhand der dabei
gebildeten Kategorien wurden verschiedene Typen herausgestellt. Bei der Typenbildung der verfolgten Strategien und schließlich der Kommunen wurden
nach Kelle und Kluge (2010) folgende Teilschritte vollzogen: Zunächst wurden
relevante Vergleichsdimensionen herausgearbeitet. Anschließend erfolgten eine
Gruppierung der Ansätze bzw. der Kommunen sowie eine Analyse empirischer Regelmäßigkeiten anhand des vorhandenen Materials. Darauf aufbauend
wurden eine kontrastierende Analyse inhaltlicher Bezüge und die vorläufige
Typenbildung vorgenommen und schließlich die gebildeten Typen näher charakterisiert, wobei eine genauere Beschreibung der jeweiligen Merkmalsbündel
erfolgte.
5.2
Strategische Ansätze und das Bild von Jugend
Die Landkreise wurden danach kategorisiert, inwiefern sie in ihren jugendbezogenen Aktivitäten reaktiv oder bzw. und proaktiv ausgerichtet sind. Dabei
wurde eine Beteiligung an vielen Programmen der verschiedenen Ebenen in
den demografisch relevanten Bereichen der Regionalentwicklung, der Daseinsvorsorge sowie der Bildungs- und Jugendarbeit innerhalb eines Betrachtungsraumes von fünf Jahren (2008-2013) als reaktives strategisches Engagement
betrachtet, da hier die Initiative von staatlichen Stellen auf Landes8-, Bundes9und Europaebene10 vor Ort aufgegriffen wurde. Demgegenüber wurden als
proaktives Engagement die lokal selbstinitiierten Prozesse angesehen. Diese
können sich in Form von der Erstellung umfangreicher Regionalanalysen –
z.B. Demografie- und Bildungsberichte, Regionalstudien – vorerst auf einer
reflexiven Ebene bewegen, als regional entwickelte Strategien, z.B. als Masterpläne, Handlungs- und Entwicklungskonzepte, auf der Planungsebene, oder in
der Umsetzung konkreter jugendbezogener Initiativen bereits auf der Handlungsebene.
Für die letzteren Ansätze finden sich Beispiele in der Prignitz mit der
Initiative JugendMobil, im Landkreis Birkenfeld mit dem Jugendtaxi, im
8
9
z.B. Thüringer Netzwerk Demografie, Modellregion Demografie Bayern
z.B. „Land-Zukunft“, „Regionales Übergangsmanagement“, „Lernen vor Ort“, „Region schafft Zukunft“
10
z.B. über das LEADER-Entwicklungsprogramm
22
Vogtlandkreis mit dem Planungs- und Beteiligungsinstrument der JugendWorkshops, im Landkreis Wunsiedel i.F. mit Schülerwettbewerben und einer
auf Jugendliche ausgerichteten Image-Kampagne sowie im Werra-MeißnerKreis mit dem eingerichteten Netzwerk Jugend.
Im Überblick auf die acht betrachteten Landkreise konnte die folgende Systematisierung des strategischen Engagements vorgenommen werden.
Abbildung 7: Systematisierung des strategischen Engagements
Proaktives Engagement
Reaktives Programmengagement
Prignitz
Werra-Meißner-Kreis
Vogtland
Wunsiedel
Birkenfeld
Vorpommern-Greifswald
Mansfeld - Südharz
Kyffhäuserkreis
Initiativen f ür Jugendliche
Leitbilder / Handlungskonzepte
Landesprogramme
MORO - Reg. Daseinsvorsorge
Regionalanalysen
Qualist (EU)
RÜM
LEADER (EU)
Toleranz f ördern - Kompetenz stärken
Land - Zukunf t
LvO
MORO - Region schaf f t Zukunf t
Die in Abbildung 7 dargestellte Gegenüberstellung gestattet eine Einordnung
der Landkreise in drei verschiedene Gruppen: Während in den Landkreisen
Mansfeld-Südharz, Kyffhäuserkreis und Vorpommern-Greifswald eine durchweg reaktive Problembearbeitung auftritt, indem die Anregungen fast ausschließlich von externen Akteuren ausgehen, betreibt der Landkreis Prignitz
eine erkennbar proaktive Problembearbeitung auf der Reflexions-, Planungsund Handlungsebene. Eine Doppelstrategie ist in den Landkreisen Birkenfeld,
Wunsiedel i.F., Vogtlandkreis und dem Werra-Meißner-Kreis zu erkennen, in
denen die Bearbeitung demografischer Herausforderungen sowohl durch eigene Initiativen als auch durch das Aufgreifen äußerer Anregungen erfolgt.
Stellenwert Jugendlicher im Rahmen lokaler Strategien
Eine genauere Betrachtung des vorliegenden qualitativen Materials kommunaler demografiebezogener Dokumente liefert darüber hinaus Aussagen dazu,
welche Berücksichtigung Jugendliche und ihre Belange im Rahmen solcher
strategischen Ansätze finden.
Hierzu wurden im Rahmen einer qualitativen Frequenzanalyse (Mayring
23
2010: 13) zunächst alle für die Jugendlichen relevanten Ansätze erfasst und
einer Kategorisierung unterzogen. Hierbei konnten vier Hauptstrategien identifiziert werden, die wiederum in zwei Richtungen eingeteilt werden können.
Als in den einbezogenen Landkreisen besonders verbreitete strategische
Herangehensweise können quantitativ orientierte Ansätze angesehen werden.
Diese stellen den Umfang vorhandener Rahmenbedingungen des Aufwachsens
in den Mittelpunkt und berücksichtigen dabei vorrangig ökonomisches Kapital
– im Sinne des Einsatzes von Geldmitteln – sowie legales Kapital – im Rückgriff auf die kommunalen Steuerungskompetenzen (vgl. Abeling/Ziegler 2004).
Hier sind anhand der ausgewerteten Dokumente zwei Hauptstrategien zutage
getreten:
Ausbau von Angeboten für Jugendliche – Hierbei sollen beispielsweise Freizeit-/
Kulturangebote für Jugendliche, Angebote der außerschulischen Bildungsarbeit sowie der Jugendberufshilfe, der Umfang an Schulsozialarbeit, die
Förderung von benachteiligten Jugendlichen, Qualifikationsmaßnahmen
oder Beschäftigungsangebote ausgebaut werden.
Sicherung von Infrastruktur – Hierbei sind langfristige Investitionen in strukturelle
Voraussetzungen im Landkreis angesichts bzw. trotz abnehmender Bevölkerungszahlen junger Menschen intendiert, wie im Bereich der Information
(z.B. in Form von Internetportalen), die Aufrechterhaltung von Schulstandorten und Jugendfreizeiteinrichtungen sowie die Sicherung von Mobilität
für Jugendliche.
Eine zweite Gruppe auffindbarer Hauptstrategien stellt in erster Linie auf qualitative Veränderungen innerhalb des Landkreises zur Beachtung jugendlicher
Interessen ab. Im Zuge dessen werden vorrangig Ressourcen in Bezug auf soziales Kapital – etwa vorhandene Kontakte oder gegenseitige Anerkennung –
aber auch kulturelles Kapital – im Sinne von vorhandener Kompetenzen – genutzt und ausgebaut (ebd.). Darunter sind die beiden folgenden Hauptstrategien zu subsummieren:
Die Stärkung der sozialen Kohäsion – Zu den Ansätzen dieser Hauptstrategie zählen die Etablierung jugendgerechter Partizipationsformen, die Stärkung der
Identifikation mit der Region unter Jugendlichen, die Förderung des sozialen Miteinanders und des bürgerschaftlichen Engagements von Jugendlichen sowie nicht zuletzt die Verbesserung des intergenerationalen Verhältnisses im Landkreis.
Strategische Vernetzung – Sie zielt darauf ab, die im Landkreis vorhandenen Ressourcen und Angebote besser aufeinander abzustimmen und neue Kooperationen zwischen den für Jugendliche relevanten Akteuren zu initiieren,
wobei hier Ansätze zur Stärkung der Kooperation von Jugendhilfe und
Schule, zur Etablierung eines Bildungsmanagements, zur Vernetzung kultureller Angebote und Einrichtungen sowie zur Verknüpfung von Schule und
Wirtschaft zu nennen sind.
Im Auftreten der vier beschriebenen Hauptstrategien sind durchaus Unter24
schiede in den acht betrachteten Landkreisen festzustellen. Die Bedeutung einzelner Ansätze, gruppiert zu den Hauptstrategien und in Bezug zu den im
Landkreis identifizierten strategischen Zielen insgesamt, liefert eine spezifische
Kombination der lokalen Herangehensweise.
Dabei werden die unterschiedlichen Gewichtungen der jeweils eingeschlagenen Hauptstrategien sichtbar. Eine genauere Betrachtung der Ansätze fördert zutage, dass in den analysierten Konzepten insgesamt eher quantitative
Ansätze – und hierbei insbesondere der Ausbau von Angeboten für Jugendliche – in allen betrachteten Landkreisen eine besonders große Rolle spielen.
Gleichzeitig kann in den Landkreisen des Vogtlandes sowie der Prignitz eine
deutliche Präferenz qualitativer Hauptstrategien – wie z.B. die Stärkung von
Akteursnetzwerken – konstatiert werden. Darüber hinaus sind nicht alle
Hauptstrategien in jedem Landkreis vertreten – so etwa konnten im Landkreis
Birkenfeld keine Hinweise auf Ansätze zur Stärkung der sozialen Kohäsion
und in der Prignitz keine auf die strategische Sicherung von Infrastruktur gefunden werden.
Vergleicht man den Stellenwert, den qualitative und quantitative Ansätze in
den Landkreisen haben, so kann festgestellt werden, dass im Vogtlandkreis, der
Prignitz sowie im Werra-Meißner-Kreis beiden Ausrichtungen eine hohe Bedeutung beigemessen wird. Hierin kann angesichts der besonderen Betonung
qualitativer Strategien von einem Gemeinwesenoptimismus (Abeling/Ziegler
2004) gesprochen werden, wobei Jugend angesichts stark partizipativer Elemente auch um ihrer selbst willen wahrgenommen wird.
Ein hoher Stellenwert quantitativer Ansätze und gleichzeitig eine geringe
Bedeutung der qualitativen kann hingegen als Strategietyp wirtschaftsökologischer Prägung angesehen werden – anzutreffen in den Landkreisen Birkenfeld,
Mansfeld-Südharz, Kyffhäuserkreis und Vorpommern-Greifswald. Hier wird
Jugend womöglich vorrangig als Investitionsprojekt zur Bewältigung demografischer Herausforderungen angesehen.
In dem Landkreis Wunsiedel i.F. konnte in beiden strategischen Ausrichtungen nur ein geringes Repertoire an Einzelansätzen festgestellt werden. Unter Beachtung der ergriffenen Strategien ist hier von einem ressourcenorientierten Ansatz zu sprechen. Vor dem Hintergrund der vorrangig beabsichtigten
verbesserten Ausschöpfung der Bildungspotenziale von Jugendlichen werden
diese offenbar überwiegend als Ressource für die Entwicklung des Landkreises
gesehen.
5.3
Handlungsbedarf aus Sicht der lokalen Akteure
Insgesamt soll auf der Grundlage der hier vorgenommenen Dokumentenanalysen ausdrücklich keine Bewertung im Hinblick auf die Angemessenheit oder
den Erfolg der beschrittenen strategischen Ansätze in den Landkreisen vorgenommen werden.
Im Auftaktworkshop, in dem die Ergebnisse vorgestellt wurden, sind vielmehr die Fördermentalitäten verschiedener Landkreise aus lokaler Sicht diskutiert worden. Einigkeit bestand darin, dass jugendpolitische und demografiepolitische Entwicklungen auf Langfristigkeit beruhen sollten. Die Förderperioden von Landes- und Bundesprogrammen würden dagegen oftmals nicht aus25
reichen, um die finanzielle Fortführung von initiierten Ansätzen verwirklichen
zu können. Eine langfristige finanzielle Absicherung der Handlungsansätze
würde eine kontinuierliche Arbeit, die auch eine personelle Stabilität miteinschließe, ermöglichen und strategische Ansätze deutlich fruchtbarer machen.
Zudem wurde konstatiert, dass neben quantitativen Strategien insbesondere in
Schrumpfungsräumen qualitative Ansätze, die darauf abzielen, vorhandene
Ressourcen und Räumlichkeiten zu teilen, als sehr gewinnbringend erachtet
werden. Zum einen könnten hierdurch Angebote erhalten, zum anderen
Räumlichkeiten und Ressourcen zur eigengestalteten Freizeit für die Jugendlichen zur Verfügung gestellt werden.
6
Die Sicht (jugend-)politischer Akteure
Um die Wahrnehmung der Belange junger Menschen in ländlichen Regionen
abbilden zu können, ist insbesondere die Sicht lokaler Entscheidungsträger/innen und Interessenvertreter/innen relevant. Ihre Perspektive in die Beschreibung der Rahmenbedingungen in den Landkreisen mit aufzunehmen, war deshalb erklärte Intention des Projekts.
6.1
Wie wurden die Sichtweisen (jugend-)politischer Akteure ermittelt?
In den acht Untersuchungsregionen wurden qualitative Interviews (in der Regel Einzelinterviews) mit (jugend-)politischen Akteuren geführt. Ziel dieser
sogenannten Experteninterviews war es, zu vertiefendem Wissen über die demografische Situation und den Umgang mit den demografischen Entwicklungen in den Untersuchungsregionen in Fragen der Jugendpolitik zu gelangen.
Den Interviews lag ein themenzentrierender Leitfaden zugrunde, welcher die
Entwicklungen im Landkreis, den Umgang mit dem Thema Demografie, die
Akteurskonstellation und die Belange Jugendlicher in diesem Feld zum Gegenstand hatte. Als Expertinnen und Experten wurden dabei Ansprechpersonen
einbezogen, die ein besonderes Wissen über die demografische und jugendpolitische Situation in der Region erlangt haben. Hinzu kam, dass sie die (zumindest partielle) Möglichkeit haben, ihr Wissen praxiswirksam einzusetzen. Somit
handelte es sich um Personen, die aufgrund ihrer beruflichen Position oder
ihres ehrenamtlichen Engagements Einfluss auf die Jugendpolitik bzw.
Demografiepolitik nehmen oder aber praktische Ansätze in der Region verfolgen. Die fünf Akteursbereiche wurden mit den Teilnehmenden des Auftaktworkshops von „Jugend im Blick“ erarbeitet. Die Expertinnen und Experten
wurden uns durch die Ansprechpartner/innen der Untersuchungsregionen, die
zumeist Akteure der Landkreisverwaltung oder des Jugendamtes waren, vermittelt.
26
Tabelle 3: Befragte Expertinnen und Experten
Verwaltung
• Landrat
• Jugendamtsleitung
• Zuständigkeit
Jugendarbeit Jugendpolitik
im Landkreis
Schule
Planung
• Schuldirektoren
Gymnasien
• Regionalplanung
• Berufliche
Schulen
• Wirtschaftsförderung
• Schulsozialarbeit
Jugendvertretung
• Kreisjugendring
• Kreisschülersprecher
• Aktive
Jugendliche
• Kreisjugendpflege
• IHK
Zivilgesellschaft /
Einzelperson
• Vereinsvorsitzende
• Ehrenamtliche
der
Jugendarbeit
• Engagierte
Unternehmen
• Lernen vor Ort
Erhebungszeitraum: Dezember 2013 – März 2014
Aufgrund unterschiedlicher Strukturen und Netzwerke in den Landkreisen liegen innerhalb der Themenbereiche Streuungen der Funktionen der befragten
Personen vor. Es ist jedoch davon auszugehen, dass durch die Flexibilität in
den jeweiligen Bereichen die Expertise des Landkreises im Bereich Jugend und
Demografie besonders gut abgebildet werden konnte.
6.2
Die Situation in den Untersuchungsregionen
aus Sicht (jugend-)politischer Akteure und der
Umgang damit
Jugendhilfe und Jugendpolitik in ländlichen Räumen
Im Bereich der Jugendhilfe überraschte zunächst, dass viele der hierzu befragten Akteure von rückläufigen Zahlen junger Menschen insgesamt weniger betroffen zu sein scheinen, als zu vermuten wäre. Bei näherer Betrachtung zeigte
sich, dass dies im Wesentlichen einem Anstieg der Bedarfe an Angeboten der
Jugend- und Schulsozialarbeit insbesondere für eine zunehmende Zahl sozial
benachteiligter Jugendlicher geschuldet ist. Dagegen wird eine immer größere
Herausforderung darin gesehen, attraktive Angebote der (offenen) Jugendarbeit bereitzustellen, die sich an alle Jugendlichen, und nicht „nur“ an Gruppen
mit speziellen Unterstützungsbedarfen, richten. Durch die angespannte Haushaltslage der Untersuchungsregionen würde in den Landkreisen akuten Pflichtaufgaben eine bedeutend höhere Priorität zugewiesen, als der deutlich unterfinanzierten Aufgabe der Jugendarbeit.11
Die mangelnde Regelfinanzierung werde dann mitunter über die Einwerbung von Fördergeldern und die Generierung von Bundesmodellprojekten zu
kompensieren versucht. Jedoch seien hier wiederum die zu erreichenden Zielgruppen sowie die Themengebiete vorgegeben, was mit den Prinzipien der
11
Hier zeigt sich einmal mehr, dass in nicht wenigen Kommunen nach wie vor an der Fiktion festgehalten wird, bei Jugend- und Jugendverbandsarbeit (§§ 11 und 12 SGBVIII) handele es sich um eine
sogenannte „freiwillige“ Aufgabe. Diese ist nach Rechtslage jedoch genauso „Pflichtaufgabe“ wie Jugendsozialarbeit (§ 13 SGBVIII) (vgl. Wiesner 2015; Vor §§ 11ff RN 5).
27
offenen Jugendarbeit nicht zu vereinbaren sei. Zum anderen würden durch den
hohen bürokratischen Aufwand in Abrechnungsfragen Arbeitskapazitäten der
Fachkräfte gebunden. Kaum würde es zudem gelingen, die zunächst sehr positiven Impulse, die innerhalb von Programmen entstehen, kontinuierlich und
nachhaltig zu verankern, da die Projekte in der Regel nach Ablauf der Förderperiode nur in Ansätzen weitergeführt werden.
Jedoch zeige sich auf der anderen Seite auch, dass die bestehenden (professionell betreuten) Jugendarbeitsangebote oft nicht ausgelastet sind. Dies bringe
die Akteure in Legitimationsnot hinsichtlich des tatsächlichen Bedarfs an Jugendarbeitsangeboten.
Die Expertinnen und Experten äußerten in diesem Zusammenhang vor allem den Wunsch nach neuen Konzepten, die den Tagesabläufen der Jugendlichen gerecht werden und die Jugendliche in ihrem Sozialraum aufsuchen können. Jedoch würden kaum Fachdebatten über Jugendarbeit im ländlichen
Raum geführt. Diese seien zumeist auf die Bedingungen des städtischen Raums
ausgerichtet. Daher gebe es wenige Impulse, die für die Jugendarbeit des ländlichen Raums fruchtbar seien.
Zu den Chancen und Folgen der Einrichtung von Ganztagsschulen lagen
sehr unterschiedliche Einschätzungen vor. Zum einen böten sie die Chance,
den Ort Schule, an dem sich Jugendliche sowieso täglich aufhalten, zu nutzen,
um auch non-formale und informelle Treffpunkte und Bildungsräume zu eröffnen. Zum anderen würden ältere Kinder und Jugendliche hierdurch einmal
mehr den Bezug zu ihrem Wohnort und zur lokalen Angebotslandschaft verlieren oder gar nicht erst herstellen können.
Zudem wurde problematisiert, dass auf lokaler Ebene die Bedürfnisse und
Bedarfe von Jugendlichen kaum im Bewusstsein politisch Handelnder außerhalb des Jugendbereichs verankert seien. Da die Zuständigkeit für Jugend auf
verschiedenen administrativen Ebenen (Kommunal-, Kreis-, Landes- und
Bundesebene) liegt, Jugendpolitik auf Langfristigkeit angelegt ist und dem politischen Denken in Legislaturperioden entgegensteht, wird Jugendpolitik ihres
Erachtens auf lokaler Ebene kaum kontinuierlich verfolgt oder nur symbolisch
betrieben. Dies drücke sich auch dadurch aus, dass die wenigsten der Untersuchungslandkreise über eine aktuelle Jugendhilfeplanung verfügen. Auch wurde
der Wunsch geäußert, dass Jugendpolitik nicht nur im Jugendhilfeausschluss,
sondern darüber hinaus auch in anderen Gremien, wie etwa dem Bildungsausschuss oder im Verkehrsausschuss querschnittlich mitgedacht würde. Insgesamt plädierten die meisten Akteure dafür, Jugend- und Bildungspolitik nicht
den einzelnen Akteuren in Schulen und Unternehmen, des Kultusministeriums
oder des Elternhauses zuzuordnen, sondern das Zusammenspiel der Akteure
zu stärken, damit junge Menschen ihre individuellen Potenziale bestmöglich
(weiter)entwickeln können. Dabei sollte nicht allein auf formale Bildungsprozesse abgezielt werden, sondern es sollten auch ökologische, kulturelle und
sportliche Bildungsmöglichkeiten bereitgestellt werden.
Schule bzw. Übergang Schule-Beruf
Von Seiten allgemeinbildender Schulen wurde beschrieben, dass diese aufgrund von rückläufigen Schülerzahlen einen deutlichen Konkurrenzkampf um
28
junge Menschen als knappes Gut erleben. Dies führt dazu, dass sich Schulen
zunehmend mit einem Profil im musischen oder sportlichen Bereich herausbilden, um für junge Menschen attraktiv zu werden.
Die Entwicklung hin zur Ganztagsschule wurde sehr unterschiedlich bewertet, wobei hier zu beachten ist, dass der Grad des Ausbaus von Ganztagsschulen zwischen den Untersuchungsregionen sehr heterogen war. In jenen Untersuchungsregionen, die bereits über Ganztagsschulen verfügen, war eine inhaltliche Ausrichtung, die über die Betreuung hinausgeht und z.B. Jugendarbeit an
der Schule etabliert hat, kaum zu beobachten. In manchen Regionen verkehrten die Schulbusse nur während der offiziellen Unterrichtszeiten, so dass Schüler/innen aus dem ländlichen Raum bei halbgebundenen Ganztagsschulen von
vornherein von den Nachmittagsangeboten ausgeschlossen waren. Auch der
Zugang zum Schulgelände war abhängig von der Trägerschaft sehr unterschiedlich. In vielen Regionen wurde das Schulgelände nach der letzten Unterrichtsstunde verschlossen und konnte zu Freizeitzwecken nicht mehr betreten
werden.
Hinsichtlich der beruflichen Orientierung wurde konstatiert, dass in vielen
der Regionen eine Abwanderungsmentalität zu beobachten sei, die sich auch
bei einer Entspannung auf dem Ausbildungsmarkt nach wie vor durchsetze.
Daher sind in den vergangenen Jahren zahlreiche Formate entwickelt worden,
um die Jugendlichen besser mit der Ausbildungslandschaft der Region vertraut
zu machen. Große Schwierigkeiten wurden aber bei der Erreichbarkeit von
Betrieben gesehen, insbesondere für Jugendliche, die noch über keinen Führerschein verfügen. Zudem seien die Entfernungen zu den Berufsschulen extrem
groß und mit enormen Fahrtkosten verbunden.
Hinzukommt, dass für den angestiegenen Anteil junger Menschen mit
Hochschulreife kaum Möglichkeiten des Studiums vorhanden seien. Zwar
könne man mit billigem Wohnraum aufwarten, dieser kann aber nur dann ein
Standortvorteil sein, sofern eine schnelle Bahnverbindung zu Hochschulstandorten zur Verfügung stünde.
Wirtschaftsplanung
Neben der Neuordnung des Wirtschaftssystems in Ostdeutschland sind in Ost
und West die meisten der Untersuchungsregionen vom Strukturwandel im
ländlichen Raum sowie von einem Wegfall einst lukrativer Fertigungszweige
betroffen. In Folge des Struktureinbruchs haben sich meist solche Unternehmen angesiedelt, die dem Niedriglohnsektor zuzurechnen sind. Inzwischen
seien Jugendliche und junge Erwachsene jedoch nicht (mehr) bereit, jegliche
Arbeitsbedingungen zu akzeptieren, da sie in anderen Regionen deutlich bessere Konditionen vorfinden. In Grenzregionen wird dieser Mangel an Arbeitskräften mitunter durch Fachkräfte aus dem (nahen) Ausland ausgeglichen. Jedoch fehle es gleichzeitig an durchdachten Konzepten, wie diese Personen
auch gesellschaftlich und sozial integriert werden sollten.
Die primäre Aufgabe der Regionalplanung wird darin gesehen, den Wirtschaftsstandort durch familienfreundliche Betriebe, adäquatere Entlohnung
und durch die Ansiedlung neuer Wirtschaftszweige aufzubauen und jungen
Menschen langfristige berufliche Perspektiven zu eröffnen. Jedoch würde sich
29
ein negatives Image der Regionen auch bei verbesserten strukturellen Gegebenheiten auf dem Arbeitsmarkt nur langsam revidieren lassen. Zwar würden
momentan einzelne Aspekte des Landlebens in den Medien glorifiziert, dennoch dominierten negative Zuschreibungen und entlegene Orte würden oftmals als „zurückgeblieben“ und „abgehängt“ bezeichnet, was sich wiederum
auch auf das Selbstbild der jugendlichen Bewohner niederschlagen würde. Neben attraktiven Arbeitsstellen fehle es außerdem an einer regional abgestimmten kulturellen Angebotslandschaft für junge Menschen. Oftmals würde zwischen benachbarten Kommunen eher eine Konkurrenz denn eine Zusammenarbeit in Fragen von attraktiven Festivitäten oder Kulturangeboten vorherrschen. Diese fehlende Kooperation würde auch einem überregionalen Tourismuskonzept, welches die Regionen wirtschaftlich stärken könnte, entgegenstehen.
Jugendvertretung
In vielen der Untersuchungsregionen fehlt es an einer legitimierten Jugendvertretung wie beispielsweise Jugendbeiräten. Auch verfügen nicht alle der untersuchten Landkreise über einen Kreisjugendring. Mancherorts wird dieser auf
einen verwaltenden Charakter reduziert, indem die politische Gremienarbeit
mit den verbundenen Fahrtkosten und Arbeitszeiten nicht gefördert wird.
Zu beobachten ist zudem, dass bei fehlenden Jugendvertretungen ehrenamtlich aktive Jugendliche oder spezifische Vertretungen, wie z.B. Kreisschülersprecher, gezielt angesprochen werden, um punktuell „die Jugendmeinung
des Landkreises kundzutun“. Dies führt mitunter zu einer Vereinnahmung und
auch Überforderung der Jugendlichen.
Bei kontinuierlicher Einbindung von Jugendvertretungen wurden darüber
hinaus die hohen Partizipationskosten reklamiert, da die Fahrten zur Erreichung von Gremien oder Institutionen lang und kostenintensiv sind und oftmals nur durch die Unterstützung der Eltern zu bewältigen sind. Zudem würde
bei Sitzungen wenig Rücksicht auf die Jugendlichen genommen und die jugendpolitischen Belange z.B. erst am Ende einer Gremiensitzung verhandelt.
Dies kann mitunter zu einem Verschleiß der Partizipationsbereitschaft führen.
Insgesamt wünschten sich die aktiven Jugendlichen mehr Wertschätzung für
ihre Tätigkeit, zum einen von Seiten der Erwachsenen, zum anderen aber auch
von den Gleichaltrigen, die nicht wahrnehmen würden, welcher Aufwand mit
der Tätigkeit verbunden ist. Eine Intensivierung von Beteiligung in verschiedenen Lebenswelten, z.B. auch in der Schule, könnte ihres Erachtens dazu beitragen, insgesamt die Sensibilität für die Vertretung jugendlicher Belange zu stärken.
Zivilgesellschaft/engagierte Einzelpersonen
In vielen ländlichen Regionen ist eine durchaus hohe Engagementbereitschaft
der Bürger vorhanden. Jedoch gelte es z.B. Vereine auch bei der Alterung der
Gesellschaft aufrecht zu erhalten und zu modernisieren, um sie für junge Menschen attraktiv zu halten. Noch verfügten viele Regionen über eine Vereinslandschaft – allerdings begrenzt sich diese stark auf Fußballvereine, freiwillige
30
Feuerwehr und Schützenvereine. Dagegen fehle es an kulturellen Angeboten
(Kino, Musikunterricht, Konzerträume) oder aber an einem heterogeneren
Sportangebot.
Die Vereine äußerten auch eine zunehmende Schwierigkeit, junge Menschen für ihre Aktivitäten zu gewinnen, da diese aufgrund ihrer dichten Tagesabläufe unter der Woche kaum Zeit dafür fänden. Als Konsequenz würden
Gruppenangebote vorwiegend an den Wochenenden durchgeführt. Zudem
würde durch Kooperationen mit Grundschulen bereits versucht, diese Kinder
frühzeitig an den Verein zu binden, zumal für jüngere Kinder Angebote am
Nachmittag aufgrund der kürzeren Schulzeiten eher wahrzunehmen sind.
Mancherorts werden im Konkurrenzkampf um junge Menschen bei Sportvereinen bereits an Jugendliche Honorare gezahlt. Eine weitere Schwierigkeit wird
in der Erreichbarkeit der Angebote gesehen. Viele der Vereine haben ihre Versuche, einen Fahrdienst zu etablieren, eingestellt, da sie diesen nicht dauerhaft
finanzieren konnten.
Zudem wurde konstatiert, dass viele der Jugendlichen eine starke Konsumund Dienstleistungsmentalität entwickelt haben und weniger als früher dazu
bereit wären, sich auch über die eigentlichen Aktivitäten hinaus ehrenamtlich
im Verein zu engagieren. Die Engagierten dagegen seien zumeist auch die bildungsorientierten Jugendlichen, die die Region oft zu Bildungszwecken verlassen würden.
6.3
Netzwerkaktivitäten
Anhand des vorliegenden qualitativen Materials soll betrachtet werden, welche
Vernetzungen vor Ort im Handlungsfeld „Jugend und Demografie“ tatsächlich
vorliegen.
In den durchgeführten Experteninterviews wurde dazu die Frage gestellt,
welche Akteure innerhalb des Landkreises in diesem Kontext wichtige Ansprechpartner/innen für sie seien. Auf der Basis dieser Angaben konnten egozentrierte Netzwerke der verschiedenen Befragten und in der Zusammenschau
der fünf Einzelnetzwerke die Akteurskonstellationen am Standort rekonstruiert
werden.
Hierbei war zunächst von Interesse, welche Rolle verschiedene Akteursgruppen in den Landkreisen spielten. Dazu wurden die Nennungen zu Akteursgruppen zusammengefasst, in einer standortbezogenen Netzwerkkarte
abgebildet, die Auskunft darüber gibt, welcher der Akteure jeweils mit welchem vernetzt ist. Bewusst wird hier lediglich auf die genannten Akteure, nicht
auf die in Gremien oder anderen Verbünden vertretenen Bereiche rekurriert,
um dezidiert die wahrgenommenen Beteiligten zu berücksichtigen.
Bei der Betrachtung der Einbindung in solche Netzwerkbeziehungen ist zunächst wenig überraschend, dass im Handlungsfeld „Jugend und Demografie“
vom Jugendamt die vielfältigsten Netzwerkbeziehungen ausgehen. Auch Bildungseinrichtungen, allem voran die Schulen, sowie Träger der Kinder- und
Jugendhilfe sind hier zu nennen. Dass allerdings die Jugendvertretungen der
Häufigkeit ihrer Erwähnung nach noch hinter Unternehmen und Wohlfahrtsverbände zurückfallen und in geringem Maße an Netzwerkbeziehungen beteiligt sind, ist ein Anzeichen für eine marginalisierte Stellung dieses für die Be31
achtung jugendlicher Interessen zentralen Akteurs innerhalb der Netzwerkstrukturen. Somit muss in den Untersuchungsstandorten von Jugendvertretungen, etwa Kinder- und Jugendparlamenten, Kreisjugendringen oder der Schülervertretung, als peripherem Netzwerkpartner ausgegangen werden. Dies liegt
vielfach daran, dass eine aktive Interessenselbstorganisation von Jugendlichen
kaum anzutreffen ist.
Aus Statements der Befragten zur Vernetzungssituation im Landkreis konnten zudem Erkenntnisse über die lokale Kooperationskultur gewonnen werden. Daraus ging hervor, dass eine vielfach bestehende Konkurrenz zwischen
den Akteuren die Vernetzungsbemühungen erheblich erschwert, z.B. unter
benachbarten Landkreisen, aber auch innerhalb ein und desselben, etwa nachdem Fusionen zu Großkreisen stattgefunden hatten. Dabei wird die Kooperationsbereitschaft durch die Interessenwahrnehmung aus den alten Gebietskörperschaften teils noch nach Jahrzehnten negativ beeinflusst.
An vielen Stellen wurde der Bedarf nach einer Koordination für die Netzwerkarbeit im Landkreis durch die Befragten geäußert. In manchen Landkreisen sind vormals projektbezogen koordinierte Netzwerke nach Ende der Laufzeit zerfallen, was sich bereits im diskursiven Prozess niederschlug. Auch würden Landesinitiativen, die – z.B. in Sachsen oder Bayern – demografische Modellregionen deklarierten, kaum örtliche oder überregionale Vernetzungseffekte
erzielen. Gleichzeitig ist anhand der beobachtbaren Vernetzungsstrukturen in
den Landkreisen zu erkennen, dass Akteure der Zivilgesellschaft – wie Verbände, Kirchen und Vereine – in verschiedenen Netzwerken ein wichtiges
Bindeglied zwischen den Sektoren Soziale Arbeit, Verwaltung und Bildung
einnehmen.
Typologie auffindbarer Netzwerke
Für die einzelnen Landkreise kann auf der Grundlage der erstellten Netzwerkkarten die Netzwerkdichte – also die Häufigkeit der Beziehungen der Netzwerkpartner untereinander – bestimmt werden. Außerdem geben die Nennungen Aufschluss über die Netzwerktiefe, d.h. über den Umfang des vorhandenen Netzwerks im Landkreis.
In der Kombination zwischen beiden Vernetzungsqualitäten können hier
verschiedene Typen der Vernetzung innerhalb der Akteure des Handlungsfeldes „Jugend und Demografie“ in den Untersuchungsstandorten in Form einer
Vierfeldertafel beschrieben werden, nachdem anhand der ermittelten Häufigkeiten jeweils in eine hohe und eine niedrige Ausprägung in Bezug auf die Beobachtungen aus allen betrachteten Landkreisen unterschieden wurde.
32
Abbildung 8: Typologie der lokalen Vernetzung
Netzwerk-Tiefe
Hoch
Entwickeltes
Netzwerk
Hoch
NetzwerkDichte
Prignitz,
VorpommernGreifswald*,
Werra-Meißner
Niedrig
Kyffhäuser*
GelegenheitsNetzwerk
Niedrig
InsiderNetzwerk
Wunsiedel
Birkenfeld,
MansfeldSüdharz*,
Vogtlandkreis
Sporadisches
Netzwerk
* Umfangreiche Beteiligung an Modellprogrammen
Aus den auftretenden Merkmalskombinationen können die acht Landkreise somit vier verschiedenen Vernetzungstypen zugeordnet werden. So finden sich in
drei Landkreisen – in der Prignitz, in Vorpommern-Greifswald und dem Werra-Meißner-Kreis – entwickelte und umfangreiche Netzwerke und eine hohe
Vernetzung der beteiligten Akteure untereinander. Eine geringe Anzahl von
Akteuren, die aber – wie in Wunsiedel i.F. – untereinander eng vernetzt sind,
weisen hingegen auf eine Art Insider-Netzwerk hin.
Bei einer im Kyffhäuserkreis anzutreffenden Vernetzung mit umfangreicher
Akteursbeteiligung aber geringer Netzwerkdichte kann auf ein Gelegenheitsnetzwerk geschlossen werden, das eher anlassbezogen genutzt wird. Eine in
beiderlei Hinsicht vergleichsweise reduzierte Netzwerkstruktur ist schließlich in
den Landkreisen Birkenfeld, Mansfeld-Südharz sowie im Vogtlandkreis zu
beobachten.
Bezogen auf die sichtbar gewordenen Netzwerkstrukturen kann festgehalten werden, dass – wie z.B. in Vorpommern-Greifswald und teils auch im
Kyffhäuserkreis – gemeinsame Ziele und die Teilnahme an Modellprogrammen die lokale Vernetzung durchaus voranbringen.
Eine befristete Koordination stellt sich jedoch vielerorts nach Ende der
Laufzeit als kontraproduktiv heraus. Denn die Koordinationsaufgaben von
zuvor bestehenden sporadischen Netzwerkknoten werden während der Programmumsetzung von dieser Koordinierungsstelle angeeignet, deren Wegbrechen die Netzwerke schließlich zerfallen lassen. Zudem wurde offensichtlich,
dass eine strategische Vernetzungsarbeit in den meisten Landkreisen einen
geringen Stellenwert hat und insbesondere Jugendvertreter/innen nur selten in
Netzwerke eingebunden sind. Letzteres steht im deutlichen Widerspruch zu
den feststellbaren Partizipationsbedürfnissen Jugendlicher.
33
6.4
An die Bundesebene adressierte
Handlungsbedarfe
Die Handlungsoptionen des Bundes sind durch das kommunale Selbstverwaltungsrecht, welches vorsieht, dass die Kommune der beste Ort sei, um regional
angepasste Regulierungen zu treffen, eingeschränkt. Dennoch gibt es auch für
den Bund verschiedene Möglichkeiten, im Rahmen der strategischen Ausrichtungen der Untersuchungsregionen unterstützend einzugreifen.
Abbildung 9: Handlungsoptionen
Verbesserung des
Generationenverhältnisses
Ausschöpfung
vorhandener
Potenziale
Sicherung
öffentlicher
Daseinsvorsorge
Gestaltung der
Schrumpfung
Ausbildungsregelungen
Eltern-/
Kindergeld
Stärkung ideeller
Haltefaktoren
Förderung
ländlicher
Räume
Erleichterung von Zuwanderung aus Nicht-EULändern
Verbesserung der
Familienfreundlichkeit
Verbesserung von
Rahmenbedingungen für
Zuwanderung
Förderung wirtschaftlicher Prosperität
Integrationsmaßnahmen
Anerkennung
von Abschlüssen
Konjunkturfördernde
Maßnahmen
Ausbau von Angeboten und Infrastruktur
Begrenzung der
Abwanderung
Stabilisierung
der
Geburtenzahlen
Impulse für
Zuwanderung
In Abbildung 9 sind vier grundsätzliche demografiestrategische Ausrichtungen
mit ihren jeweiligen Handlungszielen dargestellt. Diese Strategien finden sich in
unterschiedlichen Akzentuierungen in allen unseren Untersuchungsregionen
wieder, allerdings sind diese oftmals nicht so deutlich voneinander abgegrenzt,
wie es die Abbildung vermuten lässt. In einigen der Landkreise wird eine anstehende Schrumpfung akzeptiert und es steht vielmehr im Vordergrund, wie
die Lebensqualität im Rahmen dieser Schrumpfung beibehalten werden kann.
Auf der Handlungsebene liegen dann Maßnahmen zu einer Verbesserung des
Generationenverhältnisses, die Sicherung der öffentlichen Daseinsvorsorge sowie die Ausschöpfung vorhandener Potenziale auf dem Arbeitsmarkt. Für letzteres könnten Ausbildungsregelungen durch die Bundesebene dafür sorgen,
dass die Bildungszugänge in den Regionen verbessert werden.
Eine weitere Strategie ist jene, Abwanderung durch die Verbesserung der
wirtschaftlichen Prosperität und den Ausbau von Angeboten und Infrastruktur
zu begrenzen. Hierzu sollen zudem ideelle Haltefaktoren in der Region bestärkt werden, was voraussetzt, dass man diese durch Studien oder Anhörungen kennt. Die Bundesebene kann bei dieser Strategie durch spezifische konjunkturfördernde Maßnahmen und durch Förderungen für den Ausbau von
Angeboten und Infrastruktur in ländlichen Räumen beitragen. Um dann zusätzlich noch die Geburtenzahlen zu stabilisieren, müsste zudem die Familien34
freundlichkeit in den Regionen verbessert werden. Hier hat der Bund über das
Eltern- bzw. Kindergeld die Möglichkeit, regulierend einzugreifen, wobei diese
dann für das ganze Bundesgebiet gelten müssten. Strategische Impulse für Zuwanderung stellt schließlich die offensivste der vier Strategien dar. Bei der Impulssetzung für Zuwanderung könnte der Bund unterstützend tätig sein, indem
er für eine Verbesserung von Rahmenbedingungen für Zuwanderung sorgt
und die Anerkennung von Abschlüssen erleichtert, bei der Implementierung
von Integrationsmaßnahmen unterstützt und darüber hinaus auch die Zuwanderung aus Nicht-EU-Ländern erleichtert.
7
Die Sicht der Jugendlichen in den
Untersuchungslandkreisen
7.1
Wie wurde die Sicht der Jugendlichen
ermittelt?
Die Sicht der Jugendlichen wurde über qualitative Gruppendiskussionen mit
Jugendlichen erhoben. In Kleingruppen wurden Jugendliche dazu angeregt,
über ihr Aufwachsen im ländlichen Raum zu sprechen und miteinander zu diskutieren. In Tabelle 4 sind die wichtigen Kontextinformationen zu den Gruppendiskussionen zusammengefasst.
Tabelle 4: Basisinformationen zu den Gruppendiskussionen
Anzahl der Gruppendiskussionen
eine pro Untersuchungsregion
Gruppengröße
fünf bis elf Jugendliche pro Gruppe
Alter
zwischen 14 bis 19 Jahre alt
Bildungshintergrund
zumeist Mittelschüler/innen, eine Gruppe mit
ausschließlich Gymnasiasten
Ort der Diskussion
5 in Jugendzentren, Jugendclubs,
Jugendräumen; 3 in Schulen, nach dem
Unterricht
Geschlecht
im Kontext von Jugendzentren, Jugendclubs
u. Jugendräumen mehr männliche Befragte,
bei schulbezogenen Befragungen
ausgeglichen
Erhebungszeitraum
November 2014 bis April 2015
Vor Beginn der Gruppendiskussionen wurden die Jugendlichen gebeten, die
Orte in eine Umgebungslandkarte einzutragen, die für sie wichtige und regelmäßige Aufenthaltsorte sind (Wohnort, Schulort, regelmäßige Freizeitorte,
Vereine) und die sie mehrfach im Monat aufsuchen. Anschließend erfolgte die
ca. einstündige Gruppendiskussion. In den Gruppendiskussionen wurde darauf
35
hingewirkt, eine Gesprächssituation herzustellen, die einer Alltagsdiskussion
unter Jugendlichen möglichst nahe kommt. Daher fanden alle Gespräche ohne
Betreuer/innen, Lehrer/innen oder Sozialarbeiter/innen statt. Es wurden erzählgenerierende Fragen gestellt, die zuvor in einem Leitfaden vorformuliert
wurden. Damit war beabsichtigt, dass durch die Ausführungen Einzelner die
gesamten Gruppenmitglieder dazu angeregt werden zu reflektieren, ob sie bestimmte Situationen in ähnlicher Weise wahrnehmen und ein Anreiz gesetzt, in
einen Austausch mit den anderen zu treten. Im Idealfall entstand eine Diskussion, in die wenig eingegriffen werden musste.
Die Realisierung der Gruppendiskussionen gestaltete sich jedoch durchaus
unterschiedlich. Es zeigte sich, dass es manche Jugendlichen kaum gewohnt
waren, ihr eigenes Leben und Aufwachsen zu reflektieren und insofern mehrfach und gezielt nachgefragt werden musste.
Bei den folgenden Darstellungen der Ergebnisse ist zu beachten, dass diese
auf acht qualitativen Gruppendiskussionen in acht strukturschwachen Landkreisen basieren. Eine Generalisierung auf alle Jugendlichen in ländlichen
Räumen ist insofern nicht möglich. Vielmehr basiert die Auswertung auf einer
verstehenden Analyse, bei der eine theoretische Verallgemeinerung und somit
eine Reduktion von Komplexität erreicht werden soll. Um repräsentative Aussagen zu Jugend in (diesen) ländlichen strukturschwachen Räumen treffen zu
können, müssten (weiterführende) quantitative Erhebungen (z.B. Fragebogenerhebungen) mit deutlich mehr Jugendlichen durchgeführt werden.
7.2
Zufriedenheit mit dem Aufwachsen auf dem
Land
Auch wenn an die Jugendlichen offene Fragen gestellt wurden und Suggestionen so vermieden werden sollten, haftet der Befragung – schon allein durch
den Titel mit Begriffen wie „Bewältigung“ oder „demografische Entwicklungen“ – eine Problemfokussierung an. Dennoch wurden von den Jugendlichen
zahlreiche positive Aspekte ihres Aufwachens genannt.


Viele Jugendliche betonten (lediglich in einer Untersuchungsregion wurde
dies gar nicht so gesehen), dass man sich im ländlichen Raum wesentlich
sicherer fühlen könne und weniger von Kriminalität bedroht sei.
Einige Jugendliche schätzen die Vertrautheit zwischen den Bewohnerinnen
und Bewohnern und fühlen sich durch die Anonymität der Großstädte befremdet.12
E1: Naja halt wenn man die Leute hier, wenn man so durch die Straßen geht
und irgendwie mit allen so redet, dann ist es anders, als wie wenn man mit, da
in Berlin, da würde der einen, also sage ich jetzt mal, so den Rücken zudrehen
und dich für verrückt halten, oder?

12
Von vielen Jugendlichen wurden die Ruhe und die Nähe zur Natur als po-
Die acht Untersuchungsregionen wurden mit A bis H codiert. Den Jugendlichen wurde innerhalb der
Gruppendiskussionen eine Ziffer zugeteilt.
36

sitiver Aspekt des Landlebens genannt. Insbesondere für Kinder seien –
entgegen dem städtischen Raum – Freiräume vorhanden, um unbeschwert
und sicher spielen zu können.
Auch hatten viele der Jugendlichen ihre Großeltern und weitere Verwandte
in ihrem direkten Umfeld und verwiesen auf einen starken familiären Zusammenhalt.
Wie stark die positiven Aspekte und in welchem Gewicht sie zu negativen Aspekten thematisiert wurden, hing davon ab, wie sehr die Jugendlichen sozial
eingebunden waren und wie sehr sie sich mit der Region identifizierten. Jugendliche, die zuvor bereits im städtischen Raum gelebt hatten oder sich dort
regelmäßig aufhalten, konnten dem Landleben kaum etwas abgewinnen. Zudem verloren die aufgeführten positiven Aspekte ihres Aufwachsens mit steigendem Alter an Relevanz für die Einschätzung ihrer subjektiven Lebensqualität. Ein „Aufeinander achten“ wurde dann nicht als intakte Dorfgemeinschaft,
sondern vielmehr als starke soziale Kontrolle wahrgenommen. Zudem wurde
die Solidarität zwischen den Bewohnern von manchen Jugendlichen durchaus
in Abrede gestellt, da „man die alle nur noch in ihren Autos vorbeifahren sehe“
und man sich vor Ort aufgrund nicht vorhandener Schulen, Läden und Arbeitsplätze nicht mehr begegnen würde. Zudem wurde aus den Auswertungen
der Diskussionen deutlich, dass der vermeintliche soziale Zusammenhalt bei
einer „Andersartigkeit“ von Bewohnern eine schnelle Grenze findet. So wurden Intoleranz und Aspekte von Fremdenfeindlichkeit von den Jugendlichen
aus sehr unterschiedlichen Perspektiven thematisiert.

Kritik an intoleranter Mehrheitsgesellschaft durch die Jugendlichen
B1: Ich finde, dass die Menschen hier schon sehr intolerant sind gegenüber anderen, also wenn jetzt ein bisschen…
B2: Andere ethnische Hintergründe
B2: Ja, wenn man mit einer anderen, also wenn man sich anders kleidet oder
wenn man mit einer anderen Einstellung eben.
B2: Oder wenn man schwul ist.

Selbsterlebte Diskriminierung von Jugendlichen
G1: Es gibt nur Deutsche und die machen andauernd Türken-Witze oder so.
Und natürlich ist es auch als Spaß gemeint, aber ich weiß ganz genau, dass
ganz tief im Inneren auch da was Wahres da drin steckt, wenn sie sagen zum
Beispiel „Geh‘ wieder in Dein Land zurück“. Ich weiß ganz genau, dass sie,
wenn es hart auf hart kommt, das auch ernstmeinen.

Explizit fremdenfeindliche Aussagen der Jugendlichen
F1: Ich würde nicht bei solchen Nazi-Parolen mitmachen, aber jetzt schon gegen, also Aktionen gegen die ganzen Ausländer. Weil es reicht jetzt auch
schon langsam. Die wollen ja dieses Jahr noch ein paar mehr Asylantenheime
ausbauen. Anstatt man das Geld irgendwie in, sagen wir Kindergärten
37
investiert oder Schulen, Krankenhäuser, alles Mögliche, was jetzt auch gut für
die ganze Ortschaft ist. Nee, man baut ein Asylantenheim.
Aus der dritten Passage lässt sich neben dem fremdenfeindlichen Aspekt auch
die gefühlte Benachteiligung gegenüber anderen Personengruppen herauslesen.
Benachteiligungsgefühle spielten generell bei der Einschätzung ihres Aufwachsens eine bedeutsame Rolle. Daher werden die Ergebnisse zu den gefühlten
Benachteiligungen im Folgenden vertiefend dargestellt.
7.3
Gefühlte Benachteiligungen gegenüber
anderen Gruppen
Nach den Befragungsergebnissen der Gruppendiskussionen sehen sich Jugendliche hinsichtlich ihrer Bildungs- und Berufsperspektiven, aber auch beim Zugang zu Freizeitangeboten gegenüber der urbanen Jugend deutlich benachteiligt. So müssen sie weite Entfernungen in Kauf nehmen, um (Berufs-)Schulen
oder Arbeitsstellen zu erreichen, was sich entsprechend auf ihre verbleibende
Freizeit auswirkt. Eine Mitarbeit in Vereinen, in Angeboten der Jugendarbeit
oder gar in Interessensvertretungen geht mit zusätzlichen Fahrzeiten einher.
Vielerorts ist der Busverkehr jedoch an die Schülerbeförderung gekoppelt,
sodass eine Nutzung in den frühen Abendstunden oder am Wochenende nicht
möglich ist. Es fehlt an wohnortnahen Räumen, in denen sie sich mit Gleichaltrigen treffen können. Die vorhandenen Plätze werden oft als heruntergekommen oder für die Altersgruppe wenig ansprechend beschrieben. Zudem
wird ihre Präsenz an Treffpunkten im öffentlichen Raum – etwa auf Marktplätzen – von Erwachsenen vielfach per se als störend empfunden. Auch alternative Wege des Austausches mit Gleichaltrigen über das Internet sind aufgrund des verbreitet unzureichend ausgebauten mobilen Datenverkehrs eingeschränkt oder stehen nur bei Inanspruchnahme teurer Netzanbieter zur Verfügung.
Im Hinblick auf ihr Verhältnis zu anderen Generationen nehmen die Jugendlichen die stattfindende Alterung der Bevölkerung sehr deutlich wahr.
Diese führe in ihren Augen auch dazu, dass der älteren Generation wesentlich
mehr Aufmerksamkeit zuteilwird und sich junge Menschen nur schwer Gehör
verschaffen können. Von Schule oder Politik werden bestenfalls ihre Wünsche
abgefragt, ohne dass daraus konkrete Ergebnisse oder Umsetzungen folgen
würden. Zudem sei der Fokus von Angeboten eher auf eine jüngere Altersgruppe ausgerichtet, indem Jugendclubs die Aufgabe der Betreuung von Kindern im Alter zwischen 11 und 13 Jahren übernehmen und somit keine geeigneten Räume für Jugendliche bieten würden. Dem Wunsch nach eigenverwalteten Räumen würde dagegen von Bürgermeisterinnen und Bürgermeistern
oder auch Vereinen oder Gemeinden, die über solche Räume verfügen, mit
großer Skepsis begegnet. Wie stark der einzelne Jugendliche die zuvor beschriebenen Benachteiligungen wahrnimmt, steht in Abhängigkeit zu seinen
persönlichen Ressourcen. Verfügen junge Menschen über die Unterstützung
durch die Familie oder durch einen breiten Freundeskreis, so können sie bspw.
Mobilitätshemmnisse weit besser überwinden, indem sie sich zu entsprechenden Orten fahren oder mitnehmen lassen.
38
7.4
Jugendliche Freizeittypen
Im Folgenden wird dargestellt, wie die befragten Jugendlichen ihre Freizeit
gestalten und welche Zukunftsvorstellungen sie haben. Aus dem explorativen
Interviewmaterial der Gruppendiskussionen wurden Ideal-Typen gebildet. Die
Typenbildung basiert dabei nicht auf einer eindeutigen, ausschließlichen oder
vollständigen Zuordnung der Befragten, die mit quantitativen Zahlen untermauert wäre, sondern vielmehr auf einer verstehenden Analyse des Interviewmaterials, welche zu einer theoretischen Verallgemeinerung der empirischen
Daten führt.
In einer gegenwartsgezogenen Perspektive wurden von den Jugendlichen
Aspekte der Freizeitgestaltung am stärksten thematisiert. Um zu den vier nachfolgend erläuterten Freizeittypen zu gelangen, wurden die Umgebungskarten,
die von den Jugendlichen zu Beginn der Gruppendiskussion ausgefüllt wurden
und Informationen zu den regelmäßigen Aufenthaltsorten beinhalteten (Bildungsorte, Wohnort, Freizeitorte), ausgewertet.
Typ A: Der Wochenend-Freizeiter
Typ A bilden Jugendliche, die ihre Freizeitaktivitäten fast gänzlich auf das Wochenende verlagert haben. In der Regel besuchen diese eine Ganztagsschule
und kommen aufgrund der langen Fahrzeiten (Schülertransport) meist erst am
späten Nachmittag nach Hause. Die Freizeitangebote vor Ort werden – sofern
vorhanden – als unattraktiv eingeschätzt, da die Öffnungszeiten häufig nicht
mit den Tagesabläufen der Jugendlichen abgestimmt sind. Ihre Freizeit verbringen die Jugendlichen am Wochenende in der nächsten Großstadt. Um
diese zu erreichen werden Zugfahrzeiten von bis zu zwei Stunden in Kauf genommen und als „keine weite Entfernung“ angesehen. Die Nacht muss dann
„durchgemacht“ werden, um schließlich mit einem der ersten Züge wieder
zurückzufahren. Die minderjährigen Jugendlichen benötigen für das nächtliche
Wegbleiben den sogenannten „Muttizettel“, in dem die Eltern ihre Aufsichtspflicht an eine andere volljährige Person übertragen.
Für die Jugendlichen dieses Typs stellen Schul-, Wohn- und Freizeitort drei
räumlich voneinander getrennte Lebenswelten dar. Folglich verfügen die Jugendlichen nur über einen geringen Bezug zu ihrem Wohnort, da ihre Freizeitgestaltung (bereits) auf den städtischen Raum ausgerichtet ist.
E1: Und dann bin ich meist immer so gegen 16.30 Uhr zu Hause.
E2: Und das ist halt dann relativ spät eigentlich.
E1: Genau. Und da noch was anzufangen. Da hast du noch nicht mal Zeit
für die Hausaufgaben – dann Zimmer aufräumen, damit ich am Wochenende
weg darf.
39
Abbildung 10: Typ A – Wochenend-Freizeiter
Subjektive
Lebensqualität
B
schlecht
W
F
GEHEN
In Fluchtstellung
Sobald ich kann, bin ich
hier weg!
W= Wohnort, F= informelle, nonformale Freizeit, B= inst. Bildung (Schule, Ausbildung)
Die meisten Jugendlichen dieses Freizeittyps schätzen ihre Lebensqualität als
eher gering wahr. Sie befinden sich schon „in Fluchtstellung“, haben sich aufgrund der wahrgenommenen schlechten Lebensqualität schon frühzeitig dazu
entschlossen, die Region so schnell wie möglich zu verlassen. Lediglich die
Verantwortung gegenüber unterstützungsbedürftigen Familienangehörigen
würde diese Jugendlichen dazu bewegen, ihre Entscheidung zu überdenken
oder einen Wegzug zeitlich zu verschieben.
Typ B: Der Jugendeinrichtungsnutzer
Typ B bilden Jugendclubnutzer, für die die Wege zur Schule eben soweit sind,
die ihre Freizeit aber überwiegend in Wohnortnähe verbringen. Sie bewegen
sich in der Regel in einer festen Peergroup, welche die Jugendräume oder Jugendclubs zum weitgehend unbetreuten Zusammensein nutzen. Insbesondere
im Winter sind diese Räume der einzige Ort, an dem ein Treffen mit den
Freunden außerhalb des Elternhauses möglich ist. Im Sommer werden dagegen
Freiräume in der Natur erobert, z.B. Badeseen oder offene Plätze. Besonders
betroffen ist dieser Typ von den in vielen Regionen eingeschränkten oder nicht
auf ihre Tagesabläufe abgestimmten Öffnungszeiten der Freizeiträume. Eine in
vielen Orten erfolgte Reduzierung der Öffnungszeiten wird als deutliche Benachteiligung wahrgenommen, welche sich in einer Verdrossenheit gegenüber
politischen Verantwortlichen ausdrückt.
Trotz der gefühlten Benachteiligung ist die Identifikation der Jugendlichen
mit ihrer Region hoch, man sei „ebenso aufgewachsen“ und „man kenne
nichts anderes“. Der großstädtische Raum wird dagegen als „unsicher“ oder
„überfordernd“ beschrieben. Im Vergleich zu den anderen Typen verfügen
diese Jugendlichen über einen geringen Bewegungsradius, sind weniger daran
interessiert neue Menschen und neue Orte zu entdecken und nutzen Angebote
in ihrer Region (Vereine, Kinos etc.), die längere Fahrzeiten erfordern, nur
selten.
40
F1: Na, da ging das halt immer noch so, da hatten wir halt immer so einen
Punkt, wo wir uns treffen konnten, aber jetzt halt, dadurch, dass die zwei
nicht mehr da sind… [Öffnungszeiten nur noch zweimal in der Woche, wegen
fehlender Personalzuweisung]
F2: Na, wir müssen uns jetzt entweder irgendwo anders treffen oder halt eben
gar nicht so.
F3:[…] aber wenn wir alle zu Hause sitzen, dann sind wir alle getrennt.
Abbildung 11: Typ B – Jugendeinrichtungsnutzer
B
W
Subjektive
Lebensqualität
schlecht bis mittel
F
BLEIBEN
Der Anpasser
Man kommt hier
schon irgendwie klar!
Der Aussitzer
Ab 18 wird alles
besser!
W= Wohnort, F= informelle, nonformale Freizeit, B= inst. Bildung (Schule, Ausbildung)
Die meisten der Jugendlichen dieses Freizeit-Typs nehmen ihre Lebensqualität
zwar als schlecht bis mittelmäßig wahr, dennoch beabsichtigt das Gros dieser
Jugendlichen in der Region zu bleiben. Diese Bleibeorientierten untergliedern
sich nochmal in zwei Gruppen, einerseits in die Anpasser, die sich mit den
Bedingungen vor Ort arrangiert und mit der Region identifiziert haben und
sich einen Fortgang nicht vorstellen können. Lediglich bei langanhaltender
Arbeitslosigkeit wären diese Jugendlichen bereit, ihren Wohnort zu verlassen,
würden dann aber so nah wie möglich am Heimatort bleiben wollen. Der andere Teil der bleibeorientierten Jugendlichen bezieht die niedrige Lebensqualität vorrangig auf die starken Mobilitätseinschränkungen, die sich mit dem 18.
Lebensjahr und einem eigenen Auto auflösen würden. Folglich müsste die Jugendzeit lediglich „ausgesessen“ werden, danach würde sich die Situation deutlich verbessern und die Lebensqualität so ansteigen, dass man in der Region
bleiben wolle. Ein Weggang sei nur vorstellbar, wenn vor Ort keine Ausbildung gefunden würde oder für eine Partnerschaft.
Typ C: Alles in kurzen Distanzen zu erreichen
Bei Jugendlichen des Typs C liegen die Wohn-, Freizeit- und Schulorte dicht
beieinander bzw. sie sind gut zu Fuß, mit dem Bus oder Fahrrad zu erreichen.
Vereinzelt springen die Eltern ein, um die Jugendlichen zu den Orten zu bringen. Häufiger als die beiden vorangegangenen sind Jugendliche dieses Typs in
41
Vereinen und Jugendeinrichtungen aktiv. Ihre Form der Beteiligung geht oftmals über die rezipierende Nutzung des Typs B hinaus, indem sie selber auch
ehrenamtliche Funktion übernehmen. Zugleich sind diese Jugendlichen gut im
Bilde, was die Angebote und Möglichkeiten in der Region angeht und nutzen
diese auch. Hierfür werden verschiedene Mobilitätsformen kombiniert oder es
wird auf die Fahrbereitschaft von Familie oder Freunden zurückgegriffen. Die
eingeschränkte Angebotslage wird durchaus wahrgenommen, jedoch werden
neben der freizeitbezogenen Benachteiligung auch die Vorteile des Landlebens
betont, etwa die Freiräume und die Nähe zur Natur. Die Verbundenheit zur
Region ist zwar vorhanden, allerdings wird ein Weggehen zu Bildungszwecken
auch als Phase des Ausprobierens und des Horizonterweiterns gesehen.
B2: Selber frei zu entscheiden. Wir kriegen hier auch so viel Hilfestellung, wir
kriegen hier so viel geboten. Wir können die Jugendleiterausbildung machen.
Wir können zum Beispiel zur Jugendpflegerin gehen und können sagen „So,
hast Du mal Zeit? Ich habe Bock eine Kochgruppe zu leiten, was hältst Du
davon?“, dann sagt sie „Ja, klar, wenn Du Hilfe brauchst, frag‘ mich, machen
wir“. Oder „Kannst Du machen, hier mache eine Gruppe in facebook oder so
und dann leite das an“. Halt so Sachen. Wir haben so viele Möglichkeiten
uns weiterzubilden und so viele Sachen zu lernen. Man lernt auch von den älteren Generationen, das ist einfach richtig toll.
Abbildung 12: Typ C – Alles kurze Distanzen
Subjektive
Lebensqualität
B
W
mittel bis gut
V
F
GEHEN
BLEIBEN
Der Aktive
Notfalls muss ich halt
eine Stunde zur Arbeit
fahren.
Der Aktive
Ausbildung oder
Studium und evtl.
zurückkommen
W= Wohnort, F= informelle, nonformale Freizeit, B= inst. Bildung (Schule, Ausbildung)
Ein Teil dieser Jugendlichen fühlt sich regional so stark eingebunden, dass sie
auch lange Fahrzeiten zu Bildungszwecken in Kauf nehmen würden, um am
Wohnort zu verbleiben. Ein Fortgang wird von diesen Jugendlichen nur für
einen deutlich lukrativeren Arbeitsplatz mit Aufstiegschancen in Erwägung
gezogen. Trotz dessen, dass die Lebensqualität als mittelmäßig bis gut eingeschätzt wird, kann ein nicht unerheblicher anderer Teil der Jugendlichen dieses
42
Typs als sozial aktive Abwanderungsorientierte eingeordnet werden. Sie wollen
zu Bildungszwecken in größere Städte, sich vom Elternhaus emanzipieren und
neue Erfahrungen sammeln. Eine Rückkehr ist für einen Teil dieser Gruppe
vorstellbar, dann allerdings nicht auf das Dorf, sondern zumindest in die
nächste Kleinstadt, wo ein Mindestmaß an kulturellen Angeboten und Institutionen vorhanden ist (Schulen, Kitas, Vereine). Ein Teil der abwanderungsorientierten Jugendlichen gibt aber auch an, dass sie sich vorstellen könnten in der
Region zu bleiben, jedoch dort keine guten Bildungsperspektiven sehen bzw.
ihre präferierte Ausbildung oder Studium nicht realisieren können und sich
somit gezwungen sehen, die Region (auf Zeit) zu verlassen.
Typ D: Der aktive Mehrfachengagierte
Bei Jugendlichen des Typs D liegen Freizeit-, Wohn- und Schulorte ebenfalls
weit auseinander und sind für sie schlecht zu erreichen. Allerdings verfügen die
Jugendlichen über Familienangehörige, die sie zu ihren Freizeitorten bringen
und/oder sie schon frühzeitig bei den Zugängen zur Mobilität unterstützt haben (Übernahme von Taxifahren, Finanzierung eines Moped-Führerscheins,
etc.). Hierdurch werden den Jugendlichen ihre Freizeit- und Vereinsaktivitäten
erst möglich gemacht. Diese Jugendlichen sind oftmals mehrfach engagiert,
also zugleich in Sportvereinen, in musischen Angeboten oder Jugendverbänden
aktiv. Durch ihre starke soziale Integration gewinnen die Jugendlichen einen
großen Freundes- und Bekanntenkreis, über den dann wiederum Co-Mobilität
hergestellt wird (Mitfahren) und das Erreichen der Freizeitorte erleichtert wird,
so dass sie kaum mehr auf den öffentlichen Nahverkehr angewiesen sind.
A1: Ich muss sagen, hätte ich meine Eltern nicht, könnte ich einiges nicht machen oder so.
Abbildung 13: Typ D – Aktiv und mehrfach engagiert
B
W
Subjektive
Lebensqualität
mittel bis gut
F/V
GEHEN
BLEIBEN
Der Aktive
Notfalls muss ich halt
eine Stunde zur Arbeit
fahren.
Der Aktive
Ausbildung oder
Studium und evtl.
zurückkommen
W= Wohnort, F= informelle, nonformale Freizeit, B= inst. Bildung (Schule, Ausbildung)
43
Auch unter den Aktiven und Mehrfachengagierten finden sich zum einen Jugendliche mit Bleibeabsicht, als auch jene, die ihre Bildungsaspirationen vor
Ort nicht verwirklichbar sehen und daher die Region (auf Zeit) verlassen wollen/müssen.
7.5
Berücksichtigung jugendlicher Belange und
Jugendpartizipation
Themen, die das eigene Leben und das Leben der Gemeinschaft betreffen,
mitzugestalten und gemeinsam Lösungen zu entwickeln, ist ein Prozess, der
durch Erleben erfahren und erlernt werden kann. Dabei nehmen die Jugendlichen ihre Lebenswelt als gestaltbar wahr. Sie können Ohnmachtsgefühlte überwinden und somit ihre Lebensqualität eigenständig erhöhen. Die mitgestaltende Teilhabe Jugendlicher an öffentlichen Angelegenheiten sorgt idealerweise
dafür, dass sich politische Entscheidungsträger intensiver mit den Positionen
von Jugendlichen auseinanderzusetzen und deren Belange im politischen Entscheidungsprozess eine stärkere Berücksichtigung finden. Im Gegensatz zu
anderen Bevölkerungsgruppen, weisen die Interessenvertretungen der nachrückenden Generation gegenüber anderen Akteursgruppen einen Organisationsund Professionalisierungsrückstand auf, der sie in den lokal stattfindenden
Aushandlungsprozessen von vornherein erheblich benachteiligt. So verwundert
es nicht, dass die Jugendlichen bei der Befragung eine durchweg nüchterne
Sicht auf ihre politischen Teilhabemöglichkeiten schilderten.
Die im Zuge des Projekts befragten Jugendlichen aus strukturschwachen
ländlichen Räumen fühlen sich mit ihren Belangen kaum in politischen Entscheidungen berücksichtigt. Demnach gaben die befragten Jugendlichen an,
kaum positive Partizipationserfahrungen gesammelt zu haben. Von dem breiten Repertoire der Beteiligungsformen wurden lediglich Erfahrungen mit repräsentativer Beteiligung (Schülervertretung) oder punktueller Beteiligung (Befragung) und vereinzelt alltägliche Erfahrungen (Jugendclub) geschildet. Ihre
Erfahrungen bezogen sich dabei am stärksten auf den Bereich Schule und nur
selten auf Regionalplanung oder Mitwirkung an der lokalen Politik.
Politische Akteure deuten die oftmals geringen Teilnehmerzahlen von Jugendlichen an etablierten politischen Beteiligungsformen (z.B. Jugendparlamente, Beiräte) als generelles Desinteresse an einer Mitgestaltung fehl. Die Ursachen für Partizipationsabstinenz sind jedoch vielschichtig. So sind diese
Formate oftmals sehr abstrakt und werden eher mit „Schule“ als mit Spaß
konnotiert. Vielfach nehmen die Jugendlichen diese Formen zudem nicht als
tatsächliche Mitbestimmungsgremien wahr, da ihnen die Themen oftmals vorgegeben werden und ein dortiges Engagement oft ohne greifbare Ergebnisse
bleibt. Demgegenüber haben sie hohe Partizipationskosten (Fahrtkosten, Zeit),
die eine Beteiligung unattraktiv werden lässt.
Zudem kommt das Dilemma hinzu, dass eine Beteiligung an langwierigen
Entscheidungsprozessen ihnen selbst meist nicht mehr zugutekommt und somit aus Nutzenerwägungen als irrational erscheinen muss. Von Seiten der Entscheidungsträger liegt demgegenüber bei einer „echten“ Beteiligung von Jugendlichen das Dilemma vor, dass Entscheidungsbefugnisse teils nicht mit
44
Verantwortlichkeit zusammenfallen. So z.B. können Minderjährige, die über
den Etat eines Kinder- und Jugendparlaments entscheiden sollen, haushaltsrechtlich nicht für die sachgerechte Verwendung derselben haftbar gemacht
werden.
Vielfach wird die anfängliche Partizipationsmotivation von jungen Menschen auch enttäuscht: Hatten Jugendliche bereits Erfahrungen mit Beteiligungsformen gesammelt, so handelte es sich meist um Bedarfsabfragen, verbunden mit Absichtsbekundungen seitens der Politik, die nicht realisiert wurden. Ausbleibende Umsetzungen gingen dann oftmals mit einer Verdrossenheit gegenüber den politischen Entscheidungsträgern und gegenüber dem eigenen Engagement einher. Die Verdrossenheit und die fehlende Selbstwirksamkeit hängen vermutlich auch damit zusammen, dass vielen Jugendlichen die
jeweiligen Steuerungskompetenzen für die Angebotslandschaft (Schulen, Jugendclubs, Einkaufszentren) nicht klar sind und auch seitens Politikern oder
Organisatoren von Beteiligungsformaten nicht transparent gemacht wurden.
7.6
Handlungsbedarf aus Sicht der Jugendlichen
Das Jugendalter stellt eine Lebensphase dar, in der die Entwicklung und der
Erwerb von Kompetenzen, die Herausbildung von Identität und die Befähigung zur Teilhabe am sozialen und kulturellen Leben im Mittelpunkt stehen
(Hurrelmann/Quenzel 2012). Erfahrungen werden dabei zunehmend außerhalb des Elternhauses und zusammen mit Gleichaltrigen erworben. Die vorangegangenen Befunde zeigen deutlich, dass die Jugendlichen ihr Aufwachsen
teils sehr unterschiedlich wahrnehmen, ihre Lebensqualität aber mit dem sozialen Eingebundensein und dem Erreichen von Freizeitangeboten zusammenzuhängen scheint. Verfügen junge Menschen über die Unterstützung durch die
Familie oder durch einen breiten Freundeskreis, so können sie bspw. Mobilitätshemmnisse weit besser überwinden, indem sie sich zu entsprechenden Orten fahren oder mitnehmen lassen. Oder aber, sie werden finanziell unterstützt
und können sich ein Mofa und Benzin oder ggf. Taxifahrten leisten. Ist dieses
soziale und finanzielle Kapital jedoch nicht vorhanden, so verstärken sich die
sozialen Vereinzelungstendenzen aufgrund des abgelegenen Wohnorts und es
steigt die Gefahr der Isolation, da Gleichaltrige und Freizeitangebote von Vereinen bzw. der Jugend(sozial)arbeit kaum oder gar nicht erreicht werden können.
Für ihr Aufwachsen bedeutet dies, dass sie von zentralen Beteiligungskontexten, die für ihre jugendliche Entwicklung konstitutiv und förderlich sind,
deutlich benachteiligt sind. Zugleich geht eine hohe soziale Integration aber
nicht automatisch damit einher, dass junge Menschen in der Region bleiben
wollen. Die wahrgenommenen beruflichen Perspektiven sind hier ausschlaggebend. Eine jugendgerechte Demografiepolitik sollte keine „Anti-Abwanderungspolitik“ sein, sondern vielmehr darauf hinwirken, dass jungen bleibewilligen Menschen die Erfüllung ihrer beruflichen Wünsche in der Region erleichtert wird. Ein Aufwachsen, das durch eine hohe soziale Teilhabe geprägt ist
und in welchem junge Menschen ihre Region als liebenswert wahrnehmen, ist
für eine Bleibeorientierung, verbunden mit einem hohen Ausmaß an Selbstwirksamkeit, als Grundvoraussetzung zu sehen.
45
8
Handlungsempfehlungen
8.1
Wie sind diese entwickelt worden?
Nachfolgend sind die zentralen Ergebnisse und die daraus abgeleiteten Handlungsempfehlungen aufgeführt. Den Ausgangspunkt hierfür stellt die durch die
Gruppendiskussionen ermittelte Sicht der Jugendlichen dar (Kapitel 7). Diese
wurden durch Hinweise und Einschätzungen von jugendpolitischen Entscheidungsträgerinnen und -trägern der Untersuchungsregionen ergänzt (Kapitel 6).
Ebenso fanden die Handlungsideen, die im diskursiven Workshop-Prozess mit
jugendpolitischen Akteuren der Kreis-, Landes- und Bundesebene erarbeitet
wurden, in die Empfehlungen Einlass.
Die nachfolgenden Handlungsempfehlungen wurden den folgenden drei
Handlungsfeldern zugeordnet.

Freizeitgestaltung

Jugendliche Belange und Jugendpartizipation

Schule und berufliche Perspektiven
Es sind die Themen, die am intensivsten über die verschiedenen Gruppendiskussionen hinweg als wichtige Teilhabeaspekte angesprochen wurden. Mobilität und die Erreichbarkeit von Orten und Einrichtungen, aber auch der Internetzugang (Breitbandversorgung, schnelles mobiles Internet) stellten sich dabei
als Querschnittthemen heraus, welche in jedem Handlungsfeld von hoher Relevanz waren.
8.2
Empfehlungen für eine jugendgerechtere
Demografiepolitik
Handlungsfeld „Freizeitgestaltung“
Kostenfreier Breitband-Internet-HotSpot in jedem Dorf und jedem
Schulbus – Eine solche Infrastruktur, wie sie z.B. von freifunk.net13 oder dem
Modellprojekt „Jugend ans Netz“ anvisiert wird, würde den nichtkommerziellen Zugang zu medialen Inhalten von Jugendlichen sowie deren Teilhabe an
alterstypischen Kommunikationsbeziehungen in sozialen Netzwerken enorm
verbessern. WLAN in den Schulbussen könnte außerdem zur Ausgestaltung
von Fahrzeiten beitragen und dem Bedürfnis nach (Online)Kommunikation
entgegenkommen.
Stärkung der nicht-motorisierten Individualmobilität – Gerade für Jugendliche aus ländlichen Räumen ist die Infrastruktur mit sicheren Radwegen
in das nächste Unterzentrum oder Mittelzentrum, das meist der Schulort ist,
13
„Freifunk“ ist eine nichtkommerzielle Initiative, die sich dem Aufbau und Betrieb eines freien Funknetzes, das aus selbstverwalteten lokalen Computernetzwerken besteht, widmet. http://freifunk.net/
46
entscheidend, um unabhängiger von Fahrdienstleistungen der Eltern und vom
meist ausgedünnten ÖPNV zu werden. Von einem ausgebauten Radwegenetz
sowie sicheren und witterungsgeschützten Abstellplätzen würden insbesondere
Minderjährige profitieren.
Mobilitätsprogramm für Vereine im ländlichen Raum – Vereine für Kinder und Jugendliche brauchen eine finanzielle Entlastung, damit sie ihren Mitgliedern Fahrdienste anbieten können. Aus bereitgestellten Fördertöpfen könnten periphere Vereine und Verbände finanzielle Mittel beantragen.
Kombination aus Komm- und Geh-Strukturen, Etablierung/Revitalisierung mobiler Angebote der Jugendarbeit – Auf Grund des geringen
Zeitbudgets der Jugendlichen bedarf es Freizeitangebote, die vor Ort und
wohnortnah schnell zu erreichen sind. Vor allem am Wochenende sollte jedoch auch der Zugang zu zentralen Jugendeinrichtungen gefördert werden, an
denen die Jugendlichen eine hinreichend große Zahl Peers antreffen können.
Hierzu müssten die Öffnungszeiten der Einrichtungen deutlich erweitert und
durch die Abstimmung mit den ÖPNV-Erreichbarkeiten abgesichert werden.
Vorhandene Räumlichkeiten und Ressourcen teilen – Schulen als zentraler Aufenthaltsort der Jugendlichen sollten sich stärker für die Bedürfnisse der
Jugendlichen öffnen und sich vom Lernort zum Lebensort wandeln. Dies
könnte dadurch erreicht werden, dass Schulgelände frei zugänglich gemacht
werden und Aufenthalts- und Warteräume für die Schülerinnen und Schüler
bereitgestellt werden. Auch Räumlichkeiten von Kirchen, Vereinen sowie kommunalen Gebäuden sollten für Jugendliche geöffnet und für die selbstorganisierte Freizeitgestaltung von jungen Menschen bereitgestellt werden.
Intensivierung der interkulturellen Jugendarbeit – die sowohl die Belange
von Jugendlichen, die aus den Regionen stammen, als auch die Belange von
jungen Flüchtlingen berücksichtigt. Dabei ist darauf zu achten, dass die beiden
Gruppierungen nicht gegeneinander ausgespielt werden. Um dies zu verhindern, bedarf es sowohl zielgruppenspezifischer, als auch gemeinsamer Angebote.
Handlungsfeld „Jugendliche Belange und Jugendpartizipation“
Zivilgesellschaftliche Koordinierungsstelle mit Jugendbeauftragten –
Eine parteiliche Anlaufstelle könnte Jugendliche über die Möglichkeiten von
Mitgestaltung und Förderungen informieren und bei der Bewältigung von Formalitäten unterstützen (z.B. bei der Beantragung von Fördergeldern). Hierfür
wäre ein Jugendbeauftragter hilfreich, der die Aufgabe hat, die Jugendlichen bei
der Vertretung ihrer Interessen – z.B. mit Blick auf Wissen, Kontakte und finanzielle Mittel – zu stärken und zwischen Jugendlichen und Verwaltung bzw.
Politik zu vermitteln.
Verschiedene jugendgerechte Partizipationsansätze – Partizipationsprozesse für Jugendliche sollten einen möglichst konkreten Anlass bzw. Gegen47
stand in den Mittelpunkt stellen, der für die Lebenswelt der jungen Menschen
von großer Bedeutung ist. Daher beginnt der Partizipationsprozess im Eigentlichen bereits bei der Ideenfindung. Die Projekte und Ansätze müssen dem
Bedürfnis nach Abwechslung, Spontaneität und Originalität Rechnung tragen,
um einer Frustration bei den Jugendlichen vorzubeugen. Hier bieten sich Formate an, die Beteiligungsverfahren in spielerischer Form umsetzen (Gamification) sowie schnelle und greifbare Erfolgserlebnisse und eine reale Machtbeteiligung beinhalten.
E-Democracy und Abfederung von Partizipationskosten – In ländlichen
Räumen wird eine gelingende Jugendbeteiligung davon abhängen, ob eine erhebliche Reduzierung der bisherigen hohen Partizipationskosten für Jugendliche (Fahrzeiten, Übersetzungsleistungen, fern jugendlicher Interessen) ermöglicht wird. Hierbei könnten Modelle einer E-Democracy und Formate aufsuchender Jugendbeteiligung unterstützen.
Schülervertretungen stärken – Die Funktion der Schülervertretung und die
Abläufe von Wahlen, die Aufgaben und echten Gestaltungsmöglichkeiten sollten gegenüber Schülerinnen und Schülern, aber auch der Lehrerschaft deutlicher artikuliert werden. Darüber hinaus sollte der Generationenwechsel in
Schülervertretungsgremien unterstützt werden, etwa indem eine institutionalisierte Begleitung der Schülerratsarbeit – wie in Sachsen-Anhalt14 – etabliert und
durch überlappende Legislaturperioden die Übergabe der Interessenwahrnehmung an nachfolgende Schülervertreter ermöglicht wird.
Alltägliche Partizipation – Um Jugendliche insgesamt mit partizipativen Elementen zu erreichen, ist eine Etablierung demokratischer Beteiligung in den
verschiedensten Alltagsbereichen erforderlich, d.h. auch außerhalb gewählter
Gremien und zeitlich dauerhaft in allen sie betreffenden Kontexten. Beispielsweise könnte über die Öffnungszeiten von Jugendfreizeiteinrichtungen, die
Terminierung der Schülerbeförderung sowie die Ausgestaltung des schulischen
Lebens durch Jugendliche selbst demokratisch entschieden werden. Ferner ist
zur Verbesserung gegenseitiger Perspektivübernahme und Sensibilisierung ein
kontinuierlicher Dialog zwischen den Generationen und zwischen verschiedenen jugendlichen Interessensgruppen zu pflegen.
Handlungsfeld „Schule und berufliche Perspektiven“
Bildungsberatung als Anlaufstellen für Jugendliche und junge Erwachsene – Diese Anlaufstellen sollten Jugendliche mit Bleibeabsichten oder jungen rückkehrwilligen Menschen hinsichtlich der Angebotslage im Landkreis
informieren und ihnen transparent machen, welche Ausbildungs- und Arbeitsoptionen vor Ort bestehen. Eine Informationsplattform für junge Familien
wurde beispielsweise durch das Welcome Center Sachsen-Anhalt realisiert.15.
14
Projekt Schulleben und Unterricht demokratisch gestalten http://www.sn.schule.de/~sud/methoden
kompendium/module/ansatz2/2_5.htm
15
Welcome Center Sachsen-Anhalt: http://www.welcomecenter-sachsen-anhalt.de/home.html
48
Die Beratung sollte z.T. auch mobil agieren können. Darüber hinaus sollten
Informationen für Jugendliche und junge Erwachsene auf einem Online-Portal
(wie es in Ansätzen bereits im Werra-Meißner-Kreis existiert16) zugänglich sein.
Um ausreichend große Nutzerzahlen erreichen zu können, muss dieses Netzwerk aktuell und die Betreuung des Online-Angebots langfristig gesichert sein.
Um die Nutzungshäufigkeit und Bekanntheit der Portale zu erhöhen, sollten
darüber hinaus auch Informationen zur Freizeitgestaltung bereitgestellt werden.
Lebensweltnahe Berufsorientierung – Durch die Berufsorientierung könnten die Jugendlichen ausreichend über die lokale Betriebs- und Unternehmenslandschaft informiert werden. Peer-Mentoren könnten über Ausbildungsberufe
und mögliche Weiterqualifizierungen direkt an Schulen aufklären. Zudem sollten die Eltern als wichtigster Ansprechpartner der Jugendlichen in Fragen der
beruflichen Orientierung stärker in die Berufsorientierung eingebunden werden.
Steigerung der Attraktivität dualer Ausbildungsberufe – in Hinblick auf
Erreichbarkeit, Entlohnung und Entwicklungsmöglichkeiten. Der Zusammenschluss von Kleinstbetrieben zu Ausbildungsverbünden würde dazu beitragen,
den Auszubildenden ein breiteres Repertoire an Praxisfeldern bereitzustellen.
Zudem könnten die Ausbildungsverbünde einen gemeinsamen Fahrservice
bereitstellen. Um die hohen Mobilitätskosten für die Jugendlichen auszugleichen, könnte alternativ auch eine attraktivere Entlohnung gewährt werden oder
eine Mobilitätszulage für besonders kostenintensive Anfahrtswege gezahlt
werden.
Tertiäre Bildungsangebote für Hochschulzugangsberechtigte ansiedeln
bzw. sichern – Die Bereitstellung von tertiären Bildungsangeboten könnte
durch die Errichtung von Außenstellen von Hochschulen erfolgen. Zudem
sollten sich Hochschulen untereinander vernetzen und Lehrveranstaltungen,
nach Vorbild der „Virtuellen Akademie Nachhaltigkeit“, auch online anbieten.
Darüber hinaus könnten Hochschulen durch die Zusammenarbeit mit kleinen
und mittelständischen Unternehmen die Bildungslandschaft einer Region im
Ganzen stärken. Um bleibeorientierten Jugendlichen ihre beruflichen Perspektiven vor Ort aufzuzeigen, könnten beispielsweise Abschlussarbeiten und damit verknüpfte Absolventenstipendien bei Unternehmen in ländlichen Räumen
vermittelt werden.
Transparenz des lokalen Ausbildungs- und Stellenmarktes für Jugendliche herstellen – Vielfach ist die Ausbildungs- und Beschäftigungslage in einem Landkreis weit besser, als es ihr Ruf unter Jugendlichen nahelegt, weshalb
sie einem Verbleib in der Region vielfach zu pessimistisch gegenüberstehen.
Für viele Jugendliche bleiben regionale Anschlussoptionen nach der Schule
und die Beschäftigungsperspektiven intransparent. Um dem zu begegnen
müssten die lokalen Ausbildungsmöglichkeiten und die Fach- bzw. Arbeitskräftebedarfe – etwa für die nächsten fünf Jahre – in einer Bestandsanalyse
16
Jugendnetz der Jugendförderung Werra-Meißner-Kreis http://www.jugendnetz-wmk.de/startseite
49
regional erfasst und für die Jugendlichen in für sie aufbereiteter Form (möglichst webbasiert) zugänglich gemacht werden.
9
Ausblick
Das Aufwachsen in peripheren ländlichen Räumen ist kein neues Thema, sondern beschäftigt verschiedenste sozialwissenschaftliche Disziplinen, wie z.B.
die Erziehungswissenschaften, die Soziologie oder die Politikwissenschaft
schon über Jahrzehnte. Auch gingen und gehen politische Impulse zur Verbesserung des Lebens in ländlichen Räumen von verschiedenen Politikfeldern aus.
So ist der ländliche Raum sowohl ein Handlungsfeld der Wirtschafts- und Verkehrspolitik, als auch der Sozial-, Bildungs- oder Jugendpolitik mit ihren jeweiligen Zuständigkeiten auf der Kreis-, Landes- und Bundesebene. Zu beobachten ist allerdings, dass die Akteure der verschiedenen Handlungsfelder nur sehr
wenig Kenntnis vom Handeln der anderen haben, geschweige denn eine abgestimmte Politik verfolgten.
Der Beitrag, den der Forschungsprozess von „Jugend im Blick – Regionale
Bewältigung demografischer Entwicklungen “ mit seinen Ergebnissen liefert,
liegt darin, dass die Jugendbelange lebensbereichs- und somit politikbereichsübergreifend betrachtet wurden. Die entwickelten Handlungsempfehlungen
sollen so den Belangen und Bedürfnissen Jugendlicher in ländlichen Räumen
bestmöglich gerecht werden. Da jugendpolitisches Handeln in verschiedenen
Zuständigkeitsbereichen und auf unterschiedlichen administrativen Ebenen
angesiedelt ist, wurden die Empfehlungen nicht nach Adressaten differenziert.
Dies basiert auf der Grundannahme, dass die demografisch bedingten Herausforderungen nur bewältigt werden können, wenn die entsprechenden Entscheidungen bereichsübergreifend bzw. in Abstimmung der verschiedenen
Zuständigkeitsbereiche getroffen werden.
Insgesamt muss es gerade in ländlichen Räumen mit erheblichen demografischen Herausforderungen darum gehen, eine intergenerationelle und intersektorale Dialogkultur zu etablieren, welche die Belange von Jugendlichen ernst
nimmt und ihnen zur Berücksichtigung verhilft. Da die Kommunen und Landkreise den Lebenswelten der Jugendlichen am nächsten stehen und die strukturellen Besonderheiten kennen, ist dies die Ebene, auf der proaktive jugendbezogene Strategien entwickelt werden sollten. Dafür ist eine Abfolge aufeinander
aufbauender Umsetzungsschritte geboten. Zunächst sollte ein Reflexionsprozess
angestoßen werden, der eine aktuelle datengestützte Bestandsanalyse in der Region
zur demografischen Situation sowie zur Lebenswirklichkeit und Beteiligungspraxis
Jugendlicher vornimmt. Hierbei sind auch Formen der Fortschreibung solcher
Bestandsanalysen zu institutionalisieren, um den sich verändernden Rahmenbedingungen gerecht zu werden. In einem nächsten Schritt sollte ein Zielfindungsprozess eingeleitet werden, der vor dem Hintergrund der geschaffenen Wirklichkeitsbeschreibung und unter Einbeziehung von Kindern, Jugendlichen sowie aller
relevanten Akteure eine Leitbildentwicklung für die jugendgerechte Gestaltung
demografischer Entwicklungen zum Gegenstand hat, ohne die Jugendlichen auf
ein Steuerungs- und Planungsobjekt zu reduzieren. Schließlich folgt daraufhin ein
Implementierungsprozess, im Zuge dessen die gemeinsam formulierten Ziele auf
50
der Ebene von konkreten Maßnahmen bzw. Initiativen konzipiert und umgesetzt
werden.
Jedoch bedarf es für diese proaktiven lokalen Jugendstrategien Richtungsvorgaben sowie langfristig angelegter Unterstützungsmaßnahmen, die zwischen
Bundes-, Landes- und Kreisebene abgestimmt sind. Die Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse kann nicht von lokalen Akteuren allein bewältigt werden. Dabei geben die hohen Abwanderungsraten unter jungen Menschen, mit
denen sich viele ländliche Regionen konfrontiert sehen, einen deutlichen Hinweis darauf, dass von einer Gleichwertigkeit vielerorts nicht die Rede sein
kann. Hier konnte gezeigt werden, dass es sich gerade bei Jugendlichen um
eine Schlüsselgruppe im Hinblick auf die demografische Vitalität ländlicher
Räume handelt und sie allein deshalb eine besondere Aufmerksamkeit lokaler
Entscheidungsträgerinnen und Entscheidungsträger verdienen. Worin sich
allerdings eine solche Gleichwertigkeit der Lebensbedingungen ausdrückt und
welche Schritte zu ihrer Herstellung möglich sind, sollte im Diskurs mit Kindern und Jugendlichen selbst erarbeitet werden.
Gleichzeitig bedarf es, neben der intersektoralen Zusammenarbeit auf der
lokalen Ebene, einer ebensolchen auf der Landes- und der Bundesebene. Dort
sollte zusammen mit den Kreisen in einer Dialogkultur entschieden werden,
wie die strukturschwachen ländlichen Regionen so gestärkt werden können,
dass sie die vielfältigen akuten Herausforderungen bewältigen und zugleich
Strategien entwickeln können, um absehbaren demografischen Entwicklungen
gestaltend und innovativ zu begegnen. Innovatives Handeln schreitet jedoch
oft nur langsam voran. Es reicht in der Regel nicht aus, eine gute Idee zu entwickeln, sondern es erfordert auch lange Aushandlungsprozesse, um diese erfolgreich durch- und umsetzen zu können, denn Neues bedroht auch vielfach
lang gepflegte Verwaltungsroutinen, Überzeugungen und Positionen. Grundlegend für innovatives Handeln ist es, dass die verschiedenen Akteure die Herausforderung als gemeinsame Aufgabe wahrnehmen.
Das hohe Interesse, das dem Projekt „Jugend im Blick“ bereits in Bezug auf
die Workshops und die Zwischenergebnisse zuteilwurde, deutet auf einen hohen Bedarf an Unterstützung bei der Entwicklung von Handlungsstrategien für
mehr Jugendgerechtigkeit in ländlichen Räumen hin. In den vergangenen drei
Jahren sind die Themen dabei auf unterschiedlichen Eben (Kreis-, Landes-,
Bundesebene) und in unterschiedlichen Bereichen (u.a. Jugendsozialarbeit,
Jugendarbeit, Jugendberufshilfe, Regionalplanung) zunehmend thematisiert
und diskutiert worden.
Die Beauftragte der Bundesregierung für die neuen Bundesländer hat durch
ihre Projektförderung einen wichtigen Beitrag dazu geleistet, den Diskurs hierzu empiriegestützt voranzubringen.
Für das Projekt bewährte sich hierbei die Einbeziehung von westdeutschen
Untersuchungsregionen. Denn es zeigte sich, dass die Entwicklungen und Herausforderungen in strukturschwachen ländlichen Räumen deutschlandweit
recht ähnlich sind. Unterschiede kamen insbesondere darin zum Ausdruck,
dass in Ostdeutschland Jugendpolitik viel stärker auch konzeptionell auf der
Landesebene begleitet und unterstützt und dies in Westdeutschland erst in den
letzten Jahren zunehmend thematisiert wird.
Die Einbindung verschiedenster jugendpolitischer Akteure der Bundes-,
51
Landes- und Landkreisebene in den Workshop-Prozess, der das Projekt begleitete, war für die Debatte sehr gewinnbringend. So wurde erreicht, allzu starkes
Denken in Verantwortlichkeiten zu überwinden. Hierzu trug beispielsweise
auch in einem Workshop die Einbeziehung der jugendpolitischen Erfahrungen
und Sichtweisen aus Finnland mit seiner seit jeher überwiegend ländlich geprägten Siedlungsstruktur und den hier entwickelten Ansätzen bei. Darüber
hinaus ist es auf Grundlage der Ergebnisse der Gruppendiskussionen gelungen,
die Perspektive der Jugendlichen in den komplexen Diskurs über Jugendpolitik
einzubeziehen.
Das Engagement der Beauftragten der Bundesregierung für die neuen Bundesländer auf Bundesebene in den letzten Jahren hat gezeigt, dass sich auch
Bundesakteure zunehmend des Themas „Jugend und Demografie“ annehmen.
So verfolgt bspw. eine erst im Jahr 2014 gegründete Arbeitsgruppe „Jugend
gestaltet Zukunft“ das Ziel, die Belange junger Menschen und nachfolgender
Generationen in die Demografiestrategie der Bundesregierung einzubringen.
Die im Projekt „Jugend im Blick“ erarbeiteten Ergebnisse und Handlungsempfehlungen konnten bereits in den Prozess zur Weiterentwicklung der
Demografiestrategie eingebracht werden. Weiterhin hat es sich die Koordinierungsstelle der Jugendstrategie der Bundesregierung „Handeln für eine jugendgerechte Gesellschaft“ zum Ziel gesetzt, Grundsätze und Handlungsstrategien
einer Eigenständigen Jugendpolitik bundesweit zu verbreiten. Auch hier konnten Anregungseffekte erzielt werden.
Insgesamt kann bereits zum jetzigen Zeitpunkt festhalten werden, dass mit der
Studie und den im vorliegenden Abschlussbericht festgehaltenen Ergebnissen
auf Bundesebene eine Reihe von Impulsen gegeben wurden. Dennoch können
die im Projekt gewonnenen Erkenntnisse lediglich Hinweise für den Diskurs
und die Weiterentwicklung der Jugendpolitik auf den verschiedenen politischen
Ebenen liefern.
52
10
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54
Abbildungsverzeichnis
Abbildung 1: Untersuchungsstandorte der Studie „Jugend im Blick“
10
Abbildung 2: Umsetzung der Studie "Jugend im Blick"
11
Abbildung 3: Indikatorensystem zum Teilhabeindex Jugendlicher in
ländlichen Räumen
17
Abbildung 4: Unterschiede der Teilhabedimensionen in den Untersuchungsstandorten
18
Abbildung 5: Teilhabeindex in den Landkreisen
19
Abbildung 6: Effektstärken der Teilhabedimensionen auf die
Bildungswanderung (N=281)
20
Abbildung 7: Systematisierung des strategischen Engagements
23
Abbildung 8: Typologie der lokalen Vernetzung
33
Abbildung 9: Handlungsoptionen
34
Abbildung 10: Typ A – Wochenend-Freizeiter
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Abbildung 11: Typ B – Jugendeinrichtungsnutzer
41
Abbildung 12: Typ C – Alles kurze Distanzen
42
Abbildung 13: Typ D – Aktiv und mehrfach engagiert
43
Tabellenverzeichnis
Tabelle 1: Auswahlkriterien Landkreise
8
Tabelle 2: Basisinformationen zur Dokumentenanalyse
22
Tabelle 3: Befragte Expertinnen und Experten
27
Tabelle 4: Basisinformationen zu den Gruppendiskussionen
35
55