Sonja Friedrichs: Warum machen wir das eigentlich?
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Sonja Friedrichs: Warum machen wir das eigentlich?
Universität Siegen Integrierter Studiengang Sozialpädagogik und Sozialarbeit Fachbereich II Diplomarbeit „Warum machen wir das eigentlich?“ Eine Studie zur Motivation von Pflegemüttern und Pflegevätern Vorgelegt von: SONJA FRIEDRICH Schellberg 3 57299 Burbach Matrikelnummer: 591700 Referent: Herr Prof. Dr. Klaus Wolf Koreferent: Herr Prof. Dr. Kurt Sokolowski Burbach, 26. März 2009 INHALTSVERZEICHNIS 1. EINLEITUNG 7 Teil I: Theorieteil 2. DAS PFLEGEKINDERWESEN 9 2.1. Das Pflegekinderwesen von heute 9 2.1.1. Kurzer historischer Abriss 2.2. Die Beteiligten im Pflegekinderwesen 10 19 2.2.1. Das Pflegekind 19 2.2.2. Die Pflegeeltern 20 2.2.3. Die leiblichen Kinder der Pflegeeltern 21 2.2.4. Die Herkunftsfamilie 22 2.2.5. Die Aufgaben des Jugendamtes 23 2.2.6. Die Möglichkeiten und Grenzen im Pflegekinderwesen 24 2.3. Die unterschiedlichen Pflegeformen 25 2.3.1. Tagespflege 25 2.3.2. Wochenpflege 26 2.3.3. Kurzzeitpflege 26 2.3.4. Dauer- oder Vollzeitpflege 27 2.3.5. Bereitschaftspflege 28 2.4. Rechtliche Rahmenbedingungen des Pflegekinderwesens 28 2.4.1. Sozialgesetzbuch (SGB VIII) 29 2.4.2. Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) 31 2.4.3. Gesetz über die Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit (FGG) 3. ZUR MOTIVATION VON PAAREN, PFLEGEELTERN ZU WERDEN 33 34 3.1. Was ist Motivation? 36 3.2. Wodurch wird unser Verhalten gesteuert? 38 3.2.1. Merkmale motivierten Verhaltens 43 3.2.2. Motivation und Bewusstsein 44 3.2.3. Motivation und Emotionen 45 3.2.4. Motivation und Persönlichkeit 46 2 3.2.5. Motivation und Wille 48 3.3. Unterschiedliche Formen der Motivation 51 3.3.1. Leistungsmotivation 51 3.3.2. Anschlussmotivation 55 3.3.3. Machtmotivation 57 3.4. Was bedeutet extrinsische und intrinsische Motivation? 60 3.5. Unterschiedliche Motivationen von Pflegeeltern 63 (nach einer Studie von Lotte Danziger, 1930) 3.5.1. Persönliche Beweggründe 3.5.2. Im Interesse des eigenen Kindes oder der eigenen 67 Familie 68 3.5.3. Finanzielle Beweggründe 69 3.5.4. Äußere Beweggründe 70 3.6. Verschiedene Motivationen von Pflegeeltern 73 (nach einer Studie von Jürgen Blandow, 1972) 3.6.1. Rolle der Mutter und Rolle der Pflegemutter 74 3.6.2. Das Selbst-Konzept der Pflegemutter 76 3.6.3. Motivation für Pflegemutterschaft 78 3.6.4. Bedingungen für ein erfolgreiches Pflegeverhältnis 83 3.6.5. Zusammenhang von Selbst-Konzept und Motivation der Pflegemütter 3.6.6. 84 Erfolg von Pflegeverhältnissen und Gründe für die Auflösung von Pflegeverhältnissen 87 Teil II: Forschungsteil 4. UNTERSUCHUNGSDESIGN 90 4.1. Ziel der Untersuchung 90 4.2. Vorgehensweise der Untersuchung 91 4.2.1. Kontaktaufnahme zu den Pflegeeltern 91 4.2.2. Möglichkeiten der Befragung durch Interviews 92 4.2.3. Grundlagen des narrativen Interviews 92 3 4.2.4. Datenerhebung 94 4.2.5. Datenauswertung 96 5. DIE AUSWERTUNG 100 5.1. Vorstellung der Pflegefamilie 100 5.2. Interview mit der Pflegemutter 101 5.2.1. Zusammenfassung des Interviews 102 5.2.2. Themenerweiterte Zusammenfassung des Interviews 103 5.2.3. Themenspezifische Auswertung 115 5.2.3.1. Wie kam es zur Aufnahme eines Pflegekindes? 115 5.2.3.2. Motivation von außen 117 5.2.3.3. Familiäre Motivation 119 5.2.3.4. Christliche Motivation 120 5.2.3.5. Soziale/Altruistische Motivation 123 5.2.3.6. Finanzielle Motivation 124 5.2.4. Motivation der Pflegemutter 5.3. Interview mit dem Pflegevater 124 132 5.3.1. Zusammenfassung des Interviews 133 5.3.2. Themenerweiterte Zusammenfassung des Interviews 134 5.3.3. Themenspezifische Auswertung 140 5.3.3.1. Wie kam es zur Aufnahme eines Pflegekindes? 140 5.3.3.2. Motivation von außen 141 5.3.3.3. Familiäre Motivation 142 5.3.3.4. Christliche Motivation 142 5.3.3.5. Soziale/Altruistische Motivation 144 5.3.3.6. Finanzielle Motivation 145 5.3.4. Motivation des Pflegevaters 5.4. Vergleichen der Interviews 146 148 5.4.1. Konnten Gemeinsamkeiten herausgearbeitet werden? 149 5.4.2. Lassen sich Unterschiede feststellen? 151 5.4.3. Ist eine Motivationsänderung möglich? 152 4 6. ABSCHLIEßENDE BETRACHTUNG 153 7. REFLEXION 155 8. LITERATURVERZEICHNIS 156 9. ANHANG 159 9.1. Transkriptionszeichen 159 9.2. Das Interview mit der Pflegemutter 160 9.3. Das Interview mit dem Pflegevater 199 9.4. Erklärung 218 5 Danksagung: Diese Diplomarbeit entstand durch die große Offenheit und Erzählbereitschaft eines Ehepaars, in deren Familie seit über dreizehn Jahren ein Pflegekind lebt und betreut wird. Durch ihre Geschichte, an der sie mich teilhaben ließen und die so zur Grundlage meiner Diplomarbeit wurde, gilt mein Dank zuerst ihnen. Ich möchte Herrn Prof. Dr. Klaus Wolf für seine Unterstützung und Begleitung während der Diplomarbeit danken. Ganz besonders danken möchte ich meinem Mann Armin und meinen Kindern Lena, Florian und Svenja, weil sie mich nicht nur während der Diplomarbeit, sondern während meines Studiums unterstützt und mich immer wieder neu motiviert haben. DANKE ! 6 1. EINLEITUNG „Was ist dein Weg? Der weite Weg ist der Weg, den alle gehen. Du musst deinen ganz persönlichen Weg finden. Da genügt es nicht, sich nach den anderen zu richten. Du musst genau hinhören, was dein Weg ist. Und dann musst du dich entscheiden, diesen Weg zu gehen, auch wenn du dich dort sehr einsam fühlst. Nur dein ganz persönlicher Weg wird dich wachsen lassen und zum wahren Leben führen.“ (zit. n. Anselm Grün) Jede Gesellschaft stellt sich die Frage, wie man mit den Kinder umgehen kann, die, aus diversen Gründen nicht von ihren leiblichen Eltern versorgt und erzogen werden können. Eine mögliche Alternative bietet sich darin, diese Kinder für eine bestimmte Zeit bei anderen Erwachsenen unterzubringen, die die Pflege und Erziehung der Kinder übernehmen und mit ihnen eine Lebensgemeinschaft bilden. Für solch eine Lebensgemeinschaft gibt es unterschiedliche Bezeichnungen, wie zum Beispiel Pflegefamilie oder professionelle Lebensgemeinschaft, innerhalb deren die Betreuung der „fremden“ Kinder durch verschiedene Pflegeformen wahrgenommen und durchgeführt werden können. Diese Fremdunterbringung birgt viele Schwierigkeiten für die Pflegeeltern, ebenso wie für das Pflegekind, die Herkunftsfamilie und die Mitarbeiter des Jugendamtes, da sie alle gemeinsam dafür sorgen sollen, den besonderen Bedürfnissen des Pflegekindes gerecht zu werden. Aufgrund dieser Ausgangslage besteht das zentrale Anliegen der vorliegenden Arbeit darin, der Frage nach der Motivation der Pflegeeltern für ihre schwierige und verantwortungsvolle Aufgabe nachzugehen. Warum machen sie das? Was 7 veranlasst Menschen, trotz aller Schwierigkeiten, die sich ergeben können, ein Pflegekind bei sich aufzunehmen? Gegenstand des zweiten Kapitels sind die theoretischen Grundlagen zum Pflegekinderwesen. Hier ist es mein Anliegen die Entwicklung des Pflegekinderwesens zu anskizzieren. Anschließend werde ich die momentane Situation in Deutschland beschreiben, auf die Beteiligten im Pflegekinderwesen eingehen und die unterschiedlichen Pflegeformen aufzeigen. Gleichzeitig unterliegt die Unterbringung eines Kindes in einer Pflegefamilie bestimmten rechtlichen Grundlagen, die dem Kindeswohl dienen und in unseren Gesetzestexten (Kinder- und Jugendhilfegesetz, Bürgerlichen Gesetzbuch und im Gesetz über Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit) verankert sind. Im Anschluss daran werde ich in Kapitel Drei auf die Motivation im allgemeinen näher eingehen, die Merkmale und verschiedenen Formen der Motivation benennen. Des Weiteren werden die Studien von Danziger „Pflegemutter und Pflegekind“ (1930) und von Blandow „Rollendiskrepanzen in der Pflegefamilie“ (1972) vorgestellt. Der empirische Teil der Arbeit schließt sich in Kapitel Vier an. Neben einer näheren Beschreibung meines Untersuchungsziels, werden die angewendeten Methoden zur Datenerhebung und Datenauswertung erläutert und allgemeine Angaben zu den Interviews, die sich in transkribierter Form im Anhang befinden, gegeben. Bei den Interviews handelt es sich um zwei Einzelfallstudien mit einer Pflegemutter und einem Pflegevater, die durch ein narratives Interview durchgeführt und mit dem themenzentrierten-komparativen Auswertungsverfahren nach Lenz (1986) ausgewertet wurden. Die Ergebnisse der selbst erhobenen Daten im Hinblick auf die Motivation bilden den Schwerpunkt dieser Arbeit in Kapitel Fünf. Zuerst werden die jeweiligen Auswertungsresultate der einzelnen Interviews getrennt voneinander betrachtet, anschließend kommt es zu einer Gegenüberstellung der einzelnen Auswertungen in der Gemeinsamkeiten sowie Unterschiede zwischen den beiden Pflegeeltern herausgearbeitet werden. Die abschließende Schlussbetrachtung im sechsten Kapitel greift die Ergebnisse der Analyse noch einmal auf, fasst sie zusammen und reflektiert diese. 8 Teil I: Theorieteil 2. DAS PFLEGEKINDERWESEN Zu allen Zeiten schon gab es Kinder, die aufgrund besonderer Umstände nicht bei ihren leiblichen Eltern aufwachsen konnten. Manche waren Vollwaisen und manche wurden in Familien hineingeboren, die nicht in der Lage waren, sich um die Kinder zu kümmern und zu sorgen. Aber es gab auch schon zu allen Zeiten Menschen, die sich dieser armen Kinder annahmen und für sie sorgten. Menschen, die vom Schicksal der Kinder angesprochen wurden und ihnen helfen wollten. Bereits in den frühen Schriften des Alten Testaments wird darauf hingewiesen, dass die Witwen und Waisen unter dem besonderen Schutze Gottes stehen: „Nutzt die Schutzlosigkeit der Witwen und Waisen nicht aus“, 2. Mose 22: 21. „Er verhilft den Waisen und Witwen zu ihrem Recht …“, 5. Mose 10: 18. Durch die schlechte damalige Wirtschafts- und Rechtsposition der Witwen und Waisen tritt das Alte Testament an vielen Stellen für den Schutz der Witwen und Waisen ein. Sie werden zum Urbild des schutzbedürftigen Menschen. Jahwe, der Gott Israels nimmt sich ihrer selbst an. 2.1. Das Pflegekinderwesen von heute Zum besseren Verständnis möchte ich zuerst einen kurzen Überblick über die Entwicklung des Pflegekinderwesens geben. Da sich die Situation der Familie – auch hinsichtlich der innerfamiliären gefühlsmäßigen Beziehungen – in einem stetigen Wechsel befindet, ist dieses Thema immer wieder aktuell. Die Möglichkeit, das Kind in einer ihm `fremden` Familie unterzubringen ist nur eine von mehreren Hilfen zur Erziehung. 9 2.1.1. Kurzer historischer Abriss Altertum Zu dieser Zeit gab es für die Waisen und Halbwaisen eigentlich die erweiterte Großfamilie, die sich ihrer annahm. Für Kinder, die einer großen Sippe angehörten gab es kaum Schwierigkeiten, eine Unterkunft zu finden. Schwierig wurde es für die Kinder, die keine weitere Familie mehr hatten oder deren Familie nicht bekannt war – für sippenlose Waisen und Findlinge. Für sie mussten besondere Regelungen getroffen werden. Sie galten als besonders schützenswert. Die unversorgten Waisen wurden im frühen Christentum ausgewählten Witwen zur Pflege und Fürsorge übergeben. Diese „Ehren-Witwen“ bezeichnete man somit als die ersten „Pflegemütter“ (Blandow, 2004: S. 20-21). Die Zahl der Findlinge oder unehelichen Kinder nahm stark zu, so dass sie zu einem gesellschaftlichen Problem heranwuchsen. Es musste eine Alternative für die Kinder geben, weil sie sonst ausgesetzt oder umgebracht wurden. Dafür wurden an den Kirchen spezielle Marmorschalen angebracht, in die man die Kinder ablegen konnte. Sie wurden dann zur weiteren Versorgung der Kirche übergeben. Somit entstanden die ersten Anstalten, in denen die ausgesetzten, un- und außerehelichen Kinder versorgt wurden. Mittelalter Durch Klagen, dass sich die Ziehväter am Erbe der Kinder vergriffen oder die Ziehmütter durch den wenigen Lohn, den sie für die Kinder bekamen, immer unwilliger Kinder bei sich aufnahmen, wurden die Kinder nun institutionell versorgt. Diese Aufgabe übernahmen die kirchlichen und ritterlichen Orden. Sie gründeten Hospitäler und bürgerliche Stiftungen und eröffneten Anstalten, in denen Ammen mit der Versorgung der Kinder beauftragt wurden. Die Kinder wurden für ihre Anstalten sogar betteln geschickt, bis sie alt genug waren, um für sich selbst Almosen zu erbitten. Durch die hohe Sterblichkeitsrate bei den Kindern ging man dazu über, die Kinder Ammen zu übergeben, die gegen eine Einmalzahlung die Kinder außerhalb der Anstalten versorgten. Die Frauen nahmen meist drei bis vier Säuglinge auf. Die Kinder kamen im Alter von etwa fünf bis sieben Jahren zurück in die Anstal- 10 ten, wo sie solange bleiben konnten, bis sie sich durch Betteln selbst versorgen konnten. Aber auch bei den Ammen war die Sterblichkeitsrate bei den Kindern sehr hoch. Viele Ammen wurden auch „Engelmacherinnen“ genannt, weil sie den Kindern nicht die notwendige Pflege zukommen ließen, sondern sie verkommen ließen und aus der Welt schafften (Blandow, 2004: S. 23). Neuzeit Im Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit änderte sich die gesellschaftliche Anschauung. Im Mittelalter wurde Kindern keine besondere Beachtung und Aufmerksamkeit geschenkt. Armut galt als selbstverschuldet und die Kinder wurden als besonders erziehungsbedürftig angesehen. Durch genaue Anweisungen über Erziehung, Ernährung, Hygiene, Tagesablauf und Kleidung schrieben die Anstaltsordnungen vor, wie die Erziehung der Kinder auszusehen hatte. Es fanden auch sorgfältige Nachforschungen über Personen statt, die ihre Kinder einfach aussetzten. Die Anstalten wurden angehalten, die Auswahl der Pflegeeltern besser zu überwachen. Es sollte sichergestellt werden, dass die Kinder auch von ihnen versorgt werden konnten. Im 16. Jahrhundert wurde die Erziehung (auch die Waisenerziehung) zur Arbeit und zum gesellschaftlichen Programm. Die Erziehung fand unter einem strengen Reglement statt. Die Kinder – etwa ab dem 10. Lebensjahr – wurden aus den verwahrlosten Familien herausgenommen und gemeinsam mit Bettlern, Dirnen und Aufsässigen in Zuchthäusern untergebracht. Gegen ein geringes Entgelt vermittelte man sie an Arbeitsstellen, wo sie trotzdem zusätzlich zum Betteln geschickt wurden. Daher wurde in vielen Städten wieder die Anstaltserziehung bevorzugt (Blandow, 2004: S. 25). Nach dem 30jährigen Krieg stieg die Zahl der verwaisten Kinder, deren Eltern entweder dem Krieg oder der Pest zum Opfer gefallen waren stark an. Die Waisen- und Findelhäuser waren überfüllt und man bemühte sich, die Kinder wieder in Pflegefamilien unterzubringen. Man versuchte, notfalls auch gegen ein geringes Entgelt, Verwandte, Taufpaten oder Vormünder zu mobilisieren, die Kinder bei sich aufzunehmen (Blandow, 2004, S: 25-26). Die Theorie des Merkantilismus lieferte die Voraussetzungen und Grundlagen für die Massenunterbringung der Kinder in den Anstalten und die Ausbeutung 11 ihrer Arbeit. Daher wurden auch die Kinder zu harter Arbeit in den Waisen-, Findel- und Arbeitshäusern herangezogen. Dies führte zu Neugründungen von Waisen-, Armen- und Arbeitshäusern, in denen eine Ausbeutung der Kinder stattfand. Somit wurde das Ziehkinderwesen von der Anstaltserziehung zurückgedrängt (Blandow, 2004: S. 26). Zeitalter der Aufklärung Im Zeitalter der Aufklärung gab es einen erneuten Umschwung. Die extreme Ausbeutung in den Anstalten hatte zur Verelendung und Verwahrlosung der Kinder geführt. Ein Kompromiss zwischen den kindlichen Bedürfnissen und dem Arbeitsbedarf der Industrie war dringend notwendig. Man begann, mehr Rücksicht auf die pädagogischen Bedürfnisse der Kinder, wie auch auf Schulbildung, Ernährung und Hygiene zu nehmen. Auch die Ausbildung der Waisenerzieher wurde in den Focus gerückt. Strafen und die hohe Arbeitsbelastung der Kinder wurden reduziert. Es gab immer noch eine hohe Sterblichkeitsrate in den Waisenhäusern. Man ging aus Kostengründen dazu über, die Kinder in bäuerlichen Familien auf dem Land unterzubringen, wo sie gesund aufwuchsen und langsam an die Arbeit gewöhnt werden konnten. In den Jahren von 1770 bis 1820 kam es zu dem so genannten Waisenhausstreit. Die Anhänger und Gegner der Familien- und der Anstaltserziehung gerieten wegen der schlimmen Zustände in den Anstalten aneinander. Aber auch die Anhänger der Familienerziehung waren sich uneinig über die Unterbringung der Kinder. Eine Seite war der Ansicht, dass die Kinder nicht aus ihrem gewohnten Umfeld herausgerissen, sondern zu Verwandten gebracht werden sollten. Die andere Seite befürwortete die Unterbringung in der Pflegefamilie, weil diese Vorbildfunktion hatte. Die Kinder könnten sich dort besser an die täglichen Pflichten gewöhnen. Man behauptete sogar, dass nur die Familienerziehung gesunde und brauchbare Bürger hervorbringe. Die Anhänger der Anstaltserziehung setzten sich für eine Reformation des Anstaltswesens ein. Sie hatten erhebliche Bedenken gegen die tatsächlichen Verhältnisse in Pflegefamilien (dazu gehörten u.a. die schlechten Schulverhältnisse auf dem Lande, die hygienischen Verhältnisse, die billige Arbeitskraft der Kinder und, dass es Pflegefamilien gab, die selbst nichts zu essen hatten, geschweige denn für ein Pflegekind sorgen konnten). 12 Der Waisenhausstreit führte zu dem Ergebnis, dass einerseits eine Systematisierung der Kostkinder-Unterbringung und andererseits eine Reformation der Anstaltserziehung stattfanden. Verwaiste bürgerliche Kinder wurden entsprechend ihrem Stand untergebracht und Armen- oder Findelkinder vermittelte man in kostengünstigere ländliche Pflegefamilien. Im 19. Jahrhundert kam das Pflegekinderwesen noch einmal in die Kritik. Auch der Verdacht der Engelmacherei kam wieder auf. Die Sterblichkeitsrate der Pflegekinder lag etwa zwischen 40 und 47 Prozent. Man musste das Pflegekinderwesen zu dieser Zeit unterteilen: Zum einen umfasste es die Inpflegegabe von Kindern durch die Anstalten, zum anderen die Inpflegegabe von kleinen Kindern durch ihre Mütter. Die meisten Mütter waren als Dienstmädchen oder Magd tätig und konnten ihre Kinder nicht bei sich behalten. Sie waren darauf angewiesen, kostengünstige Unterbringungsmöglichkeiten für ihre Kinder zu finden. Aber auch die Unterbringung der Kinder bei ihren Verwandten oder Großmüttern garantierte keinen besonderen Schutz der Kinder, weil diese auch in ärmlichsten Verhältnissen lebten. 1880 entstand der „Deutsche Verein für Armenpflege und Wohltätigkeit (der heutige „Deutsche Verein für öffentliche und private Fürsorge“), der sich zum Ziel gesetzt hatte, ein besseres System des Pflegekinderschutzes zu schaffen. Angeregt durch die Impulse des Deutschen Vereins entstand eine neue Gründungswelle z.B. für Einrichtungen von Säuglings- und Wöchnerinnenschutz, zur Gesundheitsvorsorge und zur Betreuung von Kleinkindern. Sie wurden meist von bürgerlich-humanitären Vereinen getragen (Blandow, 2004: S. 27-35). Gegen Ende des 19. Jahrhunderts setzte sich das Pflegekinderwesen wieder vermehrt durch. Hauptsächlich geschah dies aus finanziellen Gründen. Man musste eine Konzession beantragen, um Pflegekinder aufnehmen zu können (Bsp. Frankfurt/M.). Durch den Arzt Dr. Taube entwickelten sich in Leipzig erste Ansätze zu einem fürsorglichen Pflegekinderwesen. Es entstanden unterschiedliche Maßnahmen, z.B. das unehelich geborene Kinder rechtliche Ansprüche an ihre Väter hatten und eine Beratung für die Pflegemütter. Alle in Pflege lebenden Kinder wurden daraufhin einer Generalvormundschaft unterstellt, die dann auch auf alle unehelichen Kinder, die bei ihren Müttern lebten, ausgeweitet wurde. Somit entstand 13 aus dem Unehelichenschutz eine „reichsweit eingeführte Berufsvormundschaft über alle unehelichen Kinder“ (zit. n. Scherpner, 1979), Zu Beginn des 20. Jahrhunderts Zu Beginn des 20. Jahrhunderts entstanden erste Ansätze ein fürsorgerisches Pflegekinderwesen einzuführen, angeregt durch das „Taubsche System“. Alle fremduntergebrachten Kinder – sollten laut Pütter (Stadtrat aus Halle) – einheitlich unter die Aufsicht des Gemeindewaisenrates gestellt werden. Pütter erstellte einen Katalog von Vorschriften, in dem angeben war, wie die Pflegeeltern die Pflege und Erziehung der Kinder handhaben sollten. Die Vorschriften bezogen sich u.a. auf die Hygiene, die Pflege, die Erziehung, den Schul- und Kirchenbesuch der Kinder und auf das Verbot von schwerer Arbeit. In den ländlichen Gegenden lebten die Kinder nach wie vor als billige Arbeitskräfte unter denkbar schlechten Bedingungen. Einige Jahre später stellte der Vorsitzende des „Deutschen Vereins für Armenpflege und Wohltätigkeit“ die Bedürfnisse und den Schutz des Kindes, und nicht mehr die Bedürfnisse und Entlastung der Pflegepersonen in den Mittelpunkt. Ziel der Familienpflege sollte es sein, für die von ihren Eltern verlassenen oder aus zur Erziehung unfähiger Familien stammenden Kinder, Aufwuchsbedingungen zu ermöglichen, unter denen sie ohne weitere Einschränkungen, in der Pflegefamilie aufwachsen konnten. Im Jahre 1900 trat das Bürgerliche Gesetzbuch (BGB) in Kraft. Für viele war es enttäuschend, dass es keine privatrechtlichen Regelungen für den Pflegekinderschutz enthielt. Es wurden noch nicht einmal Pflegekinder erwähnt. Mit dem §1666 erschwerte es zudem noch die Herausnahme eines Kindes aus seiner Familie, weil die elterliche Gewalt noch höher gestellt wurde als bisher. Aus der Leipziger „Generalvormundschaft“ entwickelte sich die „Berufsvormundschaft“, die heutige Amtsvormundschaft. Sie galt für alle unehelichen Kinder, unabhängig davon, ob sie bei ihren leiblichen Müttern oder in Pflegefamilien lebten. Während des 1. Weltkrieges wurden die Waisen, Pflegekinder und Fürsorgezöglinge wieder in kinderlose und kinderarme Aussiedlerfamilien in den Ostprovinzen vermittelt. Dies geschah nicht zum Wohle des Kindes, sondern zur Vorbeugung der Landflucht in diesen Gebieten und der Förderung der Rückwanderung auf das Land (Blandow, 2004: S. 35-40). 14 Mit dem Reichsjugendwohlfahrtsgesetz (RJWG) von 1922 kam es zu einer völligen Neuerung des Pflegekinderwesens. Das Jugendamt wurde als einheitliche Behörde zur Förderung der Jugendwohlfahrt und zum Schutz der Pflegekinder benannt (§ 19-31). Zum ersten Mal wurde eine Unterscheidung von privat untergebrachten Waisen und behördlich untergebrachten Pflegekindern vorgenommen. Pflegekinder waren nun alle: „Kinder unter 14 Jahren, die sich dauernd oder nur für einen Teil des Tages jedoch regelmäßig, in fremder Pflege befinden, es sei dann, dass von vorneherein feststeht, dass sie unentgeltlich in vorübergehende Bewahrung genommen werden.“ (§19, RJWG, zit. n. Blandow, 2004: S. 40/41) Zur Aufnahme eines Pflegekindes benötigte man nun auch die Erlaubnis des Jugendamtes. Es wurden neue Regelungen geschaffen, die die Situation der Pflegekinder verbessern sollten. Die Umsetzung scheiterte an der Wirtschaftskrise und wesentliche Bestandteile des RJWG wurden wieder außer Kraft gesetzt. Trotz alledem fand eine grundlegende Veränderung des Pflegekinderwesens statt. Die Motive, warum Kinder in Pflege genommen wurden, änderten sich zusehends. Lotte Danziger führte 1930 eine Studie durch, in der die Mütter befragt wurden, warum sie ein fremdes Kind aufnehmen wollten. Die Pflegefamilien kamen nicht mehr aus ärmlichen Verhältnissen, sondern aus der „Arbeiterschaft und dem Kleinbürgertum“. An erster Stelle standen nicht mehr die finanziellen Motive zur Aufnahme eines fremden Kindes. Es waren nun die psychologischen Gründe der Frau (Bedürfnis nach Gesellschaft) an die erste Stelle gerückt. Danach folgten die Gründe im Interesse des eigenen Kindes und dann erst die materiellen Gründe (Danziger, 1930: S. 26 ff). Zur Zeit des Nationalsozialismus Das Reichsjugendwohlfahrtsgesetz (RJWG) und auch die PflegekinderRegelungen blieben größtenteils erhalten, wurden aber in Hinblick auf nationalsozialistische Ideologien entsprechend korrigiert. Zur Überprüfung der rassenmäßigen Eignung war nun ein Nachweis über die Abstammung der Bewerber, wie auch der Kinder vorzulegen. Es sollte sichergestellt werden, dass die Pflegeeltern geeignet und gewillt waren, das Pflegekind im nationalsozialistischen Sinne zu erziehen. Organisatorisch blieb die Pflegekinderaufsicht beim Jugendamt. Für die „erzieherische Kontrolle“ der Pflegefamilien wurden NS15 Wohlfahrtsverbände eingesetzt. Somit wurde bei der Vorbereitung, Vermittlung und Beratung die Nähe zum nationalsozialistischen Machtapparat sichergestellt. Das Pflegekinderwesen im Nationalsozialismus hatte einen ambivalenten Stellenwert. Zum einen hatte die ideologische Wertschätzung der Familie einen hohen Stellenwert, aber zugleich wurden die Erziehungsrechte in der Familie stark eingeschränkt. Im Übrigen gab es aber auch Vorbehalte gegenüber den Pflegefamilien, da sie nicht blutsverwandt mit den Kindern waren. Die Ambivalenz wurde auch dadurch deutlich, dass selbst zuverlässigen Pflegefamilien ein zweitrangiger Stellenwert hinter der blutsverwandten Familie eingeräumt wurde. Die Kinder sollten nach Möglichkeit in der Herkunftsfamilie bleiben. Die Folge war, dass die Anzahl der Kinder in Pflegefamilien zurückging und die Anzahl der Kinder in Fürsorgeheimen anstieg. Wie zu jeder anderen Zeit auch, wurden Pflegefamilien aber auch wegen ihrer geringen Kosten geschätzt (Blandow, 2004: S.43-47). Von der Nachkriegszeit bis heute Die Entwicklung des Pflegekinderwesens in der Nachkriegszeit fand in unterschiedlichen Abschnitten statt. Blandow (2004) teilt die Nachkriegszeit in fünf Phasen ein. 1. Phase: Mängelverwaltung (1945-1950) Der Aufbau eines funktionierenden Pflegekinderwesens war nach dem Ende des Krieges nicht möglich, da zu viele Menschen in Not lebten. Auch die Jugendämter waren nicht in der Lage, funktionsfähig zu arbeiten. Da es an Pflegefamilien mangelte, war man darauf angewiesen, die Kinder wieder vermehrt in Heimen unterzubringen. Bei älteren Kindern bot sich die Unterbringung auf dem Lande an (ebd., 2004: S. 49-52). 2. Phase: Aus der „schlechten“ in die „gute“ Familie (1950-1965) Im Zuge der Währungsreform wurde in Deutschland das so genannte Wirtschaftswunder eingeleitet, das aber die Armutsbevölkerung weitgehend nicht erreichte. Der Jugendhilfe kam die Aufgabe zu, die Normen und traditionellen Orientierungen – zu denen vor allem die Vorstellung einer klassischen und intakten Familie gehörte – zu überwachen. 16 Insbesondere ging es im Pflegekinderwesen darum, die familienlosen und/ oder unehelichen Kinder in eine gute Familie zu vermitteln. Man brachte die Kinder zunächst in einem Heim unter, um die „Familienreife“ (z.B. sauber und trocken sein) der Kinder zu testen, bzw. sie familienreif zu machen. Bevorzugt wurden die Kinder in bäuerlichen Pflegefamilien untergebracht. Von den Pflegeeltern wurde erwartet, dass sie die Kinder anständig versorgten und dauerhaft in die Familien integrierten, was man aber nur unzureichend und minimal honorierte. Sie sollten einen Ersatz der Herkunftsfamilie darstellen. An die Herkunftsfamilien dachte man dabei nicht. Gelegentliche Besuche der Herkunftseltern oder –mütter wurden geduldet, weil es rechtlich so vorgesehen war. Sie fanden aber keine Unterstützung oder Förderung. Die Aufgaben des Jugendamtes bezogen sich eher auf die Oberaufsicht des Pflegekinderwesens. 3. Phase: „Holt die Kinder aus den Heimen“ (1965-1980) In der Jugendpflege setzte man sich vermehrt mit den familiären Hintergründen der Heimunterbringung und der Inpflegegabe auseinander. Durch das Versagen der Heimerziehung rückte die Ersatzfamilie wieder in den Focus. Durch Werbekampagnen von Seiten der Jugendämter hoffte man, neue Pflegefamilien zu finden. Man bot Elternseminare, sowie eine weitere Beratung für die Pflegefamilie an. Die Motivation der Pflegeeltern veränderte sich. Man nahm die Kinder vermehrt wegen persönlicher und sozialer Motive auf, und die Pflegeeltern kamen vermehrt aus der gehobeneren Bevölkerungsschicht. Das Pflegekinderwesen etablierte sich zu einem eigenen System in der Erziehungshilfe (ebd., 2004: S. 55-60). 4. Phase: Die Entdeckung der „Herkunftsfamilie“ (1980er Jahre) Um den Müttern eine Berufsmöglichkeit zu schaffen, entstand das Modellprojekt „Tagespflege“. Mit Bezug auf das Projekt der Tagespflege wurde ein Projekt zur „Beratung im Pflegekinderbereich“ durchgeführt. Daraus ergab sich die Frage, ob für die Kinder die Doppelbetreuung durch die leibliche Mutter und die Tagesmutter verkraftbar oder auch sogar förderlich wäre. Es wurde seitens der Mitarbeiter des Projekts dafür plädiert, die bestehenden 17 Bindungen der Kinder an ihre Herkunftsfamilie zu erhalten und deren Funktionalität zu ergänzen, statt zu ersetzen. Man spricht dabei von dem Ergänzungsfamilienkonzept und dem Ersatzfamilienkonzept. Es ging dabei um einen radikalen Wechsel in der Praxis der Pflegekinderdienste. Man akzeptierte die Bindungen des Kindes an seine Herkunftsfamilie und verlangte nun von allen Beteiligten, im Sinne der Kinder zusammenzuarbeiten. Für die Jugendämter bedeutete dies neue Aufgaben. Fachliche Beratung und Begleitung von Pflegepersonen, Schulungen der Bewerber, Methoden der Krisenintervention und Formen der Werbung zählten u.a. zu diesen neuen Aufgaben. 5. Phase: „Etwas neben Anderem“ (1990er Jahre) Durch das In-Kraft-Treten des neuen Jugendhilfegesetzes vom 01.01.1991 entstand eine dritte Säule der Jugendhilfe: das System der familienorientierten ambulanten und teilstationären Hilfen. Bedingt durch diese Veränderungen wurde das Pflegekinderwesen immer weiter zurückgedrängt. Nicht nur in der Heimerziehung, sondern auch in der Unterbringung in einer Pflegefamilie sah man eine Fremdplatzierung. Die Kinder wuchsen auch hier in einer fremden und „künstlichen“ Umgebung auf. Den Vorrang bekamen die ambulanten und teilstationären Hilfen. Die Erwartungen an die Pflegeeltern veränderten sich. Es wurden vermehrt Kinder unmittelbar aus ihrer Geburtsfamilie heraus in die neue Familie vermittelt. Diese Kinder litten häufig unter erheblichen Verhaltensstörungen und hatten eine große Leidensgeschichte. Der Pflegefamilie wurde die Rolle der „Ergänzungsfamilie“ zugewiesen und sie musste vermehrt therapeutische Funktionen übernehmen. Immer weniger Bewerber waren bereit, sich diesen wachsenden Anforderungen und den daraus resultierenden Problemen zu stellen (Blandow, 2004: S. 65-67). Das Ergebnis der Entwicklung der 90er Jahre sieht Blandow so: „dass sich das Institut „Vollzeitpflege“ allmählich, hierbei von `konkurrierenden` Institutionen gerahmt, zu einer Spezialinstitution für die Betreuung und bewusste Erziehung, ggf. auch Krisenintervention, `Diagnostik` und ´Therapie` von „Kindern in Not“ transformiert“. (zit. n. Blandow, 2004: S. 67/68) Auch durch die dritte Säule der Jugendhilfe wird es wohl kaum zu vermeiden sein, Kinder in „fremden“ Familien unterzubringen. Aus diesem Grund ist es 18 wichtig, dass sich die Heimunterbringung wie auch das Pflegekinderwesen zeitgemäß weiterentwickeln kann. Blandow bemerkt in seinem Buch: „Die Geschichte des Pflegekinderwesens ist noch nicht zu Ende.“ (zit. n. Blandow, 2004: S. 70) 2.2. Die Beteiligten im Pflegekinderwesen 2.2.1. Das Pflegekind Ein Pflegekind hat nicht die Möglichkeit, in seiner Ursprungsfamilie aufzuwachsen. Die Gründe dafür liegen im familiären Bereich. Die Herkunftseltern sind meist nicht in der Lage, adäquat für ihr Kind zu sorgen. Die Kinder kommen hauptsächlich aus zerrütteten Familien und wissen teilweise nicht, was eine richtige Familie ausmacht. Ihre Familie unterscheidet sich zum Teil erheblich von der allgemeinen Durchschnittsfamilie (Blandow, 2004: S. 128). Oftmals haben sie schon Notlagen erleiden müssen, z.B. Gewalt, Missbrauch und Vernachlässigung. Das hinterlässt bei den Kinder Spuren, die bis zur Traumatisierung reichen können (www.moses-online.de). Für die Kinder ist es sehr wichtig, Erklärungen und Hilfen zu bekommen, weshalb ihre leiblichen Eltern nicht für sie sorgen konnten. Die Kinder haben gelernt, dass sie durch negatives Verhalten Beachtung und Nähe finden (Amt für Familie und Soziales, Kiel, 2007). Sie haben nicht den gleichen Entwicklungsstand wie die Kinder, die wohlbehütet aufgewachsen sind. Entwicklungsstörungen und -rückstände sind die Folge (Kommunal- Verband für Jugend und Soziales – KVJS, Baden-Württemberg, 2007). Für die Kinder ist die Trennung von ihren Eltern meist ein Schock. Die Kinder haben Bindungen an ihre Eltern, egal was diese ihnen angetan haben. Sie haben Sehnsucht nach ihnen und machen sich Sorgen. Das Vertrauen in Beziehungen wird total zerstört. Für viele Kinder bedeutet dies, dass sie nicht mit ihrer Familie leben können, aber irgendwie auch nicht ohne sie. Sie sind unsicher und haben Angst. 19 Für die Entwicklung der Kinder ist es wichtig, dort wo es möglich ist, den Kontakt zu den leiblichen Eltern aufrechtzuerhalten (Amt für Familie und Soziales, Kiel, 2007). Pflegekinder müssen damit klarkommen, dass sie zwei Familien haben, was eigentlich so gesellschaftlich nicht vorgesehen ist (Blandow, 1972). 2.2.2. Die Pflegeeltern Pflegeeltern betreuen, erziehen und versorgen ein fremdes Kind, das aus verschiedenen Gründen nicht von seinen leiblichen Eltern versorgt und betreut werden kann, meist für eine längere Zeit. Die Pflegefamilie bietet eine Alternative zum Heimaufenthalt. Für die Erziehung eines Pflegekindes benötigen die Pflegeeltern Konsequenz, Einfühlungs- und Durchhaltevermögen, Kraft, Zuneigung und Geduld. Davon hängt die Entwicklung des Kindes entscheidend ab. Da die Entscheidung weitreichende Folgen für die gesamte Familie hat, sollte, bevor ein fremdes Kind aufgenommen wird, abgeklärt werden, ob man das alles erfüllen kann und überhaupt will (Amt für Familie und Soziales, Kiel, 2007). Unbedingt wichtig ist auch, dass die Entscheidung von allen Familiemitgliedern gefällt und mitgetragen wird. Durch die Aufnahme eines Pflegekindes wächst die Familie nicht nur um eine Person, sondern es findet eine deutliche Umstellung für alle Beteiligten statt. Aufgrund der neuen Familienkonstellation muss sich das Zusammenleben der Familie neu ordnen, damit das Pflegekind seinen Platz finden kann (Amt für Familie und Soziales, Kiel, 2007). Neben den Schwierigkeiten, die durch das Zusammenleben mit einem Kind aus einer fremden Familie entstehen, kann es aber auch eine Bereicherung für die gesamte Familie bedeuten (KVJS, Baden Württemberg, 2007). Zu den Aufgaben mit dem Pflegekind gehört auch die Verantwortung der Pflegeeltern, mit den Herkunftseltern des Kindes positiv zusammenzuarbeiten (Blandow, 2003). Das wiederum kann zu neuen Problemen führen. Pflegeeltern müssen sich – je nachdem aus welcher Familie das Pflegekind kommt - mit vielfältigen Konflikten auseinandersetzen. Die Problematik verändert sich auch je nach Alter des Kindes. In jedem Alter können wieder andere Probleme zu be20 wältigen sein. Pflegeeltern werden immer wieder an ihre Grenzen stoßen und müssen sich neu orientieren. Dabei stellt sich die Frage, welche Voraussetzungen für eine Pflegschaft zu erfüllen sind? Für die Aufnahme eines Pflegekindes sind mehrere Voraussetzungen wichtig. Die Pflegestelle muss nicht immer eine vollständige Familie im herkömmlichen Sinne sein. Es sind, je nach Alter, Biographie und aktueller Lebenssituation der Kinder auch andere Familienkonzepte denkbar. Es können verheiratete und nicht verheiratete Paare, Einzelpersonen und auch Alleinerziehende Pflegepersonen werden. Unter Umständen können auch Verwandte das Kind in Pflege nehmen. Einige Voraussetzungen sind unverzichtbar; z.B. die Wohnung oder das Haus müssen groß genug sein und die Familie sollte in gesicherten finanziellen Verhältnissen leben. Um die bestmöglichen Voraussetzungen für eine Pflege zu schaffen, sollten die Pflegeeltern sich frühzeitig mit ihren Motiven und Beweggründen auseinandersetzen. Davon kann es entscheidend abhängen, ob das Pflegeverhältnis gut gelingen kann (www.familienhandbuch.de). Von der Pflegefamilie wird außerdem auch erwartet, dass sie positiv mit der Herkunftsfamilie des Kindes zusammenarbeitet und ggf. mit einer Rückkehr des Kindes rechnen muss (Amt für Familie und Soziales; Kiel, 2007). 2.2.3. Die leiblichen Kinder der Pflegeeltern Eine wichtige Voraussetzung ist, dass auch die leiblichen Kinder der Familie, die Entscheidung für ein Pflegekind, mittragen. Durch die hohe Aufmerksamkeit für das Pflegekind, stellt das leibliche Kind womöglich seine Position innerhalb der Familie in Frage. Das Kind muss lernen, die Eltern mit dem Pflegekind zu teilen. Durch die neuen Positionierungen innerhalb der Familie sind alle Kinder auf Hilfe angewiesen. Die Rolle und Position in der Geschwisterreihe sind existentielle Bestandteile unseres Lebens. Die Beziehungen innerhalb der Familie verändern sich durch ein Pflegekind sehr plötzlich. Einem neuen Kind in der Familie müssen die leib21 lichen Kinder Platz machen. Durch das Pflegekind verändern sich die Gewohnheiten, Regeln und Normen von allen – das komplette Leben wird einem Veränderungsprozess unterzogen, in dem jeder seine neue Position finden muss. In dieser Situation brauchen auch leibliche Kinder viel Aufmerksamkeit, Verständnis und Zuwendung von ihren Eltern, was leider oft übersehen wird. Schuldgefühle von Seiten der Eltern gegenüber ihren leiblichen Kindern sind oft die Folge, da sie das Gefühl haben, ihren Kindern zu viel abzuverlangen. Wichtig für die Kinder ist auch, dass sie unterschiedliche Interessen, Freundeskreise oder eigene Hobbys haben, denn wenn jedem ein Stück Eigenleben zugestanden wird, kann auch das Zusammenleben besser gelingen (Wiemann, 2008). Eine Studie von Marmann (2005) bezieht sich auf die Erziehungsleistung, die die leiblichen Kinder innerhalb der Familie leisten. Sie setzen sich nicht nur mit der veränderten Situation der Familie auseinander, sondern leisten selbst noch erzieherische Tätigkeiten in der Beziehung zu den Pflegegeschwistern. 2.2.4. Die Herkunftsfamilie Kinder in Vollzeitpflegestellen kommen fast alle aus Familienstrukturen, die sich sozial, ökonomisch und seelisch in Notsituationen befinden. Diese abgebenden Eltern müssen sich viel früher von ihren Kindern trennen, als es üblicherweise der natürlichen Aufwachsphase entspricht. Viele Eltern haben selbst auch keine geborgene Kindheit oder ein gesichertes Familienleben erfahren. Ihr Leben als Kind oder Jugendlicher war extremen Mangel, Gewalt und Beziehungsabbrüchen ausgesetzt (Wiemann, 2008). Die Situation der Herkunftseltern ist in unserer Gesellschaft nicht vorgesehen, sie sind Eltern ohne Kinder. Die veränderten Rahmenbedingungen und die neue Situation machen die Eltern hilflos und desorientiert. Sie sind nicht in der Lage, weitere Handlungen selbständig zu planen und zu organisieren. (Faltermeier, 2001). Aber auch nach der Herausnahme der Kinder aus der Herkunftsfamilie sollte die pädagogische Arbeit in der Familie fortgesetzt werden, da die Familie darüber hinaus dringend auf Hilfe angewiesen ist und sich die Probleme nicht von alleine lösen. Besonders im Blick auf eine eventuelle Rückkehr der 22 Kinder in die Herkunftsfamilie ist die pädagogische Betreuung der Familie sehr wichtig, damit die Herkunftseltern auch wieder in der Lage sind, die Kinder selbst zu versorgen und zu betreuen. Wenn Eltern in unserer Gesellschaft für das Abgeben ihrer Kinder mit dem Makel „schlechte Eltern“, leben müssen, ausgegrenzt und moralisch verurteilt werden, können sie nicht mit gutem Gewissen mit der Entscheidung leben, das Beste für ihr Kind getan zu haben. Sie sehen die Hilfe als eine Bestrafung und die Pflegeeltern als Konkurrenten – als die besseren Eltern an (Wiemann, 2008). 2.2.5. Die Aufgaben des Jugendamtes Durch die Anbindung des Pflegekinderwesens an das Reichsjugendwohlfahrtgesetz von 1922, gilt die Pflegekinderarbeit als eine Tätigkeit, die dem Jugendamt zugeordnet ist. Das Pflegekinderwesen ist in der Gegenwart zum: „kleinsten Subsystem im Bereich der erzieherischen Hilfen geworden.“ (zit. n. Blandow, 2004: S. 73) Etwa seit Mitte 1980 wurden die Kernaufgaben an Spezialdienste übertragen. Manche bieten auch eine Abteilung für Erziehungshilfe an, die für sämtliche Maßnahmen der Hilfe zur Erziehung zuständig ist. Einzelne Bereiche der Pflegekinderarbeit wurden an freie, private oder konfessionelle Träger überantwortet, die fachkundige Arbeit leisteten. In manchen Städten und Gemeinden liegt die Betreuung der Pflegekinder beim Allgemeinen Sozialen Dienst (ASD), er ist auch für Problemfamilien und für die Herausgabe der Kinder aus der Herkunftsfamilie zuständig. Eine zentrale Rolle haben auch die jeweiligen Vermittler und Vermittlerinnen. Zu ihren Aufgaben zählt es, die Pflegefamilie, das Pflegekind und die abgebenden Eltern zu betreuen. Dies beginnt mit der Bewerbung und Auswahl der Pflegeeltern, erstreckt sich über die Vermittlung des Pflegekindes bis hin zur Betreuung der Familie während der gesamten Pflegschaft. Von ihrer Tätigkeit kann es entscheidend abhängen, ob ein Pflegeverhältnis gelingen kann. Auch bei Konflikten zwischen Pflegefamilie und Herkunftsfamilie stehen sie vermittelnd und beratend zur Seite (Wiemann, 2008). 23 2.2.6. Die Möglichkeiten und Grenzen im Pflegekinderwesen Seit den 1980er Jahren ist das Pflegekinderwesen in die Arbeitsbereiche der Kinder- und Jugendhilfe eingegliedert, was bis dahin der Heimerziehung vorbehalten war. Die Versorgung von Kindern, die nicht in ihrer Geburtsfamilie aufwachsen konnten, hat eine lange Tradition und ist eine wichtige Funktion im System der Jugendhilfe. Sie bietet sich als Alternative zur Heimunterbringung an, als private und intime Unterbringung für `familienlose` Kinder und solche, die sonst niemand haben möchte, die so trotzdem die Möglichkeit haben, in einer Familie aufzuwachsen. Erschöpften und überforderten Eltern gibt sie die Gelegenheit, ihre privaten Angelegenheiten zu ordnen und ihre Kinder dann selbst wieder erziehen und versorgen zu können. Außerdem gibt sie Menschen, die Spaß und Freude an Kindern haben, die Möglichkeit sich hier zu engagieren. Aber das Pflegekinderwesen bietet nicht nur Vorteile, sondern birgt auch Schwierigkeiten für alle Beteiligten. Häufig wissen die Kinder nicht genau, was geschieht. Es entsteht eine ungewisse Situation, in der offen ist, ob und wann die Kinder wieder zu ihren leiblichen Eltern zurückkehren können. Eine Adoption würde dieses Problem einschränken. Pflegeeltern sind für die Kinder `fremde´ Menschen, von denen die Kinder in gewisser Weise abhängig sind. Die Kinder müssen sich nicht nur von ihren Eltern trennen, sondern oft auch von ihren Verwandten oder Freunden – eine Trennung von ihren Wurzeln. Bei Verwandten aufwachsen zu können wäre einfacher für die Kinder und sie würden nicht ganz von ihren Familien entfremdet. Herkunftseltern fühlen sich von der Erziehung und dem Leben ihrer Kinder ausgeschlossen. Für manche wäre eine Heimunterbringung ihrer Kinder besser auszuhalten. Es gibt nicht immer für alle Kinder (und die damit verbundenen Probleme) die `passende’ Pflegefamilie. Daran kann die familiäre Betreuung des Kindes auch scheitern. Auch wenn die Pflegefamilie eine kostengünstigere Unterbringung als die Heimunterbringung ist, findet die kostengünstigste Betreuung des Kindes in der 24 eigenen Familie statt (Blandow, 2004). Um möglichst viele dieser unterschiedlichen Bedürfnisse berücksichtigen zu können, sind verschiedene Pflegeformen entstanden. 2.3. Die unterschiedlichen Pflegeformen Für Menschen, die ein Pflegekind aufnehmen möchten, ist es wichtig zu wissen, dass es ganz verschiedene Formen der Pflege gibt. Durch unterschiedliche „Bedürfnisse“, mit denen sich die Jugendämter auseinandersetzen mussten, konnten sich auch verschiedene Formen der Familienpflege entwickeln. Sie werden unterschiedlich finanziert und bestehen auch inhaltlichen aus verschiedenen Aufgaben. Sie unterscheiden sich hauptsächlich durch die Zeitdauer, in der das Kind in einer anderen Familie betreut wird. 2.3.1. Tagespflege Bei der Tagespflege werden die Kinder am Morgen zu den Pflegeeltern gebracht, und am Abend kehren sie wieder in ihre Herkunftsfamilie zurück. Diese Möglichkeit der Pflege bietet vielen Frauen die Chance berufstätig zu sein – unabhängig von den Öffnungszeiten der Kindertageseinrichtungen (KVJS, 2007). Die Eltern, die diese Form der Unterbringung wählen, sind funktionierende Eltern, die nur durch Berufstätigkeit ihre Kinder nicht vollständig alleine betreuen können. Oftmals sind – trotz der Genehmigungspflicht – nicht alle Tagespflegestellen beim Jugendamt registriert. Die Einzelheiten der Betreuung werden meistens zwischen Eltern und Tagesstelle privat ausgehandelt. Für alleinerziehende Eltern liegt der Vorteil in der Tagespflege vor allem in den flexiblen und individuellen Möglichkeiten der Betreuung ihrer Kinder. Gleichzeitig aber zählt die Tagesspflege zu einer Maßnahme der Fremdplatzierung, da die Pflege des Kindes stundenweise oder ganztägig auf eine andere Familie übertragen wird. 25 Bei der Tagespflege müssen die Kinder lernen, mit zwei Familien zu leben. Die Mutter und die Tagesmutter sollten nicht in Konkurrenz geraten, sondern Kompromisse finden, die dem Kind gut tun und nicht schaden (Wiemann, 2008). Die qualifizierte Tagespflege hat sich auch für Kleinkinder als eine Betreuungsform erwiesen, die nicht beeinträchtigend ist, sondern oftmals eine Bereicherung für die kindliche Entwicklung darstellt. 2.3.2. Wochenpflege Während der Woche lebt das Kind bei den Pflegeeltern und kehrt am Wochenende zu den leiblichen Eltern zurück (Bsp.: das Kind wird Sonntagabend oder Montagfrüh gebracht und am Freitagnachmittag wieder abgeholt). Für Eltern, die im Schichtdienst arbeiten oder während der Woche in einer anderen Stadt ihrer Berufstätigkeit nachgehen, bietet sich hiermit eine Möglichkeit, die Kinder sicher in ihrem sozialen Umfeld betreut zu wissen. Manchen Eltern empfiehlt das Jugendamt die Wochenpflege als Hilfe und Entlastung, weil sie sich in seelischen Notlagen befinden. Die Wochenenden genügen dann den Eltern und den Kinder oftmals nicht, um das Versäumte nachzuholen. Eine Unzufriedenheit bleibt auf beiden Seiten zurück. Nur in seltenen Fällen und in einem begrenzten überschaubaren Zeitraum, lässt sich das von den Kindern gut verkraften. Die psychische Belastung kann für die Kinder sonst zu hoch werden (Wiemann, 2008). Angedacht war die Tages- und die Wochenpflege ursprünglich hauptsächlich als eine Möglichkeit der Hilfe zur Erziehung, um berufstätigen Eltern eine Betreuung für ihre Kinder anzubieten. Mittlerweile gehört sie zur ergänzenden ambulanten Hilfe von Familien. 2.3.3. Kurzzeitpflege Hierbei wird für einen überschaubaren Zeitraum – der vorher meistens festgelegt ist – aufgrund einer zeitlich begrenzten Abwesenheit der Eltern, für ein Kind eine Pflegefamilie gesucht. Es handelt sich, zum Beispiel, um einen Ausfall der 26 Eltern auf Grund einer Notsituation, einer Krankheit oder eines längeren RehaAufenthalts (Wiemann, 2008). Die Dauer in der Pflegefamilie sollte in der Regel nicht länger als sechs Monate betragen. Eine Kindeswohlgefährdung liegt hier im Allgemeinen nicht vor. Von großem Vorteil für die Kinder wäre, wenn die Pflegefamilie in der Nähe des Wohnsitzes der leiblichen Eltern liege. Somit könnte dem Kind sein soziales Umfeld wie Kindergarten, Schule, Freundeskreis usw. erhalten bleiben. Manchmal muss der Aufenthalt in der Pflegefamilie verlängert werden, da die Herkunftseltern es aus verschiedenen Gründen noch nicht schaffen, ihre Kinder wieder selbst zu versorgen und betreuen. Dabei wird dann mit den Pflegeeltern geklärt, ob die Möglichkeit besteht, das Kind für einen längeren Zeitraum in der Pflegefamilie betreuen zu können. Pflegeeltern für Kurzzeitpflegekinder müssen besonders flexibel und anpassungsfähig sein, da von ihnen verlangt wird, sich häufig auf neue Kinder mit neuen Problemen einzustellen (Amt für Familie und Soziales, 2007). 2.3.4. Dauer- oder Vollzeitpflege „Vollzeitpflege ist eine Chance für Kinder, in verlässlichen Beziehungen und Strukturen aufzuwachsen.“ (zit. n. www.pib-bremen.de) Von Dauer- oder Vollzeitpflege spricht man, wenn ein Kind für einen längeren Zeitraum und ohne regelmäßige Unterbrechungen in einer Pflegefamilie untergebracht wird (z.B. bis zum 18. Lebensjahr oder dem Ende der Ausbildung). Hiermit soll gefährdeten und entwicklungsverzögerten Kindern und Jugendlichen eine bessere Betreuung und Förderung ermöglicht werden. Die Dauer dieser Unterbringung kann sehr unterschiedlich sein. Die Aufgabe der Pflegefamilie ist es, dem Kind u.a. eine positive Persönlichkeitsentwicklung zu ermöglichen. Dazu zählt der Aufbau einer engen Beziehung, emotionale Stabilität für das Kind, Vertrauen, Geborgenheit und Zuwendung. Zum einen kann die Vollzeitpflege familienergänzende Funktionen haben (im Hilfeplan ist eine Rückkehr zu den leiblichen Eltern vorgesehen), zum anderen 27 kann sie familienersetzende Funktionen haben (das Kind bleibt dauerhaft in der Pflegefamilie) (Amt für Familie uns Soziales, Kiel, 2007). Bei der Form einer „zeitlich befristeten Vollzeitpflege“ wird im Hilfeplan die Möglichkeit einer Rückkehrung des Kindes in seine Herkunftsfamilie innerhalb von zwei Jahren festgelegt. Kann dieses Ziel nicht ermöglicht werden (aus welchen Gründen auch immer), kann eine zeitlich befristete Vollzeitpflege auch auf eine Dauerpflege ausgeweitet werden. Die Entscheidung über die Dauer der Hilfe (befristet oder unbefristet) und die explizite Gestaltung der Hilfsmöglichkeiten – gemäß §36 SGB VIII - sollte mit allen Beteiligten besprochen und regelmäßig überprüft werden. 2.3.5. Bereitschaftspflege Die familiäre Bereitschaftspflege umfasst die zeitlich befristete Notunterbringung der gefährdeten Kinder und Jugendlichen durch eine akute oder chronische Krisensituation. Da dies in den meisten Fällen sehr schnell geschehen muss, werden die Kinder zuerst in Bereitschaftspflegefamilien untergebracht, um eine Gefährdung zu verhindern. Die Zeitdauer in der Bereitschaftspflege ist nur so lange, bis die weitere Lebensperspektive für das Kind geklärt ist. Es wird dann entschieden, ob und wie die Kinder dauerhaft untergebracht werden und welche Form der Unterbringung für die Kinder die Beste ist. Die Bereitschaftspflege sollte einen Zeitrahmen von sechs Monaten nicht überschreiten (Wiemann, 2008). 2.4. Rechtliche Rahmenbedingungen des Pflegekinderwesens Durch die rechtlichen Regelungen wird in vielfältiger Weise in das Leben von Pflegekindern, Herkunftseltern und Pflegefamilien eingegriffen. Die unterschiedlichen rechtlichen Bestimmungen sind in verschiedenen Gesetzestexten verankert. Im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland steht in §6, Abs.2 und 3: „Pflege und Erziehung der Kinder sind das natürliche Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht. Über ihre Betätigung wacht die 28 staatliche Gemeinschaft. Gegen den Willen der Erziehungsberechtigten dürfen Kinder nur auf Grund eines Gesetzes von der Familie getrennt werden, wenn die Kinder aus anderen Gründen zu verwahrlosen drohen.“ Die rechtlichen Bestimmungen sind nicht nur in einem Gesetz, sondern in verschiedenen Gesetzestexten verankert, von denen das Kindes- und Jugendhilfegesetz im SGB VIII am Wesentlichsten ist. 2.4.1. Sozialgesetzbuch (SGB) Als Grundlage für die Hilfe zur Erziehung in Form der Vollzeitpflege gilt §33 SGB VIII: „Hilfe zur Erziehung in Vollzeitpflege soll entsprechend dem Alter und Entwicklungsstand des Kindes oder Jugendlichen und seinen persönlichen Bindungen sowie der Möglichkeiten der Verbesserung der Erziehungsbedingungen in der Herkunftsfamilie Kindern und Jugendlichen in einer anderen Familie eine zeitlich befristete Erziehungshilfe oder eine auf Dauer angelegte Lebensform bieten. Für besonders entwicklungsbeeinträchtigte Kinder und Jugendliche sind geeignete Formen der Familienpflege zu schaffen und auszubauen.“ Die Vollzeitpflege ist eine von vielen Hilfeformen innerhalb der Hilfen zur Erziehung. Ihre Ausgestaltung ist im SGB VIII festgelegt. Dabei handelt es sich um die Voraussetzungen für eine Pflegeerlaubnis, die Regelungen zur organisatorischen Ausgestaltung des Pflegekinderwesens und die Gestaltung von Pflegeverhältnissen. Auf die Vollzeitpflege greift man zurück, „wenn sie die `geeignete und notwendige` Hilfe zur Überwindung des anerkannten erzieherischen Notstandes ist, die Leistungsberechtigten sie bevorzugen oder ihr jedenfalls nicht widersprechen und eine geeignete Pflegfamilie für den konkreten Fall zur Verfügung steht.“ (zit. n. Blandow, 2004: S. 81) Weiterhin gehören dazu auch: §1 : Recht auf Erziehung, Elternverantwortung, Jugendhilfe: Jeder junge Mensch hat das Recht auf Förderung seiner Entwicklung und auf Erziehung zu einer eigenverantwortlichen Persönlichkeit. §27: Hilfe zur Erziehung Man unterscheidet zwei Arten von Hilfe zur Erziehung: 1. ambulante und teilstationäre Hilfen 29 2. Unterbringung außerhalb der Familie §33: Vollzeitpflege §34: Heimerziehung, sonstige betreute Wohnformen §36: Mitwirkung, Hilfeplan Alle Beteiligten sind über die verschiedenen Möglichkeiten der Hilfe zu beraten, sowie bei der Entscheidung zu berücksichtigen. Man versucht, Wünsche zu berücksichtigen, sofern dadurch nicht unverhältnismäßige Mehrkosten verursacht werden (§36 Abs.1 SGB VIII). §37: Zusammenarbeit bei Hilfen außerhalb der eigenen Familie Pflegepersonen, verantwortliche Personen und Eltern sollen zum Wohl des Kindes zusammenarbeiten. §38: Vermittlung der Ausübung der Personensorge §39: Leistungen zum Unterhalt des Kindes oder des Jugendlichen Pflegepersonen bekommen nach §39 Abs. 3-6 ein „Pflegegeld“, dass den Unterhalt und die „Kosten der Erziehung“ umfasst. Die Höhe des Pflegegeldes richtet sich nach dem Alter der Kinder und wird von den zuständigen Behörden monatlich ausgezahlt (Blandow 2004: S. 91). §40: Krankenhilfe §42: Inobhutnahme Bei der Inobhutnahme wird eine vorläufige Unterbringung des Kindes erforderlich. Sie wird bei: „`Gefahr im Verzug` vorgenommen: Bei einem offensichtlich gewordenen sexuellen Missbrauch, bei körperlicher Misshandlung des Kindes oder bei anderen das Kindeswohl erheblich gefährdenden Ereignissen in der Herkunftsfamilie.“ (zit. n. Blandow, 2004: S. 90/91). Das Kind wird meistens in einer Bereitschaftspflegestelle untergebracht, bis geklärt ist, ob es wieder zu den Herkunftseltern zurückgehen kann oder anderweitig untergebracht wird. §44: Pflegeerlaubnis Um ein Pflegekind aufnehmen können, bedarf es einer Genehmigung des Jugendamts (§44; Abs. 1 Satz 1 SGB VIII). Diese wird nach einer eingehenden Prüfung durch das Jugendamt erteilt. Nicht nur verheiratete Paare, sondern auch Einzelpersonen, unverheiratete Paare oder andere Lebensgemeinschaften kommen als Pflegepersonen in Betracht, wenn es sich dabei um eine stabile Partner30 schaft handelt. Man orientiert sich nicht mehr alleine an traditionellen Familien, sondern ist offen für andere Lebensformen (Blandow, 2004: S. 81/82). Die Anspruchsvoraussetzungen gelten für die Personen, in deren Verantwortung die Erziehung des Kindes liegen, die sorgeberechtigten Eltern oder der alleine sorgeberechtigte Elternteil, aber auch ein Amtsvormund. Damit wird deutlich, dass nicht der Staat die Erziehung der Kinder übernimmt, sondern sich dafür verantwortlich fühlt. 2.4.2. Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) Einige Abschnitte des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB) über den familienrechtlichen Teil sind von wesentlicher Bedeutung. Erst 1979 wurden einige Regelungen über das Pflegekinderwesen in das BGB aufgenommen. In ihnen werden privatrechtliche Beziehungen zwischen den Beteiligten (den beiden Familien) geregelt. Es geht dabei um die Übertragung von Elternrecht auf die Pflegeeltern, Anordnungen für den Umgang der Personen aus der Herkunftsfamilie mit dem Kind und auch zur Wegnahme des Kindes aus der Familie. Dazu zählen z.B.: §1 und 2: Rechtsfähigkeit, Volljährigkeit §1626 ff.: Elterliche Sorge Rechte und Pflichten der Eltern, für ihr Kind zu sorgen. §1630 : Elterliche Sorge bei Pflegebestellung oder Familienpflege Abs. 3: Übertragung der elterlichen Sorge an die Pflegeeltern: Sorgeberechtigte Eltern oder Pflegeeltern können beim Familiengericht beantragen, dass ihnen Angelegenheiten der elterlichen Sorge übertragen werden. Dies bedarf der Zustimmung der leiblichen Eltern. §1632 : Herausgabe des Kindes; Bestimmung des Umgangs; Verbleibensanordnung bei Familienpflege Der Abs. 4 bietet Herkunftseltern grundsätzlich die Möglichkeit, ihr Kind, auch gegen den Willen der Pflegeeltern und des Kindes, 31 wieder aus der Familie zu nehmen, was zu großen Spannungen und Konflikten führte. Durch eine „Verbleibensanordnung“ des Familiengerichts können Pflegeeltern dem „Herausgabeverlangen“ der Eltern entgegenwirken. Die neue Fassung lautet: „Lebt das Kind seit längerer Zeit in Familienpflege und wollen die Eltern das Kind von der Pflegeperson wegnehmen, so kann das Familiengericht von Amts wegen oder auf Antrag der Pflegepersonen anordnen, dass das Kind bei der Pflegeperson verbleibt, wenn und solange das Kindeswohl durch die Wegnahme gefährdet wäre.“ (§1632 Abs. 4 BGB, zit. n. Blandow, 2004: S. 98) §1634 : Recht zum persönlichen Umgang mit dem Kind §1666 : Gerichtliche Maßnahmen bei Gefährdung des Kindeswohls §1666a : Grundsatz der Verhältnismäßigkeit; Vorrang öffentlicher Hilfen Nur dann, wenn die Gefahr nicht durch andere öffentliche Hilfen beseitigt werden kann, darf ein Kind von seinen Eltern getrennt werden. §1684 : Umgang des Kindes mit den Eltern Das Kind hat das Recht, einen Umgang mit beiden Elternteilen zu haben. §1685 : Umgang des Kindes mit anderen Bezugspersonen Mit `anderen Bezugspersonen` sind hier Geschwister, Großeltern oder weitere Bezugspersonen, die zeitweilig die tatsächliche Verantwortung für das Kind getragen haben, gemeint. Ihr Umgangsrecht muss aber dem Wohle des Kindes entsprechen. §1688 : Entscheidungsbefugnis der Pflegepersonen Die Pflegepersonen sind berechtigt, in „Angelegenheiten des täglichen Lebens“ zu entscheiden, und den Inhaber der elterlichen Sorge in solchen Angelegenheiten zu vertreten. Angelegenheiten des täglichen Lebens umfassen z.B. Entscheidungen bei ärztlichen oder zahnärztlichen Behandlungen, Anmeldung im Sportverein oder Unterschrift unter einer Klassenarbeit. Entscheidungen über die Schullaufbahn des Kindes oder erhebliche ärztliche Eingriffe sind dabei ausgeschlossen und können nur im Rahmen des §1630 BGB an die Pflegeeltern übertragen werden (Blandow, 2004: S. 96-98). 32 2.4.3. Gesetz über die Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit (FGG) In dem Gesetz über die Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit (FGG) wird in dem neu geschaffenen §50 die: „Vertretung des Kindes vor Gericht durch einen Verfahrenspfleger vorgesehen, wenn dies zur Wahrnehmung seiner Interessen erforderlich ist“ (zit. n. Blandow, 2004, S. 99). Dies gilt z.B., im Falle, dass das Kind von den Pflegeeltern weggenommen werden soll. In der Regel werden die neuen Gesetze begrüßt, aber es fehlt die klare Definition des Gesetzgebers, welche Ausbildung die Verfahrenspfleger haben sollen. Durch diese Unklarheiten werden meistens psychologisch ungeschulte Rechtsanwälte eingesetzt. Auf diese Möglichkeit verzichtet man auch oft ganz, weil es keine allgemeingültige Auffassung darüber gibt, wie die Vertretung auszusehen hat und was vertreten werden soll. Im §50 c bekommen die Pflegepersonen die Gelegenheit, in allen Angelegenheiten, die das Kind betreffen, ebenfalls angehört zu werden. 33 3. Zur Motivation von Paaren, Pflegeeltern zu werden „Spielt es eine Rolle, warum wir uns ein Pflegekind wünschen?“ Von dieser Antwort kann ganz entscheidend abhängen, ob ein Pflegeverhältnis gelingen kann oder nicht. Darum wird auf die Frage nach der Motivation besonders großen Wert gelegt. Dies ist wichtig, um die bestmöglichen Voraussetzungen schaffen zu können. Den Pflegeeltern wird empfohlen, sich im Vorfeld ganz explizit, selbstkritisch und ehrlich damit auseinanderzusetzen. Auch Fragen zum Geschlecht, Alter, Nationalität, Behinderungen oder dem Milieu des Kindes sind vorab zu klären (www.kiel.de/pflegekinderdienst). Manche Pflegeeltern wünschen sich eine Entlastung von familiären Problemen, wie engere Bindungen der Ehepaare aneinander, finanzielle Vorteile oder einen Spielkameraden für das eigene Kind. Solche Erwartungen können sicher nicht erfüllt werden. In der Realität sind eher zusätzliche Belastungen zu erwarten und man sollte prüfen, ob man neuen Belastungen gewachsen ist. Jede Familie geht unterschiedlich mit Belastungen um. Wenn man seine Grenzen kennt, lässt sich besser feststellen, welches Pflegekind in welcher Familie am besten aufgehoben ist. Dabei handelt es sich um einen wesentlichen Faktor, von dem abhängen kann, wie und ob das Pflegeverhältnis gelingen kann (www.familienhandbuch.de). Pflegeeltern sollten vorher eine Bestandsaufnahme machen, woher sie die Kraft für ein Pflegekind bekommen, wie es in der Partnerschaft aussieht und ob wirklich genug Kraft für ein Pflegekind – mit all seinen Problemen und Anforderungen – vorhanden ist. Wesentlich für das Leben mit dem Pflegekind ist auch die Auseinandersetzung mit den Herkunftseltern und der Vergangenheit des Kindes. Damit sich das Pflegekind nicht als Mensch zweiter Klasse in der Pflegefamilie fühlt, ist es wichtig, dass die Pflegeeltern etwas von den gesellschaftlichen und individuellen Faktoren verstehen, die die Herkunftsfamilie getroffen haben und das gemeinsame Leben mit dem Kind nicht mehr möglich machen. 34 Pflegeeltern mit eigenen leiblichen Kindern sollten sich auch genau im Klaren sein, warum sie ein Pflegekind in ihrer Familie aufnehmen wollen. Wird ein Spielgefährte für das eigene Kind gesucht, um nicht als Einzelkind aufwachsen zu müssen oder sucht man eine neue Aufgabe, weil man sich als Paar auseinandergelebt hat? Der Status des Pflegekindes wird immer ein anderer sein, als der des leiblichen Kindes. Alle Beziehungen innerhalb der Familie unterziehen sich einer Veränderung, so lange, bis jeder seinen Platz gefunden hat. Wenn man sich eine Verbesserung für das leibliche Kind wünscht, kann die Enttäuschung erst mal groß sein. Auch das leibliche Kind ist Belastungen ausgesetzt, die es mittragen muss (Wiemann, 2008). Unter der Motivation von Pflegeeltern versteht man Verschiedenes. Es lassen sich zwei wesentliche Unterscheidungen vornehmen: • einmal die Erwartungen und Motive, die von den Pflegeeltern selbst genannt werden und die vor allem die Beziehung zum Kind betreffen, • und zum anderen die tieferen Motive, die von Außenstehenden (z.B. Wissenschaftlern und Sozialarbeitern) erforscht werden. Durch Untersuchungen wurde festgestellt, dass Pflegeltern schon als Bewerber deutliche Vorstellungen davon haben, wie sie zukünftig die Beziehung zu dem Kind leben möchten, als Ersatzfamilie (das Pflegekind wird wie ein eigenes Kind angesehen) oder als Ergänzungsfamilie (das Pflegekind bleibt das Kind anderer Eltern, mit den daraus resultierenden Anforderungen und der Gestaltung des Pflegeverhältnisses) (Handbuch Beratung im Pflegekinderbereich, 1987). In der Praxis gibt man sich viel Mühe, die tieferen Motive der Pflegeeltern zu ermitteln, wobei Bewerber dazu schriftlich oder mündlich von den Jugendämtern befragt werden. Blandow (1972) hat festgestellt, dass es in einem Erstgespräch „so gut wie unmöglich ist, die tieferen Gründe zu erfragen“ (S. 127). Er verweist auf Dührssen, deren Untersuchung belegt, dass es Ereignisse in den Lebenslagen der Pflegemütter gibt, die bedeutungsvoll sein können (z.B. Verlust eines Kindes, Kinderlosigkeit, Abort, usw.) 35 Ulrich Gintzel (1996) schreibt in seinem Buch, dass die Motivation, die zur Aufnahme eines Kindes führt, heute in der Vermittlung von Pflegekindern in Pflegefamilien mehr Beachtung erhält als bisher. Die Gründe, die die Pflegeeltern bei Befragungen angaben, sind sehr weitreichend. Es geht nicht mehr alleine um das altruistische Motiv, sondern auch Motive, die zur Stützung des Ersatzfamilien-Konzepts von Bedeutung sind. Die Motivation der Pflegeeltern ist nur einer von vielen Gründen, der Einfluss auf Erfolg und Misserfolg des Pflegeverhältnisses nimmt. Um sicher zu gehen, dass ein Pflegeverhältnis stabil und von Dauer sein kann, ist es wichtig, die Wünsche der Pflegepersonen mit den Bedürfnissen und der Situation des Pflegekindes abzustimmen. 3.1. Was ist Motivation? Definition aus: Bertelsmann Lexikon, Bd. 15, 1998 „Motivation ist eine zusammenfassende Bezeichnung für Stärke und Richtung einer Verhaltenstendenz in bestimmten Situationen (Aktivierung eines Motivs). Das Aktivierungsniveau wird bestimmt durch die Stärke des Bedürfnisses (Wert), den Anreiz des Handlungszieles und die Wahrscheinlichkeit des Erreichens.“ Ganz allgemein spricht man von Motivation, wenn bei einem Menschen eine Veränderung seines Verhaltens festgestellt wird. Eine verbreitete Ansicht ist es, dass die Verhaltensänderung von einem Antrieb, der Motivation verursacht wird. Wenn das Verhalten zielgerichtet und zielstrebig ist – damit ein bestimmtes Ziel erreicht werden oder eine schwierige Aufgabe erfüllt werden soll, wird von einer Motivation gesprochen. ( www.business-wissen.de) Der Begriff der Motivation kommt nicht nur in der Psychologie, sondern auch in unserem Alltagsleben vor. Man spricht von motiviert sein bei bestimmten Aufgaben, von einem hoch-motivierten und weniger-motivierten Schüler oder auch, dass man auch an einem Mangel an Motivation leiden kann. Motivation hilft uns, bestimmte Dinge zu tun. Etwas nicht zu tun, obwohl es höchste Zeit dafür ist (etwa bei Prüfungsvorbereitungen), bezeichnet man als Motivationsmangel. Motivation wird von dem lateinischen Verb „movere“ abgeleitet. Im Englischen heißt es „to move“ und bedeutet übersetzt „bewegen“. Mo36 tivation hat etwas mit Bewegung zu tun. Es wird auf etwas bezogen, das uns in Bewegung bringt. Motivation definiert diejenigen Prozesse, die zielgerichtetes Verhalten auslösen und aufrecht erhalten. Die Erforschung der Beweggründe und Ursachen für menschliches Verhalten versteht man als Aufgabe der Motivationspsychologie (Rudolph, 2003). Der Motivationsbegriff bezieht sich alltagssprachig auf eine in ihrer Größe variierende Stärke. Wenn jemand motiviert ist, strengt er sich an und bleibt ablenkungsfrei bei seiner Sache, um sein gestecktes Ziel zu erreichen. DeCharms (1979) umschreibt Motivation als „so etwas wie eine milde Form der Besessenheit.“ Motivation lässt sich für uns bei anderen Menschen nicht unmittelbar erkennen, man kann nur über bestimmte Anzeichen auf die Motivation schließen – Motivation als gedankliches Konstrukt. Unter dem Motivationsbegriff sind viele Teilprozesse und Phänomene zusammengefasst. Motivation beinhaltet nicht nur die aufsuchende, sondern auch die meidende Motivation: man hat Angst und schreckt vor etwas zurück. Das Ziel besteht dabei darin, etwas Unangenehmes abzuwenden. Es gibt keinen einheitlichen Motivationsbegriff. Motivation ist keine homogene Einheit, von der man mal mehr oder weniger hat. Der Motivationsbegriff umfasst die unterschiedlichen Teilaspekte des Lebensvollzuges, die für unser Verhalten und unsere Zielrichtung wesentlich sind. Diese Teilaspekte in ihrem Zusammenhang zu erfassen und mit unserem Verhalten in Verbindung zu setzen, ist die Aufgabe der Motivationspsychologie. Der Motivationsbegriff ist eine Abstraktion, die sich nicht auf eine fest umrissene und von Natur aus auf eine Erlebens- und Verhaltenswelt bezieht. Genauer definiert man Motivation mit der „aktivierenden Ausrichtung des momentanen Lebensvollzuges auf einen positiv bewerteten Zustand.“ (zit. n. Rheinberg 2008: S. 16) In der Motivationspsychologie wird versucht, das „Warum“ unseres Verhaltens zu erklären, sei es im Alltag oder auch bei extremem Handeln. Man sucht Ant- 37 worten auf die Fragen: Warum machst du das? Was treibt uns an, damit wir bestimmte Dinge tun? 3.2. Wodurch wird unser Verhalten gesteuert? Das menschliche Verhalten ist sehr vielfältig. Menschen verhalten sich in der gleichen Situation völlig unterschiedlich und auch jeder Mensch reagiert in ähnlichen Situationen nicht immer auf die gleiche Art und Weise. Um mit anderen Menschen zusammenleben und mit ihnen erfolgreich zusammenarbeiten zu können, müssen wir unsere Mitmenschen kennen und verstehen. Wir müssen wissen und nachvollziehen können, welche Ziele bzw. Motive sie haben und was sie antreibt. In der Psychologie beschäftigen sich verschiedene Richtungen, mit ganz unterschiedlichen Ansätzen, mit dem menschlichen Verhalten. In einem Punkt sind sich alle grundsätzlich einig: Das Verhalten wird von zwei wesentlichen Faktoren gesteuert. Faktoren, die in uns selbst angelegt sind und von innen heraus gesteuert werden, und Faktoren, die in unserer Umwelt liegen, also von außen gesteuert werden. Die Umweltfaktoren sind beobachtbar und ihre Auswirkungen auf das Verhalten sind sichtbar und gut erkennbar, z.B. ein lauter Knall, der alle umstehenden Menschen zusammenzucken lässt. Die Menschen handeln nicht immer gleich, sondern unterschiedlich. Man geht davon aus, dass es Kräfte innerhalb der Personen gibt, die mal mehr, mal weniger unabhängig von äußeren Gegebenheiten, unser Verhalten steuern und beeinflussen. Welche Kräfte sind das? (Krug/Kuhl, 2006) Bei dem Versuch, Motivation zu fassen und zu verstehen, wurden verschiedene Strategien verfolgt und es entwickelten sich auch unterschiedliche Vorstellungen. Die wichtigste Unterscheidung ist, ob man motiviertes Verhalten eher als angetrieben oder angezogen versteht. Sind Triebe und Instinkte für unser Verhalten verantwortlich? 38 Was sind Instinkte und Triebe? Einige Anteile unserer Verhaltensmöglichkeiten sind angeboren. Unser Verhalten wird in aktivierender Weise auf ein bestimmtes Ziel gelenkt, das unser Überleben sichert (z.B. bei Durst oder Hunger). Dieses zielgerichtete Verhalten bezeichnet man als Instinkt (Instinctus naturae = naturgegebener Antrieb). Es gibt Verhaltensweisen, die bei vielen Menschen in ähnlicher Form ablaufen, egal ob es sich dabei um Menschen aus den entwickelten Ländern oder um Menschen aus Naturvölkern handelt, wie etwa das Ausdrucksverhalten. Schon William James definierte den Instinktbegriff, „und charakterisierte damit die Möglichkeit von Lebewesen, ohne vorheriges Anlernen und ohne Voraussicht bestimmte Endzustände zu bewirken.“ (James, zit. n. Rheinberg, 2008: S. 24) Von einem sehr komplexen Instinktkonzept ging McDougall aus. Der Instinkt sollte eine Akzentuierung bewirken, bei der man auf bestimmte Ereignisse aufmerksam wird und sie beobachtet. Dies führt zu einer bestimmten Qualität emotionaler Erregung, die wiederum ausschlaggebend dafür ist, in welcher Weise auf die wahrgenommenen Ereignisse reagiert wird. Für ihn beinhaltete instinktives Verhalten, „ein Erkennen von etwas, ein Gefühl ihm gegenüber und ein Streben hin oder weg von ihm.“ (McDougall, zit. n. Rheinberg, 2008: S. 24) Die entsprechenden Emotionen bilden den Kern des jeweiligen Instinktes. So entstand eine große Palette von angeblich angeborenen Instinkten und für jedes Verhalten entstand ein eigener Instinkt. Die Modellvorstellung, dass bestimmte Triebe im menschlichen Verhalten eine große Rolle spielen, sind eng verknüpft mit dem Instinktkonzept. Es wird angenommen, dass auch Triebe eine angeborene und biologische Grundlage haben. Triebe und Instinkte erscheinen schwer kontrollierbar. Es hat den Anschein, als ob unterschiedliche Kraftquellen innerhalb eines Menschen selbstaktivierend Einfluss auf das Wollen, Denken und Handeln nehmen können. Eine neue Richtung und Impulse in der Motivationsforschung entwickelte Sigmund Freud. Er versteht Verhalten „als Erlebnis höchst dynamischer und konfliktreicher Binnenprozesse.“ (Freud, zit. n. Rheinberg, 2006: S. 31) 39 Das Verhalten hängt davon ab, welcher Trieb unser Handeln auslöst. Triebe definiert Freud als interne Kraftquellen des Verhaltens, bestehend aus Triebquelle, Triebobjekt und dem Ziel des Triebes. Bei Hunger wird dem Individuum durch körperliche Reize ein Hungergefühl signalisiert, durch das es motiviert wird, Nahrung aufzunehmen. Die Beendigung des Hungergefühls ist das Triebziel und die dazugehörige Nahrung ist das Triebobjekt. Die Definition seines Triebkonzeptes erklärte Freud selbst mit den folgenden Worten: „Ein Trieb unterscheidet sich also von einem (äußeren) Reiz darin, dass er aus Reizquellen im Körperinneren stammt, wie eine konstante Kraft wirkt, und, dass sich die Person ihm nicht durch Flucht entziehen kann, wie es beim äußeren Reiz möglich ist. Die Quelle ist ein Erregungszustand im Körperlichen, das Ziel die Aufhebung dieser Erregung, (und) auf dem Wege von der Quelle zum Ziel wird der Trieb psychisch wirksam. Wir stellen ihn uns vor als einen gewissen Energiebetrag, der nach einer bestimmten Richtung drängt. Von diesem Drängen hat er seinen Namen: Trieb. Man spricht von aktiven und passiven Triebzellen; auch zur Erreichung eines passiven Triebziels bedarf es eines Aufwands von Aktivität. Das Ziel kann am eigenen Körper erreicht werden, in der Regel ist ein äußeres Objekt eingeschoben, an dem der Trieb sein äußeres Ziel erreicht; sein inneres (Triebziel) bleibt jedes Mal die als Befriedigung empfundene Körperveränderung.“ (Freud, zit. n. Rudolph, 2003: S. 23) Weil Triebe zu einem Ziel hinführen und somit Verhalten motivieren, haben sie einen aufsuchenden Charakter. Es wird nicht von jedem Trieb oder Triebimpuls automatisch ein Verhalten ausgelöst, sondern – nach Freud – ist der Wunsch, bewusst oder unbewusst, vorhanden. Die Möglichkeiten, mit diesen zum Handeln drängenden Triebimpulsen umzugehen, die uns motivieren, deren Handlungen aber nicht unbedingt ausgeführt werden müssen, sind unterschiedlich. Freud unterschied zwei Arten von Triebe: 1. den lebenserhaltenden Trieb 2. den arterhaltenden Trieb. In früheren Untersuchungen ging Freud von zwei Grundtrieben aus, die unser Verhalten steuerten: Aggression und Sexualität. Der Aggressionstrieb dient dem Individuum zur Selbsterhaltung und der Sexualitätstrieb diente zur Arterhaltung. Später änderte Freud diese Thesen und nannte sie den Selbsterhaltungs- und den Todestrieb – Eros und Thantos. 40 Der Ausgangspunkt der Freud´schen Theorie ist die Überzeugung, dass von unserem Seelenleben zwei Dinge bekannt sind: 1. das Gehirn als das zugehörige Organ und 2. die gegebenen Bewusstseinsakte. Freud konstruierte einen „psychischen Apparat“, der die Kluft zwischen diesen beiden Ansätzen überbrücken sollte. Dieser Apparat besteht aus drei Instanzen oder „Provinzen“: dem „Es“, dem „Ich“ und dem „Über-Ich“. Im „Es“ sind alle angeborenen Funktionen enthalten und es steht in besonderer Nähe zu den biologisch körperlichen Vorgängen. Die Macht des „Es“ dient dazu, seine Bedürfnisse zu befriedigen. Es besteht kein Kontakt zur Außenwelt. Die Aufgabe des „Ich“ besteht darin, das Überleben der Organe zu sichern und Kontakt zur Realität zu halten. Es muss prüfen, ob die Bedürfnisse der drängenden Triebe realisiert werden können, ohne den Organismus zu gefährden. Es fungiert als Mittler zwischen dem „Es“ und mit der Außenwelt. Berücksichtigt werden müssen auch die Vorgaben aus der dritten Provinz, dem „Über-Ich“. Das „Über-Ich“ verbindet den elterlichen Einfluss der frühen Erziehung mit den zukünftigen Lebensepochen. (Rheinberg, 2008) Es findet ein Kampf zwischen „Es“ und „Ich“, und zwischen Todestrieb und Lebenstrieb statt. Das Individuum wird zu Handlungen gedrängt, die das „ÜberIch“ nicht will, die das Individuum nicht versteht und die das Bewusstsein nicht wahrnimmt. Diese Theorie fand in der wissenschaftlichen Psychologie keine Anerkennung. (Krug/Kuhl, 2006) Die Theorie von Maslow stützt sich auf eine Bedürfnis-Pyramide, bei der erst die niedrigen Bedürfnisse befriedigt sein müssen, bevor die höheren Bedürfnisse befriedigt werden können. Auf ihrer untersten Ebene umfasst die Pyramide die physiologischen Grundbedürfnisse, wie Essen, Schlafen, Bewegung, Neugier, usw. Darüber liegen Sicherheitsbedürfnisse, Gesellungsbedürfnisse und Geltungsbedürfnisse. In der Spitze der Pyramide befindet sich das Bedürfnis nach Selbstverwirklichung. (Heckhausen, 2006) Diese These von Maslow fand ebenfalls wenig Bedeutung im wissenschaftlichpsychologischen Bereich. Das Modell von Maslow ist kaum zu beweisen, aber auch nicht zu widerlegen. (Krug/Kuhl, 2006) 41 McClelland und Atkinson (Krug/Kuhl, 2006) gelang der Durchbruch in der Motivationsforschung, als es ihnen möglich war, die Motive zu messen und die dadurch entstehenden Zusammenhänge von Motiven und Verhalten auf wissenschaftlicher Basis zu erforschen. Durch zahlreiche Studien in den 1960ern hatten sie herausgefunden, dass sich im Denken und in der Wahrnehmung der Menschen, die Bedürfnisse unmittelbar niederschlagen. Je stärker ein Bedürfnis ist, desto stärker beschäftigen wir uns in unseren Gedanken damit, und dieser Gedanke beherrscht uns. Unser gesamtes Erleben, die Wahrnehmung und die Gedanken konzentrieren sich immer mehr auf den Bereich der Begierde. Am Deutlichsten wird der Wirkungszusammenhang zwischen Motivstärke und Gedanken, wenn man ein großes Problem bewältigen muss. Umso größer dieses Problem ist, umso mehr nimmt es Raum in unseren Gedanken, bis es uns blockiert. Man ist nicht mehr fähig sich zu konzentrieren. Es gibt zwei Lösungsmöglichkeiten: entweder man löst dieses große Problem – befriedigt also das Bedürfnis – oder durch die Konfrontation mit einem noch größeren Problem tritt das erste Problem in den Hindergrund. Drei Dinge werden durch dieses Beispiel deutlich: - Bedürfnisse und Motive nehmen in unseren Gedanken einen großen Platz ein, sie sind dominant und einflussreich. - In unseren Gedanken und in unserem Erleben steht nicht unendlich viel Platz für unendlich viel Bedürfnisse und Motive zur Verfügung. Durch diesen Mangel an Platz kommt es zu Verdrängungsprozessen. - Je drängender ein Motiv ist, umso mehr strebt es nach Befriedigung. Es bestimmt unser Denken, unsere Wahrnehmung, unsere Gefühle und unser Verhalten. Für McClelland bedeutete das, wenn sich die Motive in unserer Phantasie niederschlagen, sollte ein Zugang zu den Motiven auch über die Phantasie möglich sein. Er untersuchte Passanten im Labor bezüglich dessen, welche Gedanken ihnen die letzte halbe Stunde durch den Kopf gegangen sind. Zuerst sah es so aus, als wären die Menschen nur mit Alltäglichkeiten beschäftigt. McClelland ging der Frage nach, ob der Mensch wirklich nur mit diesen Dingen beschäftigt war, oder ob er die tatsächlichen Gedanken verheimlichte. Mit dem „Thematischen-Apperzeptions-Test“ (TAT) versuchte er, explizit an die Gedanken der Menschen heranzukommen. In diesem Test werden den Menschen Bildtafeln 42 mit einer sozialen Situation vorgelegt, zu denen sie einmal in einer entspannten Situation und einmal unter hohem Zeitdruck, eine eigene Geschichte erzählen sollen. Durch das Konzept der Projektion werden meist eigene Wünsche, Triebe und Bedürfnisse auf die Personen der Bildtafeln übertragen. In unserer Welt können wir nur das erfassen, was wir durch Bilder und Konzepte in unserem Kopf haben - was man sich nicht vorstellen kann, gibt es nicht. Durch empirische Untersuchungen wird deutlich, dass sich unsere Phantasie auf die Themenbereiche Leistung, Gesellung/Freundschaft und Macht/Einfluss konzentriert. (Krug/Kuhl, 2006) Auf diese Bereiche werde ich in 3.3.1. bis 3.3.3 meiner Arbeit noch näher eingehen. 3.2.1. Merkmale motivierten Verhaltens Bisher wurde in den Definitionen von Motivation immer im Allgemeinen vom menschlichen Verhalten gesprochen. Mook definiert die Motivationspsychologie folgendermaßen: „Das Studium der Motivation beinhaltet die Suche nach (generellen) Prinzipien, die uns verstehen helfen, warum Menschen und Tiere Handlungen in jeweils spezifischen Situationen wählen, beginnen und aufrecht erhalten.“ (zit. n. Mook, 1987) Menschliche Motivation beinhaltet demnach willentlich gewähltes Verhalten, das Handlungen zum Gegenstand hat. Für diese Verhaltensweisen entscheiden wir uns und führen sie absichtlich aus. Dem gegenüber stehen die Verhaltensweisen, deren Handlungen wir uns nicht bewusst sind, weil sie beispielsweise automatisch und unwillkürlich ablaufen (z.B. der Saugreflex eines Säuglings). Die Grenzen zwischen willkürlichem (motiviertem) und unwillkürlichem Verhalten sind sehr ungenau. Bei den willkürlichen, also motivierten Handlungen, lassen sich verschiedene Handlungsprozesse unterscheiden. - Eine Voraussetzung für motiviertes Verhalten ist, dass wir uns für ein bestimmtes Verhalten entscheiden können, da es mehrere Verhaltensalternativen gibt. - Das, für das Handlungsziel gewählte Verhalten, kann zu verschiedenen Zeitpunkten begonnen werden. 43 - Die Handlung kann unterschiedlich intensiv ausgeführt werden. - Jede Handlung sollte zu einem Ende führen. Das ist dann der Fall, wenn das Handlungsziel erreicht wird oder das ursprüngliche Ziel aufgegeben wird. Unsere Handlungen bestehen aus vier Merkmalen: 1. Wahlverhalten, 2. Latenz (Verzögerungszeit) des Verhaltens, 3. Intensität des Verhaltens und aus 4. Persistenz (Beharrlichkeit) oder Ausdauer. (Rudolph, 2003) 3.2.2. Motivation und Bewusstsein „Motivation hat damit zu tun, wie eine Handlung begonnen wird, wie sie aufrechterhalten wird, wie sie gelenkt (und beibehalten) wird, und welche subjektiven Reaktionen gegenwärtig sind, während all dies geschieht.“ (Jones, 1955, zit. n. Rudolph, 2003: S.9) Bei der Frage nach der Motivation menschlichen Handelns ist auch unser Bewusstsein von Bedeutung. Der Mensch ist nicht nur fähig zu denken und zu fühlen, sondern er ist sich dieser Tatsache bewusst. Daher ist es wichtig, psychologische Theorien nicht nur danach zu unterscheiden, ob gedankliche Prozesse berücksichtigt wurden, sondern man sollte auch einen Blick auf die Rolle des Bewusstseins werfen. Schon Lewin (1935) beschrieb in seinem Ansatz, dass menschliches Handeln nicht nach einer objektiv vorhandenen, sondern auf der Grundlage einer subjektiv wahrgenommen Welt basiert. Man bezeichnet diese Position in der Psychologie als „phänomenologischer Ansatz“. Die meisten Motivationstheorien gehen davon aus, dass wir uns unserer Motive (Ursachen und Gründe unseres Verhaltens), den daraus resultierenden Konsequenzen des eigenen Handelns, sowie den emotionalen Zuständen wohl bewusst sind und, dass diese unser Verhalten steuern. Man unterscheidet zwischen bewusstseinsfähigen und bewusstseinspflichtigen Inhalten. Unter bewusstseinsfähigen Inhalten versteht man Gedanken, die bewusst sein können, und unter bewusstseinspflichtigen Gedanken, die bewusst sind, weil man sie z.B. braucht, um eine Handlung durchzuführen. 44 Freud fügt diesen Unterscheidungen noch eine dritte Variante hinzu: die des Unbewussten. Der Mensch „muss“ sich seiner Motivation nicht bewusst sein und eventuell „kann“ er sich seiner Motivation auch gar nicht bewusst sein, ohne sich dessen explizit bewusst zu sein (Rudolph, 2003). 3.2.3. Motivation und Emotionen Einerseits werden Handlungen um ihrer Ziele Willen durchgeführt, andererseits ist bei anderen Gelegenheiten das Ziel einer Handlung nicht unbedingt „nur“ das Erreichen eines bestimmten Zielzustandes. Zum Beispiel bei den Vorbereitungen auf eine schwierige Prüfung, kann es mühsam und anstrengend sein dafür zu lernen und nach bestandener Prüfung kann man stolz darauf sein, es geschafft zu haben. Oft ist der Weg das Ziel, so kann sowohl das Handlungsziel selbst oder auch die Tätigkeit, die man ausführt, um das Ziel zu erreichen, angenehm oder unangenehm sein. Emotionen können während des motivierten Verhaltens (also schon auf dem Weg) oder erst, nachdem man das Ziel erreicht hat, auftreten. Wie bedeutsam sind die Emotionen für unser Verhalten? Die Behavioristen schlossen eine Verbindung von Emotionen und motiviertem Verhalten aus. Die Gegenposition vertrat die Meinung, dass ohne die Emotionen, die menschliche Motivation (das, was ich will) und motiviertes Verhalten (das, was ich tue) nicht möglich seien. Als Beispiel für diese Theorie gilt, dass man ohne Mitleid (Emotion) für eine Person, die dringend auf Hilfe angewiesen ist, gar kein prosoziales Verhalten entwickeln könne. Aus heutiger Sicht geht man davon aus, dass eine Trennung von Motivation und Emotionen nicht hilfreich sei. Die Motivation sei ohne Emotionen nicht denkbar, und umgekehrt seien viele Emotionen nicht losgelöst, ohne die Betrachtung von unseren motivierten Funktionen für unser Verhalten und Handeln, möglich. (Rudolph, 2003) 45 3.2.4. Motivation und Persönlichkeit Charakteristisch für die heutige Motivationspsychologie ist, dass das Verhalten das Resultat einer Wechselbeziehung zwischen einer bestimmten Person und einer bestimmten Situation ist, nämlich, dass man Verhalten nicht allein aus den Merkmalen der Person und auch nicht allein aus den Merkmalen der Situation betrachten und verstehen kann. Anhand der Rollen, die den individuellen Unterschieden oder Persönlichkeitsmerkmalen zugewiesen werden, lassen sich motivationspsychologische Ansätze unterscheiden. Atkinson geht in seiner Theorie von der Annahme aus, dass sich Menschen darin unterscheiden, inwieweit sie leistungsbezogene Situationen eher aufsuchen oder meiden – da sie in unterschiedlicher Art und Weise mit Stolz auf ein positives Leistungsergebnis, und mit Scham auf ein negatives Leistungsergebnis reagieren. Der Behaviorist Donald Berlyne (1968) formulierte: „Es ist natürlich nur zu offensichtlich, dass menschliche Wesen sich in mancherlei Hinsicht unterscheiden und in anderer Hinsicht ähnlich sind. Die Frage lautet nun, ob wir zuerst nach Aussagen suchen sollten, die auf alle Menschen zutreffen, oder ob wir zunächst nach den Unterschieden suchen sollten. Ich denke, dass die Suche nach allgemeinen Prinzipien des menschlichen Verhaltens Vorrang haben sollte…Bevor wir nicht verstehen, was allen Individuen gemeinsam ist, können wir nicht hoffen zu verstehen, welche Unterschiede eine Rolle spielen und in welcher Weise diese Unterschiede möglichst sinnvoll zu beschreiben und zu klassifizieren sind.“ (zit. n. Rudolph, 2003: S. 11) Auf der einen Seite besitzen Menschen Fähigkeiten und Fertigkeiten, um erstaunliche Leistungen auszuführen und sich in vielen Situationen erfolgreich verhalten zu können. Auf der anderen Seite ist unser Verhalten nicht immer positiv. Wir sind z.B. nicht in der Lage, das Richtige zu tun (etwa aus unbegründeter Angst heraus). Motivationstheorien sollte es möglich sein, auf beide Seiten des menschlichen Verhaltens einzugehen und diese zu erklären. In der Motivationspsychologie gibt es zwei verschiedene Ansätze: den experimentellen und den klinischen Ansatz. Sie gehen bezüglich der Erklärung menschlicher Leistungen und Fehlleistungen von verschiedenen Schwerpunkten aus, die inhaltlicher und methodischer Natur sind. 46 Der experimentelle Ansatz: Das Experiment ermöglicht eine Überprüfung von kausalen Verbindungen zwischen Konzepten und Variablen einer Theorie. Solche kausalen Annahmen werden auf der Basis, der durch das Experiment gewonnenen Daten, gemacht. Die Konsequenz des Verhaltens – egal ob positiv oder negativ – beeinflusst in der verstärkungstheoretischen Annahme die Häufigkeit des Auftretens. Eine positive Konsequenz des Verhaltens sollte möglichst zu einer Steigerung der Auftretenshäufigkeit, eine negative zu einer Senkung derselben führen. Durch ein Experiment kann der kausale Zusammenhang überprüft werden. Man bezeichnet den experimentellen Ansatz auch als ahistorisch. Ein begrenzter Verhaltensabschnitt eines Individuums zu einem bestimmten Zeitpunkt kann so vorhergesagt werden, ohne von in der Biographie weit zurückliegenden Ereignissen beeinflusst zu werden. Um rationales oder funktionales Verhalten vorherzusagen, wird in der Motivationspsychologie das Experiment als Methode bevorzugt. Der klinische Ansatz: Der klinische Ansatz basiert auf Daten, die durch die Untersuchung und Behandlung von Personen/Patienten vorhanden sind. Der Ausgangspunkt sind ausführliche Fallstudien, zum Beispiel bei Freud durch die Beobachtung seiner Patienten, die unter neurotischen und zwanghaften Symptomen litten. Durch diese Beobachtungen kam er zu der Erkenntnis, dass nicht alle körperlichen Symptome auf organischen Ursachen beruhen. Oftmals ist eine Analyse des menschlichen Fehlverhaltens die Grundlage für den klinischen Ansatz. Auch eine Vielzahl anderer Datenquellen, wie z.B. kulturelle Merkmale oder klinische Befunde, können genutzt werden. Der klinische Ansatz befasst sich vor allem mit abweichendem und nicht funktionalem Verhalten und kann eine größere Vielzahl von Daten mit einbeziehen, als ein Experiment. (Rudolph, 2003) 47 3.2.5. Motivation und Wille Nicht alles motivierte Verhalten wird mit großer Lust ausgeführt. Häufig müssen wir uns mit Tätigkeiten beschäftigen, die bei uns kein Flow-Erlebnis auslösen, sondern nur deshalb ausgeführt werden, weil deren Erfolg für uns wichtig ist. Umgangssprachlich spricht man davon, dass man sich bei solchen Tätigkeiten „zusammenreißen“ muss und sich nicht „gehen lassen“ darf. Gemeint damit ist der Wille oder die Volition, wodurch uns die Möglichkeit gegeben wird, trotz innerer und äußerer Widerstände eine Handlung bis zum Ziel durchzuführen. Dieses Überwinden der Widerstände gestaltet sich als sehr anstrengend. Nicht nur bei der Überwindung von Angst, sondern auch bei Ekel ist unser Wille von Bedeutung. Begleitet werden solche Selbstüberwindungsaktionen von einem Spannungsempfinden, was sich z.B. in zusammengepressten Zähnen und Lippen oder geballten Fäusten äußern kann und bei Überwindungsaufgaben in seiner Intensität noch gesteigert werden kann. Willensprozesse wurden schon sehr früh untersucht, vor allem durch Narzis Ach (1910). Er untersuchte was geschieht, wenn jemand nicht nach seinen festen Gewohnheiten handeln durfte. Er stellte vier Besonderheiten fest: 1. Die Vorstellung von dem, was zu tun ist, nannte Ach den „gegenständlichen Moment“. 2. Das zweite Merkmal, den energetischen Entschluss (ich will das wirklich) schließt andere Handlungsmöglichkeiten aus und wurde der „aktuelle“ Moment“ genannt. 3. Die erlebte Anstrengung bei dem Willensakt, nannte er „zuständliches Moment“. 4.Die Spannungsempfindungen bezeichnete Ach als den „anschaulichen Moment“. Nach Ach ist die Intensität, mit der man sich anstrengt, nicht nur von der Motivationsstärke, sondern auch von der Stärke des Widerstandes bei der Verhaltensrealisation abhängig. Es wird davon ausgegangen, dass Willens- und Motivationsphasen ganz verschiedene Bewusstseinslagen haben. Die Obergrenze dessen, was man willentlich an Anstrengung, Anspannung und Ausdauer zu investieren bereit ist, wird durch die Motivationsstärke festgelegt. Man würde also 48 bei Widerständen, die bei niedriger Ausgangsmotivation auftreten, früher sein Ziel aufgeben, als bei einer hohen Ausgangsmotivation. Ein deskriptives Modell, das unser Handeln in einer natürlichen Reihenfolge von Motivations- und Volitionsphasen beschreibt, ist das Rubikonmodell. Heckhausen (1987) unterscheidet im Rubikonmodell der Handlungsphasen die Phasen des Planens und des Handelns als volitionale Phasen. Der Unterschied von Motivation und Volition besteht darin, dass die Motivation die Zielsetzung beeinflusst (welches Modell gewählt wird), und die Volition die treibende Kraft auf das Ziel hin ist (welche Strategien und Anstrengungen investiert man, um das Ziel zu erreichen). Nach Heckhausen ist eine „übersprudelnde Quelle von Wünschen“ der Ausgangspunkt von motivationalen Prozessen. (zit. n. Rheinberg, 2006: S. 184) Das Rubikonmodell beginnt mit der Motvationsphase. Nur ein sehr kleiner Teil der vielen Wünsche kommt in diesen Teil der Phase. Der Wunsch wird bewusst und aufgrund seiner Realisationschancen beurteilt, seine Machbarkeit wird geprüft. Personen in dieser Phase sind sehr hoch realitätsorientiert. Typisch für eine motivationale Bewusstseinslage ist ein Offensein für die relevanten Informationen, die unsere Entscheidung beeinflussen können, die Nebenfolgen bedenken, und sich fragen, ob andere Menschen oder bestimmte Situationsentwicklungen uns helfen oder uns eher behindern werden. Wenn alle Fragen bedacht werden, die mit einer Nicht-Realisation verbunden sind und diese unannehmbar wäre, entsteht der Entschluss, den Wunsch doch zu realisieren. Aus dem Wunsch wird eine Absicht – eine Intention. Die Bewusstseinslage ändert sich. In der Motivationsphase ist man realitätsorientiert und in der Volitionsphase realisierungsorientiert. Jetzt haben alle Prozesse nur noch eine Funktion: das umzusetzen, wozu man sich nach langer Überlegung und Prüfung entschieden hat. Nicht immer kann es sofort erledigt werden. Es bildet sich zuerst einmal eine Intention, die abgespeichert und dann bei passender Gelegenheit ausgeführt werden kann. Die Realisierungschancen erhöhen sich, wenn genau festgelegt wird, wie die Bedingungen sein sollen und zu welchem Zeitpunkt gehandelt werden soll. Durch das Abspeichern der Intention wird die Volitionsphase unterteilt in eine präaktionale und eine aktionale Phase. 49 Welche abgespeicherte Intention realisiert wird, liegt nicht nur an der Intention, sondern auch an der Dringlichkeit, in der die Dinge zu erledigen sind und an der jeweiligen Situation. Wenn eine Handlung abgeschlossen ist, erreicht die Person wieder eine Motivationsphase. Rückschauend beurteilt man, ob man das gesteckte Ziel erreicht hat oder auch, woran es lag, wenn das Ziel nicht erreicht wurde. Nach Erreichen des Ziels wird überlegt, welche Intention jetzt realisiert werden kann, und bei nicht erreichen des Ziels wird überlegt, ob es weiterverfolgt oder aufgegeben werden soll. Das Rubikonmodell integriert sowohl aktuelle, wie auch ältere Ansätze aus der Motivations-, Volitions- und Handlungsforschung. Durch die Abgrenzung der beiden Volitionsphasen fällt die Zuordnung der Willensphänomene genauer aus. Die präaktionale Phase beinhaltet Selbstüberwindungsakte. Es muss ein hoher Willensaufwand betrieben werden, um die Handlung zu beginnen, wobei sich die Handlung selbst als einfach darstellt. In der aktionalen Phase liegen nach Ach die Willensentscheidungen. Die Ausführung einer Handlung war schwer, weil man sich ständig gegen festgefahrene Gewohnheiten durchsetzen musste. Auf das Gelingen der Handlung musste sich hier der Willensprozess richten und konnte nicht einem automatischen Ablauf überlassen werden. Es ist nicht davon auszugehen, dass alle Situationen von dem drängenden Wunsch bis zum Handlungsstart immer neu durchlaufen werden. Heckhausen (1987) geht davon aus, dass man im Laufe seines Lebens die motivationalen Beurteilungsprozesse abgeschlossen hat und schon auf fertige Intentionen zurückgreifen kann, die bei passenden Gelegenheiten nur abgerufen werden müssen. Bei dieser Sichtweise kommt man zu der Feststellung, dass unser Handeln eine Funktion von Willensprozessen und der Entscheidungsverlauf der Motivationsprozesse vergleichsweise unbedeutender wären. Schon Ach (1935) hatte darauf hingewiesen, dass sich der Willensakt „im praktischen Leben nicht unnötigerweise einstellt. Seine Voraussetzungen liegen besonders dann vor, wenn der Mensch Widerstände innerer und äußerer Art, Hemmungen, Schwierigkeiten und dergleichen zu überwinden hat.“ (zit. n. Ach, 1935) Demnach würde mit der Feststellung von Heckhausen eine wesentliche Einschränkung gemacht. 50 Eine Unterscheidung der Situation, in denen unser Verhalten motivational oder volitional gesteuert wird, vollzieht auch Sokolowski (1993). Eine motivationale Steuerung bei der gerade ausgeführten Tätigkeit, ist die, die mit den Vorlieben der Person übereinstimmt. Bei der volitionalen Steuerung übt man eine Tätigkeit aus, die nicht zu der eigenen Motivstruktur passt, hier bedarf es einer willentlichen und bewussten Steuerung. Inhalt der willenspsychologischen Forschung ist es, genauer zu definieren, warum wir Dinge tun, die uns keine Freude bescheren oder auch auf uns abstoßend wirken (Rheinberg, 2008). 3.3. Unterschiedliche Formen der Motivation Die Motivation wird nach drei verschiedenen Arten unterschieden: - der Leistungsmotivation, - der Anschlussmotivation und - der Machtmotivation. 3.3.1. Leistungsmotivation Das bis heute am Intensivsten untersuchte Motiv ist die der Leistung. Man wollte herausfinden, was Menschen antreibt, Spitzenleistungen zu erbringen. Murray (1938) umschrieb es mit den Merkmalen, eine schwierige Aufgabe zu meistern, etwas besser und schneller zu tun, Probleme überwinden zu können, einen hohen Standard zu erreichen, das eigene Talent zu beweisen oder andere im Wettbewerb zu übertreffen. Durch seinen „Thematischen Auffassungstest“ (TAT) entwickelte er ein Instrument, auf das andere Forscher aufbauten und es zu einem der bekanntesten und am häufigsten eingesetzten Verfahren für die Messung von Motiven machten. McClelland (1953) definierte die Leistungsmotivation mit folgenden Worten: „Ein Verhalten gilt als leistungsmotiviert, wenn es um die Auseinandersetzung mit einem Tüchtigkeitsmaßstab geht.“ (zit. n. Heckhausen, 2006: S. 143) Heckhausen (1965) definierte Leistungsmotivation als: 51 „das Bestreben, die eigene Tüchtigkeit in all jenen Tätigkeiten zu steigern oder möglichst hoch zu halten, in denen man einen Gütemaßstab für verbindlich hält, und deren Ausführung deshalb gelingen oder misslingen kann.“ (zit. n. Rheinberg, 2008: S. 62) Menschen mit einem hohen Bedürfnis an Leistung und Perfektion, sehen in den Bildervorlagen (ihnen wird dabei für ein paar Sekunden ein Bild gezeigt, zu dem sie eine Geschichte erzählen sollen) überwiegend Menschen, denen es wichtig ist, einen sich selbst geschaffenen Leistungsstand zu erreichen. Leistungsmotivierte sehen diese Bedürfnisse nicht nur bei anderen, sondern sie besitzen sie auch selbst. Sie werden von dem Verlangen getrieben, immer besser zu werden. Sie haben Freude an ihren Leistungen und Spaß am Können. Sie wollen erleben, wie sie immer besser werden und welche persönlichen Leistungen für sie möglich sind. „Erfolge sind für sie Ansporn zu neuen Taten, Misserfolge sind Hinweise auf Optimierungsnotwendigkeiten. Stillstand ist für sie ein Rückschritt.“ (zit. n. Krug/Kuhl, 2006: S. 23) Leistungsmotivierte stehen nicht in ständigem Konkurrenzkampf mit anderen. Für sie ist es nicht so wichtig, wie gut die anderen sind, sondern es geht nur um ihre eigene Fähigkeit, immer besser zu werden. Für sie ist ein Erfolg, wenn sie sich von mal zu mal steigern können. Für Leistungsmotivierte sind drei Voraussetzungen wichtig, damit sie optimal motiviert sind: herausfordernde und machbare Leistungsziele, hohe Eigenverantwortung bis zum Ziel sowie genaue und konkrete Rückmeldungen über das von ihnen erbrachte Ziel. Der leistungsmotivierte Mensch braucht ein Erfolgserlebnis – Stolz, etwas geschafft zu haben und die daraus resultierende Zufriedenheit mit seiner Leistung (ein gutes Gefühl dabei zu haben). Das gilt aber nur, wenn die eigenen Fähigkeiten zu dem Erfolg geführt haben und nicht äußere Umstände wie z.B. Glück, Hilfe von anderen oder geringe Anforderungen. Ein Vorläufer dieser Motivation findet sich „beim Selbermachen – Wollen“ eines Kindes. Damit fördern sie ihre eigene Entwicklung selbst. Wichtig dabei ist, dass das Kind vor Aufgaben steht, die es auf Grund seines Entwicklungsstandes auch selber schaffen kann. Es erlernt den Zusammenhang zwischen dem eigenen Bemühen und dem wertgeschätzten Erfolg. 52 Routineaufgaben sind langweilig. Damit die Motivation von Leistungsmotivierten wächst, müssen die Aufgaben dementsprechend schwieriger, anspruchsvoller und herausfordernder sein. Am meisten Zufriedenheit stellt sich ein, wenn die Schwierigkeit der Aufgabe so hoch ist, dass sie nur mit maximaler Anstrengung gerade noch geschafft werden kann. Bei einem Überschreiten des Schwierigkeitsgrades nimmt die Bereitschaft, die Aufgabe zu lösen, stark ab. Drei Überlegungen sind dafür wesentlich: „1. Warum soll ich Zeit und Mühe verschwenden, wenn sowieso nichts dabei herauskommt? 2. Wenn ich hier erfolgreich sein will, muss ich andere Unterstützung heranziehen und das will ich nicht. 3. Selbst wenn ich bei dieser extrem schwierigen Aufgabe erfolgreich sein sollte, weiß ich am Ende immer noch nicht, ob ich wirklich gut bin oder einfach nur Glück hatte.“ (zit. n. Krug/Kuhl, 2006: S. 25) Die Wichtigkeit der Anforderungen, die man gerade so noch schaffen könnte, ist zu späteren Entwicklungszeitpunkten ein spezielles Merkmal für leistungsmotiviertes Verhalten. Man spricht dabei von den Herausforderungen. Leistungsorientierte brauchen keine Utopien, sie brauchen klare Ziele, die auch machbar sind. Sie träumen auch nicht, im Bezug auf das Machbare sind sie absolute Realisten. Es ist nicht entscheidend, ob sie die Ziele selbst gewählt haben oder sie vorgegeben waren. Es muss aber ein Höchstmaß an Freiraum und Eigenverantwortung auf dem Weg möglich sein. Sie glauben selbst am besten zu wissen, wie die Aufgabe zu lösen ist und, welche Probleme dabei bewältigt werden müssen – sie möchten selbständig entscheiden und autonom handeln können. Das macht sie nicht unbedingt zu Teamplayern, sie arbeiten am liebsten alleine. Dabei müssen sie keine Kompromisse eingehen, sondern so vorgehen, wie es für sie optimal ist. Bei der Wahl zwischen anderen Experten oder Freunden als Mitarbeiter, würden sie sich immer für die Experten entscheiden, weil die Sache für sie im Vordergrund steht und nicht die Beziehung. Lob und Kritik kann sie nicht zu Spitzenleistungen motivieren. Sie können selbst einschätzen, wie gut oder schlecht sie sind. Entscheidender als Lob und Kritik von außen ist die eigene Zufriedenheit mit der erfüllten Leistung. Das Leistungsmotiv lässt sich anhand von des TAT (Thematischer Auffassungs-Test) messen, der auf der Basis von Überlegungen und Daten von Murray (1938, 1943) entwickelt wurde. Den Versuchspersonen wird erklärt, dass es 53 sich hierbei um einen Test handelt, in dem ihre Phantasie und ihr Vorstellungsvermögen gefragt ist. Ihnen wird für etwa 15-20 Sekunden ein Bild gezeigt, das eine oder mehrere Personen in einer bestimmten Situation zeigen. Die Versuchspersonen haben nach dem Ansehen des Bildes etwa 5 Minuten Zeit, eine Geschichte zu diesem Bild zu verfassen. Wichtig ist, dass sie erzählen, was auf dem Bild geschieht, was die Personen denken und fühlen, wie die gezeigte Situation entstanden ist und wie das Ende der Geschichte sein wird. Man wiederholt dies mit mindestens sechs verschiedenen Bildern. Man bezeichnet dieses Verfahren auch als „projektives Testverfahren“, da die Versuchspersonen verborgene und unbewusste Motive in die so zu erzählenden Geschichten projizieren sollen. Um die Geschichten anschließend zu bewerten und zu messen, braucht man einen Auswertungsschlüssel, der aus pauschalisierten Inhaltsgruppen besteht, denen die Aussagen der Geschichten zugeordnet werden können. Um diese Inhaltsgruppen bestimmen zu können, wählte McClelland (1953) ein besonderes Vorgehen. Einige der Versuchspersonen schrieben die Geschichte in einer emotional entspannten Situation und andere hatten kurz zuvor einen sehr leistungsorientierten Test durchgeführt. Zwischen diesen beiden Stichproben ließen sich nun die Test im Bezug auf das Leistungsziel, Erfolgs- und Misserfolgserwartungen, negative und positive Gefühle, Aktivitäten und Hindernisse auf dem Weg zum Ziel und die hilfreiche Unterstützung, vergleichen. Um möglichst genaue Ergebnisse zu erlangen, muss sicher sein, dass sich die Versuchspersonen zum Zeitpunkt der Messung tatsächlich in einem entspannten Zustand befinden und nicht von anderen Erlebnissen angeregt sind (Rheinberg, 2008). Ein Nachteil des TAT besteht nach wie vor in der Auswertung. Sie gestaltet sich als sehr schwierig und sollte nur von gut geschulten Personen durchgeführt werden. Schmalt entwickelte 1976 ein alternatives Verfahren, das so genannte Leistungsmotiv-Gitter. Im deutschen Sprachraum ist es das am meisten verwendete Messverfahren zur Erfassung des Leistungsmotivs geworden. (Rudolph, 2003) 54 3.3.2. Anschlussmotivation Murray definierte Anschlussbedürfnis (1938) mit folgenden Tätigkeiten: anderen Menschen nahe zu sein, sich auszutauschen, zu kooperieren und mit anderen befreundet zu sein und sich in Gruppen und Gemeinschaften zusammenzuschließen (Heckhausen, 2006: S.195/196). Anschlussorientierte strukturieren ihre Umwelt komplett anders als Leistungsorientierte Menschen. In ihrem Leben steht der Mensch im Mittelpunkt - nicht als Mittel zum Zweck, sondern um seiner selbst Willen. Nähe und Kontakt zu anderen, ebenso wie der Wunsch nach freundschaftlichen Beziehungen, zeichnen Menschen aus, die ein hohes Anschlussmotiv besitzen. Sie pflegen ihre Beziehungen und investieren Mühe und Zeit, um diese aufrechtzuerhalten oder wiederherzustellen, falls sie gestört sind. „Das Thema des Anschlussmotivs ist es, aus Fremden Bekannte und schließlich Vertraute und freundschaftlich Gesinnte zu machen. Dazu gehört auch, dass man zurückgewiesen werden kann.“ (zit. n. Heckhausen, 2006: S. 193) Für anschlussmotivierte Menschen zählt das Gute im Menschen. Ihre Bereitschaft auf andere Menschen einzugehen, ihnen Sympathie und Vertrauen zu schenken, ihnen entgegenzukommen, zu helfen und auf ihre Vorstellungen und Ideen einzugehen, ist sehr hoch. Auch für die Sorgen und Probleme anderer sind sie sehr sensibel. Man kann ihnen vertrauen, ohne Angst davor zu haben, dass sie vertrauliche Informationen an Dritte weitergeben würden. Zwischenmenschliche Beziehungen haben für sie einen sehr hohen Stellenwert. Sie bemühen sich, in einem Streitfall den anderen nicht zu beschämen oder zu verletzten. Bei einer Zusammenarbeit in einer Gruppe würden sie lieber mit Freunden zusammenarbeiten, als mit Experten. Sie sind ideal für Teamarbeiten. Durch das Wohlfühlen in der Gruppe sind sie bestrebt, alles zu geben. Ihr Ziel besteht darin, durch ihre Leistung und ihr Harmoniebedürfnis den Zusammenhalt der Gruppe zu sichern. Selbst der Bessere zu sein, ist ihnen nicht wichtig – aber sie setzten sich intensiv für ihre Gruppe ein, um sie nach vorne zu bringen. „Das Freundschaftsmotiv ist ein stilles Motiv, das man am besten zu zweit oder in einer kleinen Gruppe pflegt. Man tauscht sich aus, man redet miteinander (nicht übereinander), und hört sich zu, man ist für den anderen da, man versteht sich, man vertraut sich und fühlt sich wohl dabei. Die gu55 te harmonische Beziehung ist das Endziel allen Bemühens. Sie ist nicht Mittel zum Zweck, um irgendwelche anderen Vorteile daraus zu ziehen.“ (zit. n. Krug/Kuhl, 2006: S. 37) Die Gefühle, die mit diesen Bedürfnissen im Zusammenhang stehen, sind Empathie, Vertrauen, Liebe, Sicherheit und Sympathie. Wenn Anschlussmotivierte das Gefühl haben, dass ihr Vertrauen ausgenutzt und missbraucht wird, können sie auch ablehnend reagieren. Die Grundlage zur Erforschung des Anschlussmotivs in den 1950er Jahren, war nicht der Ansatz von Murray (1938), sondern das Triebreduktionsmodell von Hull (1943). Als Grundgedanke galt, dass das Anschlussverhalten mit dem Anschlussbedürfnis variiert, welches nicht von alleine besteht oder entsteht, sondern erst durch Furcht oder Unsicherheit geweckt wird. Angst und Furcht zu reduzieren galt als Ziel des Anschlussverhaltens. In Untersuchungen von Shipley und Veroff (1952) stellte sich dann heraus, dass die Probanden eher durch „Furcht vor Zurückweisung“ angeregt wurden und weniger durch „Hoffnung auf Anschluss“. Eine Wende entstand, als deutlich wurde, dass nicht die Reduzierung eines unangenehmen, sondern die Entstehung eines angenehmen Zustands das Motivziel ist. Die eigentliche Erforschung des Anschlussmotivs und der entstehenden Motivationslagen konnte beginnen. In jeder alltäglichen Situation kann man Menschen beobachten, die ohne Schwierigkeiten auf andere Menschen zugehen und sich unterhalten können und Menschen, denen gerade das sehr schwer fällt. Da dies in unterschiedlichen Situationen immer wieder auftreten kann, geht man von dispositionellen Unterschieden aus. Die Unterschiede können in der Wahrnehmung und Deutung der Situation, anderen Informationsverarbeitungsprozessen oder in den Emotionen begründet sein. Damit erlangen Motive und Motivationen eine große Bedeutung. Es sind beim Anschlussmotiv zwei, sich gegenseitig regulierende Motivkomponenten zu unterscheiden: Hoffnung auf Anschluss und Furcht vor Zurückweisung. Es findet nur eine geringe Korrelierung der beiden Motivkomponenten statt. Bei „Furcht vor Zurückweisung“ gehen die Probanden vorsichtiger und sensibler mit Fremden um, und bei „Hoffnung auf Anschluss“ ist es wesentlicher, den Fremden näher zu kommen und auf sie zuzugehen. Für Personen mit einer starken Hoffnungskomponente bewirkt dies, dass sie eher eine 56 ungebremste Vertrautheit Fremden gegenüber haben und für Personen mit einer starken Furchtkomponente ist das Gegenteil der Fall: sie sind im Umgang mit Fremden ängstlicher und abwartender und distanzieren sich leichter. Die Merkmale von hoch anschlussmotivierten Personen sind z.B: in ihrer Wahrnehmung sehen sie andere sich selbst ähnlicher oder in einem besserem Licht, ihre freundliche Art wirkt auf Fremde positiv und ansteckend, auf soziale Anerkennung und Zurückweisung reagieren sie sehr spezifisch, sie sind bei anderen beliebt und sie mögen andere ebenfalls. Die Merkmale von Personen mit hoher Furcht vor Zurückweisung sind z.B., dass sie sich in sozialen Situationen überfordert fühlen, leichter verspannt und ängstlicher sind, sich selbst unbeliebt fühlen, ihr soziales Geschick und ihr Verhalten ein Gefühl der Unfähigkeit mit sozialen Situationen umgehen zu können hinterlassen ( Sokolowski, 1986). Die Messungen des Anschlussmotivs können durch ein projektives Verfahren wie den TAT durchgeführt werden, es kann auf Fragebögen zurückgegriffen werden oder es kann nach einem semi-projektiven Verfahren wie dem Anschluss-Gitter durchgeführt werden. Die Gitter-Technik, als Mischung zwischen TAT und semi-projektivem Verfahren, stellt den individuellen Entfaltungsspielraum der Bilder im Bezug auf die Aussagen, dar. Durch die Entwicklung des Multi-Motiv-Gitters, ist es möglich, neben dem Anschlussmotiv auch das Leistungs- und Machtmotiv, mit der Unterscheidung von Hoffnung- und Furchtkomponente, zu messen (Sokolowski, Schmalt, Langen & Puca, 2000). 3.3.3. Machtmotivation Der Machtbegriff ist meist negativ besetzt. Von Macht geht man aus, wenn Person A versucht, Person B so zu beeinflussen, dass diese Dinge tut, die sie ohne die Einflussnahme von Person A nicht getan hätte. Wenn dies gelingt, hat Person A Macht gegenüber Person B. „Macht bedeutet jede Chance, innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen, gleichviel worauf diese Chance besteht.“ (Weber, 1964, zit. n. Rheinberg, 2008: S. 100) 57 In Kulturkreisen, in denen die Werte der Selbstbestimmung und der individuellen Freiheit hoch geschätzt werden, hat der Machtbegriff einen kritischen und negativen Beigeschmack. Man unterscheidet vier Arten von Macht: 1. Machtstadium: „Stadium der anlehnenden Macht“ Die Machtquelle kommt nicht aus einem selbst heraus, sondern die Machtquelle sind andere, wie z.B. starke Persönlichkeiten, Parteien, Unternehmen oder einflussreiche Gruppen. Man fühlt sich ihnen zugehörig oder als Teil von ihnen und nimmt Anteil an ihrer Macht. Ein Gefühl von Macht, Unbesiegbarkeit, Auserwähltheit und Einzigartigkeit entsteht. 2. Machtstadium: „Stadium der selbstbezogenen Machtausübung“ Stärke und Macht liegen in der eigenen Person begründet, aber nicht, um andere zu beherrschen, sondern um sich selbst „in den Griff zu bekommen.“ (zit. n. Kuhl/Krug, 2008: S. 42) 3. Machtstadium: „Stadium der eigennützigen/personifizierten Machtausübung“ Die Person fühlt sich stark und unbesiegbar, die Machtquelle liegt in der Person selbst. Die Stärke wird nicht mehr genutzt um sich selbst zu beherrschen, sondern um sich über andere zu erheben. 4. Machtstadium: Stadium der gemeinschaftlichen Machtausübung Höhere Mächte sind hier die Machtquelle, man fühlt sich ihnen verpflichtet und übt mit ihnen gemeinsam Macht auf andere aus. (Krug/Kuhl, 2006: S. 42) Im 1. Machtstadium orientieren sich Menschen an starken und beeindruckenden Personen, um sich selbst stark, wichtig und erhaben zu fühlen. Die Machtquelle liegt außerhalb der Person, aber sie wirkt innerhalb der Person. Es geht dabei um ein Gefühl von Stärke, Größe und Bedeutsamkeit und nicht um die Beeinflussung von anderen. Äußere Machtquellen müssen durchaus nicht immer andere Personen sein, es können auch Alkohol, Drogen, Musik oder auch Religion sein – alles, was das Gefühl von Größe, Stärke, Erhabenheit, usw. erzeugen kann. 58 Um Autonomie und Unabhängigkeit geht es im 2. Machtstadium. Es bedarf keiner anderen Person, um sich stark und mächtig zu fühlen. Man hat selbst die Kontrolle über das eigene Leben, will sein eigener Herr sein. Solche Unabhängigkeit lässt sich zum einen durch eine Anhäufung von Geld und Besitz erreichen (niemand besitzt Macht über einen selbst und man ist von niemanden abhängig) und zum anderen auch durch Wissen - Wissen ist Macht. Die menschlichen Vorstellungen von Macht entsprechen am ehesten dem 3. Machtstadium. In diesem Stadium befinden sich Menschen, die nur auf ihren eigenen Vorteil bedacht sind und rücksichtslos versuchen, diesen zu verwirklichen – auch wenn dafür die kleinen Schwächen von anderen gnadenlos ausgenutzt werden müssen. Allein das Gefühl, den Anderen lenken oder beeinflussen zu können, bewirkt schon, dass sich die Person stark und mächtig fühlt. Wichtig dabei ist, dass der Grund dafür auf ihn als Person selbst zurückzuführen ist. Menschen in diesem Machtstadium sind nach McClelland „immer auf dem Sprung, andere Menschen auszuspielen, auszumanövrieren und zu besiegen – beim Sport, bei der Arbeit, im Gespräch und selbst in normalen Beziehungen.“ (zit. n. McClelland, 1978) Im 4. Machtstadium stehen die Quelle der Macht und das Objekt der Macht nicht mit der Person selbst in Zusammenhang, sondern als eine übergeordnete Idee, ein übergeordnetes Prinzip – also eine Autorität, die dazu drängt, auf andere Einfluss auszuüben. Die ihnen gegebenen Machtmittel werden nicht eingesetzt, um persönliche Vorteile zu erlangen, sondern um höhere Werte und Ziele zu verwirklichen. Menschen in diesem Stadium besitzen eine hohes Maß an Selbstkontrolle und Selbstdisziplin, haben einen großen Gerechtigkeitssinn. Sie können ebenfalls sehr einfühlsam und sensibel auf die Sorgen und Nöte von anderen reagieren, nicht um daraus Vorteile für sich selbst zu ziehen, sondern um andere zu stärken, damit sie ihre Probleme und Sorgen bewältigen können. Ein wichtiger Lebensbereich, in dem diese Aspekte wichtig sind, ist die Erziehung von Kindern. Das Ziel der Erziehung sollte sein, die Kinder stark zu machen, dass sie sich an den Werten und Normen der Gesellschaft orientieren und ihren eigenen Weg im Leben finden können und sie nicht zu unserem Ebenbild zu machen. (Krug/Kuhl, 2006) 59 Durch die Komplexität ihres Untersuchungsgegenstandes ist die Machtforschung noch nicht so weit entwickelt wie die Leistungsforschung. Macht kann Ausdruck von vielen verschiedenen Zielen sein, egal welches Ziel dahinter steht, es muss Einfluss genommen werden, wenn das Ziel erreicht werden soll. Durch seine verschiedenen Facetten ist es vielschichtiger und komplexer. Durch die negative Besetzung von Macht geben viele ungern zu, dass es sie fasziniert Macht auszuüben. Dabei besitzt jeder von uns Macht – mal mehr, mal weniger. Es kommt auch nicht darauf an, wie viel Macht jemand hat, sondern wie er damit umgeht und was er daraus macht. Nutzt er sie für andere, um für die Gesellschaft, den Betrieb, die Organisation usw. die Erfüllung ihrer Bedürfnisse zu ermöglichen oder setzt er sie lediglich für seinen eigenen Vorteil ein? Auch die Wertvorstellungen der Person und ihr Bedürfnis nach Leistung und nach sozialem Kontakt prägen die Machtausübung. Die Messung des Machtmotivs ist ebenfalls mit dem TAT-Test möglich. Veroff (1957) entwickelte ein spezielles TAT-Instrument zur Erfassung der Daten. Die letzte Veröffentlichung eines TAT-Maßes, nach einigen Revisionen, stammt von Winter (1973). Der „Winter-Schlüssel“ (zit. n. Heckhausen, 2006: S. 223) besitzt aufsuchende und meidende Inhalte und geht auch auf die Furchtkomponente ein. Auch die Gitter-Technik kann hier eingesetzt werden, um das Motiv für die Macht messen zu können (Heckhausen, 2006). 3.4. Was bedeutet „intrinsische“ und „extrinsische“ Motivation? „Intrinsisch“, aus dem englischen (intrinsic) bedeutet u.a. wahr, innewohnend, eigentlich oder wirklich und „extrinsisch“ (extrinsic) bedeutet soviel wie fremd, äußerlich, von außen wirkend. Woodworth (1918) hat zum ersten Mal den Begriff intrinsisch ausdrücklich auf Motive bezogen. Rheinberg definiert die Begriffe folgendermaßen: „Am ehesten lässt sich die Begriffsverwendung noch so zusammenfassen, dass ein Verhalten dann als „intrinsisch motiviert“ bezeichnet wird, wenn es um seiner selbst Willen geschieht, oder weiter gefasst: wenn die Person aus eigenem Antrieb handelt. Entsprechend wird ein Verhalten dann als „extrinsisch motiviert“ bezeichnet, wenn der Beweggrund des Verhal60 tens außerhalb der eigentlichen Handlung liegt, oder weiter gefasst: wenn die Person von außen gesteuert erscheint.“ (zit. n. Rheinberg, 2008: S. 149) Es handelt sich hier um eine unklare Begrifflichkeit. Bei McReynolds (1971, aus Rheinberg, 2008) verläuft die Trennungslinie von extrinsisch zu intrinsisch zwischen Handlung und Ergebnis. Aktivitäten, die nur alleine wegen des Tätigkeitsvollzugs durchgeführt werden, sind intrinsisch motivierte Aktivitäten. Extrinsisch sind demnach alle Aktivitäten, deren Anreiz auf Zielen oder Ereignissen beruht. Heckhausen (1976, 2006) vollzieht eine andere Trennung. Für ihn kann auch ein Verhalten, dass auf Folgen ausgerichtet ist, als intrinsisch gelten, wenn die Folgen das gleiche Thema haben wie die Handlung und die Ergebnisse. Wesentlich dafür ist, dass das Thema der Handlung auch ohne die beabsichtigten Ergebnisse und Folgen zu erkennen, festzustellen ist. Bei anderen Definitionen ist das Wesentliche nicht, ob die Tätigkeit selbst, die Ergebnisse oder die Folgen den Anreiz zur Handlung bieten. Der zugrundeliegende Antriebsmechanismus ist entscheidend. „Intrinsische Motivation entsteht in diesen Modellen aus dem Bestreben des Organismus, ein optimales zentralnervöses Aktivationsniveau einzuhalten (Hebb, 1955) bzw. ein psychologisch optimales Anregungspotential sicherzustellen (Berlyne, 1960).“ (zit. n. Rheinberg, 2008: S. 150) Hierbei bezieht sich intrinsisch auf ein Verhalten aus Prozessen und Zuständen innerhalb der Person, welche sich nicht auf äußere Stimulation oder körperliche Bedürfnisse zurückführen lassen. DeCharms (1968) hat herausgefunden, dass das entscheidende Merkmal für die intrinsische Motivation innerhalb einer Person verursacht wird. Es handelt sich bei ihm nicht um innere Aktivations- oder Anregungsstandards, sondern um den Ausgangspunkt von eigenen Aktivitäten. In einem Augenblick der hohen und ursächlichen Unabhängigkeit fühlt man sich selbst als Ausgangspunkt des eigenen Handelns – dabei spricht man von intrinsisch motiviertem Verhalten. Hat man das Gefühl, dass man von äußeren Kräften bewegt wird – wie Schachfiguren auf einem Schachbrett – dann spricht man von einem extrinsisch motivierten Verhalten. Deci & Ryan (1980, 1987) definierten ein Verhalten, welches selbstbestimmt und autonom ist, als intrinsisch motiviert. Es besteht ein Bedürfnis nach Kompe61 tenz und Selbstbestimmung. Neben dem Bedürfnis nach sozialer Eingebundenheit und Zugehörigkeit gehört nach Deci & Ryan noch eine dritte Größe dazu. In ihrer „Selbstbestimmungstheorie“ (1983) beruht die intrinsische Motivation auf den grundlegenden Bedürfnissen nach Selbstbestimmung und Kompetenz, und die extrinsische Motivation hängt von beiden Bedürfnissen ab und wird um das Bedürfnis der „sozialen Bezogenheit“ ergänzt. Die Motivation kann sich im Verlauf der Tätigkeit verändern. Es ist möglich eine Tätigkeit aufgrund extrinsischer Motive zu beginnen, die aber im Verlauf der Tätigkeit durch intrinsische Motive weiter ausgeführt wird. Schiefele (1996) stellt eine neue Unterscheidung von tätigkeitsbezogenem Verständnis von intrinsischer Motivation auf. Da die Tätigkeit an sich meist mit einem Gegenstand verbunden ist, kann der Anreiz nicht nur durch die Tätigkeit erfolgen, sondern auch durch den Gegenstand. Wenn jemand eine Abhandlung von J. S. Bach liest, kann er sich für die Person Bach, oder einfach nur für die Tätigkeit des Lesens, interessieren. Liegt dabei der Anreiz auf dem Gegenstand, so bezeichnet man diese Form von intrinsischer Motivation als Interesse. (Heckhausen, 2006) Extrinsische und intrinsische Motivation schließen sich nicht gegenseitig aus. Es besteht die Möglichkeit, das ein Verhalten ausschließlich extrinsisch motiviert, oder ausschließlich intrinsisch motiviert, oder sowohl extrinsisch wie intrinsisch motiviert sein kann. (Rudolph, 2003) Die Unterscheidung von intrinsischer und extrinsischer Motivation bezieht sich also auf Handlungen, die von außen und solche, die von innen heraus belohnt werden. Ein Beispiel für extrinsische Motivation könnte die angemessene Bezahlung von Pflegeeltern sein während eine intrinsische Motivation die erfahrene Freude im Zusammenleben mit dem Pflegekind sein könnte. Intrinsische Motivation bezieht sich mehr auf die Erfolgserlebnisse im Alltag, die subjektiv und abhängig von persönlichen Zielen, Fähigkeiten und Beurteilungen sind (Handbuch Beratung im Pflegekinderwesen, 1987: S. 178). 62 3.5. Unterschiedliche Motivationen von Pflegeeltern (Danziger, 1930; Pflegemutter und Pflegekind) Lotte Danziger hat gemeinsam mit Helene Löw–Beer in der zweiten Hälfte der 1920er Jahre eine Untersuchung durchgeführt, bei der es um die Einstellung der Pflegemutter zu dem Pflegekind und um die Grenzen der Pflegschaft geht. Im Mittelpunkt der Untersuchung standen die Fragen: 1. Warum wurde ein Pflegekind angenommen? 2. Was beeinflusst die Beziehung zwischen der Pflegemutter und dem Pflegekind? Obwohl für die Pflegekinder nur ein geringes Pflegegeld gezahlt wurde, das kaum ausreichte um den Bedarf an Lebensmitteln zu decken, standen immer genügend gute Pflegeplätze zur Verfügung, in denen die Kinder untergebracht werden konnten. Lotte Danziger schloss daraus, dass psychologische Motive vorhanden sein mussten, vor allem bei den Pflegemüttern, weil auf ihnen die größte Arbeit und Verantwortung für die Kinder lastete. Der nächste Schritt in der Untersuchung, war abzuklären, wie weit diese Motive und Wünsche der Frauen im Bezug auf das Pflegekind, die Beziehungen zwischen der Pflegemutter und dem Pflegekind beeinflussten. Die Befragung von 200 Pflegemüttern wurde an verschiedenen Tagen in der städtischen Kinderübernahmestelle in Wien durchgeführt, wenn die Pflegemütter ihre Pflegekinder abholen, oder – was ebenfalls vorkam – zurückbringen wollten. Die Eignung der Frauen als Pflegemütter war von der Fürsorgestelle schon erteilt worden. In der Wartezeit der Frauen, bis sie ihr Kind bekamen oder das Kind, welches zurückgebracht wurde, wieder abgegeben werden konnte, wurden sie in einem Raum von den dort arbeitenden Psychologen befragt. Die Frauen wurden nicht speziell ausgewählt und sie glaubten, dass die Befragung mit der Übergabe des Kindes und den Formalitäten verbunden sei. Die Fragen befassten sich zuerst mit dem Namen und Alter der Frauen, dem Wohnort, Beruf und dem Alter des Mannes, der Anzahl und dem Geschlecht 63 der leiblichen Kinder. Anschließend wurden sie befragt, ob sie schon ein Pflegekind gehabt hätten, weshalb sie den Wunsch nach einem Pflegekind hätten, wie das Pflegekind sein sollte und wie ihre Familie auf das Pflegekind reagieren würde. Die Frauen beantworteten diese Fragen ohne Zögern. Sie waren teilweise froh, dass man daran Interesse zeigte. Das ermutigte die Frauen, ganz ausführlich über die verschiedenen Motive zu sprechen, die zur Aufnahme eines Pflegekindes geführt hatten. Man vermied es, bei den Frauen den Eindruck des „Ausgefragt werdens“ zu erwecken. In dem zweiten Teil der Untersuchung, der sich mit der Beziehung zwischen Pflegemüttern und Pflegekindern befasste, wurden Hausbesuche bei einzelnen Familien unternommen, mit der Angabe, sie kämen von der Übernahmestelle und wollten sich nach dem Pflegekind erkundigen. Wichtig war dabei, dass sie das Pflegekind selbst sehen konnten, um einen besseren Eindruck zu bekommen. Die Fragen befassten sich mit den Schwierigkeiten, die mit dem Pflegekind verbunden waren, der Beziehung zwischen Pflegemutter und Pflegekind und der Einstellung der Pflegefamilie gegenüber dem Pflegekind. Die Gespräche mit den Pflegemüttern wurden von zwei Personen geführt und eine dritte Person dokumentierte die Gespräche. Da sich die Aufzeichnungen nicht unbemerkt machen ließen, ging man dazu über, nach den Gesprächen den Verlauf aus dem Gedächtnis schriftlich festzuhalten. Die Pflegekinder Welche Kinder standen unter der Obhut der Jugendfürsorge? 1. Kinder, die von ihren Eltern selbst, aus Notlagen heraus der Jugendfürsorge auf unbestimmte Zeit überstellt wurden. Zu den Notlagen zählten z.B. Arbeitslosigkeit, Wohnungslosigkeit, Krankheit der Mutter und Auflösung der Familie. 2. Kinder, die den Eltern vom Jugendamt weggenommen wurden aus Gründen der Verwahrlosung, Schwererziehbarkeit, sittlicher oder körperlicher Gefährdung. Diesen Eltern wird die Rückführung ihres Kindes verweigert. 64 Die Kinder kamen zuerst in die Kinderübernahmestelle, wo sie beobachtet wurden. Für manche Kinder war es möglich, nach ein paar Wochen, in denen sich die Verhältnisse zu Hause wieder gebessert hatten, zurückzukehren. Andere Kinder wurden nach genauer Prüfung ihres physischen und psychischen Zustandes, in Pflegefamilien vermittelt, wenn sie dafür geeignet erschienen. Die Kinder, über die man sich noch kein klares Bild machen konnte, oder die für eine Pflegefamilie ungeeignet waren, kamen in Erziehungsanstalten. Die überwiegende Mehrheit der Kinder kam aus dem Arbeiterstand und dem Kleinbürgertum – aus den tiefsten Schichten dieser Bevölkerungsgruppen. Bei fast allen dieser Kinder waren geistige und körperliche Defizite vorhanden. Kinder, die älter als sieben Jahre alt waren, konnten nicht mehr in Pflegefamilien abgegeben werden, da die Pflegemütter nicht über genügend pädagogische Fähigkeiten verfügten, um diesen Kinder gerecht zu werden. Das deckte sich mit den Wünschen der Pflegemütter, die oft kein Schulkind mehr aufnehmen wollten. Die Pflegemütter Jede volljährige verheiratete oder ledige Frau konnte ein Pflegekind aufnehmen. Die Voraussetzungen dafür waren, dass sie finanziell abgesichert und nicht auf das Pflegegeld angewiesen waren, alle Familienmitglieder gesund waren, eine ordentliche Lebensführung gegeben war, die Wohnung sauber, ordentlich und groß genug war und sie nicht durch Berufstätigkeit beansprucht wurde. Den Frauen war es nicht möglich, das Pflegekind selbst auszusuchen, aber sie konnten ihre Wünsche bezüglich Alter und Geschlecht des Kindes äußern. Das Alter der Frauen lag zwischen 23 und 62 Jahren. Der überwiegende Teil der Pflegeväter ging in der Stadt einer qualifizierten Arbeit nach – sie kamen ausschließlich aus den besser gestellten Schichten des Arbeiterstandes und dem Kleinbürgertum und aus geordneten Familienverhältnissen. Die Pflegemütter hatten zum großen Teil auch leibliche Kinder, die aber selten im Schulalter, sondern oftmals schon erwachsen waren. 65 Unter den vielen verschiedenen Gründen, die die Pflegemütter genannt hatten, ließen sich hauptsächlich drei Gruppen unterscheiden: 1. Persönliche Beweggründe der Frauen 2. Im Interesse des eigenen Kindes oder der eigenen Familie 3. Finanzielle Beweggründe Die Frauen nannten meist nicht nur einen Grund, sondern mehrere. Bei Doppelmotiven oder der Kombination von Motiven und Gründen, war es schwierig, zwischen dem Hauptmotiv und dem Nebenmotiv zu unterscheiden. Entscheidend war die zeitliche Aufeinanderfolge. Aus den Erzählungen der Pflegemütter konnte man entnehmen, dass Überlegungen und Festsstellungen der Aufnahme eines Pflegekindes vorausgingen. Man unterschied drei Gruppen: I: Aus dem Familienleben heraus machten sich Bedürfnisse bemerkbar, dass sich die Frau, der Mann oder das Kind einsam fühlten. Man überlegte und prüfte die eigene familiäre Situation, um sich bei der Behörde nach einem Pflegekind zu erkundigen. IIa: Das Bedürfnis nach einem Kind war nicht so stark ausgeprägt, man brauchte einen äußeren Anlass, um bereit für ein Pflegekind zu sein. IIb: Durch eine Veranlassung von außen bekam eine Familie die sich bisher noch keine Gedanken darüber gemacht hatte, den Anreiz über die Aufnahme eines Pflegkindes nachzudenken. Werden die äußeren Verhältnisse als gut befunden, wird ein Pflegekind aufgenommen. III: Durch das Angewiesen sein auf ein weiteres Gehalt, wird über die Aufnahme eines Pflegekindes nachgedacht. Die Pflege eines Kindes erscheint angebrachter zu sein als andere Arbeit. Man erhofft sich auch einen Vorteil für das eigene Kind. Ich möchte mich auf die Motivationen der Frauen, die zur Aufnahme eines Kindes geführt haben, beschränken, da dies für das Thema meiner Arbeit am wesentlichsten ist. 66 3.5.1. Persönliche Beweggründe der Frau Ein wesentlicher Grund der Frauen war das Bedürfnis nach Gesellschaft. Entweder hatten sie keine eigenen Kinder oder diese waren schon groß, und die Frauen fühlten sich einsam. Ihre Männer arbeiteten tagsüber, die Frauen blieben zu Hause und kümmerten sich um den Haushalt. Auf die Frage nach dem „Warum“ antworteten einige Frauen: „Den ganzen Tag weiß man eh nicht, was man anfangen soll in der Einschicht“. (zit. n. Danziger;1930: S. 22/23) „Ein Hund in einer Zimmer- und Küchenwohnung, das ist nichts, und wenn man ein Kind nimmt, tut man wenigstens was Gutes“. (ebd., S. 22/23) „Ich bin den ganzen Tag allein, der Mann kommt oft zum Mittagessen nicht nach Haus. Ich habe eine schöne Wohnung, Arbeit ist ja genug, aber dass halt was Lebendiges im Haus ist“. (ebd., S. 22/23) „Mir war immer so die Zeit lang, die Tochter ist in die Lehr´ gegangen, da war mir fad. Ich hab´ auf der Hauptstraße ein eigenes Haus.“ (ebd., S. 28) Manche Frauen konnten keine eigenen Kinder oder nach einer schweren Entbindung keine weiteren Kinder mehr bekommen und hatten aber weiterhin einen Kinderwunsch. Für sie war es eine Möglichkeit, ihren Kinderwunsch zu erfüllen. „Ich habe ja keine Aussicht auf Kinder“. (zit. n. Danziger, 1930: S. 23) „Der Mann hat so gern kleine Kinder. Ich hab´ nur das eine Kind und ich hab´ immer so gejammert, dass ich noch ein Kind möchte, da hat der Doktor gesagt, ich soll mir ein Kind von da nehmen.“ (ebd., S. 23) „Ich hab´ eine schwere Entbindung gehabt und ich war in der Klinik beim Primar, beim Peham, und der sagte, wenn ich will, dass der Bub seine Mutter behält, dann darf ich nicht.“ (ebd., S. 7) Nicht nur bei Unfruchtbarkeit oder nach einer schweren Entbindung konnten sich einige Frauen kein eigenes Kind mehr vorstellen, sondern auch dann, wenn ihnen ein Kind gestorben war und sie Angst hatten, dass es wieder geschehen konnte. „Ich hab´ nämlich ein eigenes Kind gehabt, das ist mir gestorben mit 3 Jahren.“ – Ist das schon lange her? – „4Jahre, und gleich wie das Kind ge67 storben ist, hab´ ich mir gedacht, ich nehm´ mir halt dann ein fremdes.“ – Selber wollen Sie keins mehr? – „Nein, vielleicht stirbt es wieder.“ (zit. n. Danziger, 1930: S. 28) „Wir haben immer schon gerne Kinder gehabt. Der Sohn mit 19 Jahren ist uns gestorben, die zwei Enkerl, die wir aufgezogen haben, sind gestorben. Alle haben geheiratet und da war alles so leer, da hab´ ich mir gedacht, ich nehm´ mir ein Kind, dass ich ein bissel Zerstreuung hab`. Sonst müsst´ ich den ganzen Tag am Friedhof sitzen.“ (ebd., S. 47) Die Motivation aus den persönlichen Gründen der Frauen erwies sich als die tragfähigste Motivation und war am stärksten vertreten. Die Erwartungen der Frauen an das Pflegekind bezogen sich nur auf die Bedürfnisbefriedigung (z.B. bei Einsamkeit ein Kind zu haben, das ihnen Freude bereitet). Eine persönliche Bindung an das Kind kann erfolgen und die Pflegemutter kann sich dem Kind weitgehend anpassen. 3.5.2. Im Interesse des eigenen Kindes oder der eigenen Familie Die Motive im Interesse des eigenen Kindes sind meist pädagogischen Ursprungs. Es geht um die Überlegungen, dass ein Kind alleine „nicht taugt“ (zit. n. Danziger, 1930: S. 23) und, dass die Erziehung von mehreren Kindern gleichzeitig einfacher wäre. „Im Haus haben so viele eins und mein Mädel ist immer allein und da will sie halt immer hinaus, und so sag´ ich eben, bleib nur heroben, du kriegst schon ein Schwesterl.“ (zit. n. Danziger, 1930: S. 23) „Damit meiner wen zum Spielen hat.“ (ebd., S. 23) „Der Bub tut mich sekieren, er will wen zum Spielen.“ (ebd., S. 23) Auf die Frage, warum sie kein eigenes Kind mehr bekommen, antworteten die Frauen, dass die wirtschaftliche Lage es ihnen nicht ermöglichte, noch ein eigenes Kind zu bekommen. Für ein eigenes Kind zahlte man das ganze Leben und für ein Pflegekind nur bis etwa 20 Jahre. Außerdem tut man bei einem Pflegekind noch etwas Gutes. Die Motivation des Spielgefährten erweist sich als weniger tragfähig, weil das Kind nicht um seiner selbst Willen, sondern nur wegen des leiblichen Kindes 68 angenommen wird. Es bestehen Anforderungen an das Pflegekind. Kann es diese Anforderungen erfüllen, ist alles in Ordnung. Kann es sie aber nicht erfüllen, ist die Pflegemutter enttäuscht und es kann sich keine natürliche und freundliche Bindung entwickeln. 3.5.3. Finanzielle Beweggründe Bei manchen Frauen standen die finanziellen Gründe im Vordergrund, sie erhofften sich einen finanziellen Vorteil von einem Pflegekind. Einige Frauen verdienten eigenes Geld (z.B. als Strickerin), aber es reichte nicht aus und man wollte mit dem Pflegegeld einen kleinen Zusatzverdienst haben. Durch die ungezwungene Art der Befragung gaben die Frauen auch hierzu Auskunft. In einem amtlichen Gespräch hätten sie darauf nicht antworten können, denn dann wäre ihnen kein Pflegekind anvertraut worden. „Weil ich so allein bin. Ich habe einen Lebensgefährten gehabt, aber der ist gestorben. Und damit man sich halt besser durchwurstelt.“ (zit. n. Danziger, 1930: S. 24/25). „Dass ich nicht die andere Arbeit machen brauch. So ein Kind geht schon mit.“ (ebd., S. 24/25) „No ja, das Geld kriegt man auf einmal. – Es ist aber doch nicht viel. – No ja, bei einem großen Kind geht das Essen schon mit, für ein kleineres muss man extra etwas kochen.“ (ebd., S. 24/25). Das Geldmotiv wurde am seltensten genannt. Es bestand aber die Vermutung, dass manche Mütter als Grund einen Spielgefährten für ihr Kind angaben und eigentlich aus finanziellen Gründen ein Pflegekind aufnehmen wollten, obwohl das Pfleggeld sehr gering war. Auch bei dieser Gruppe wurde das Kind nicht um seiner selbst Willen angenommen, sondern nur wegen des finanziellen Vorteils, den man sich versprach. Die Zufriedenheit der Pflegemutter war nicht abhängig vom Wesen des Kindes, sondern nur von den wirtschaftlichen Verhältnissen. Eine persönliche Bindung zu dem Kind konnte nicht aufgebaut werden. Die Motivation aus finanziellen Gründen erwies sich als noch weniger tragfähig, als das Motiv „Spielgefährte“. 69 3.5.4. Äußere Beweggründe Durch Pflegekinder im näheren Umfeld der Frauen wurden manche Frauen in ihrem Vorhaben, ein eigenes Pflegekind aufzunehmen, bestätigt. Das Beispiel Anderer ermutigte sie, sich über ein Pflegekind zu informieren oder es auch selbst zu versuchen. „Na ja (lacht), ich hab´ eine Verwandte, die hat Pflegekinder und die war auf Besuch da, und da hab´ ich mir gedacht, ich werd´ es auch versuchen.“ (zit. n. Danziger, 1930: S. 28) Nicht nur durch die Vorbildfunktion von Anderen, sondern auch durch Einladung von anderen Pflegeeltern oder der Fürsorge konnten neue Pflegeeltern gewonnen werden. „Weil bei uns haben sehr viele Leute Kinder, so Gemeindekinder. Und da haben uns die Leut´, die was nah bei uns wohnen g´fragt, ob wir denn nicht auch eins wollen.“ (zit. n. Danziger, 1930: S. 25) Zusammenfassung: Die Frauen oder Familien, die ein Pflegekind aufnahmen, stammten nicht aus den armen Schichten, sondern fast ausschließlich aus den besser verdienenden Schichten des Arbeiterstandes oder des Kleinbürgertums. Die Männer verdienten genug Geld um die Familien zu ernähren und sie waren auf ein zusätzliches Gehalt der Frauen nicht angewiesen. Es handelte sich meistens um kleine Familien, oft auch ohne eigene Kinder. Die Motivationsgründe, die zur Aufnahme eines fremden Kindes führten, waren hauptsächlich psychologische Gründe. Zum einen ging es um die persönlichen Gründe der Frauen, wie etwa Einsamkeit oder der Wunsch nach einem Kind, zum anderen um die soziale Entwicklung der eigenen Kinder, sie sollten nicht alleine aufwachsen. Wünsche der Pflegemütter bezogen sich hauptsächlich auf das Alter und das Geschlecht der Kinder, wobei Mädchen und jüngere Kinder bevorzugt wurden, was persönliche und erzieherische Gründe hatte. Man kann sagen, dass die Wahl des Geschlechts eher familienpolitische Gründe und das Alter des Kindes eher praktische Gründe hatte. 70 Die Aufnahme des Kindes in die Pflegefamilie gestaltete sich in der Regel sehr günstig, da sich die Familien das Pflegekind wünschten. Die Motive der Frauen, die dann zur Aufnahme eines Pflegekindes geführt haben, waren auch ganz wesentlich für das Verhältnis der Pflegemutter gegenüber dem Pflegekind. Wurde das Kind aus persönlichen Gründen heraus aufgenommen, entwickelte sich eine sehr gute Beziehung zwischen Pflegemutter und Pflegekind, die Lotte Danziger den Typ A1 nannte. Hierbei bestand eine große Zuneigung, liebevolles Verständnis, Mitleid und eine sorgfältige Pflege für das Kind, wobei selbst Opfer gebracht wurden. Die Erziehung wurde mit Nachsicht geführt und die Trennung vom Kind wäre äußerst schmerzhaft. Das Motiv des Spielgefährten für das eigene Kind wurde als Typ A2 eingeordnet. Auch hierbei waren die Pflegmütter voller Zuneigung, Verständnis, Mitleid und Opferbereitschaft für die Pflegekinder. Die Erziehung wurde auf pädagogischer Grundlage geführt, sie waren den eigenen Kinder gleichgestellt, aber eine Trennung vom Kind löste keine Katastrophe aus, sondern wurde lediglich bedauerlich empfunden. Schwieriger war es, wenn die Kinder aus dem Geldmotiv heraus aufgenommen wurden. Hierbei unterschied man zwischen dem Typ B1 und dem Typ B2. Bei dem Typ B1 bestand keine persönliche Zuneigung zu dem Kind, trotzdem wurde dem Kind Verständnis, Mitleid und eine pädagogische Erziehung gewährt. Die Ausgaben für das Kind durften das Pflegegeld nicht wesentlich überschreiten und die Trennung vom Kind fiel leicht. Der Unterschied zu Typ B2 bestand darin, dass die Kinder hier kein Verständnis, Mitleid oder persönliche Zuneigung erfuhren. Es bestand eine pädagogisch falsche Einstellung, es gab keine Bereitschaft zu materiellen oder persönlichen Opfern und das Kind wurde bald wieder an die Fürsorgestelle zurückgestellt. Das Kind wurde nicht um seiner selbst Willen angenommen, sondern nur um den kleinen Vorteil, den man sich durch das Pflegegeld erhoffte. Es bestanden verschiedene Faktoren, die die Beziehung der Pflegemutter zu dem Pflegekind beeinflussen könnten: 1. Das Kind: Wenn das Kind Störungen in der geistigen und körperlichen Entwicklung hatte und Besonderheiten im Sozialverhalten aufzeigte. 71 2. Die Herkunftseltern: Die Herkunftseltern hatten das Recht ihre Kinder regelmäßig zu besuchen. Durch diese Besuchskontakte waren Probleme in der neuen Familie vorprogrammiert. Danziger stellte in ihrer Studie die Vermutung auf, dass es für die Beziehung zwischen Pflegemutter und Pflegekind am sinnvollsten sei, wenn wenig oder gar kein Kontakt zur Herkunftsfamilie bestand. 3. Motivation der Frauen: Die Motive, die aus dem persönlichen Bedürfnis der Frau heraus entstanden, erwiesen sich als die tragfähigsten Motive. Erwartungen an das Kind waren lediglich, dass die Mütter Freude an ihnen haben wollten und so waren die Bedingungen für eine gute und persönliche Beziehung erfüllt. Das Motiv Spielgefährte erwies sich als wenig tragfähig, weil das Kind nicht um seiner selbst Willen, sondern ausschließlich dem leiblichen Kind zuliebe angenommen wurde. Noch ungünstiger zeigte sich die Beziehung beim Geldmotiv. Das Motiv des finanziellen Vorteils – das Geldmotiv – war von allen Motiven dasjenige, welches sich als am wenigsten tragfähig erwies. 4. Wünsche der Frau bezüglich des Kindes: Wünsche zum Geschlecht und Alter der Kinder hatte bei Nichterfüllung nicht den Einfluss, den die Forscherinnen vermutet hatten. 5. Erlebnisse der Frau mit früheren Pflegekindern: Die Erinnerung an ein ehemaliges Pflegekind konnte die Beziehung zu dem neuen Pflegekind erheblich beeinflussen, gerade wenn die Beziehung eine sehr gute war. Es kam zu einem Vergleich der beiden Kinder. 6. Das Wesen der Frau: Der „Faktor der individuellen Eigenart“ beeinflusste selbstverständlich auch die Beziehung zwischen Pflegemutter und Pflegekind. Die meisten dieser Faktoren konnten nicht ausgeschaltet oder eingeschränkt werden und waren in den gegebenen Verhältnissen begründet. In der Studie wurden verschiedene Rückstellungsgründe angegeben, beispielsweise geistige Zurückgebliebenheit, körperliche Schwächen, Unreinlichkeit, Einmischen fremder Personen, Erziehungsschwierigkeiten, Schwierigkeiten beim Eingewöhnen oder sexuelle Frühreife. 72 3.6. Verschiedene Motivationen von Pflegeeltern (Blandow, 1972; Rollendiskrepanzen in der Pflegefamilie) Die Untersuchung von Blandow fand in der Zeit von 1967 bis 1970, hauptsächlich mit Kindern, die im Rahmen von öffentlichen Maßnahmen in eine fremde Familie vermittelt und in einer Dauerpflegestelle untergebracht wurden, statt. Kinder, die nach privaten Vereinbarungen in fremden Familien oder bei Verwandten untergebracht waren, konnten nicht berücksichtigt werden. Die Merkmale der Pflegeverhältnisse in Dauerpflegestellen waren: - die Vermittlung des Kindes erfolgte durch das Jugendamt im Rahmen der öffentlichen Erziehung, - die Pflegefamilie und das Pflegekind kannten sich vorher nicht, - die Pflegeeltern erhielten ein Pflegegeld durch das Jugendamt, - die Dauer des Pflegeverhältnisses war auf eine längere Zeit angelegt – mindestens bis zum 16. Lebensjahr des Kindes. Die Daten stammten aus den Akten der Jugendämter und zum Teil aus Interviews mit den Pflegemüttern. Die Kinder kamen überwiegend in eine vollständige Familie. Nur ein geringer Anteil wurde zu einer alleinstehenden Pflegemutter vermittelt. Angaben zur Berufstätigkeit der Frauen konnten aus den Interviews der Pflegemütter entnommen werden. Etwa 16,8% der Frauen waren unterschiedlich lange berufstätig, meist nur während der Schulzeit der Kinder oder in den Abendstunden, wobei die Kinder dann von den Pflegevätern beaufsichtigt wurden. Nur in drei Fällen war die Pflegemutter ganztags berufstätig und die Kinder wurden durch andere erwachsene Personen betreut. In der Gesamtbevölkerung gingen über die Hälfte der Frauen einer Vollzeitbeschäftigung nach. Die Pflegekinder wuchsen häufiger in einer vollständigen Familie mit Anwesenheit der Mütter auf, als eigene leibliche Kinder. Die Pflegefamilien stammten zumeist aus den unteren sozialen Schichten, der ungelernten und angelernten Arbeiter. Von Eltern in gehobeneren Schichten wurden eher kleine Kinder aufgenommen, die adoptiert werden konnten, was aus psychologischen Überlegungen heraus geschah. Die Anzahl der eigenen Kinder in den Familien war unterschiedlich. In etwa 50% der Fälle hatten die Pflegeeltern keine eigenen Kinder, rund 25% hatten 73 ein leibliches Kind und bei etwa jedem siebten Pflegekind gab es mindestens zwei leibliche Kinder in der Familie. 3.6.1. Rolle der Mutter und Rolle der Pflegemutter Die „Pflegemutter-Rolle“ weicht ganz wesentlich von der kulturellen „MutterRolle“ ab. Die „Mutter-Rolle“ wird als eine personenbezogene Rolle definiert, der kulturelle Normen zugrunde liegen. Man bezieht kulturelle Normen auf einen bestimmten Personenkreis, der nicht ohne weiteres einfach ausgetauscht werden kann. Was diese Rolle beinhaltet, welche Bestandteile zur Erfüllung der Rolle dazugehören, hat die junge Mutter bewusst oder unbewusst verinnerlicht, auch wenn sie Vieles noch lernen muss. Die „Mutter-Rolle“ ist eine biologische und sozial fundierte Rolle, wobei die biologische Fundierung ein wichtiger Bestandteil der Rolle ist und zum Inhalt der normativen Erwartung gehört. Sie wird frühzeitig im Sozialisationsprozess vorbereitet und führt dazu, dass der Rolleninhaber sich stark mit der Rolle identifiziert und auseinandersetzt. Durch die unterschiedliche Identifizierung mit der Rolle unterscheidet sich die „Mutter-Rolle“ eines Säuglings von der „Mutter-Rolle“ eines Jugendlichen. Das Rollenverhalten orientiert sich anders, je nachdem welche Bezugsperson in einer Interaktionssituation relevant ist. Als wichtigste Aufgabe der Mutter wird die Sozialisation des Kindes gesehen. Durch das Vorbild der Eltern soll das Kind lernen, die „Kindes-Rolle“ und später die „Erwachsenen-Rolle“ zu übernehmen. Als „gute Mutter“ empfindet man die Mütter, die ihre Kinder lieben, für sie sorgen und ihnen gegenüber verständnisvoll sind. Die Mutterschaft wird sehr stark wertgeschätzt. Bei der Pflegemutter sieht dies ein wenig anders aus. Bei der Übernahme der „Mutter-Rolle“ fehlen der Pflegemutter die biologischen und psychologischen Merkmale. Durch das Fehlen der Schwangerschaft fehlt auch die damit verbundene psychische und soziale Vorbereitung auf das Kind. Gerade bei Frauen, die selbst kein Kind bekommen können, kann das Gefühl der Beeinträchtigung gegenüber den leiblichen Müttern entstehen. Die „Mutter-Rolle“ ist doch sehr 74 eng mit „Fruchtbarkeit“ verknüpft. Erfülltes Frau sein wird kulturell oft nur mit Ehe und Mutterschaft akzeptiert. Die Funktion der Pflegemutter ähnelt der der leiblichen Mutter. Das Pflegekind hat seine Sozialisation von anderen Menschen (leiblichen Eltern und Familie) vermittelt bekommen. Der Pflegemutter fällt die Aufgabe zu, die beschädigte Grundlage der Sozialisation neu zu ordnen. Falls das Kind schon bestimmte soziale Rollen erlernt hat und diese von der Erwartung der Pflegemutter abweichen, muss die Pflegemutter in der Lage sein, die gelernte Rolle zu verändern oder zu akzeptieren. Von der Pflegemutter wird erwartet, dass sie Hilfe zum Nachlernen und Umlernen von Rollen, ebenso wie Hilfe zur Erreichung der Sozialisations-Fähigkeit leistet. Hinzu kommt noch, dass die Pflegeeltern viele Entscheidungen nicht alleine treffen können, sondern Behörden, leibliche Eltern oder sonstige Verwandte des Kindes ein Mitspracherecht besitzen. Einer Pflegemutter wird eine andere Wertschätzung entgegengebracht, als der leiblichen Mutter. Ihre Tätigkeit (Rolle) wird nicht als selbstverständlich angesehen, sondern man begegnet ihr mit einer Mischung aus Hochachtung und Misstrauen. Dieses ambivalente Verhalten gründet sich zum einen auf die schwere Aufgabe und die Opferbereitschaft, zum anderen auf Misstrauen, dass diese Bereitschaft aus finanziellen und wirtschaftlichen Motiven besteht. Die Pflegemutter muss in Gesprächen mit Behörden ihre Motive für den Wunsch nach einem Pflegekind, ihre finanzielle Lage und ihre Ehe offen legen, damit ihre Eignung als Pflegemutter geprüft werden kann. Mütter brauchen dies nicht – Mutter kann jede werden, ohne Überprüfung oder Eignung. Das Ziel einer Pflegefamilie ist es, das Pflegekind so zu erziehen, dass es reibungslos wieder zurück in die Herkunftsfamilie gehen kann. Für die Pflegemutter und den Pflegevater heißt es, dass sie eventuell damit rechnen müssen, dass das Pflegekind wieder zu seinen leiblichen Eltern zurückkehrt. Sie sind Pflegeeltern auf Zeit. 75 3.6.2. Das Selbst-Konzept der Pflegemutter Erschwerend ist auch, dass es für die Pflegemutter kein einheitliches und allgemeingültiges Rollenmodell gibt. Sie ist darauf angewiesen, ein eigenes Konzept ihrer Rolle zu finden, das „Selbst-Konzept der Pflegemutter“. Damit gemeint sind, die auf Werten und Regeln basierenden Einstellungen und Verhaltensweisen, die die Pflegemutter für ihre Rolle verinnerlicht hat. Als Motivation der Pflegemutter, hinsichtlich der Aufnahme eines Pflegekindes, bezeichnet man auch die normative Orientierung, die der mit der Persönlichkeit der Pflegemutter verbundenen Orientierung, gegenübersteht. Das „Selbst-Konzept“ der leiblichen Mutter ist durch die normative Festlegung, von dem, was in der jeweiligen Kultur unter der „Mutter-Rolle“ verstanden wird, festgelegt. Sie verändert sich mit der Entwicklung des Kindes. Die Pflegemutter hat die Möglichkeit, sich über die „Mutter-Rolle“ oder ganz bewusst als Pflegemutter zu definieren. Da es aber keine verbindliche kulturelle „Pflegemutter-Rolle“ gibt, muss sie sich z.B. an der Rolle des professionellen Erziehers oder Arbeitgebers orientieren. Ein solches Rollenmodell würde auf „Herrschaftsnormen“ beruhen. Es besteht ein Unterschied im Verhältnis zum Kind zwischen Pflegemüttern, die sich an der „Mutter-Rolle“ und denen, die sich an „Herrschaftsnormen“ orientieren. Pflegemütter, die sich über die „Mutter-Rolle“ definieren, setzen ihre Beziehung zu dem Pflegekind der Beziehung einer Mutter zu ihrem leiblichen Kind, gleich. Sie sehen sich quasi als leibliche Mutter des Kindes an. Sie haben in ihrem Sozialisationsprozess die Werte und Normen der „Mutter-Rolle“ übernommen und setzen sie in ihrer Pflegemutter-Pflegekind Beziehung um. Diese Aufgabe wird als natürliche Verpflichtung angesehen. Pflegemütter, die in einer beruflichen Beziehung zu dem Pflegekind stehen, sehen ihre Rolle und Verpflichtung in einem gewissen Zeitrahmen und zu einem bestimmten Zweck. Wichtig ist, an welchem beruflichen Modell sich die Pflegmutter orientiert. Bei dem Modell auf der Basis eines professionellen Erziehers hat sie eine beruflich-pädagogische Aufgabe zu erfüllen, bei dem Modell des Arbeitgebers hat sie für eine genau definierte empfangene Leistung eine genau definierte Gegenleistung zu erbringen. Der Unterschied wird in dem unter76 schiedlichen Handeln dem Kind gegenüber deutlich. Pflegemütter, die sich an der Rolle des professionellen Erziehers orientieren, sehen ihre Aufgabe darin, dem Kind helfend und unterstützend bei Schwierigkeiten zur Seite zu stehen, man nennt dies das „Helfer-Konzept“. Bei Pflegemüttern, die sich als Arbeitgeber definieren, steht die Lösung und Vermeidung eigener Schwierigkeiten im Vordergrund, die Bezeichnung dafür lautet „Gib-und-Nimm-Konzept“. Es gibt noch eine dritte Rollenmöglichkeit: Pflegemütter, die sich als „Ersatzmütter“ - für einen gewissen Zeitraum - für das Pflegekind sehen. Sie orientieren sich ebenfalls an der klassischen „Mutter-Rolle“, planen aber schon eine zeitliche Begrenzung ihrer Rolle und Aufgaben ein. Sie ersetzen die leibliche Mutter für eine gewisse Zeit. Sie erheben keinen Anspruch auf das Pflegekind als eigenes Kind, sondern wünschen sich lediglich ein Kind, das sie wie eine Mutter betreuen können. Man spricht dabei von einem „Ersatz-Mutter-Konzept“. Durch die Entscheidung der Pflegemutter für ein bestimmtes „Selbst-Konzept“ wird dem Kind eine bestimmte komplementäre soziale Rolle zugewiesen. Wesentlich ist, ob das Kind bereit ist, diese Rolle angemessen auszufüllen. Aber auch an die Pflegemutter stellt jedes Selbst-Konzept unterschiedliche Anforderungen, im Hinblick auf die elterlichen Kompetenzen und Fähigkeiten. Bei dem „Mutter-Konzept“ erwartet die Pflegemutter ein Kind, das sich im Wesentlichen in der kulturell vorgegebenen Kinderrolle bewegt. Durch diesen kulturell vorgegebenen Rahmen und Spielraum sind die Grenzen, in denen sich das Kind bewegen kann und darf, und in denen die Pflegemutter zu der Befriedigung der kindlichen Bedürfnisse bereit ist, festgelegt. Das Pflegekind sollte noch so offen sein, dass es die „Kindes-Rolle“ übernehmen kann, die „KindesRolle“ beherrschen kann oder aber bereit ist, die für es vorgesehene Rolle anzunehmen. Schwierig kann es da werden, wo das Kind eine Rolle gelernt hat, die von der kulturellen „Kindes-Rolle“ abweicht und wo es sich anders verhält, als man es von ihm erwartet. Eine wesentliche Voraussetzung für die Kinder, um die „Kindes-Rolle“ übernehmen zu können, ist die Entwicklung und das Vorhandensein von Urvertrau77 en. Machen die Kinder die Erfahrung, dass ihre eigenen Bedürfnisse angemessen befriedigt werden, können sie Urvertrauen aufbauen. Besteht diese Möglichkeit nicht, können Störungen in der Übernahme der „Kindes-Rolle“ entstehen. Die Pflegemutter kann sich bei dem „Mutter-Konzept“ innerhalb der kulturellen „Mutter-Rolle“ bewegen. Das „Helfer-Konzept“ stellt keine Anforderungen an die Kinder. Das Verhältnis zu dem Kind wird professionell betrachtet und Abweichungen von der „KindesRolle“ haben keine Bedeutung. Die Pflegemutter sollte in der Lage sein, die anstehenden Probleme in der für das Kind einsichtigen emotionalen und kognitiven Weise zu lösen. Der Pflegeerfolg hängt hier maßgeblich von der Fähigkeit der Pflegemutter ab. In dem „Gib-und-Nimm-Konzept“ versteht sich die Pflegemutter als Arbeitgeber des Kindes, sie stehen in einem Arbeitsverhältnis zueinander. Von dem Pflegekind wird die Bereitschaft erwartet, die geforderten Leistungen eines Arbeitnehmers zu erbringen. Da viele Pflegekinder nicht bereit und auch nicht in der Lage sind, so hohe an sie gestellte Leistungsanforderungen erfüllen zu können, kann dies zu Rollendiskrepanzen zwischen Pflegemutter und Pflegekind führen. 3.6.3. Motivation für die Pflegemutterschaft Die Angaben über die Gründe, die zur Aufnahme eines Pflegekindes führten, stammten aus den Akten des Jugendamtes, wo die Eltern bei der Antragstellung zu diesem Thema befragt wurden und auch aus den Interviews, die mit den Pflegemüttern selbst zu diesem Thema geführt wurden. Die Eltern gaben relativ unreflektierte Angaben zur Motivation im Gespräch mit den Jugendämter an, da sie zu der Zeit noch nicht wussten, worauf es den Behörden eigentlich ankam. Die Pflegeeltern waren sich meist aber nur über das Hauptmotiv bewusst. In den Interviews wurde durch ein offenes Gespräch und mit Hilfe einer Liste, auf der die üblichen Motivationsgründe benannt wurden, versucht, die Motivati78 onen zu ergründen. Es war aber nicht möglich, die „tieferen Gründe“ festzustellen. In der Literatur findet sich keine Definition darüber, was genau mit der Motivation gemeint ist. Man geht davon aus, dass es sich dabei um die Erwartungen der Pflegemutter handelt, die zur Aufnahme eines Pflegekindes geführt hat. Die Erwartungen können sehr unterschiedlicher Art sein. Alle Pflegemütter haben eins gemeinsam, sie leiden aus unterschiedlichen Gründen an dem Fehlen eines Kindes. Ihr Wunsch ist es, das Erlebnis von Deprivation in Bezug auf absolute oder relative Kinderlosigkeit in einen Zustand zu ändern, bei dem die Deprivation durch ein Kind aufgehoben wird - von einem „Ist-Zustand“ zu einem „Soll-Zustand“. Die Motivation der Pflegemutter in Bezug auf die Aufnahme eines Pflegekindes meint also die affektive Erwartung, dass durch die Aufnahme eines Pflegekindes, das als Deprivation empfundene Missverhältnis zwischen der Kinderlosigkeit und dem Wunsch nach einem Kind ausgeglichen wird. Die Bereiche, in denen das Fehlen eines Kindes zu einem Deprivationserlebnis führen kann, sind der kulturelle-soziale, der familiäre, der persönliche und der wirtschaftliche Bereich. Man unterscheidet diese vier unterschiedlichen Deprivationen, sowie die Motivationen die dahinter stehen und die zur Aufnahme eines Kindes geführt haben. Motivationen, die auf kultureller Deprivation beruhen: Mutterschaft gehört zu den allgemein geltenden Werten und das Fehlen wird als oft als Deprivation erlebt. Die kulturelle Deprivation bezieht sich auf das Gefühl einer Widersprüchlichkeit zwischen der kulturellen und verinnerlichten Mutterschaft und dem Zustand der eigenen Kinderlosigkeit. Die Motivation, die sich hierauf begründet, ist die affektive Erwartung der Pflegemutter, dass sich mit der Aufnahme eines Pflegekindes diese Widersprüchlichkeit auflöst. Bleiben der Frau im außerfamiliären Bereich nicht genügend andere Rollen, außer der Mutterrolle, wird die Motivation immer stärker, ein fremdes Kind aufzunehmen. Meist haben die Frauen aus der Unterschicht mit kultureller Deprivation zu kämpfen, da aufgrund schichtspezifischer Einstellungen und Haltungen sowie 79 sozialer Verhältnisse für die Frauen keine oder wenige außerfamiliäre Rollen vorgesehen sind, die die Frauen befriedigen. Bei Familien mit einem Kind kann das Bedürfnis der Frau nach Mutterschaft ebenfalls nicht erfüllt sein, da zum traditionellen Rollenbild der Mutter zwei oder drei Kinder gehören, was auch häufiger in der Unterschicht vorkommt. Die Aufnahme eines Pflegekindes kann auch aus dem Grund erfolgen, dass die eigenen Kinder schon erwachsen und aus dem Haus sind. Da, wo in der Familie ein Kind ganz fehlt, wird die Deprivation am stärksten empfunden. Die Fähigkeiten der Pflegemutter, sich ohne Voraussetzungen dem Pflegekind zuzuwenden und seine Bedürfnisse zu erkennen um sie mit ihren eigenen Bedürfnissen in Einklang zu bringen, sind nicht grundsätzlich eingeschränkt. Ganz unabhängig vom Verhalten des Kindes ist hier von einer geringen Rollendiskrepanz auszugehen. Motivationen, die auf familiärer Deprivation beruhen: Zu den kulturellen Wertvorstellungen im privaten und familiären Bereich gehören Ehe, Familie und Elternschaft. Gibt es Störungen in diesen Bereichen, wird dies oft als Deprivation empfunden. Eine „familiäre Deprivation“ ist das Gefühl eines Missverhältnisses zwischen dem Anspruch auf ein erfülltes Leben im Ehe- und Familienbereich und dem tatsächlichen Zustand dieser Situation. Die sich hierauf begründende Motivation ist die affektive Erwartung der Frau, dass durch die Aufnahme eines Pflegekindes dieser Zustand wieder in Ordnung gebracht wird. Durch das Pflegekind soll die Beziehung wieder gekittet werden oder das eigene Kind einen Spielgefährten bekommen. Die Motivation, in dieser Situation ein Kind anzunehmen, ist dringlicher und nimmt für die Personen einen größeren Rahmen ein, als bei der kulturellen Deprivation. Kinderlosigkeit hat schon zu einer Störung in der Partnerschaft geführt. Die Fähigkeit der Pflegemutter, sich auf die Bedürfnisse des Pflegekindes einzustellen, sich dabei neutral und unbefangen zu verhalten, sind eingeschränkt: durch das familiäre Defizit wird ein spezielles Problem dargestellt, dessen Lösung nur erfolgt, wenn das Kind geeignet ist, dieses Problem zu lösen. Da es ein drängendes Problem darstellt, sollte die Lösung möglichst schnell und ohne Umwege erreicht werden. 80 Motivation, die auf persönlicher Deprivation beruht: Unter einer Motivation, die auf persönlicher Deprivation beruht, versteht man das Gefühl eines Missverhältnisses von einem erstrebten Zustand von Identität und Integrität, und dem Gefühl, dieses Ziel nicht erreicht zu haben. Die Motivation dieser Frauen ist also die affektive Erwartung, wieder ein persönliches Gleichgewicht durch ein Pflegekind zu erreichen. Hierzu zählen Frauen, die Schuldgefühle wegen eines Schwangerschaftsabbruches oder wegen der vermeintlichen Schuld am Tode eines Kindes haben, ein traumatisches Deprivations-Erlebnis. Der Unterschied zu den anderen Gruppen besteht darin, dass es sich hier um individuelle Beeinträchtigungen aus der eigenen Lebensgeschichte, handelt. Die Motivation wird durch die Deprivation, die ein zentrales Thema für die Frau darstellt, verstärkt und der Wunsch nach einem Kind wird zu einem wichtigen Thema für die Frau. Die Anpassungsfähigkeit kann hier nicht mehr vorausgesetzt werden, da es sich um ein Problem handelt, das in der Persönlichkeit der Pflegemutter verwurzelt ist. Sie kann sich nicht von ihren eigenen Bedürfnissen distanzieren und nur auf die Bedürfnisse des Kindes eingehen. Nur, wenn es ihr gelingt, das Kind in die ihm zugedachte Rolle einzuführen, lässt sich das Problem lösen, was bei einem Säugling leichter gelingen kann, als bei einem älteren Kind. Gelingt die Einführung, können Rollendiskrepanzen vermieden werden, wenn nicht, kann es sein, dass das Kind mit Verhaltensstörungen reagiert. Motivationen, die auf wirtschaftlicher Deprivation beruhen: Das Erlebnis der Deprivation zwischen einem wirtschaftlichen Ziel und den wirtschaftlichen Fähigkeit bezeichnet man als wirtschaftliche Deprivation. Die Motivation dazu ist der Versuch, mit Hilfe eines Pflegekindes dieses wirtschaftliche Ziel zu erreichen. Es kann ein Problem im rein finanziellen Bereich sein, wofür man das Pflegegeld benötigt. Es kann aber auch die fehlende Arbeitskraft sein, wofür man ein älteres Pflegekind benötigt, als Haushaltshilfe oder auch im landwirtschaftlichen Bereich. Es handelt sich hierbei nicht um ein persönliches Problem der Pflegemutter, sondern um ein äußeres Problem. Die Motivation, gegründet auf wirtschaftlicher Deprivation, hat die schlechtesten Voraussetzungen. Die Unbefangenheit und Neutralität gegenüber dem Kind 81 sind stark eingeschränkt – man denkt an Ausnutzung und Vernachlässigung des Kindes. Die Erwartungen des Kindes sind nur auf einen Aufgabenbereich fixiert, was ein unbefangenes und neutrales Verhalten dem Kind gegenüber deutlich erschwert. Abbrüche von Pflegeverhältnissen sind oftmals die Folge. Pflegeeltern, die bei der Antragstellung zu ihrer Motivation befragt wurden, gaben meistens nur ein Hauptmotiv an. Für jede Zweite Frau war ihre absolute oder relative Kinderlosigkeit das Hauptmotiv für die Annahme eines Pflegekindes, und aus familiärer Deprivation heraus nahm jede fünfte Frau ein Kind auf. Die persönliche Deprivation war wesentlich für jede Sechste und die wirtschaftliche Deprivation für jede Zehnte. In den Interviews wurde versucht, die Motivationen der Frauen spezieller festzustellen. Zu den vier Haupt-Motivgruppen (kulturelle, familiäre, persönliche und wirtschaftliche Deprivation) entstand noch eine Gruppe mit „sozialen Motiven“ (soziale Gründe oder per Zufall das Kind kennen gelernt). Wenn die Pflegeeltern ihr Kind aus überschwänglichen religiösen oder anderen weltanschaulichen Motiven her aufnahmen, spricht man von ideologischen Motiven. Blandow schließt daraus, dass hinter diesen Motiven ein verstecktes emotionales Problem liegt. Kulturelle Deprivation alleine nannten 36% der Interviewten, aber in Kombination mit Motiven aus den anderen Gruppen waren es 49%. In den Akten der Behörden hatten 19% mehr der Pflegeeltern diesen Grund angegeben. Familiäre Deprivation allein oder gekoppelt mit kultureller Deprivation geben 43,5% der befragten Pflegemütter an. In den Interviews stellte sich heraus, dass Eheschwierigkeiten viermal so oft, wie in den Akten der Behörden, angegeben wurden. Insgesamt stellte man fest, dass nur ein Drittel der Kinder bei Pflegeeltern mit einer Motivation, die eine uneingeschränkte Zuwendung zu dem Kind beinhaltete, aufwuchsen. 82 3.6.4. Bedingungen für ein erfolgreiches Pflegeverhältnis Zu einem erfolgreichen Pflegeverhältnis gehört eine positive Rollenkomplementarität der Pflegefamilie. Diese ermöglicht positives emotionales Wachstum. Um erfolgreiche Pflegeeltern zu sein, müssen diese in der Lage sein, Rollendiskrepanzen zu überwinden oder einen Zustand positiver Komplementarität herzustellen. Wo das nicht gelingt oder wo es später zu negativer Komplementarität oder einem Abbruch kommt, spricht man von erfolglosen Pflegeeltern. Eine negative Komplementarität der Rollen ist also ebenso wie ein Abbruch des Pflegeverhältnisses als Misserfolg anzusehen. Wenn zwischen den Rollenpartnern keine Rollendiskrepanzen bestehen oder wenn es gelingt, ein positives Gleichgewicht herzustellen sind die Bedingungen für den Erfolg eines Pflegeverhältnisses gegeben. Wichtig ist auch die elterliche Kompetenz für ein erfolgreiches Pflegeverhältnis. Um eine befriedigende Beziehung unter den Partnern zu ermöglichen ist es notwendig, dass eine Rollen- und Autoritätsverteilung in der Familie besteht und eine Übereinstimmung über die Regeln des Zusammenlebens vorhanden ist. Diese Übereinstimmung muss mit der Aufnahme eines Pflegekindes neu gestaltet werden, was nur möglich ist, wenn die Mitglieder untereinander kommunizieren. Kommunikationsfähigkeit ist dabei eine wesentliche Voraussetzung. Es muss erkannt werden, was in der eigenen Person und dem Partner geschieht, das Erkannte muss verbalisiert und umgesetzt werden. Anders ausgedrückt bedeutet das, „dass […] die Pflegemutter in der Lage sein muss, die eigenen Bedürfnisse und die des Kindes zu erkennen und ihr Verhalten so einzurichten, dass wechselseitige Bedürfnisbefriedigung erreicht werden kann. Diese Fähigkeiten können zusammenfassend als „elterliche Kompetenz“ bezeichnet werden.“ (zit. n. Blandow, 1972: S. 62) Elterliche Kompetenz lässt sich in den Aspekt der Ich-Stärke (z.B. emotionale Ausgeglichenheit, situationsangepasste Steuerung des Verhaltens, Durchhaltefähigkeit, usw.) und in die Gruppe der pädagogischen Fähigkeiten (z.B. psychologisches Einfühlungsvermögen, Verständnis, Kenntnisse über die Entwicklung und Verhaltensstörungen von Kindern, usw.) unterteilen. 83 Eine wichtige Voraussetzung für die (Wieder-)Herstellung von positiver Komplementarität ist die emotionale Haltung gegenüber dem Kind. Dies gilt besonders für die Art und Weise der emotionalen Zuwendung zu dem Kind. Liebevolles Eingehen auf das Kind – die normale Zuwendung – fördert die Chance für positive Komplementarität. Bei einer offenen Ablehnung des Kindes durch die Pflegemutter ist die Herstellung einer positiven Komplementarität nicht möglich und ein Abbruch des Pflegeverhältnisses kann die Folge sein. Die Rolle der Pflegemutter in Bezug auf ihre eigene Persönlichkeit, die Situation der Ehe oder die Erwartungen an das Kind, können das Kind in ihren Augen als liebenswertes Kind erscheinen lassen oder feindselige und negative Impulse dem Kind gegenüber erzeugen. Überbehütung des Kindes oder eine perfektionistische Haltung der Pflegemutter können zu ungünstigen Reaktionen des Kindes führen. 3.6.5. Zusammenhang von Selbst-Konzepten und Motivation der Pflegemütter Das Selbstverständnis, mit dem die Pflegemutter ihre Rolle gegenüber dem Kind definiert, bezeichnet man als „Selbst-Konzept“. Der Wunsch nach einem Pflegekind, das von klein auf und nach eigenen Vorstellungen der Pflegeeltern geformt und erzogen werden kann, was für immer in der Pflegefamilie bleibt und nicht mit der leiblichen Familie des Kindes geteilt werden muss, findet sich bei dem „Mutter-Konzept“. Bei dem „Ersatz-Mutter-Konzept“ wünschen sich die Pflegeeltern möglichst ein etwas älteres Kind, das schon aus dem Gröbsten heraus ist, das kaum Kontakt zu seiner Herkunftsfamilie hat und über einen unbefristeten Zeitraum in der Pflegefamilie bleiben kann. Eine professionelle Aufgabe an dem Kind übernehmen die Pflegeeltern bei dem „Helfer-Konzept“. Hierbei richten sich Alter des Kindes, Dauer des Pflegeverhältnisses und der Umgang mit der Herkunftsfamilie nicht nach den Bedürfnissen der Eltern, sondern nach dem, was für das jeweilige Kind notwendig und wichtig ist. Eine Abweichung zur „Kindes-Rolle“ hat hier keine Bedeutung. Prob84 leme können auftreten, wenn das Kind nicht zwischen emotionaler und professioneller Zuwendung unterscheiden kann. Bei dem „Gib-und-Nimm-Konzept“ ist es genau umgekehrt. Die Pflegeeltern haben genaue Vorstellungen darüber, wie das Pflegekind altersmäßig sein soll, damit es die ihm zugedachte Aufgabe erfüllen kann (z.B. als Spielkamerad für das eigene Kind oder als Hilfe in der Landwirtschaft oder im Haushalt). Der überwiegende Teil der Pflegemütter sah sich in der Rolle der leiblichen Mutter gegenüber dem Pflegekind, und auf die Rolle des „Helfer-Konzeptes“ fielen etwa 2% der Fälle. In dem „Gib-und-Nimm-Konzept“ wurde jedes vierte Kind aufgenommen, weil es entsprechende Aufgaben innerhalb der Familie erfüllen sollte. Die Nennung nach den Motiven der Pflegemütter und deren Rangfolge weicht bei dem „Mutter-Konzept“ und dem „Ersatz-Mutter-Konzept“ nicht sehr wesentlich voneinander ab. Es gibt nur kleine Unterschiede innerhalb der genannten Rangfolge. Die interessantesten Unterschiede gibt es zum Beispiel bei: „Die Zärtlichkeit und Liebe eines süßen kleinen Babys bedeutet sehr viel für mich.“ (Mutter-Konzept an 4. , Ersatz-Mutter-Konzept an 8. Stelle) „Als Pflegemutter fühle ich mich wie eine ganze Frau.“ (Mutter-Konzept an 8. , Ersatz-Mutter-Konzept an 12,5. Stelle) „Weil ein Pflegekind meinen Mann glücklich macht, bin ich auch glücklich.“ (Mutter-Konzept an 11. , Ersatz-Mutter-Konzept an 8. Stelle) Die verschiedenen familiären und emotionalen Situationen der Pflegemütter mit einem Mutter- oder Ersatz-Mutter-Konzept werden in diesen Differenzen deutlich. Frauen ohne eigene Kinder mit dem Mutter-Konzept, finden ihre Befriedigung im Frau-Sein eher mit der Pflege und Erziehung von Babys, während ältere Frauen mit dem Ersatz-Mutter-Konzept eher ältere Kinder aufnehmen, um ihrer Ehe wieder einen neuen Sinn zu geben und sich selbst jung zu fühlen. Pflegemütter, mit einem Mutter-Konzept, definieren ihre Rollenbefriedigung durch persönliche Gratifikationen und Pflegemütter mit einem Ersatz-Mutter-Konzept definieren ihre Rollenbefriedigung eher durch soziale Gratifikationen. „Ich freue mich, etwas nützliches, eine soziale Tat zu vollbringen“ bzw. „Ich freue mich, etwas nützliches für die Gesellschaft tun zu können.“ 85 (Mutter-Konzept an 6. , Ersatz-Mutter-Konzept an 2,5. Stelle) „Ich liebe es, vor eine schwierige Aufgabe gestellt zu werden.“ (Mutter-Konzept an 9. , Ersatz-Mutter-Konzept an 7. Stelle) Die Rollenbefriedigung beim „Helfer-Konzept“ erfüllte die erwarteten Merkmale, wie z.B. Spaß an Kindern zu haben, das Bedürfnis zu helfen, eine schwere Erziehungsaufgabe zu übernehmen oder auch etwas für die Gemeinschaft zu tun. Sie gelten ebenfalls als charakteristisch für das Selbstverständnis professioneller Erzieher. Die Motivation aus Glaubensgründen heraus zeigt beim Mutter- und ErsatzMutter-Konzept kaum einen Unterschied. Lediglich beim Spielkamerad- und Landwirtschaft-Konzept ist die Anzahl der Pflegeeltern, die auch aus Glaubensgründen heraus Kinder aufnehmen, deutlich geringer. Pflegemütter mit unterschiedlichen Selbst-Konzepten und Motivationen reagierten ganz verschieden auf die Abweichungen des Kindes von der kulturellen Rolle. Die Pflegemütter, die sich am ehesten den Bedürfnissen des Pflegekindes widmeten und am wenigsten persönliche Probleme hatten, waren die Pflegemütter mit einer kulturellen Deprivation. Ihre Schwierigkeit bestand aber in der Bindung des Kindes an Angehörige seiner Herkunftsfamilie, wobei es öfter zu einem Abbruch des Pflegeverhältnisses kam. Der Unterschied zwischen Pflegemüttern mit einem Mutter-Konzept und dem Ersatz-Mutter-Konzept besteht in dem Akzeptieren der Herkunftsfamilie und dem Kontakt des Kindes zu seinen leiblichen Eltern. Bei Schwierigkeiten des Kindes reagieren Mütter mit einem „Gib-und-NimmKonzept“ öfter mit negativer Komplementarität oder Abbrüchen, als Pflegemütter mit einem Mutter-Konzept Zusammenfassung Blandow kommt zu der Erkenntnis, dass die Motivation im Blick auf den Erfolg eines Pflegeverhältnisses von größerer Bedeutung ist, als bisher angenommen wurde. Antragsteller mit ungünstigen Motivationen müssten nicht zwangsläufig abgelehnt werden. Wichtiger wäre die Klärung, inwieweit die Problematik der Pflegeeltern sie darin hinderten, auf die Bedürfnisse des Kindes einzugehen 86 und ihnen gerecht zu werden – das würde die Bereitschaft der Pflegeeltern mit den Behörden zusammenzuarbeiten, voraussetzen. Der Zusammenhang von Selbst-Konzepten und der Motivation der Pflegeeltern sind bedeutungsvoll für die Fähigkeit und Bereitschaft der Pflegeeltern, verschiedene Schwierigkeiten, die mit dem Kind auftreten können, zu tolerieren. Es müsste mehr Rücksicht auf die Erwartungen und Bedürfnisse der Pflegeeltern, im Blick auf die Stellung und Aufgabe, die das Pflegekind für sie hat, genommen werden. Dabei kommt es nicht so sehr auf die Gründe an, die zu einer Aufnahme führen, sondern mehr darauf, ob ein bestimmtes Kind die Erwartungen der jeweiligen Pflegeeltern erfüllen kann. Die Auswahl der Pflegeeltern müssten von speziell ausgebildeten Sozialarbeitern getroffen werden, die durch individuelle Erfahrungen im Umgang mit den entstehenden Problemen vertraut sind. 3.6.6. Erfolg von Pflegeverhältnissen und Gründe für die Auflösung von Pflegeverhältnissen Setzt man Misserfolg eines Pflegeverhältnisses mit einer Auflösung gleich, ergibt sich, dass die Unterbringung jedes vierten Kindes erfolglos verlief. Die Gründe dafür sind vielfältig: - Rückkehr in die Familie: Relevant hierfür ist das Alter der Kinder. 50% der Kinder konnten vor dem sechsten Lebensjahr wieder zurück zu ihrer Ursprungsfamilie. - Krankheit oder Tod der Pflegemutter: Dies geschah nur in sechs Fällen, obwohl viele Frauen erst in späteren Jahren Kinder zu sich genommen hatten und man eigentlich davon ausging, dass dies bei mehr Pflegekindern der Fall wäre. - Erziehungsschwierigkeiten: Verhaltensweisen, die den Pflegeeltern in der Nachbarschaft Schande bereiten, werden überwiegend von der unteren Mittelschicht abgelehnt. - Eheschwierigkeiten der Eltern: Abbrüche erfolgen meist nach kurzer Dauer des Pflegeverhältnisses (bis zu drei Jahren). 87 - Abbruch von Seiten der Behörde: Die Pflegeerlaubnis wird entzogen, weil das Pflegekind von den Pflegeeltern nicht ordnungsgemäß behandelt wurde. Weitere entscheidende Merkmale sind das Geschlecht und das Alter der Kinder als sie in Pflege kamen, der Lebensweg und der Entwicklungsstand der Kinder. Auch die Berufstätigkeit der Mutter und die soziale Schicht der Pflegeeltern spielen eine Rolle, ob und wie ein Pflegeverhältnis gelingen kann. Von Bedeutung ist auch das Vorhandensein leiblicher Kinder der Pflegefamilie. Davon hängt die Stellung des Pflegekindes innerhalb der Familie ab. Die Hälfte der Kinder kommt in Familien ohne leibliche Kinder, in einem Viertel treffen die Pflegekinder auf mindestens ein leibliches Kind und bei jedem siebten Pflegekind sind zwei oder mehr leibliche Kinder in der Familie vorhanden. Ein wichtiger Aspekt ist auch der Altersabstand der Kinder untereinander und der damit verbundenen Geschwisterrivalität. Bei einem Altersunterschied von einem Jahr und dem gleichen Geschlecht kommt es bei drei von vier Kindern zu einem Abbruch des Pflegeverhältnisses. Entscheidend ist das Vorhandensein leiblicher Kinder auch im Bezug auf den Erfolg des Pflegeverhältnisses. Bei Familien ohne eigene Kinder ist die Abbruchquote wesentlich kleiner als bei Familien mit eigenen Kindern. Aber auch die Störungen der Kinder übertragen sich auf den Erfolg oder den Misserfolg von Pflegeverhältnissen. Die Bereitschaft dann ein Pflegekind zu behalten ist am höchsten bei den kinderlosen Pflegeeltern. Pflegemütter mit einem Mutter-Konzept haben die niedrigste Abbruchsquote (12%) und bei Pflegemüttern mit einem Ersatz-Mutter-Konzept liegt die Abbruchsquote bei 20%. Die höchsten Abbruchsquoten haben Pflegemütter mit einem SpielkameradenKonzept (52%) und Pflegemütter mit einem Landwirtschaft-Konzept (81%), weil dabei die Anforderungen, die an das Pflegekind gestellt werden am größten sind. Eine gleich hohe Misserfolgsquote von 44% findet sich bei den Pflegemüttern mit einer familiären oder persönlichen Deprivation. Kommen beide Deprivationen vor, liegt die Misserfolgsquote sogar bei 70%. Die Erwartungen, dass eige88 ne Probleme der Pflegemutter bezüglich ihrer Fähigkeit, sich den Kindern und ihren Bedürfnissen zuzuwenden stark eingeschränkt sind, bestätigt sich. Pflegemütter nehmen aufgrund ihrer unterschiedlichen Selbst-Konzepten und Motivationen auch unterschiedliche Kinder auf, die sich durch Unterschiede in ihrer Entwicklung, ihrem Verhalten, ihrem Alter und durch ihre Bindung an frühere Kontaktpersonen unterscheiden. - Die Abbruchsquote erhöht sich bei allen Selbst-Konzepten, wenn die Kinder Verhaltensstörungen aufzeigen. - Selbst, wenn das Pflegekind Störungen aufweist, sind Pflegemütter mit einer familiären oder persönlichen Deprivation allgemein seltener erfolgreich als Pflegeeltern mit einer kulturellen Deprivation. Sie neigen dazu auch dann das Pflegeverhältnis aufrecht zu erhalten, wogegen Pflegeeltern mit einer kulturellen Deprivation eher zu einem Abbruch tendieren. - Die häufigsten Abbrüche bei Schwierigkeiten mit den Kindern haben Mütter mit einem Gib-und-Nimm-Konzept. 89 II Forschungsteil 4. UNTERSUCHUNGSDESIGN 4.1. Ziel der Untersuchung Mein Interesse an dem Thema „Pflegekinder“ entstand zum einen, durch den Besuch eines Seminars von Professor Wolf an der Universität Siegen und zum anderen durch die Tatsache, dass ich selbst als leibliches Kind in einer Familie mit zwei Pflegekindern aufgewachsen bin. In meiner Familie lebte vom 9. Lebensjahr bis zur Volljährigkeit ein Dauerpflegekind und über einen Zeitraum von etwa 9 Jahren ein Tagespflegekind. Es ist mir also nicht fremd, was es heißt, mit Pflegekindern gemeinsam aufzuwachsen. Viele der daraus entstehenden Probleme sind mir persönlich bekannt. Mein Interesse gilt der Frage, wieso Paare diese Aufgabe überhaupt übernehmen, welche Gründe und Motive sie haben. Obwohl das Leben mit einem Pflegekind sich oftmals nicht unproblematisch gestaltet, leisten diese Eltern eine enorme „Arbeit“ und tragen eine große Verantwortung für ein fremdes Kind. Pflegeeltern zu sein bedeutet, dass man Konsequenz, Einfühlungs- und Durchhaltevermögen, viel Kraft, Zuneigung und Geduld haben sollte, die für die Erziehung und Entwicklung der Kinder sehr entscheidend ist. Darum ist es so wichtig, dass Pflegeeltern sich darüber im Klaren sind, ob sie all das für ein fremdes Kind aufbringen können und warum sie es überhaupt wollen. Welche Motivationen haben die Pflegeeltern, wenn sie ein Pflegekind aufnehmen? Aus diesem Interesse heraus entstand mein Thema: „Warum machen wir das eigentlich?“ Das zentrale Anliegen der vorliegenden Arbeit ist zu erforschen, welche Motivationen Pflegemütter und Pflegeväter haben, ein eigentlich „fremdes“ Kind aufzunehmen und zu erziehen. Warum ist es so wichtig, weshalb ein Paar ein Pflegekind aufnehmen möchte? Welche Gründe stehen für sie im Vordergrund und kann man die Gründe explizit herausfinden? Spielt es eine besondere Rolle? Was hängt davon ab? Ich denke, dass es sehr entscheidend ist und eine 90 ziemlich große Rolle spielt. Von den Motiven der zukünftigen Pflegeeltern kann es abhängen, ob ein Pflegeverhältnis gelingen kann oder nicht. Kann sich die Motivation im Laufe der Jahre verändern? Gelten nach vielen Jahren mit dem Pflegekind noch die gleichen Motive wie zu Beginn des Pflegeverhältnisses? Diesem Anliegen möchte ich in meiner Arbeit nachgehen. Da für mich die persönlichen Gründe/Motive zum Pflegeverhältnis der Paare im Vordergrund standen, entschied ich mich, ein mir persönlich bekanntes Ehepaar in einem narrativen Interview zu dem Thema zu befragen. Das Interview wurde getrennt durchgeführt, einmal alleine mit der Pflegemutter sowie mit dem Pflegevater, um so ein differenziertes Bild zur Motivation von beiden zu bekommen. Interessant für meine Untersuchung ist auch der Blickwinkel von beiden zu diesem Thema: Handelten sie beide aus den gleichen Motiven heraus, oder gab es bei ihnen Unterschiede bezüglich der Motivation? 4.2. Vorgehensweise der Untersuchung 4.2.1. Kontaktaufnahme zu den Pflegeeltern Die Kontaktaufnahme zu dem befragten Ehepaar entstand ganz einfach und schnell. Während eines Spaziergangs traf ich ganz zufällig die Pflegemutter und wir kamen ins Gespräch. In diesem Gespräch fragte ich sie, ob sie sich vorstellen könnte, mir für meine Diplomarbeit als Interviewpartnerin zur Verfügung zu stehen. Ich erklärte ihr, dass ich mir ein Thema über „Pflegekinder“ vorgestellt hatte und wie in etwa ein solches Interview verlaufen würde. Die Pflegemutter sagte mir ihre Bereitschaft sofort zu und mit ihrem Ehemann wollte sie sprechen, um abzuklären, ob er sich das ebenfalls vorstellen könnte und einverstanden wäre. Nach einem Telefonat ein paar Tage später bekam ich die Zusage, dass ich das Interview mit beiden führen konnte. Zu einem späteren Zeitpunkt haben wir dann noch einmal telefoniert, um den Zeitpunkt und den Ort zu besprechen, an denen die Interviews stattfinden sollten. 91 4.2.2. Möglichkeiten der Befragung durch Interviews Mein Interesse richtete sich darauf, zu erforschen, wie die Pflegemutter und der Pflegevater dazu kamen, ein Pflegekind in ihrer Familie aufzunehmen. Man kann dies durch ein Gespräch erforschen, indem man die Pflegeeltern selbst zu Wort kommen lässt und ihnen die Möglichkeit bietet, ihre Gedanken, Gefühle, Erfahrungen und Motivationen auszudrücken. Die Gespräche müssen so durchgeführt werden, dass sie nicht von dem Forscher manipuliert werden können. Das Ziel eines solchen Gesprächs ist, einen geeigneten Rahmen für persönliche Erläuterungen zu schaffen. Damit dem Gesprächspartner die Darstellung seiner Gedanken erleichtert werden kann, sollte der Forscher sein Gesprächsverhalten darauf abstimmen. Den Gesprächspartnern fällt es leichter, nach einer Erzählaufforderung von ihren Erlebnissen zu berichten, was man in einem narrativen Interview erreichen kann. 4.2.3. Grundlagen des narrativen Interviews Durch meine Entscheidung für das narrative Interview konnte ich den Befragten die Möglichkeit einer offenen Gesprächssituation bieten, in der sie ihre Erfahrungen und Emotionen mit Pflegekindern und deren persönlichen Motivationen ein Pflegeverhältnis anzunehmen, erzählen konnten. Für mich ergaben sich so mehr Informationen und Hintergrundwissen, als dies mit einer engeren Fragestellung möglich gewesen wäre. In einem solchen Interview wird der Gesprächspartner gebeten und auch unterstützt, seine persönlichen Erlebnisse als Geschichte zu erzählen, wobei es sich um wichtige Erfahrungen und um eine rückblickende Interpretation von biographischen Ereignissen handelt. Die Ereignisabläufe sollten in einer „Stegreiferzählung“ wiedergegeben werden. Das Herstellen einer Vertrauensbasis ist dafür sehr wesentlich. Eine Steggreiferzählung bedeutet, dass der Gesprächspartner vor dem Interview sich nicht schon mit vorgefertigten Formulierungen und Überlegungen auf das Gespräch vorbereiten kann. Durch die Stegreiferzählung sollte möglichst aus der Situation heraus etwas Neues entstehen. 92 Demzufolge ist es eine wichtige Grundvoraussetzung für die Anwendung dieser Methode, dass der Sachverhalt, um den es geht, als Geschichte erzählt werden kann. Diese Bedingung ist im Falle meines Forschungsgegenstandes erfüllt worden. Als Ziel des narrativen Interviews sollten die zurückliegenden Erlebnisse wieder „lebendig gemacht“ werden und vor dem inneren Auge des Gesprächspartners quasi „wie in einem Film ablaufen“ (zit. n. Glinka, 2003: S. 9). So kann es zu Raffungen von einzelnen Erlebnissen oder auch zu Erinnerungslücken an einigen Stellen kommen. Aufgefrischt und konkretisiert werden die Erinnerungen durch die in Bewegung gesetzten Elemente des Erzählvorgangs. Dadurch soll der Gesprächspartner noch einmal in die vergangene Handlungssituation versetzt werden, um sich so Schritt für Schritt, erneut seiner Erlebnisse bewusst zu werden. Glinka (1998) unterteilt das narrative Interview in vier Phasen: 1. Aushandlungsphase, 2. Haupterzählung, 3. Nachfrageteil 4. Transkription der Tonbandaufnahme. In der Aushandlungsphase bespricht der Interviewer mit dem Informanten den Sinn des Interviews und unterstützt ihn, eine eigene Sinngebung für das Interview zu entwickeln. Darüber hinaus muss mit dem Informanten auch das Verfahren des Interviewablaufs besprochen werden – die Funktionen der Haupterzählung und des Nachfrageteils. Das narrative Interview beginnt dann mit einer offenen Erzählaufforderung, die den Befragten in die Haupterzählung leiten soll. In dieser zweiten Phase des Interviews beschränkt sich die Aufgabe des Interviewers ausschließlich auf das aktive Zuhören und auf ermutigende und unterstützende Signale (z.B. „mh“, „hm“). Besonders wichtig ist es, eine entspannte Interviewsituation herzustellen, in der eine angstfreie und akzeptierende Atmosphäre herrscht, damit der Informant seinen Gedanken freien Lauf lassen kann. 93 Dazu ist es dringend erforderlich, dass der Interviewer nicht interveniert sondern die Rolle des aufmerksamen Zuhörers einnimmt, indem er dem Interviewpartner signalisiert, dass er interessiert und aufmerksam zuhört. Im Anschluss hat der Interviewer die Gelegenheit durch Nachfragen auf wichtige Aspekte einzugehen oder auch Themen anzusprechen, die bis dahin noch nicht besprochen wurden, aber für den Interviewer wesentlich erscheinen. Beim narrativen Interview zeichnet der Forscher zunächst den Erzähltext mit einem Diktiergerät oder Tonband auf. Im zweiten Schritt wird die Aufnahme dann transkribiert. Man berücksichtigt damit, dass in der Auswertung alle wesentlichen Erfahrungszusammenhänge berücksichtigt werden können. Durch das Transkribieren des Interviews können sich verschiedene Erlebnisse während des Interviews in unseren Gedanken festigen, man kann sie sich rückwirkend besser in Erinnerung rufen. Das narrative Interview als Forschungsinstrument ist nicht für jede Forschungsarbeit geeignet, da es auch Grenzen und Grenzbereiche aufzeigt. Es ist überall da einsatzfähig, wo der Informant eine Geschichte erzählen kann. Wichtig ist es auch, den Gesprächspartner darauf hinzuweisen, dass eine Anonymisierung durchgeführt wird. Im Rahmen der Datenaufbereitung und Datenanalyse werden alle Eigennamen (Personen, Orte, Institutionen, usw.) und Zeitangaben maskiert, um so eine optimale Anonymisierung zu gewährleisten. 4.2.4. Datenerhebung Ziel dieser Arbeit war es nicht, eine Überprüfung von bereits bestehenden Hypothesen vorzunehmen, sondern zu erforschen, was die tatsächliche Motivation meiner Interviewpartner ist. Dafür erschien mir die qualitative Forschungsmethode geeigneter als eine quantitative Methode. „Qualitative Sozialforschung hat den Anspruch, Lebenswelten `von innen heraus` aus der Sicht der handelnden Menschen zu beschreiben“ (zit. n. Flick, Kardoff & Steinke, 2004: S. 14) Und das entsprach genau meinem Ziel. 94 Zur Erhebung meiner Daten entschied ich mich für die Methode des narrativen Interviews nach Glinka (2003). Diese Interviewtechnik folgt nicht einem gängigen Frage-Antwort-Muster, sondern stellt eine besondere Form des offenen Interviews dar. Sie eignet sich besonders dazu, die unterschiedlichen Realitätsbezüge der Erforschten offen zu legen. Den Betroffenen wird die Gelegenheit gegeben, ihre Sinngebung zu Wort kommen zu lassen und der Einfluss der InterviewerInnen kann auf ein Minimum reduziert werden. Die Gesprächspartner kommen im narrativen Interview unmittelbar zu Wort, ohne dass sie durch den Interviewer beeinflusst werden. Dies ermöglicht, einen ausführlichen Einblick in die Wahrnehmungen, Erfahrungen, Empfindungen und Gedanken der Befragten zu erhalten. Für eine Einzelfallstudie gilt diese Spezialform des qualitativen Interviews als besonders geeignet. Für meine Untersuchung bezüglich der Motivation von Pflegeeltern erweist sich die Einzelfallstudie als sehr geeignet. Sie bietet die Möglichkeit, auf wichtige Aspekte aufmerksam zu machen. Kennzeichen der Einzelfallstudie ist, dass sie „ein einzelnes soziales Element als Untersuchungsobjekt und -einheit wählt“ (Lamnek, 2005). In meiner Untersuchung handelt es sich um zwei Einzelfallstudien, in denen ich mich bei beiden mit der Erhebungstechnik des narrativen Interviews bedient habe, um die gleichen Voraussetzungen für die Datenerhebung zu gewährleisten. Ich erhoffe so, umfangreiches Material bezüglich meines Themas zu bekommen. Der Forschungsprozess wird von Lamnek (2005) in drei Stufen unterteilt: 1. Populationswahl, 2. Datenerhebung, 3. Auswertung des Materials. In der ersten Stufe der Forschungsarbeit findet die Populationswahl statt. Meine Zielgruppe waren Pflegeeltern, die bereit waren, mir einen persönlichen Einblick in ihre Situation zu gestatten. Diese fand ich in meinem Bekanntenkreis, und sie waren bereit, mir als Interviewpartner zur Verfügung zu stehen. Die Phase der Datenerhebung wird durch Kommunikativität und Naturalistizität charakterisiert. Die Erhebung der Daten findet statt, indem sich der Forscher in 95 die alltägliche Lebenswelt der Befragten begibt. Für die Erhebung meiner Daten verwendete ich das Verfahren des narrativen Interviews. Meine Interviews fanden im persönlichen Umfeld meiner Gesprächspartner statt, um die Voraussetzungen für eine möglichst natürliche Situation herzustellen und authentische Informationen zu erhalten. Die letzte Stufe des Forschungsprozesses stellt die Auswertung des Materials dar. Um die Entwicklung von theoretischen Konzepten aufzustellen, verwendete ich das themenzentrierte-komparative Auswertungsverfahren nach Lenz (1986) und orientierte mich zusätzlich an der abgeänderten Methode nach Wolf (1999). 4.2.5. Datenauswertung Durch die Vielzahl unterschiedlicher Auswertungsverfahren gestaltet sich die Auswahl nach einem gängigen Auswertungsverfahren grundsätzlich schwierig. Ich entschied mich für die Auswertung meiner Daten für das themenzentriertekomparative Auswertungsverfahren, welches 1986 von Karl Lenz entwickelt wurde und der selbst bemerkte, dass sich: „Hoffnung auf ein für alle möglichen Feststellungen einer interpretativen Sozialforschung anwendbares Auswertungsverfahren […] als Holzweg erweisen [dürfte]“ (zit. n. Lenz, 1986: S. 144). Dieses musste an einigen Stellen modifiziert und meiner individuellen Untersuchung angepasst werden, da in Bezug auf die Untersuchung von Lenz einige Unterschiede vorlagen. Gleichzeitig orientierte ich mich als Ergänzung an der Untersuchung von Wolf (1999: S. 45-52), der sich in seiner Ausführung ebenfalls auf Lenz stützt. Die vorgelegte Arbeit erhebt keinen Anspruch auf Repräsentativität. Die Methode des themenzentrierten-komparativen Auswertungsverfahrens umfasst fünf Arbeitsschritte, an denen ich darstellen möchte, wie ich selbst vorgegangen bin. 1. Kontrolle der Transkription anhand von Tonbandaufnahmen Die Transkription der Interviews erfolgt vollständig und wurde auf Vollständigkeit und Richtigkeit überprüft. Durch mehrmaliges Anhören des Interviewtextes 96 bleiben Eindrücke erhalten, die nur durch den transkribierten Text nicht mehr nachvollziehbar wären (Lenz, 1986: S. 145). Die Interviews wurden von mir persönlich durchgeführt, mit einem Diktiergerät aufgezeichnet und nach den geläufigen Transkriptionsregeln transkribiert. Die Transkription der beiden Interviews erfuhr ich als äußerst wichtig, weil es nicht nur um das Hören und Abtippen ging, sondern, weil es auch die Wahrnehmung der Veränderungen in der Stimmlage, Betonung, Redetempo und Lautstärke möglich gemacht hat. Die Verankerungen, die sprachlichen Feinheiten und das Vertraut-Sein mit dem Text, boten eine wichtige Hilfe bei dem Auswertungsprozess. 2. Identifizierung von Themenkomplexen Ziel des Interviews ist, von den Interviewpartnern – über bestimmte Themen – verschiedene Informationen zu bekommen. Um eine Analyse der Textpassagen vornehmen zu können, müssen diese mehrmals gelesen und gehört werden, um sie dann einzelnen Themenkomplexen zuzuordnen, wobei einige Textstellen auch zu mehreren Themenkomplexen zugeordnet werden können (Lenz, 1986: S. 145). In meiner Arbeit ging es nicht um die Überprüfung einer forschungsanleitenden Hypothese oder um die Entwicklung einer Typologie, sondern um das Hauptthema – die Motivation von Pflegeeltern. Mein Interesse lag darin, die Interviews in Bezug auf die Motivationsgründe der Pflegeeltern zu erfassen, die für sie als relevant empfunden wurden. Daher wurden von mir keine anderen Themenkomplexe gebildet, sondern die Interviews mit dem Hintergrund der Motivation ausgewertet. Die Interviews wurden auf verschiedene Möglichkeiten der Motivationsgründe hin ausgewertet, welche die Pflegeeltern in ihren Interviews angesprochen haben. 3. Themenanalyse Ziel der Themenanalyse ist es, „schrittweise nachzuvollziehen und zu rekonstruieren, was der/die Gesprächspartner/in mit den Äußerungen zu einem bestimmten Themenkomplex `eigent- 97 lich gemeint` hat und diese textimmanenten Bedeutungsinhalte in Form `eines Substrates` festzuhalten“ (Lenz, 1986: S. 145). Das Verfahren wird für jedes Interview, unabhängig von den anderen Interviews, durchgeführt. Der Kontext, in dem eine Äußerung erzählt wird, ist in die Interpretation mit einzubeziehen, wobei ein immer konkreteres Bild der einzelnen Lebensgeschichten entsteht. Das Vorverständnis, welches durch den gelesen Text des Interviews entsteht, wird als Hypothese an den Text übertragen. Diese wird durch die Suche nach ablehnenden und bestärkenden Fällen abgeändert, als Hypothese weiterentwickelt und „zu einem Substrat zum jeweiligen Thema zusammengefasst“ (Wolf, 1999: S. 48). Die Interpretation orientiert sich an der sprachlichen Ausdrucksweise der Interviewten. Um die einzelnen Interviews auf ihre Eigenart hin überprüfen und miteinander vergleichen zu können, werden Substrate erstellt. Unter dem Aspekt meines Themas suchte ich nach typischen Deutungen und Äußerungen, indem ich Textpassagen, in denen das Thema besonders ausführlich behandelt wurde, betrachtete (Wolf, 1999). Durch die Überarbeitung von Textstellen und der Suche nach bestätigenden oder widersprechenden Textpassagen wurden die herausgefundenen Hypothesen mehrmals überprüft und modifiziert. Schließlich wurden in einer ersten Interpretation die Rekonstruktionen zu einzelnen Aspekten zusammengefasst (Wolf, 1999). 4. Bestimmung von Grundmustern auf der Basis thematisch geordneter Substrate In diesem Abschnitt werden die einzelnen Substrate der Interviews systematisch miteinander verglichen. „Durch die Gegenüberstellung von Vergleichsgruppen und die Abarbeitung von Differenzen und Ähnlichkeiten wird eine, `emergente Konzeptualisierung von […] Grundmustern und der Relation zwischen Grundmustern möglich`“. (zit. n. Wolf, 1999: S. 49) Es werden Grundmuster erstellt und Übereinstimmungen, Gemeinsamkeiten, Zusammenhänge und Abgrenzungen herausgearbeitet. 98 Durch das Vergleichen der beiden Interviews sollen hier Ähnlichkeiten und Differenzen bezüglich der Motivation von beiden Pflegeeltern deutlich gemacht werden. Die Interviews der Pflegemutter und des Pflegevaters wurden von mir auf Gemeinsamkeiten und Unterschieden hin überprüft und miteinander verglichen. 5. Konstruktion deskriptiver Modelle In dem letzten Arbeitsschritt geht es um die Überprüfung von häufig auftretenden Kombinationen von Grundmustern, die in Form von Modellen formuliert werden (Lenz, 1986: S. 148). Aus der Analyse von zwei Interviews ist es nicht ratsam, Modelle zu entwickeln oder Typologien zu erstellen, sodass ich auf den letzten Arbeitsschritt verzichte und mich auf eine abschließende Zusammenfassung der Ergebnisse beschränke. Die Zitate aus den Interviews habe ich im weiteren Verlauf der Arbeit in Anführungszeichen gesetzt und mit Zahlen in Klammern versehen, die auf die jeweilige Seitenzahl und Zeilennummer der Transkription hinweisen: (1/20) bedeutet Seite 1, Zeile 20. Die Erklärung der benutzten Transkriptionszeichen befindet sich, ebenso wie die Interviews der Pflegeeltern in Kapitel 9, dem Anhang dieser Arbeit. 99 5. Die Auswertung 5.1. Vorstellung der Pflegefamilie Herr und Frau Müller sind seit 27 Jahren verheiratet und haben eine siebzehnjährige leibliche Tochter. Herr Müller ist 56 Jahre alt und von Beruf DiplomIngenieur. Frau Müller ist 52 Jahre alt und hat den Beruf einer Augenoptikerin erlernt. Nachdem die leibliche Tochter geboren wurde, ist Frau Müller ihrer Tätigkeit als Augenoptikerin nicht mehr nachgegangen und kümmert sich seitdem um die Kindererziehung und den Haushalt. Seit über dreizehn Jahren betreuen sie das Pflegekind Lisa, die heute fünfzehn Jahre alt ist. Als Lisa zu Familie Müller kam, war sie zwei Jahre alt. Den Altersunterschied von zwei Jahren zwischen dem leiblichen Kind und dem Pflegekind sieht Frau Müller als problematisch an. Durch die Bindungsstörung von Lisa konnte keine Geschwisterbeziehung – so wie man sich das eigentlich vorstellt – aufgebaut werden, da Lisa diese Nähe einfach nicht aushalten und ertragen konnte. „Es war eigentlich von Anfang an sehr, sehr schwierig, so mit den Kindern zusammen. Laura war eigentlich gar nicht eifersüchtig, das kann man so gar nicht sagen. Aber sie war immer traurig und verletzt, weil die Lisa sie nur abgewehrt hat. Nur, sie hat alles kaputt gemacht, was der Laura gehörte, von kleinst auf – Lisa war immer eifersüchtig. Also immer im Kampf, immer auf dem Sprung. Sie hörte halt noch nicht mal auf ihren Namen, wenn man sie rief, man musste immer hinterher laufen. Wenn auch eine Situation gefährlich wurde oder so, von kleinst auf. Und das hat sich dann wirklich.. mit acht Jahren vielleicht, langsam angefangen zu legen. Das hat sich nie geändert im Grunde genommen und von daher war die Situation schon von einem Tag auf den anderen völlig auf den Kopf gestellt…..eine Herausforderung. Also das war… du weißt nur nicht, was passiert. Du weißt es ja einfach nicht. Du kennst die Situation nicht, weil du in der Situation ja noch nie drin warst. Und auf das was kommt, kann dich, glaub ich, auch kein Seminar vorbereiten. Was ich jetzt im Rückschluss sagen würde, nie, nie mehr würde ich jemandem raten oder würde das so tun, mit einem Kind, das knapp zwei älter ist als ein Pflegekind. Das halte ich für ... für sträflich, denn du musst so unterschiedlich mit den Kindern umgehen und so unterschiedlichen Erziehungsstil auch anwenden, dass 100 du wirklich beiden Kindern schadest. Und zwar schaden musst. Du kannst ja nicht dein Familienleben so gestalten, dass du die Kinder auseinander halten kannst und das haben wir schon gemacht. Und das funktioniert einfach nicht. Und die Vorgabe existiert ja vom Jugendamt. Da sollen eigentlich diese zwei Jahre Altersunterschied ungefähr, sollen dazwischen sein. Das ist für mich der gröbste Fehler, den die je entscheiden konnten und machen konnten, weil ich nicht weiß – und auch von anderen Familien nicht weiß – wie das zu Händeln ist.“ (164/34 – 165/22) 5.2. Interview mit der Pflegemutter Nachdem wir den Termin für das Interview telefonisch abgesprochen hatten, trafen wir uns an einem Morgen im Haus der Familie Müller. Frau Müller begrüßte mich an der Haustür und die Begrüßung verlief sehr freundlich und herzlich. Im Hausflur traf ich dann Herrn Müller, der mich ebenfalls freundlich begrüßte. Wir sprachen über einige allgemeine Themen und zogen uns dann in das Arbeitszimmer der Pflegemutter zurück. Die Wahl, wo das Interview stattfinden sollte und den Zeitpunkt haben wir gemeinsam überlegt. Mir war es wichtig, dass es an einem gewohnten und ungestörten Ort stattfand, der der Befragten vertraut ist und an dem sie sich wohlfühlt. Den Zeitpunkt hatte Frau Müller ausgewählt. Da wir möglichst ungestört das Interview durchführen wollten, war ein Morgen, an dem die beiden Kinder in der Schule waren, gut gewählt. So konnte sich Frau Müller ohne Störungen und Unterbrechungen auf das Interview konzentrieren. Im Arbeitszimmer bot Frau Müller mir einen Platz auf der Couch an und sie selbst setzte sich auf den Schreibtischstuhl mir gegenüber. Sie machte einen fröhlichen und offenen Eindruck. Ich hatte nicht das Gefühl, dass sie sehr aufgeregt war. Im Weiteren Verlauf besprachen wir dann die Einzelheiten des narrativen Interviews und warum ich das Gespräch mit einem Diktiergerät aufnehmen wollte. Frau Müller erklärte sich damit einverstanden. Nachdem ich meine Eingangsfrage gestellt hatte, kam Frau Müller recht schnell in einen Erzählmodus und konnte meine Frage beantworten. Durch ihre Erzählung kamen immer weitere Eindrücke und Vorstellungen bezüglich der Motivation auf, die ich dann vergleichen konnte. 101 5.2.1. Zusammenfassung des Interviews Der vorliegende Text, der aus einem Interview mit einer Pflegemutter entstanden ist, handelt von einer Mutter und ihrer Motivation bezüglich der Aufnahmen eines Pflegekindes. Bevor die Pflegemutter verheiratet war, besuchte sie mit ihrem damaligen Freund und heutigen Mann, eine Veranstaltung zum Thema Pflegekinder. Dieser Vortrag hatte sie so beeindruckt, dass gleichzeitig mit ihrem Christsein klar war, dass sie ein fremdes Kind aufnehmen und ihm etwas Gutes tun wollte. Zuerst wollte sie abwarten, ob sie eigene Kinder bekommen würde und dann im Anschluss ein Kind adoptieren. Es dauerte einige Zeit bis die Pflegemutter schwanger wurde. Als sie dann einen Antrag auf Adoption stellten, war sie schwanger. Eine Adoption wurde durch das eigene Kind nicht mehr wahrscheinlich und so entschied man sich, auch ein Pflegekind aufzunehmen. Zum Zeitpunkt der Pflegschaft war die eigene Tochter vier Jahre und das Pflegekind zwei Jahre alt. Das Pflegekind wurde aufgrund einer Inobhutnahme aus der Herkunftsfamilie ziemlich schnell und überraschend in die Pflegefamilie gebracht, die einen Urlaub geplant hatten und diesen dann gemeinsam mit dem Pflegekind unternahmen. Durch die Traumatisierungen, die das Pflegekind in der Ursprungsfamilie erlebt hatte und die zu einer Bindungsstörung von Pflegekind Lisa geführt hatte, war es gar nicht so einfach, sich aneinander zu gewöhnen und eine Bindung herzustellen, wobei die Pflegeeltern zu diesem Zeitpunkt noch nicht alles wussten, was in der Herkunftsfamilie geschehen war. Der Kontakt zur leiblichen Mutter ist im Laufe der Zeit abgebrochen, worunter Lisa heute noch manchmal leidet. Auch die Geschwisterbeziehung gestaltete sich unter diesen Voraussetzungen problematisch. Im Laufe der Jahre gab es Probleme, die für die Pflegeeltern nur sehr schwer zu bewältigen waren, und bei denen von Seiten des Jugendamtes keine ausreichende Hilfestellung gegeben wurde. Hilfe bekamen sie später von Seiten der Kinderklinik und eines Psychologen, bei dem Lisa in Therapie ist. Aufgrund Lisas persönlicher Schwierigkeiten, die es ihr erschweren, mit anderen Menschen Bindungen einzugehen, hielten die Pflegeeltern eine Privatschule, deren Kosten sie selbst tragen müssen, für die beste Lösung. 102 Trotz aller Schwierigkeiten und Probleme ist es den Pflegeeltern auch heute noch sehr wichtig, Lisa ein behütetes und stabiles Umfeld zu bieten und sie auf ein möglichst selbstständiges Leben vorzubereiten. 5.2.2. Themenerweiterte Zusammenfassung des Interviews An dieser Stelle möchte ich noch weitere Aussagen aus dem Interview mit Frau Müller zusammenfassen. Um die Situation mit dem Pflegekind deutlicher zu machen, wird anhand einer Reihe von Textpassagen näher auf die gesamte Situation eingegangen. Zu Beginn der Überlegungen, ob man ein Pflegekind aufnimmt oder nicht, bestand der Wunsch nach einer Familie und der Überlegung, dass man einem Kind etwas Gutes tun wollte. „Wir wollten eigentlich damals noch ... Familie, so stellt man sich das erst mal vor und wollten einfach einem Kind was Gutes tun.“ (162/18-19) Frau Müller hat dann sehr schnell festgestellt, dass ihre Vorstellungen von Familie mit einem Pflegekind so nicht möglich sind und dass Familie, so wie man es sich vorstellt, nicht gelebt werden kann. Sie konnte sich nicht an der üblichen Mutter-Rolle orientieren. „Ich habe sehr früh festgestellt, mit diesem Kind ist keine Familie möglich.“ (189/1920) „Ich konnte mich nicht wie eine Mutter verhalten.“ (169/17) Da es sich bei Lisa um eine Inobhutnahme gehandelt hat, fanden keine Erstkontakte zwischen dem Kind und der Pflegefamilie statt, sondern Lisa wurde von ihrem Vormund zu Hause abgeholt und in die Pflegefamilie gebracht. Die leibliche Mutter begleitete den Vormund bei der Übergabe. Am nächsten Tag fuhren die Pflegeltern gemeinsam mit ihrer Pflegetochter in Urlaub. „Und dann kam die dann wirklich Hals über Kopf dann auch zu uns, die Lisa und …ja, dann sind wir sofort mit ihr in Urlaub gefahren und da hatten wir schon mal ein bisschen Zeit, uns zu gewöhnen.“ (163/19-21) 103 Lisa lebte mit ihren beiden älteren Geschwistern gemeinsam bei ihrer leiblichen Mutter. Die älteren Geschwister wurden gleichzeitig mit Lisa aus der Familie genommen und kamen auch zu Pflegeeltern. Die Kinder waren unterversorgt, misshandelt und es lag der Verdacht auf Missbrauch bei allen drei Kindern vor. Sie haben einige Selbstmordversuche der Mutter miterlebt. Ihren leiblichen Vater kennt Lisa nicht. „Die Kinder sind völlig traumatisiert, alle drei.“ (166/34) Diese Traumatisierung hat zu unterschiedlichen Störungen von Lisa geführt. Einige Zeit bestand noch ein loser Kontakt zur leiblichen Mutter, der aber seit ein paar Jahren ganz abgerissen ist. Die Anforderungen, die durch die unterschiedlichen Störungen der Pflegekinder an die Pflegeeltern – und auch an die Familie insgesamt - gestellt werden, sind sehr hoch. In den meisten Fällen haben die Pflegeeltern keine spezielle Ausbildung um mit diesen Problemen besser umgehen zu können. Das führt dann leicht zu einer Überforderung der Pflegeeltern. In den nächsten Textpassagen wird deutlich, dass Frau Müller diese Zeit als belastend und stressig empfand. Hierzu einige Textstellen, die dies veranschaulichen: „Was ich für so ein stark Bindungsgestörtes und das sind viele Pflegekinder einfach, zum Beispiel nicht mehr gut finde, ist einfach dieses Vermitteln in Familien. Denn normale Familie ist damit überfordert und vor allen Dingen ist auch das Kind damit überfordert. Eine Familie hat in sich Ansprüche, auch auf Bindung und die sind ja auch berechtigt. Da kommt das Kind wie ein Fremdkörper da rein und kann sich nicht integrieren, weil es das aus sich heraus nicht kann.“ (171/24-29) „Ich musste manchmal wirklich hart sein, dann musste ich fast lieblos sein um sie wieder sich selbst zu überlassen, weil sie meine Nähe nicht ertragen konnte. Ich konnte mich nicht wie eine Mutter verhalten.“ (169/15-17) „Also, ich hab immer gesagt, das ist die Quadratur des Kreises. Das ist innerhalb einer Familie einfach nicht zu schaffen.“ (169/21-23) „Das halte ich für ... für sträflich, denn du musst so unterschiedlich mit den Kindern umgehen und so unterschiedlichen Erziehungsstil auch anwenden, dass du wirklich bei104 den Kindern schadest. Und zwar schaden musst. Du kannst ja nicht dein Familienleben so gestalten, dass du die Kinder auseinander halten kannst und das haben wir schon gemacht. Und das funktioniert einfach nicht.“ (165/14-18) „Du merkst das nicht und erst wenn das Kind weg ist, merkst du, das ist ja gar kein normales Leben, was du lebst. Das Leben sieht bei anderen Leuten ganz anders aus. ((lachen)) Du merkst das nicht. Du merkst ja auch gar nicht mehr, dass du ständig die Kinder voneinander beschütztest, beide. Du merkst nicht, dass du getrennt isst, das wird ja alles dein normaler Ablauf.“ (185/24-28) „Du kannst diese Bindung in diesem Maße innerhalb der Familie nicht schaffen. Von daher bin ich immer noch der Meinung, weil die Kinder auch überfordert sind, das ist wahrscheinlich richtig und auf uns trifft auch Vieles zu, weil wir uns in einem extremen Maße – wie man uns immer sagt - gekümmert haben. Wir haben ja wirklich ein Stück Leben aufgegeben.“ (197/9-13) Da Lisa, das Pflegekind von Familie Müller, große Schwierigkeiten mit Bindungen hat, war es zu Beginn der Pflegschaft oft sehr schwierig, sie zu erreichen. Eine schwierige, konflikthafte und problematische Familiensituation (Misshandlung, Verdacht auf Missbrauch und eine Unterversorgung) führte zu einer Traumatisierung, die es ihr erschwert, Bindungen zuzulassen. Verhaltensauffälligkeiten und Entwicklungsstörungen können bei den Kindern die Folge sein. Die aufgeführten Textpassagen lassen erkennen, wie schwierig sich eine Bindungsstörung auswirken kann. „Aber sie ist wie… völlig gefühllos. Und um sie überhaupt zu erreichen, musste ich die fest anpacken, dass das mir manchmal wie – Misshandlung ist jetzt übertrieben, aber ich wirklich denke, das ist ja grob. So gehst du ja nicht mit einem Kind um. Du kamst nicht an sie ran. Ich konnte sie weder vor Gefahren abhalten, noch konnte ich sie überhaupt mit irgendwas erreichen. Ich musste sie mir immer nehmen und musste sagen; `Lisa`. Damit sie überhaupt irgendwo mal aus dieser … Eigenwelt `rauskam.“ (166/17-22) „Die Kinder sind völlig traumatisiert, alle drei. Und dadurch kommt das.“ (166/34) „...Und dadurch kommt es dann halt eigentlich immer zu diesen Traumatisierungen, die sind natürlich unterschiedlich stark ausgeprägt. Lisa hat so ziemlich alles, alles mitge105 macht, was ein Kind mit zwei Jahren sicherlich nicht mitgemacht haben sollte. Und dann ist das kein Wunder, aber es passiert, wie gesagt, ganz oft und bei ganz vielen Kindern.“ (167/7-11) „Aber das läuft einfach nicht innerhalb einer Familie. Lisa darf nicht ... wenn sie eine klare Anordnung hat, sich an was zu halten hat, du musst zu einer bestimmten Zeit zu Hause zu sein, du musst am Tisch mit uns essen, oder irgendwas. Das alles funktionierte nicht. Jedes `muss` war durch schneiden oder irgendeine Reaktion, wo sie sich zum Teil auch selbst verletzt hat und es ging überhaupt nichts.“ (169/8-13) „Sie ist narzisstisch. Es dreht sich alles immer nur um sie. Ich kapier jetzt erst, dass sie aus dieser Haut nie rauskommen wird.“ (190/12-13) Frau Müller fühlte sich zu Beginn der Pflegschaft, in manchen Situationen mit Lisa und ihren Störungen alleingelassen und auch manchmal überfordert. In dieser Situation wäre es für die Pflegeeltern ganz wichtig, Begleitung und Hilfe zu erhalten. Diese Überforderung kommt in einigen Textstellen ganz signifikant zum Ausdruck. „Und ... eh ... ja gut, du wurschtelst dann so weiter, du weißt vorher, das weißt du auch durch die Seminare, die Kinder haben einen Schaden. Aber du weißt ja nicht, in welchem Ausmaß und du weißt auch nicht, was ist normal und wie regelt sich das. Und du hast auch nicht genug von der Geschichte, Lisa selbst konnte ja gar nichts sagen, in dem Alter noch nicht. Dann weißt du wirklich auch zu wenig. Und du hast auch im Grunde genommen… - bist du einfach nicht in der Lage. Du hast ja keine Ausbildung mit so einem Kind, du bist völlig überfordert eigentlich.“ (167/11-17) „Denn normale Familie ist damit überfordert und vor allen Dingen ist auch das Kind damit überfordert.“ (171/26-27) „Das ist wirklich mein Bild. Genau dieses Bild. So einsam bist du, wie auf dem Hochseil ein ganzes Leben. Du stürzt permanent ab, dann bist du unten – das ist mein zweites Bild ((lachen)).“ (169/29-31) „Weißt du. Das ist die Situation, das ist meine Situation. Hab ich im Internet auf meiner Seite.“ (169/33-34) 106 „Ja, du bist einsam. Ich finde wirklich, Pflegeeltern sind einsam. Diesen Satz find ich richtig so.“ (187/16-17) „Ja gut, ich kenn das ja schon ein paar Mal, dadurch dass Lisa in der Freizeit war. Und das war das Allerinteressanteste – im Prinzip passiert jedes Mal das Gleiche. Ich sitze hier in der Ecke und kann mich nicht mehr vom Stuhl rühren. So ermattet und erschöpft bin ich. ((lachen)) Ich sitze dann da – und sitze drei Wochen. Ich bin wie gelähmt, ich bin so was von – also diese Anspannung lässt nach und nichts geht mehr. Ich weiß, als die Lisa zum ersten Mal wegkam, ich habe wirklich eine Energie, sonst hätte ich das wirklich nicht durchgehalten, ich saß, ich habe fast drei Tage nur geheult. Ich hatte mit Schlafanzug und mit Kaffeetasse in der Küche gesessen und nur geheult und geschlafen, geheult und geschlafen. Da habe ich gedacht: „Das gibt es doch nicht. Was hast du dir hier angetan?“ Und nachher habe ich immer gesagt, das weiß auch das Jugendamt: „Ihr wisst nicht, was ihr den Leuten hier antut, mit euren wenigen Hilfsmöglichkeiten.“ So was von erschöpft. Du bist in einer Anspannung drin, das ist unvorstellbar und du merkst das eben gar nicht. Das finde ich das Allerschlimmste.“ (185/11-24) Auch innerhalb der Familie isoliert man sich mit einem Pflegekind. Eltern, Geschwister und Freunde können oft nicht verstehen, warum man ein Pflegekind aufnimmt. Sie sehen die Probleme und Konflikte die entstehen und auch die Anforderungen an die Eltern und fühlen sich hilflos, weil sie nicht helfen können und es auch nicht verstehen. Die aufgeführten Textpassagen lassen die Isolation in der eigenen Familie und im Umfeld deutlich werden. „Mich hat das innerhalb der Familie auch ein Stück weit isoliert.“ (188/16-17) „Es ist tatsächlich so, dass es dich auch innerhalb der Familie isoliert.“ (188/28-29) „ .. Wer nicht dahinter guckt, der versteht das ja einfach nicht. Das ändert sich schon. Du hast ein paar wenige gute Freunde, auf die es dir ankommt und die anderen – es scheidet sich die Spreu vom Weizen, so von Freunden.“ (189/28-31) „Die haben darunter gelitten, dass wir uns das Leben damit kaputtmachen, mit einem Pflegekind. Sie mussten das dann akzeptieren.“ (190/6-7) 107 „Das man aber akzeptiert hat, it´s my life. Ich gehe halt meinen Weg und Lisa gehört dazu.“ (188/32-33) Nach einem Gespräch mit einer Psychotherapeutin wurden dann einige Dinge klarer. „Aber das war eine Psychotherapeutin, was letztlich für uns ganz gut war, weil das ein bisschen die Augen öffnete, ´ne. Die mir dann so ein bisschen auch ein paar Sachen erklärt hat. Und die hat gesagt: ´Das Kind hat eindeutig autistische Grundstörungen. Die ist so bindungsunfähig…ja, sie wird man nie erreichen´. “ (168/13-17) Die Hilfsmöglichkeiten, die durch das Jugendamt angeboten werden, sind in manchen Fällen zu dürftig. Der Bedarf an Hilfe geht über die Möglichkeiten des Jugendamtes hinaus. Die Eltern fühlen sich vom Jugendamt alleingelassen. Wenn man als Pflegeeltern etwas verändern will, muss man selbst aktiv werden und Hilfe einfordern. Innerhalb des Interviews gibt es mehrere Stellen, aus denen sich Rückschlüsse auf die Situation ziehen lassen. „Ich hab halt sehr schnell gemerkt, dass ist eine Behörde, und wenn du was erreichen willst, muss ich selber sehr aktiv werden.“ (179/2-4) „Wir haben einen Vormund mit dem ich sehr zufrieden bin, das muss ich jetzt sagen. Er setzt sich wirklich ein – für uns zumindest. Da stimmt auch die Chemie. Aber es ist trotzdem, es ist unser Leben und seine Arbeit ist es.“ (179/6-9) „Ihr wisst nicht, was ihr den Leuten hier antut, mit euren wenigen Hilfsmöglichkeiten.“ (185/21-22) „Und die haben dann zum Beispiel stellenweise versucht, ja auch so eine Art Seminare zu machen, Fortbildung anzubieten. Da bin ich nicht mehr hingegangen. Die haben dann Bücher zitiert und sonst nichts weiter gemacht, die ich schon Jahre vorher gelesen hatte. Das brauch ich nicht, ich brauche wirklich Leben. Ich brauche Hilfe von Leuten, die Erfahrung haben. Die wissen, wie man damit umgeht, wenn einem die Luft ausgeht. Du brauchst vor allem praktische Hilfe. Und wenn du eine praktische Hilfe einforderst, sieht die eben so aus, dass das Jugendamt schnell bereit ist, die Kinder wieder rauszunehmen.“ (179/9-16) 108 „Und dieses Lernen wünschte ich irgendwo, wo wir mal wieder bei dem Ausgangsthema sind, auch den Mitarbeitern auch ein bisschen stärker. Sie müssten mehr Praxis haben, als das nur von außen zu sehen, nicht nur. Ich meine, die haben ihren Beruf, das ist kein Thema. Es kann nicht jeder ein Pflegekind nehmen, dann kann er nämlich nicht mehr arbeiten. Das geht nicht. Aber du musst dann schon, ja, das Problem ist, glaube ich, die Bürokratie. Da sind zum Teil schon Leute, die auch mit Phantasie und Interesse drangehen, aber die an der Bürokratie in Deutschland scheitern.“ (194/28-195/2) Was im Wesentlichen fehlt, ist die Möglichkeit für Pflegeeltern, auch mal eine Auszeit nehmen zu können, zum Beispiel in Form eines Urlaubs, ohne das Pflegekind oder durch eine Kur, um Kraft zu tanken, die so dringend benötigt wird. In verschiedenen Textpassagen wird deutlich, wie wichtig diese Auszeit für Pflegeltern ist. „Wie gesagt, wir haben Jahre versucht, eine Möglichkeit zu finden, einfach mal Luft holen zu können.“ (179/17-18) „Und seit Jahren kämpfe ich darum, dass wir eine Auszeit kriegen. Ich glaub wirklich seit die Lisa Acht ist und jetzt ist sie fünfzehn.“ (180/1-3) „Ich hab einmal in einem Fortbildungsseminar, wo ja die auch die Jugendamtmitarbeiter teilweise immer mitauftauchen, dann sagen die einfach: „Sie müssen mal in Kur gehen.“ Sag ich: „Genau, das versuche ich seit zehn Jahren.“ Da war eine Pflegemutter, die saß da wirklich so (kratzte sich ganz nervös am ganzen Körper), wo ich immer gedacht habe, so willst du nie werden, so fertig. Und dann sagte da ein Mitarbeiter, sie müssen mal in Kur. Da sagte sie: „Dass habe ich so lange versucht. Ich finde keinen, der mir mein Pflegekind abnimmt. Ich habe keine Möglichkeit.“ Und das ist das Dilemma. Man findet niemanden.“ (178/4-12) „Und von daher wirst du auch isolierter, wenn du nicht selber sehr auf dich aufpasst. Deswegen, wenn man es macht, man muss diese Auszeit – das ist für mich das Allerwichtigste. Du brauchst Hilfen und du brauchst Auszeiten, wo du ein normaler Mensch sein kannst. Einfach, dass das bleibt.“ (189/13-16) 109 Eine Möglichkeit, um hin und wieder eine Auszeit zu bekommen, ist bei Familie Müller neu begonnen worden. Das Jugendamt hat eine Familie gefunden, deren eigene Kinder schon groß sind und die ebenfalls ein Pflegekind betreut haben, zu dem auch heute noch Kontakt besteht. Für ein Wochenende im Monat und jeweils die Hälfte der Ferien besucht Lisa diese Familie. Sie haben eigentlich eine „Großeltern-Rolle“ übernommen. Lisa fühlt sich dort wohl. „Auf jeden Fall war sie jetzt in den Herbstferien zum ersten Mal, da hat sich dann das Jugendamt wirklich auch bemüht, dass muss ich jetzt mal sagen, da sind also nette Mitarbeiter, die Leute angesprochen haben und gefragt haben und dann gesagt haben – hier, das können wir uns vorstellen. Das ist eine Familie, die zwei leibliche erwachsene Kinder hat und eine Pflegetochter gehabt hat, die mittlerweile auch erwachsen ist, sich also ein bisschen mit der Grundproblematik auskennen und die das machen würden. Und da ist sie jetzt in den Ferien das erste Mal für eine halbe Woche gewesen und die Lisa war sehr – ja, sie fand´s gut.“ (184/26-33) Eine wertvolle Unterstützung für die Familie ergab sich dann durch einen neuen Psychologen, bei dem Lisa zur Therapie ist. Nicht nur Lisa konnte Vertrauen zu ihm aufbauen, sondern auch für die Pflegeltern wurde er zu einem wichtigen Ansprechpartner, der ihre Situation versteht und mit ihnen gemeinsam nach neuen Wegen und Möglichkeiten in der Erziehung sucht. Die Gespräche mit dem Psychologen sind sehr wichtig bei der Verarbeitung ihrer Erlebnisse. Hinsichtlich ihrer Problematik lenkt er die Sichtweise in eine positivere Richtung und bietet wertvolle Unterstützung. „Und dann kriegten wir dann endlich den Platz bei Herrn Y, und da konnte die Lisa Vertrauen aufbauen.“ (181/18-19) „Wir haben uns dann geeinigt, die Lisa braucht einen Anwalt. Wir sind als Familie relativ stark. Wir haben auch immer versucht, mit der Laura getrennt was zu machen. Eh.. und Lisa braucht jemanden, der ganz alleine für sie da ist. Das heißt, er spricht auch gegen uns, für uns gegen uns - bei der Lisa. Einfach um ihr Vertrauen – ich bin ihr Anwalt und ich bin ihr Freund und nur für sie da – so muss das für sie dastehen. Das war der richtige Weg, war wirklich der richtige Weg.“ (181/28-33) 110 In einem Gespräch mit Frau Müller hat Herr Y gefragt, warum sie das mache. Sie hat geantwortet, dass sie schon immer auf dem Wasser laufen wolle. Durch seine Antwort hat sie sich nach langer Zeit, verstanden gefühlt. „Ich habe gesagt, ich wollte schon immer auf Wasser laufen. ((lachen)) Und dann hat er gesagt – dafür habe ich ihn wirklich „geliebt“, dann hat er gesagt: „Ok, dann werden sie sehr einsam sein und sie werden noch oft an mich denken. Aber ich verstehe sie, ich will es nämlich auch.“ ((lachen)) Das fand ich gut. Das hat mir wirklich, das hat mir endlich dann richtig gut getan. Da habe ich mich einfach verstanden gefühlt. Ich meine, er hat mir die Situation so klar gemacht.“ (180/15-21) Im Laufe der Jahre hat Lisa in ihrer Entwicklung große und wichtige Fortschritte gemacht. Die gute Förderung trägt so langsam Früchte. „Ich lass die Sachen wirklich mehr – ich gucke, was schadet uns und die Sachen muss ich lernen – und das fällt mir sehr schwer – durch die Finger zu sehen. Dann ist es eben nicht da. Was sie dann nicht gelernt hat, sie wird ja auch immer älter, dann muss sie die Konsequenzen selber auch tragen. Manchmal denke ich, die ist wie ein sechsjähriges Kind. Das geht einfach auch so nicht. Sie würde nicht in die Schule gehen – auch heute noch nicht. Sie hat einfach diesen Grundzug, dass sie dann abschaltet und das für sich positiv nimmt und dann habe ich überhaupt keinen Wert davon. Geht sie nicht in die Schule, es besteht nun mal Schulpflicht, dann ist sie ruck-zuck aus der Schule geflogen, also gucke ich danach, dass sie zur Schule kommt. Aber, mühsam ernährt sich das Eichhörnchen. Sie lernt, langsamer als andere, aber sie lernt es eben doch. Also im Moment läuft es relativ entspannt und glaub ich, das hätte ich früher nicht gedurft und hätte nicht funktioniert, aber jetzt dadurch auch, dass die Laura auch älter geworden ist.“ (191/29-192/7) Um Lisa die Möglichkeit zu geben, sich auch an Abmachungen halten zu können, wurde ein Belohnsystem eingeführt. Es fiel ihr immer sehr schwer, sich daran zu halten. Heute kann sie es akzeptieren. „Sie hat dieses Belohnungssystem und, wenn sie dann einen Tag was gut macht, mache ich auch mal was extra mit ihr, fahre mit ihr irgendwo hin, macht mal was und belohne das. Wir haben das immer mit diesem Belohnungssystem versucht, was ja von Psychologen sehr angepriesen wurde, hat nie funktioniert. Jetzt mit fünfzehn Jahren fängt es 111 langsam an. Sie hat jetzt gesagt: „Das gefällt mir immer noch nicht.“ Aber sie macht es wenigstens.“ (192/25-30) Lisa geht halbjährlich zu Untersuchungen in die Kinderklinik. Dort wurde u.a. auch die Bindungsstörung von Lisa festgestellt. „Zumal die Kinderklinik immer sagt, das Kind wäre so stark bindungsgestört, Bindungsstörung schreit nach Distanz. Da sagen aber Herr Y und wir, ja, sie braucht die Distanz und sie braucht trotzdem uns. Sie braucht im Prinzip beides, nur das Modell gibt es einfach nicht.“ (184/22-25) Dieser Spagat zwischen Nähe und Distanz, der für Lisa sehr wichtig ist, stellt eine enorme Anforderung an die Pflegeeltern. Bei der letzten Untersuchung in der Kinderklinik, die einen Tag vor unserem Interview stattfand, sagte der behandelnde Arzt: „Ich verfolge ihren Fall mit allergrößter Spannung. Es ist ein absolutes Novum. Noch nie haben wir erlebt das ein Kind mit dieser starken Störung dreizehn Jahre in einer Familie gehalten werden kann und jetzt in der Pubertät man das innerhalb der Familie versucht zu entzerren.“ (183/19-22) Frau Müllers Antwort im Interview darauf lautete: „ Wir haben das hingekriegt. Wir haben dann überlegt, wie können weitergehen, auch mit dem Herrn Y auch zusammen.“ (183/22-23) „Sie ist wirklich meine Arbeit – das hört sich hart an. Aber das ist letztlich für sie das, wo sie mit Leben kann, weil sie die Bindung ja nicht erträgt. Sie braucht trotzdem die Nähe. Das war bei uns immer so. Klaus ist der Gute, das hat sich auch ergeben und mit dem Herrn Y abgesprochen. Klaus war immer der Gute, ich war immer die Böse. Wir haben das auch so gemacht. Die Sachen mit mir abgesprochen und ich habe die Hammersachen gemacht. Und irgendwann hat der Psychologe gesagt, dass funktioniert nicht mehr. Sie muss jetzt ein normales Elternbild oder Pflegeelternbild kriegen. Das muss jetzt ausgewogen sein, wo wir das dann umgestellt haben. Aber es ist immer noch so, dass sie zu Nähe – sie setzt sich bei Klaus auf den Schoß und muss wirklich in den Arm genommen werden – das kann sie von mir auch annehmen, aber von Klaus sucht sie ganz anders. Das ist immer so gewesen. Wir haben bewusst so entschieden, um ihr die 112 Möglichkeit sowohl nach Nähe als auch nach Distanz zu geben. Ich war der, der ihr Distanz gab, und Klaus Nähe.“ (193/24-194/2) Ferner wird ersichtlich, dass immer wieder neue Abmachungen getroffen und neue Wege gesucht werden müssen, um weiterzukommen. „Sie kommt aber jetzt – also sie ist im Moment etwas entspannt – sonst wären auch die Noten in der Schule nicht halbwegs gut. Das kann sein, das ist wieder ein System für drei Wochen – das ist schon länger als drei Wochen, dann muss man sich das nächste wieder einfallen lassen. Nur ich bin grundsätzlich nicht mehr bereit, mich auf irgendwelche Diskussionen einzulassen und das ist ihr auch klargemacht worden, auch vom Psychologen. Das hier ist ein Aufenthalt auf Zeit, wenn du dich nicht entsprechend einfügst. Sie ist jetzt alt genug. Hier herrschen gewisse Familienregeln, an die habe ich mich zu halten oder muss ich mich einfügen. Ansonsten schaufel ich mir mein eigenes Grab.“ (192/31-193/5) In Gesprächen mit dem Psychologen und durch die Klassenkonferenz, an der auch das Jugendamt beteiligt war, wurde Lisa auch deutlich gemacht, dass sie bei einem Schulwechsel die Pflegefamilie verlassen muss. Das möchte sie auf gar keinen Fall. An einer Passage im Interview sagt Frau Müller dazu: „Sie hat da ja bei der Klassenkonferenz mitgekriegt, auch, dass das Jugendamt damals gesagt hat – da war sie ja involviert – dass die gesagt haben, wenn auch noch ein Schulwechsel kommt, dann kommst du aus der Familie raus. Und das will sie auf gar keinen Fall. Sie entschuldigt sich jetzt öfters. Von daher sind da Fortschritte.“ (193/5-9) Die Pflegeeltern bekommen ein Pflegegeld für die Pflegschaft von Lisa. An den Kosten für Nachhilfe hat sich das Jugendamt beteiligt. Alles, was ansonsten an Therapie oder Hilfen für Lisa gebraucht wird, zahlen die Pflegeeltern selbst oder ihre Krankenkasse (z.B. den Psychologen und die Kur, die Lisa gemacht hat). Lisa besucht seit der Grundschule eine Privatschule, für die ein Schulgeld gezahlt werden muss. Die Kosten tragen die Pflegeeltern privat. Die Pflegeeltern wollten Lisa wie ein eigenes Kind erziehen (was bei einer Adoption eines Kindes auch so gewesen wäre) und tragen die meisten Kosten selbst. „Ich wollte die Lisa halten wie ein eigenes Kind, wir hatten ja auch schon mal einen Adoptionsantrag gestellt, da hätten wir auch alles selbst bezahlen müssen.“ (195/11-13) 113 Am Ende unseres Interviews habe ich mit Frau Müller über ihre Erwartungen bezüglich eines Pflegekindes gesprochen. Ich wollte wissen, ob sich ihre Erwartungen erfüllt haben oder ob es anders gelaufen ist, als sie es sich vorgestellt hat und ob sie diese Entscheidung noch einmal treffen würde. Frau Müller ist der Meinung, dass sie „blauäugig und unwissend“ (vgl. 197/1-2) gewesen sei, als sie ein Pflegekind aufgenommen hat. Durch diese starke Bindungsstörung des Pflegekindes ist es sehr schwierig, ein klassisches Familienleben zu führen. Das ist innerhalb einer Familie kaum möglich, eben auch dann, wenn leibliche Kinder involviert sind. Sie hat es dann später als ihre Arbeit angesehen, bei der sie sich helfen lässt von Psychologen oder Menschen, die sie mit dem Pflegekind entlasten. „Äh, ´ne. Die Erwartungen waren blauäugig. Wir haben das gut gemeint, aber das war einfach wirklich blauäugig und unwissend. Ich sehe das heute so, zwischenzeitlich habe ich die Meinung gewonnen, die sehe ich nicht mehr ganz so extrem heute, dass ich gesagt habe, Pflegekinder gehören zum allergrößten Schnitt nicht in Familien. …((..))… Ich weiß, dass man das stellenweise anders sieht, ich habe selbst Bücher über Bindungsstörungen gelesen – auch ein Buch, da war ich damals an der Uni bei der Daniela Reimers und Professor Wolf, das Buch, über das da gesprochen wurde, habe ich kurz vorher gelesen. Die haben das fast zitiert an manchen Stellen, und ich fand das interessant, nur nicht – wirklich nicht durchführbar. Du kannst diese Bindung in diesem Maße innerhalb der Familie nicht schaffen. Von daher bin ich immer noch der Meinung, weil die Kinder auch überfordert sind, das ist wahrscheinlich richtig und auf uns trifft auch Vieles zu, weil wir uns in einem extremen Maße – wie man uns immer sagt - gekümmert haben. Wir haben ja wirklich ein Stück Leben aufgegeben. …((3))… Äh, es ist einfach nicht durchführbar. Man kann diese Bindung, so wie das Kind sie braucht, nicht leisten, auch nicht aufzubauen, wenn du parallel noch Kinder hast – sind wir wieder bei dem Thema. Von daher hat sich die Erwartung überhaupt nicht - mit diesen Katastrophen rechnet kein Mensch. Du gehst dahin und willst einem Kind helfen.“ (197/1-17) „Und wirklich das als eine Arbeit sehen. Das ist mein Job. Das integriere ich in die Familie, das läuft oft eben nicht. Natürlich integrierst du ein Stück weit, aber nicht in dem Maße. Das ist meine Arbeit, wo ich mir bei helfen lasse mit Psychologen, mit Leuten, die mir das Kind abnehmen, von vorneherein so eingespielt.“ (197/22-25) 114 In dem klassischen Familienmodell hatte sie auch die Erwartung, dem Kind selbst mehr geben zu können. Man geht davon aus, einem Kind etwas Gutes zu tun und ihm zu helfen. „ […] ich habe gedacht ich kann dem Kind viel mehr – viel mehr geben“. (198/7-8) 5.2.3. Themenspezifische Auswertung Die themenspezifische Auswertung meines Interviews bezieht sich auf die Themen, die für die Motivationsfindung wesentlich waren. In dem gesamten Interview kamen noch mehrere Themen zur Sprache, die aber für die Motivation nicht bedeutsam waren. Daher beschränke ich mich auf die Passagen, die zur Motivationsfindung beigetragen haben. 5.2.3.1. Wie kam es zur Aufnahme eines Pflegekindes? Die Auswertung der Interviews der Pflegemutter ergab unterschiedliche Motivationsansätze, durch die sie ermutigt wurde, ein Pflegekind aufzunehmen. Am Anfang erzählte sie sehr detailliert, wie es zur Aufnahme von Lisa kam. Hierzu eine Textpassage: „Das kann ich sehr genau sagen. Wir waren auf einem Vortrag – Klaus und ich zusammen damals, da war ich 17 und Klaus 21 Jahre alt und … an den Satz kann ich mich noch sehr genau erinnern, der im Prinzip alles ausgelöst hat, was weiter kam. Da sagte eine Frau: `Die Aufgabe des vergangenen Jahrhunderts war, die Kinder von der Straße in Heime zu holen. Unsere Aufgabe ist es, Kinder aus den Heimen in Familien zu holen`. Das hat uns beide damals so beeindruckt in Verbindung mit diesem Satz, in dem Jesus sagt: `Wer ein Kind aufnimmt in meinem Namen, der nimmt mich auf`. So, dass wir damals entschieden haben, jung und nur verliebt, weder verlobt noch verheiratet, wenn wir noch irgendwie zusammen sind, dann werden wir auf jeden Fall Kinder aufnehmen; Kind oder Kinder. Damals sind wir noch blauäugig darangegangen.“ (161/1424) 115 Man entschloss sich erst abzuwarten, ob sie eigene Kinder bekommen würden und die Aufnahme eines fremden Kindes sollte dann im Anschluss geschehen: „Wir wollten erst gucken, ob wir eigene Kinder kriegen und das im Anschluss machen“. (161/24-25) Nachdem Herr und Frau Müller dann geheiratet hatten, wurde die Idee, ein Kind aufzunehmen konkreter. Am Anfang gingen sie davon aus, ein Kind zu adoptieren. „Und…eh…das ist eigentlich durchgängig dann immer geblieben. Wir haben dann gebaut, geheiratet und dann hat es relativ lange gedauert, bis dass ((lachen)) ich schwanger wurde und dann haben wir uns irgendwann die Frage gestellt, was machen wir jetzt? Jetzt sind wir so lange verheiratet, Kind annehmen – jetzt - oder warten wir noch. Dann haben wir uns entschieden, wir stellen mal einen Antrag auf eine Adoption. Aber als wir den stellten, war ich dann schon schwanger ((lachen)), wie es dann so geht.“ (161/2733) Durch die eigene Schwangerschaft wurde ihnen dann geraten, erst mal den Adoptionsantrag zurückzustellen. „Hat man ja öfters. Ja, und eh ...dann haben wir trotzdem das Gespräch wahrgenommen mit der Adoption, die haben uns dann natürlich sofort eigentlich geraten, das Ganze zurückzustellen. Die haben uns gesagt: “Das macht auch jetzt keiner. Jetzt kriegen Sie erst mal ihr Kind und dann können Sie sich noch mal ganz neu orientieren und gucken, was haben Sie vor, wollen Sie oder wollen Sie nicht immer noch ein Kind annehmen“. Und dann haben die aber auch gesagt, eh ...Adoption würde dann schon nicht mehr sehr wahrscheinlich sein, weil Kinder zu adoptieren meistens an kinderlose Familien gegeben werden. So war das halt. Und dann haben wir – da war Laura acht Monate und wurde noch gestillt – dann haben wir den nächsten Termin gemacht und haben gesagt ,so, jetzt wollen wir das noch mal in Angriff nehmen und da war schon jemand dabei vom Pflegekinderdienst ((lachen)). Da hatten sie uns schon an der Angel, im Prinzip.“ (162/1-12) „Dann haben wir erst gesagt …`nein`, weil wir gedacht haben, ´ne die hängen sich dann so mit darein, das ist mehr Kontrolle. Das war so unser blauäugiger Gedanke damals. Dann wirst du immer kontrolliert und die wissen dann über alles Bescheid und du hast selber Kinder und du bist ständig da einfach auch in Kontakt. Wir wollten eigentlich 116 damals noch ... Familie, so stellt man sich das erst mal vor und wollten einfach einem Kind was Gutes tun. Das war eigentlich so der Grundgedanke.“ (162/14-20) Obwohl zuerst einige Bedenken gegenüber einer Pflegschaft bestanden, weil man mit dem Jugendamt zusammenarbeiten musste („die hängen sich dann so mit darein“ [162/15]) und das Gefühl hatte, kontrolliert zu werden („Dann wirst du immer kontrolliert und die wissen dann über alles Bescheid … “ [162/16-17]), wurde dann die Entscheidung getroffen, ein Pflegkind aufzunehmen. „Dann haben wir uns aber doch darauf eingelassen und es wurden so Seminare gemacht, das wird auch bis heute gemacht und wir noch gesagt haben: „Ja, jeder kann Kinder kriegen ((lachen)), aber da musst du noch ein Seminar machen, um ein Kind anzunehmen“. Wo ich heute sage: „Gott sei Dank!“ zum einen und zum anderen, das bringt trotzdem nichts mit diesen Seminaren, weil du selber mit einer eigenen Vorstellung darangehst und, weil es einfach bei Weitem nicht ausreicht. Das, was du da hörst und erfährst ist die graue Theorie und nachher kommt dann die Praxis. Und dann haben wir das gemacht, da war die Laura noch sehr klein.“ (162/20-27) Innerhalb des Interviews gibt es mehrere Textpassagen, aus denen sich Rückschlüsse bezüglich der Motivation von Frau Müller ziehen lassen. Diese bisher genannten Motive möchte ich hier kurz aufzeigen, zu Thesen zusammenfassen und später näher darauf eingehen. Wesentlich für Frau Müller waren: • Motivation von außen • Familiäre Motivation • Christliche Motivation • Soziale oder Altruistische Motivation 5.2.3.2. Motivation von außen Ausgelöst durch einen Satz aus einem Vortrag, nämlich „Holt die Kinder aus den Heimen“ wurde Frau Müller so beeindruckt, dass sie damals schon entschieden hatte, ein Pflegekind oder Adoptivkind aufzunehmen. In Verbindung mit der christlichen Komponente, in der Jesus sagt: „Wer ein Kind aufnimmt in 117 meinem Namen, der nimmt mich auf“, stand die Entscheidung für Frau Müller fest, auf jeden Fall ein Kind aufzunehmen, unabhängig davon, ob sie ein eigenes Kind haben würde oder nicht. „Das hat uns beide damals so beeindruckt in Verbindung mit diesem Satz, in dem Jesus sagt: `Wer ein Kind aufnimmt in meinem Namen, der nimmt mich auf`. (161/19-21) Einen großen Eindruck hatte der damalige Vortrag bei Frau Müller hinterlassen, in dem die Rede davon war, die Kinder aus den Heimen in Familien zu vermitteln. Für sie stand da eigentlich schon fest, egal wie ihre familiäre Situation einmal sein würde (mit oder ohne eigene Kinder), dass sie ein Kind aufnehmen möchte. „Wir waren auf einem Vortrag – Klaus und ich zusammen damals, da war ich 17 und Klaus 21 Jahre alt und … an den Satz kann ich mich noch sehr genau erinnern, der im Prinzip alles ausgelöst hat, was weiter kam. Da sagte eine Frau: `Die Aufgabe des vergangen Jahrhunderts war, die Kinder von der Straße in Heime zu holen. Unsere Aufgabe ist es, Kinder aus den Heimen in Familien zu holen`. Das hat uns beide damals so beeindruckt in Verbindung mit diesem Satz, in dem Jesus sagt: `Wer ein Kind aufnimmt in meinem Namen, der nimmt mich auf`. So, dass wir damals entschieden haben, jung und nur verliebt, weder verlobt noch verheiratet, wenn wir noch irgendwie zusammen sind, dann werden wir auf jeden Fall Kinder aufnehmen; Kind oder Kinder.“ (161/1523) Aus der vorher von mir zitierten Textpassage bezüglich der extrinsischen Motivation wird ganz deutlich, dass Frau Müller auf dem damaligen Vortrag zu dem Thema „Holt die Kinder aus den Heimen“, angesprochen wurde. Es ist anzunehmen, dass sie sich schon vorher mit dem Thema auseinandergesetzt hat, da es nicht üblich ist, mit 17 Jahren eine solche Veranstaltung zu besuchen. In einem Satz aus dem Interview von Frau Müller wird dies ersichtlich: „ … an den Satz kann ich mich noch sehr genau erinnern, der im Prinzip alles ausgelöst hat, was weiter kam.“ (161/16-17) Zusätzlich kann vermutet werden, dass durch das Beispiel ihrer Cousine, die ebenfalls auch Pflegekinder hatte, ebenso eine Motivation von außen erfolgt sein könnte. In der folgenden Textpassage sagt Frau Müller: 118 „Ich habe den Vorteil gehabt, vielleicht – das muss ich auch sagen, durch meine Cousine, die auch Pflegekinder ja viel vorher hatten und ich den ganzen Ablauf verfolgte und wir immer im Gespräch waren.“ (187/7-10) 5.2.3.3. Familiäre Motivation Unabhängig davon, ob sie eigene Kinder bekommen würde oder nicht, stand ihr Entschluss fest, ein Pflegekind aufzunehmen. Sie wollte erst einmal abwarten, ob sie eigene Kinder bekommen würde und im Anschluss daran wollte man ein Pflegekind aufnehmen. „Wir wollten erst gucken, ob wir eigene Kinder kriegen und das dann im Anschluss machen.“ (161/24-25) „Wir wollten eigentlich damals noch ... Familie, so stellt man sich das erst mal vor…“ (162/18-19) Zu Beginn standen familiäre und christliche Motive im Vordergrund. Familiäre Gedanken insoweit, dass man von einem klassischen Familienbild ausgeht. Es besteht ein Kinderwunsch, zuerst nach einem eigenen Kind und anschließend nach einem Adoptivkind und später auch einem Pflegekind. Die Motivation, überhaupt ein fremdes Kind aufzunehmen, bestand bei Frau Müller schon sehr früh, eigentlich schon vor der gemeinsamen Ehe, nach dem Besuch dieses Vortrages. Da die Adoption eines Kindes wenig vielversprechend war, weil Kinder zur Adoption meist nur in Familien gegeben werden, die keine eigenen Kinder haben, haben sie sich dann bereit erklärt, auch ein Pflegekind aufzunehmen. „Dann willst du erst adoptieren und das dauert zu lange und dann nimmst du ein Pflegekind.“ (172/9-10) „Du willst ja erst ´ne Familie. Du gehst ja erst wirklich von dem Gedanken, oft sind es ja Leute, die keine Kinder kriegen oder eben wie wir, die jemandem was Gutes tun wollen.“ (187/31-33) 119 5.2.3.4. Christliche Motivation Ganz zu Beginn unseres Gesprächs nannte Frau Müller schon christliche Gründe, durch die sie bestärkt wurde, ein fremdes Kind aufzunehmen. „Das hat uns beide damals so beeindruckt in Verbindung mit diesem Satz, in dem Jesus sagt: `Wer ein Kind aufnimmt in meinem Namen, der nimmt mich auf`.“ (161/19-21) Dieser Satz steht in der Bibel (zum besseren Verständnis wurde eine neuere Übersetzung der Bibel benutzt) in Markus 9 Vers 37 indem Jesus sagt: „Wer in meinem Namen solch ein Kind aufnimmt, nimmt mich auf. Und wer mich aufnimmt, nimmt nicht nur mich auf, sondern gleichzeitig den, der mich gesandt hat.“ (zit. n. Gute Nachricht Bibel, Deutsche Bibelgesellschaft) Das Kind ist in der Bibel ein Symbol für echte Jüngerschaft. Da es selbst ganz abhängig ist, lebt es von der Kraft anderer. Ebenso wie die Menschen abhängig von Gott sind, und von der Kraft Gottes leben. Die Kindesaufnahme „im Namen“ Jesu bedeutet auch, Jesus selbst aufzunehmen; und Jesus aufnehmen bedeutet, den Vater (den, der mich gesandt hat) aufzunehmen (Maier, Bibel Kommentar Band 3, Hänssler-Verlag). Es handelt sich dabei um die Fürsorge an anderen und nicht um die Pflege der eigenen Größe. Hierbei geht es aber auch um christliche Nächstenliebe. Dazu findet man weitere Bibelstellen z.B. in Johannes 13, Vers 34: „Ihr sollt einander lieben! Genauso wie ich euch geliebt habe, sollt ihr einander lieben!“ oder auch in Markus 12, Vers 31: „Das zweite ist: Liebe deinen Mitmenschen wie dich selbst. …“ (zit. n. Gute Nachricht Bibel, Deutsche Bibelgesellschaft) Der Nächste ist der, der mich braucht und dem ich der Nächste sein kann. Das bezieht sich auf Menschen in unserer Familie, unserem nahen Umfeld und auch um Menschen die am Rande unserer Gesellschaft stehen und dringend unsere Hilfe nötig haben. Oftmals sind sie auf unser Verständnis und unsere Zuwendung angewiesen, um sich aus ihrer Hilflosigkeit zu befreien. Eine treffende Definition von Nächstenliebe liefert Martin Luther: 120 „Siehe also müssen Gottes Güter fließen aus dem einen in den anderen und (all)gemein werden, dass ein jeder sich seines Nächsten also annehme als wäre er es selbst. […] Aus dem allen folgt, dass ein Christenmensch nicht lebt in ihm selbst, sondern in Christo und seinem Nächsten, in Christo durch den Glauben, im Nächsten durch die Liebe“ (Luther: Von der Freiheit eines Christenmenschen, zit. n. Joest, Dogmatik Band 2, 1993: S. 474) Im Verlauf des Interviews gab es weitere Hinweise, die auf eine christliche Motivation schließen lassen. „Ich habe gesagt, ich wollte schon immer auf Wasser laufen.“ ((lachen)) (180/15-16) „Machen würde ich das …((3))… nur deshalb noch mal, weil „ich auf dem Wasser laufen wollte“, immer schon. Ich denke, das ist mein Leben. Und es ist für mich als Christ auch der Weg Gottes, mich zu erreichen, das ist aber nur diese christliche Komponente.“ (197/33-198/2) Der Bibeltext, auf den sich diese Aussage bezieht, steht in Matthäus 22, Vers 25 -30: „Im letzten Viertel der Nacht kam Jesus auf dem Wasser zu ihnen. Als die Jünger ihn auf dem Wasser gehen sahen, erschraken sie und sagten: ´Ein Gespenst`, und schrien vor Angst. Sofort sprach Jesus sie an: `Fasst Mut! Ich bin´s, fürchtet euch nicht! ´ Da sagte Petrus: `Herr, wenn du es bist, dann befiehl mir, auf dem Wasser zu dir zu kommen!` `Komm!´ sagte Jesus. Petrus stieg aus dem Boot, ging über das Wasser und kam zu Jesus. (zit. n. Gute Nachricht Bibel, Deutsche Bibelgesellschaft) Wenn man auf dem Wasser gehen will, gehört es zuerst dazu, dass man aus dem Boot aussteigt und bereit sein muss, nasse Füße zu bekommen. Dieses Wort umfasst nicht nur eine rationale Anerkennung von Gottes Macht, sondern der Mensch muss handeln, es ist begründet auf der Annahme, dass Gott vertrauenswürdig ist. Gott sorgt für Glaubenswachstum, indem er die Menschen bittet, den ersten Schritt zu machen. Dieses Muster wiederholt sich immer wieder in der Bibel. Um eine größere Dosis von Gottes Macht in seinem Leben zu erfahren, muss man dem Prinzip des ersten Schrittes folgen. Das „Laufen auf dem Wasser“ dient als Bild für etwas, das Menschen niemals alleine schaffen können, sondern das nur mit der Hilfe Gottes möglich wird. Das 121 Eingreifen Gottes in das Leben von Menschen läuft meist nach einem bestimmten Schema ab: Es gibt immer eine Berufung von Gott, um einen außergewöhnlichen Vertrauensschritt zu wagen. Es besteht immer ein Gefühl von Angst, wenn Gott die Menschen bittet, Dinge zu tun, die ihnen sehr viel Angst machen. Es findet immer eine Rückversicherung statt. Gott sagt zu, dass er alles geben wird, was für die Erfüllung seiner Berufung nötig ist und garantiert uns seine Gegenwart. Es bedarf immer einer Entscheidung, egal ob man ja oder nein sagt, eine Entscheidung muss getroffen werden. Es geschieht immer eine Veränderung. Unabhängig davon, wie sich der Mensch entscheidet, er verändert sich selbst und auch die Welt, wo er mit ihr in Berührung kommt. (Ortberg, 2004) Immer dann, wenn Jesus einen Menschen dazu beruft, aus dem Boot zu steigen, bekommt er auch von ihm die Kraft verliehen, auf dem Wasser zu gehen (Ortberg, 2002). Die Kraft, die Frau Müller braucht, um immer wieder weiterzumachen ist auch auf ihren christlichen Glauben bezogen und wird von ihr folgendermaßen beschrieben: „Aber dieses Licht finde ich trotzdem.“ (186/10) Das Licht bezieht sich auf Gott, den Urheber allen Lichts und zwar auch des Lichts, welches wir nur mit unserem geistigen Auge (mit dem `Herzen`) wahrnehmen und empfinden können. Durch Gott, der mit uns spricht, fällt Licht auf unseren Lebensweg. In Johannes 8, Vers 12 sagt Jesus: „Ich bin das Licht für die Welt. Wer mir folgt, tappt nicht mehr im Dunkeln, sondern hat das Licht und mit ihm das Leben.“ (zit. n. Gute Nachricht Bibel, Deutsche Bibelgesellschaft) Jesus hat das Ziel, Hilfestellung zu geben, Mut zum Umdenken zu machen und zu befähigen, neue Schritte zu wagen. (Blunck, et al, 2001, Biblisches Wörterbuch) 122 5.2.3.5. Soziale/Altruistische Motivation In den 1960er Jahren begann man sich vermehrt mit den Hintergründen der Heimerziehung und Inpflegegaben auseinanderzusetzen. Das „Versagen der Heimerziehung“ (zit. n. Blandow, 2004: S. 56) war der ausschlaggebende Grund, sich wieder den Ersatzfamilien zuzuwenden. Es wurde begonnen, sich von der Heimerziehung zu lösen und ein Pfegekindersystem mit „eigener Würde“ (zit. n. Blandow 2004: S. 59) aufzubauen. Durch Webekampagnen der Jugendämter mit dem Slogan „Holt die Kinder aus den Heimen“, erhoffte man sich, neue Pflegeeltern zu finden. Es wurden Elternseminare und eine Beratung für die Pflegefamilien angeboten. Die neuen Konzepte der Jugendämter konnten sich nicht überall durchsetzen und die Pflegeeltern fühlten sich überrumpelt und im Stich gelassen. Die Pflegeeltern hatten an Selbstbewusstsein gewonnen und ihre Motivationen waren nicht mehr nur von persönlicher und familiärerer Art, sondern auch die soziale Motivation spielte eine große Rolle. Die Pflegemutter geht in ihrem Interview auf diesen Slogan ein, den sie auf einer Veranstaltung gehört hatte. Aufgrund dessen kann man hier auf eine soziale Motivation Rückschlüsse ziehen, die an dieser Stelle in den Vordergrund rückt. Das kann ich sehr genau sagen. Wir waren auf einem Vortrag – Klaus und ich zusammen damals, da war ich 17 und Klaus 21 Jahre alt und … an den Satz kann ich mich noch sehr genau erinnern, der im Prinzip alles ausgelöst hat, was weiter kam. Da sagte eine Frau: `Die Aufgabe des vergangenen Jahrhunderts war, die Kinder von der Straße in Heime zu holen. Unsere Aufgabe ist es, Kinder aus den Heimen in Familien zu holen`. (161/14-19) Zu Beginn der Überlegungen, ein Pflegekind aufzunehmen, bestand auch der Wunsch, einem Kind etwas Gutes zu tun. „… einfach einem Kind was Gutes tun.“ (162/19) Der soziale Gedanke kam mehrmals ganz deutlich zum Ausdruck. Dabei ging es darum, einem Kind ein positiveres Leben zu ermöglichen. „Wir wollten eigentlich damals noch ... Familie, so stellt man sich das erst mal vor und wollten einfach einem Kind was Gutes tun.“ (162/18-19) 123 „Du gehst ja erst wirklich von dem Gedanken, oft sind es ja Leute, die keine Kinder kriegen oder eben wie wir, die jemanden was Gutes tun wollen.“ (187/32-33) „Du gehst dahin und willst einem Kind helfen.“ (197/17) „Ich habe gedacht ich tu was Gutes, nicht ich gerade hier aufs Abstellgleis.“ (197/32) „[…] ich habe gedacht ich kann dem Kind viel mehr – viel mehr geben.“ (198/7-8) Durch die Gründe, „einem Kind etwas Gutes zu tun“, kann man auch auf eine christliche Motivation schließen. Das Prinzip der Nächstenliebe kommt auch hier zum Ausdruck. 5.2.3.6. Finanzielle Motivation Innerhalb des Interviews gab es Hinweise, die eine Motivation aus finanziellen Gründen ausschließen lassen. Da sie die Lisa wie ein eigenes Kind ansehen und ursprünglich auch eine Adoption ins Auge gefasst hatten, hätten sie ebenfalls alles selbst zahlen müssen. „Ich wollte die Lisa halten wie ein eigenes Kind, wir hatten ja auch schon mal einen Adoptionsantrag gestellt, da hätten wir auch alles selbst bezahlen müssen.“ (195/11-13) 5.2.4. Motivation der Pflegemutter Bei den Motivationen von Pflegeeltern dürfte es sich ähnlich wie bei den Motiven von normaler Elternschaft um ein Zusammenspiel von mehreren unterschiedlichen Motiven handeln. Dabei dominiert zumeist ein Hauptmotiv. Andere Motive sind aber auch von wesentlicher Bedeutung. Oftmals sind sich die Pflegeeltern ihrer Motive überhaupt nicht bewusst oder können sie nur sehr schwer ausdrücken. In der weiteren Betrachtung der Ergebnisse zu Pflegeeltern kann festgehalten werden, dass es sich um Menschen mit einer besonderen Neigung gegenüber dem klassischen und traditionellen Familienleben handelt. Diese Eigenschaften 124 sind ganz wichtig für Kinder, die traumatische Erfahrungen in ihrem bisherigen Leben gemacht haben (Blandow, 2004). In der Ausarbeitung des Interviews konnten verschiedene Motivationen herausgearbeitet werden. Es fanden sich Hinweise, die auf Motivation von außen, familiäre, christliche und soziale/altruistische Motivationen schließen lassen. Bei der extrinsischen Motivation kann davon ausgegangen werden, dass andere Menschen zu dieser Motivation beigetragen haben (z.B. durch den Vortrag, den die Befragte besuchte). Rheinberg definiert Motivation als extrinsisch, „wenn der Beweggrund des Verhaltens außerhalb der eigentlichen Handlung liegt, oder weiter gefasst: wenn die Person von außen gesteuert erscheint.“ (zit. n. Rheinberg, 2008: S. 149) Als intrinsisch definiert Rheinberg Motivation, „wenn es um seiner selbst Willen geschieht, oder weiter gefasst: wenn die Person aus eigenem Antrieb handelt.“ (ebd., S.149) Die familiäre, christliche und soziale/altruistische Motivation lassen auf eine intrinsische Motivation schließen, es geschieht aus eigenem Antrieb der Person. Die Motivation kann sich auch im Verlauf der Tätigkeit verändern. Es besteht die Möglichkeit, eine Tätigkeit aufgrund extrinsischer Motive zu beginnen und sie im weiteren Verlauf der Tätigkeit durch intrinsische Motive weiterzuführen. Ausgelöst durch den Vortrag, den Frau Müller besuchte bestand zuerst eine extrinsische Motivation, die aber im Verlauf der Planung und Durchführung des Pflegeverhältnisses von intrinsischen Motiven ersetzt wurde. Auch wenn bei Frau Müller zu Beginn des Pflegeverhältnisses eine extrinsische Motivation mit ausschlaggebend war, überwog in den Jahren mit dem Pflegekind die intrinsische Motivation. Das Pflegeverhältnis besteht heute nicht mehr aus intrinsischen Motiven, sondern aus der Motivation, dem Pflegekind gute Entwicklungsmöglichkeiten, eine hilfreiche Förderung und die Aussicht auf ein relativ selbständiges Leben zu ermöglichen. „Eh, die Lisa ist extrem gut gefördert, für das, was an Potential da ist, ist sie extrem gut gefördert.“ (171/6-7) „Also, sie hat unheimlich viel gelernt,… .“ (170/29) 125 „Wir haben alles immer wieder versucht sie zu verstehen, wieder einen Weg zu finden.“ (171/18-19) Intrinsische Motivation lag zu beginn der Pflegschaft vor und ist heute noch sehr relevant. Familiäre, christliche und soziale Motivation gründen auf intrinsischen Motiven. Für Frau Müller ist ihr Leben mit dem Pflegekind ihr Weg, was sie in einer Textpassage deutlich zum Ausdruck bringt. „ … ,weil „ich auf dem Wasser laufen wollte“, immer schon. Ich denke, das ist mein Leben. Und es ist für mich als Christ auch der Weg Gottes, mich zu erreichen, das ist aber nur diese christliche Komponente. Du musst wirklich, genau das wollen. Entweder fliegen wollte ich immer, Seiltanzen oder auf dem Wasser laufen.“ (197/34-195/4) „Und trotzdem bin ich überzeugt das es mein Leben ist und mein Weg.“ (198/20) In der Auswertung des Interviews mit Frau Müller stellte sich heraus, dass ihre Motivation, die sie vor und zu Beginn des Pflegeverhältnisses hatte, sich etwas erweitert hat. Die wichtigsten Motivationsgründe, wie familiäre Motive, christliche Motive oder das soziale Motiv, einem Kind etwas Gutes zu tun, sind heute ebenfalls noch vorrangig und vorhanden, sie haben sich aber durch die Problematik, die mit den Störungen des Pflegekindes verbunden ist und mit der heutigen Erfahrung als Pflegemutter, erweitert. Innerhalb des Interviews gab es einige Textstellen aus denen man schließen kann, dass die Befragte sich wie eine Mutter um das Pflegekind kümmern wollte. Sie hatte ihre Vorstellung von einer klassischen Familie. Das Mutter-Konzept ermöglichte es der Pflegemutter, sich an der klassischen Mutter-Rolle zu orientieren, was hier aber nicht möglich war. Um sich an der klassischen Mutter-Rolle orientieren zu können, muss vorausgesetzt sein, dass die Beziehung zu dem Pflegekind der zu einem leiblichen Kind gleicht. Das ist bei Frau Müller und ihrer Beziehung zu Lisa nicht möglich, da sie selbst sagt, dass sie sich nicht wie eine Mutter verhalten kann. „Ich konnte mich nicht wie eine Mutter verhalten.“ (169/17) Aufgrund der Probleme und Konflikte, die in diesem Pflegeverhältnis entstehen und der Störungen des Pflegekindes, war für Frau Müller ziemlich schnell klar, 126 dass sie eine andere Möglichkeit finden musste, mit Lisa umzugehen, die dann auch von Lisa akzeptiert werden konnte. Sie konnte sich nicht an der klassischen Mutterrolle orientieren, weil Lisa diese Nähe nicht ertragen und nicht aushalten konnte. In dem „Mutter-Konzept“ erwartet die Pflegemutter ein Kind, das sich ebenfalls überwiegend in der kulturell vorgegebenen Kindesrolle bewegt. Durch den kulturell vorgegebenen Rahmen gibt es Grenzen, in denen sich das Kind bewegen kann und in denen die Pflegemutter zur Befriedigung der kindlichen Bedürfnisse bereit ist. Manchen Kindern ist es auf Grund ihrer Störungen nicht möglich, sich so zu verhalten, wie es in der kulturellen „KindesRolle“ vorgesehen ist. Bei Frau Müller fand nach kurzer Zeit eine Veränderung ihrer Rolle statt. Da sie sich nicht wie eine Mutter verhalten konnte, sah sie dann die Pflegschaft als ihre Arbeit an. Ihre Beziehung zu Lisa glich dann eher der einer beruflichen Beziehung, bei der sie eine pädagogische Aufgabe zu erfüllen hat. Ihre Aufgabe bestand darin, Lisa bei Schwierigkeiten helfend und unterstützend zur Seite zu stehen, was Blandow als „Helfer-Konzept“ bezeichnet (vgl. Blandow, 1972). Für diese Feststellung, die sich durch die intensive Betrachtung des Interviews herauskristallisierte, gibt es mehrere Belegstellen: „Ich konnte mich nicht wie eine Mutter verhalten.“ (169/17), „Dann habe ich aber sehr schnell gemerkt, wirklich innerhalb von zwei Jahren, das wird mein Beruf, es wird nie ein Kind von mir werden, was man mir immer wieder vorgeworfen hat. Was für die Lisa lebensnotwendig war und für uns alle eigentlich auch. Und habe dann auch nach und nach gemerkt – das hat dann auch wieder vier oder fünf Jahre gedauert, das hier ist eine völlig falsche Einstellung, auch in einem selber. Du musst das für dich als deinen Beruf sehen.“ (195/16-21), „Du musst dich umstellen, du kannst dann aber sagen, dass hier ist meine Aufgabe und da lass ich mich voll drauf ein.“ (165/30-31), „Sie ist wirklich meine Arbeit – das hört sich hart an. Aber das ist letztlich für sie das, wo sie mit Leben kann, weil sie die Bindung ja nicht erträgt.“ (193/24-25) „Und wirklich das als eine Arbeit sehen. Das ist mein Job. Das integriere ich in die Familie, das läuft oft eben nicht. Natürlich integrierst du ein Stück weit, aber nicht in dem 127 Maße. Das ist meine Arbeit, wo ich mir bei helfen lasse mit Psychologen, mit Leuten, die mir das Kind abnehmen, von vorneherein so eingespielt.“ (197/22-25) Die aufgeführten Textpassagen lassen vermuten, dass eine Veränderung der Rolle stattgefunden hat. Ihr „Selbst-Konzept“ entspricht nicht mehr ausschließlich der „Mutter-Rolle“, sondern auch dem „Helfer-Konzept“. Die Merkmale, wie z.B. Spaß an Kindern zu haben, das Bedürfnis zu helfen, eine schwere Erziehungsaufgabe zu übernehmen oder auch etwas für die Gemeinschaft zu tun sind charakteristisch für die Rollenbefriedigung beim „Helfer-Konzept“ und gelten auch für das Selbst-Verständnis professioneller Erzieher. Die Beteiligte übernimmt eine professionelle Aufgabe an dem Kind, wobei sich nicht nach den Bedürfnissen der Mutter, sondern nach den Bedürfnissen des Kindes gerichtet wird. Die Bedürfnisse der Pflegemutter bleiben aber ebenfalls im Blickfeld. Es werden keine Anforderungen an die Kinder gestellt, das Verhältnis wird professionell betrachtet und Abweichungen von der „Kindes-Rolle“ haben keine Bedeutung. Die Pflegemutter sollte in der Lage sein, die anstehenden Probleme in einer für das Kind einsichtigen emotionalen und kognitiven Weise zu lösen und der Pflegeerfolg hängt maßgeblich von den eben genannten Fähigkeiten der Pflegemutter ab. (Blandow, 1972) Da die Pflegemutter in der Lage war, ihre Rolle zu verändern, schaffte sie eine wichtige Basis für dieses Pflegeverhältnis. Die Entscheidung der Pflegemutter für ein bestimmtes „Selbst-Konzept“ weist dem Kind eine bestimmte komplementäre Rolle zu, wobei es ganz wesentlich ist, dass das Kind diese Rolle auch annehmen und ausfüllen kann. Zu der Motivation, die die Pflegemutter vor der Inpflegenahme eines Kindes hatte, kommt jetzt die berufliche Motivation dazu. Sie sieht die Pflegschaft als ihren Beruf, ihre Arbeit an, bei der sie sich von Fachleuten unterstützen und helfen lässt. Durch Fortbildungen und Eigeninitiative hat sie sich weitergebildet, um ihre Aufgaben im Sinne des Kindes erfüllen zu können. Ursprünglich war es mal ihr Wunsch, Soziologie, Psychologie und Theologie zu studieren. Das war immer ihr Thema. Diese Behauptung möchte ich mit Hilfe der folgenden Textpassage belegen: „Du musst dich da ja selber reinfinden. Ich mein, ich oder Lisa hat vielleicht das Glück oder auch Pech gehabt, je nach dem, dass das immer mein Thema war. Ich wollte ja, ich hatte ja diesen Studienplatz schon – Soziologie, Psychologie, Theologie. Von daher hat 128 mich das vom Thema her immer interessiert. Ich habe gelesen wie ein Geisteskranker, ich bin auf jede Tagung und ich hab mir wirklich alles an Büchern oder an Wissen angeeignet oder auch von Leuten oder ich bin zu andern Pflegeeltern. Wir haben diesen Pflegeeltern-Stammtisch ja damals selber ins Leben gerufen, dass man einfach sich austauschen konnte. Und von daher hat man sich so langsam ein bisschen in die Geschichte reingearbeitet.“ (167/19-27) Dührssen (1977) und Blandow (1972) haben in ihren Studien herausgefunden, dass es immer ein Motiv gibt, das als das Wichtigste und als der treibende Faktor der Frau empfunden und somit als erstes genannt wird – ein sogenanntes Hauptmotiv. In dem vorliegenden Interview dieser Arbeit hat die Befragte als erstes erzählt, dass sie von einem Vortrag zu dem Thema Pflegekinder sehr stark angesprochen wurde, wobei man von einer extrinsischen Motivation ausgehen kann. „Wir waren auf einem Vortrag – Klaus und ich zusammen damals, da war ich 17 und Klaus 21 Jahre alt und … an den Satz kann ich mich noch sehr genau erinnern, der im Prinzip alles ausgelöst hat, was weiter kam. Da sagte eine Frau: `Die Aufgabe des vergangen Jahrhunderts war, die Kinder von der Straße in Heime zu holen. Unsere Aufgabe ist es, Kinder aus den Heimen in Familien zu holen`. (161/15-19) Gleichzeitig nannte sie aber auch ein Detail, durch das man auf eine christliche Motivation schließen kann. Das hat uns beide damals so beeindruckt in Verbindung mit diesem Satz, in dem Jesus sagt: `Wer ein Kind aufnimmt in meinem Namen, der nimmt mich auf`.“ (161/19-21) Vergleicht man die in der Auswertung deutlich gewordenen Motivationsgründe, kann man zu der Ansicht gelangen, dass die christliche Komponente die stärkste von allen ist. Für Frau Müller ist es ihr Leben und ihr Weg, den Gott für sie vorgesehen hat und auf dem er sie am besten erreichen kann. Das drückt sie auch am Ende des Interviews ganz deutlich aus: „Ich denke, das ist mein Leben. Und es ist für mich als Christ auch der Weg Gottes, mich zu erreichen, das ist aber nur diese christliche Komponente. Du musst wirklich, genau das wollen.“ (198/1-3) 129 Wie auch schon Blandow (2004) festgestellt hat, gibt es meist mehrere Motive, die zur Aufnahme eines Pflegekindes führen. Er definierte ein dominantes Hauptmotiv und die weiteren genannten Motive sah er ebenfalls als wichtig an. Die in der Ausarbeitung herausgearbeitete christliche, familiäre und berufliche Motivation ergeben gemeinsam die Grundlage für dieses Pflegeverhältnis. Durch ihre Kombination ist es möglich, dass die Pflegschaft bisher so erfolgreich und dauerhaft geführt werden konnte. Die christliche Motivation kann als das Hauptmotiv herausgearbeitet werden, da sie sich durch das gesamte Leben von Frau Müller zieht und ihr immer wieder die Kraft gibt, weiterzumachen. Ohne die berufliche Motivation wäre aber ein so spezifisches Eingehen auf die Bedürfnisse des Pflegekindes nicht möglich gewesen. In einem kurzen Gespräch mit Frau Müller, das am Abend nach unserem Interview stattfand, sprach sie von der „Motivation hinter der Motivation“. Die eigentliche Motivation ist heute noch die Gleiche wie vor dreizehn Jahren. Hinzugekommen ist die „Motivation für das Pflegekind“, d.h. für den Weg, den Lisa vor sich hat, die Entscheidungen zu treffen, die Lisa in ihrer Entwicklung und in ihrem Leben weiterbringen können, damit ihr die Möglichkeit gegeben wird, ein relativ selbstständiges Leben zu führen – im Rahmen ihrer Möglichkeiten. Dies kommt auch in dem Interview schon an manchen Stellen zur Sprache. „Eh, die Lisa ist extrem gut gefördert, für das, was an Potential da ist, ist sie extrem gut gefördert. Wobei ich mich heute manchmal frage, ob man den Kindern damit einen Gefallen tut, sie so gut zu fördern. Weil, durch dieses Wachwerden fing ihr Stress, ihr psychischer Stress erst an. Ihr wird bewusst, dass sie anders ist und das muss man ja erst mal akzeptieren können. Und jetzt in der Pubertät, so weit ist sie einfach noch lange, lange nicht. Eh, sie hat und da kann man sehen, wie sie sich ausdrücken kann, vor einiger Zeit mal zu mir gesagt: „Mama, früher konnte ich mich ganz in mich zurückziehen, ne, konnte ich mich ganz abschalten, mich abschalten.“ Das war die beste Formulierung überhaupt. „Und heute kann ich das nicht mehr. Früher ging´s mir besser“. Im Prinzip sagt das alles aus. Diese autistische Grundstörung, die verdrehte die Augen und war weg. Im Prinzip hat die gute Förderung „durch was“, wir haben mit Schule – da hat auch die Schule viel zu beigetragen. Wir haben alles immer wieder versucht sie zu verstehen, wieder einen Weg zu finden. Aber dadurch ist sie wach geworden. Und dadurch 130 sieht sie jetzt, wie sie ist und sieht die Diskrepanz zwischen sich und ihrer Umwelt und die ist einfach da. Und ich bin gespannt, ob sie die Kurve kriegt. Ich meine, ich weiß wirklich auch keine andere, ich weiß die Lösung einfach nicht. Was macht man denn mit den Kindern? Lässt man die in ihrer Welt?“ (171/6-23) Die gute Förderung und die Unterstützung, die das Pflegekind in der Pflegefamilie erhält, stellt Frau Müller heute in Frage. Sie sieht die Zerrissenheit von Lisa, die selbst sagt, dass es ihr früher, als sie sich noch „abschalten“ konnte, besser ging. Tut man den Kindern wirklich einen Gefallen damit, wenn man sie aus ihrer „eigenen Welt“ herausholt und sie dann so zerrissen sind, wenn sie merken und verstehen, dass sie anders sind als andere Kinder? Auf der anderen Seite, welche Möglichkeiten hätte sie dann gehabt, wäre es möglich gewesen, ein relativ eigenständiges Leben zu führen? „ Ich stelle das heute komplett in Frage. Manchmal weiß ich nicht, ob ich ihr nicht mehr geschadet habe mit allem Einsatz, als genutzt. Nicht, wenn man sie nach außen sieht. Die meisten Leute, die die Diagnosen früher gestellt haben, würden sagen es ist gut. Aber wenn ich sehe, wie dieses Kind zerrissen ist und wie es leidet, nun ist auch Pubertät, das muss man abwarten, dann denk ich: „Himmel, vielleicht wäre sie dumpf irgendwo besser aufgehoben gewesen, genau wie sie das formuliert hat.“ Sie hat das ja selber gesagt: „Ich konnte mich früher abschalten, heute kann ich das nicht mehr, egal wie ich mich anstrenge. Früher ging es mir besser.“ Da frag ich mich, Hilfe, du hast alles aufgegeben, was du hattest. Deine eigenen Berufsvorstellungen, du hast dein Kind – alle die Familienvorstellungen und alles, du hast so ausgesetzt gelebt, dafür dass dir dann nachher jemand sagt, anders ging es mir besser. Das sieht zum Beispiel Klaus ganz anders. Der stellt sich nicht so in Frage, das tue ich schon. Und trotzdem bin ich überzeugt das es mein Leben ist und mein Weg. Ich bereue das nicht, in dem Maße. Aber das hängt auch ein Stück mit Gottvertrauen zusammen, weil ich dadurch lernen musste.“ (198/8-22) An einer anderen Stelle sagt Frau Müller, dass sie in keinem Studium der Welt so viel hätte lernen können, wie mit Lisa. „Ich habe noch nie im Leben so viel gelernt, wie durch die Lisa, das muss man auch sagen. Ich sage dann immer, Lisa du bist mein Lehrer. ((lachen)) Ich hätte in keinem Studium der Welt auch nur annähernd so viel begreifen können, über Gott und die Welt. Das ist unfassbar.“ (186/10-13) 131 Der letzte Teil meiner Frage war, ob sie noch einmal bereit wäre, ein Pflegekind aufzunehmen, mit ihrer Erfahrung heute und dem Wissen um die ganzen Konflikte, die dabei entstehen können. „Machen würde ich das …((3))… nur deshalb noch mal, weil „ich auf dem Wasser laufen wollte“, immer schon. Ich denke, das ist mein Leben. Und es ist für mich als Christ auch der Weg Gottes, mich zu erreichen, das ist aber nur diese christliche Komponente. Du musst wirklich, genau das wollen. Entweder fliegen wollte ich immer, Seiltanzen oder auf dem Wasser laufen. …((..))..“ (197/33-198/4) Hinzu kommt ihr heutiges Ziel, dass Lisa ein glückliches Leben führen kann – mit und ohne ihre Pflegeeltern. Sie sieht das Pflegeverhältnis mit Lisa nicht nur als ihre Aufgabe an, sondern als ihr Weg, den sie mit Lisa gemeinsam geht und auf dem sie weiterhin in Gott vertraut und Lisa loslassen muss, sie Gott überlassen muss. 5.3. Interview mit dem Pflegevater Das Interview mit Herrn Müller fand abends statt, am gleichen Tag wie das Interview mit Frau Müller. Das Pflegekind Lisa öffnete mir die Tür und begrüßte mich sehr freundlich. Der Befragte und ich zogen uns dann in sein Arbeitszimmer zurück, wo das Interview geführt wurde. Herr Müller bot mir an, auf einem Sessel Platz zu nehmen und er setzte sich auf einen Stuhl mir gegenüber. Auch bei diesem Interview war es mir wichtig, dass das Interview an einem Ort stattfand, den der Befragte als angenehm und vertraut empfand und er sich wohlfühlte. Im Weiteren Verlauf besprach ich mit dem Befragten die Einzelheiten des narrativen Interviews und warum es wichtig und notwendig war, das Interview anhand eines Diktiergerätes aufzuzeichnen. Herr Müller erklärte sich ebenfalls damit einverstanden. Nachdem ich Herrn Müller die gleiche Eingangsfrage wie seiner Frau gestellt hatte, konnte auch er mir sehr genau und ausführlich über seine Erlebnisse und Erfahrungen berichten. 132 5.3.1. Zusammenfassung des Interviews Der Text entstand aus einem Interview mit einem Pflegevater und behandelt seine Motivation, die zur Aufnahme eines Pflegekindes geführt hat. Der Befragte erzählte, dass er einen Vortrag zum Thema Pflegekinder besucht hatte, bei dem es um die Aussage „Holt die Kinder aus den Heimen“ ging. Die Entscheidung einem fremden Kind, das kein Zuhause oder schlechte Startvoraussetzungen hat zu helfen, stand damals schon fest. Unabhängig davon, ob sie leibliche Kinder haben würden oder nicht, wollten sie mit dem Jugendamt sprechen und sich zur Verfügung stellen. Als das Pflegekind Lisa in die Pflegefamilie kam, hatten sie dann schon die leibliche Tochter Laura. Die Voraussetzungen zu Beginn gestalteten sich schwierig, da den Pflegeeltern wenige Informationen über das Pflegekind zur Verfügung standen, was der Befragte kritisiert. Verschiedene Verhaltensweisen und Reaktionen konnten sie sich nicht erklären. Konkrete Informationen zur Entwicklung des Kindes und dem Umfeld der Herkunftsfamilie wären wichtig gewesen und hätten manches verdeutlichen können. Die Hilfe von Seiten des Jugendamtes bei Problemen und Konflikten war sehr dürftig, wenn sie überhaupt erfolgte musste sie schon teilweise massiv gefordert werden. Herrn Müller fehlte auch die Hilfe oder die Möglichkeit einer Entlastung, beispielsweise in Form von Freizeit. Durch eine Häufung von problematischen Situationen befanden sich Pflegeeltern dauernd im Stress. Genaue Vorstellungen darüber, wie die Entlastung aussehen könnte, benennt der Befragte im Verlauf des Interviews. Um dem Pflegekind eine gute Schulausbildung und eine spezielle Versorgung im Hinblick auf ihre Bindungsstörung zu ermöglichen, besuchte sie eine private Grundschule. Heute besucht sie die angegliederte Hauptschule, die ebenfalls eine Privatschule ist. Die Kosten dafür tragen die Pflegeeltern selbst. Hilfe in Form von Nachhilfe wurde durch das Jugendamt gewährt. Die Kosten dafür wurden zum überwiegenden Teil vom Jugendamt getragen. Die Hilfestellung und Lisas Therapie bei Herrn Y bewertet der Befragte als sehr gut, und auch für ihn und seine Frau gestalten sich die Gespräche als sehr wertvoll. 133 Herr Müller empfindet die Situation von Pflegeeltern manchmal als einsam. Durch die Hilflosigkeit von anderen, auch der eigenen Familie, gegenüber den Problemen und Schwierigkeiten mit einem Pflegekind, fühlt er sich isoliert. 5.3.2. Themenerweiterte Zusammenfassung des Interviews Erwartungen bezüglich eines Pflegeverhältnisses hatte er keine, da die Situation für ihn eine völlig Neue war. Dass die Probleme durch die Schäden eines Kindes so umfangreich sein können, war ihm damals nicht klar. Als sie Lisa bekamen, waren ihm diese Dinge völlig fremd. Er sah sich fortwährend vor Probleme gestellt ohne Rückzugsmöglichkeiten für sich selbst zu haben. „Aber bei diesem Problem damit ist man permanent konfrontiert. Da hat man keine Freiräume, dass man sagen kann: „ Ich zieh mich jetzt zurück, das geht mich alles nichts an“, sondern man steht permanent im Focus – egal was passiert. Das war mir nicht klar.“ (201/27-29) Diese Freiräume hält er für Pflegeeltern für sehr wichtig und notwendig, um Luft holen zu können. Da die Probleme so vielfältig sind, hört der Stress nicht auf, er wird eher mehr. „Und du hast keine Möglichkeit, du gehst von einer Stufe des Stresses – will ich mal sagen - in die nächste. In die nächst Höhere, ohne das du die eine abschließen kannst und sagen kannst: „ Das ist jetzt vorbei.“ Das ist ja nicht vorbei. Die Themen bleiben und die Probleme.“ (203/16-19) Vorschläge, wie man diese Freiräume schaffen könnte, nennt er auch. Entweder über das Jugendamt, dass Menschen zur Verfügung stellt, die sich zu bestimmten Zeiten um die Kinder kümmern „[…] sondern dass das Jugendamt irgendwelche Leute hat – Sozialarbeiter oder was auch immer – die sich zur Verfügung stellen und vom Jugendamt dafür bezahlt werden und sagen: „Gut, ich bin bereit in bestimmten Abständen Pflegekinder zu mir zu nehmen und versuche mit den Pflegekindern nicht erzieherisch umzugehen, weil das in den Pflegefamilien passiert, sondern einfach nur da zu sein. So als Aufsichtsperson.“ (204/18-23), 134 oder, dass die Pflegefamilien sich untereinander dabei unterstützen und sich helfen. „Wir haben damals immer gedacht, wenn Pflegefamilien in Kontakt sind, muss ja auch die Möglichkeit bestehen, dass mal eine Pflegefamilie sagen kann, können wir unser Pflegekind mal bei euch abgeben, für ein Wochenende oder ein paar Tage? Im Gegenzug können wir unser Pflegekind auch mal ein paar Tage abgeben, bei euch. Wenn das begleitet wird, wenn das nicht einfach so passiert, sondern auch in Begleitung mit dem Jugendamt oder dem Vormund passiert, könnte ich mir vorstellen, dass das funktionieren kann.“ (203/33-204/5) Die Hilfen durch das Jugendamt waren dürftig. Er hätte sich gewünscht, dass man zu Beginn des Pflegeverhältnisses über die Situation der Herkunftsfamilie und die Störungen des Pflegekindes besser informiert worden wäre, um bestimmte Verhaltensmuster verstehen zu können. „Ich bin erstens der Meinung, die Pflegeeltern sollten umfassender informiert sein, soweit die Informationen vorliegen – die liegen vielleicht auch gar nicht immer vor – über die Entwicklung eines solchen Kindes, was da passiert ist, was da im Umfeld passiert ist.“ (202/24-27) In einer anderen Textpassage sagt er dazu: „Was wichtig ist, ist dass Pflegeeltern informiert werden, wirklich informiert werden, auf das, was auf sie zukam. Das waren wir nicht. Nicht in dem Umfang, in dem das hätte passieren müssen.“ (214/25-27), oder auch an dieser Stelle im Interview: „Es ist mehr so eine hypothetische Geschichte, das man sagt, zumindest müsste die Information über diese Dinge an die Pflegeeltern eine andere sein. Das Pflegeeltern einfach nicht so darein stolpern. Ich glaube, dass wir, finanziell und auch psychologisch sehr gut ausgestattet waren, um mit bestimmten Dingen umzugehen. Ich glaube aber nicht, dass das alle Pflegeeltern sind.“ (214/14-18) Eine Zeit lang wurde vom Jugendamt ein Nachmittag in der Woche organisiert, an dem die Kinder sich trafen und zu Hause abgeholt wurden. Das wurde aber nach einer Weile wieder eingestellt. 135 Um Lisa mit ihren Verhaltensstörungen eine gute Förderung und Schulausbildung zukommen zu lassen, entschied man sich, sie auf eine private Schule zu schicken. Dort konnte eher auf Lisa und ihre Probleme eingegangen werden, als dies auf einer regulären Schule möglich gewesen wäre. „Was uns besonders geholfen hat in der Beziehung, war die Geschichte mit der christlichen Privatschule. Zumindest – sagen wir mal – in der Grundschule, weil die die Betreuung der Kinder oder das Eingehen auf die Kinder, auch auf die Kinder, die besonders Probleme haben, so wie meine Informationen sind, an einer solchen Schule viel ausgeprägter sind, als an einer normalen Grundschule. Und deshalb sind wir der Meinung, dass diese Entwicklung, die die Lisa jetzt genommen hat, nicht möglich gewesen ist ohne den Anteil der privaten Schule, zum Beispiel das Eingehen auf die besondere Problematik. Wenn die in einer normalen Grundschule gewesen wäre – weiß nicht, ob die überhaupt so weit gekommen wäre.“ (205/32-206/6) Die Genehmigung vom Jugendamt für die Privatschule wurde erteilt, aber die Kosten für diese Schule tragen bis heute die Pflegeeltern alleine. „Mit der Privatschule, also unproblematisch war das schon. Wir haben den Antrag gestellt und dann wurde das genehmigt. Das war eigentlich kein Problem. Privatschule ist natürlich auch so Part, denn auch normal gehen die Kinder auf normale Schulen und tust du dein Kind auf eine private Schule, ist das dein Privatvergnügen.“ (206/26-30) Nachhilfeunterricht für Lisa wurde zum größten Teil vom Jugendamt gezahlt und andere Möglichkeiten, die Lisa in ihrer Entwicklung weiterbringen konnten, wurden unabhängig vom Jugendamt getätigt und finanziert. „Wenn das anders gewesen wäre, dass wir hätten sagen müssen, das können wir uns absolut nicht leisten, dann hätte ich vielleicht gesagt, dann müsst ihr überlegen, macht ihr das oder macht ihr das nicht. Von daher gesehen haben wir viele Dinge, wo wir dann erst die Entscheidung getroffen haben und haben gesagt: `Wir machen das, ob das Jugendamt was dazu zahlt oder nicht. Das juckt uns überhaupt nicht. Wenn ja, ist gut. Aber für die Lisa ist es richtig und wichtig und wir können uns das leisten, also tun wir das´.“ (207/33-208/5) Die Tatsache, dass bei einem Pflegeverhältnis für das Pflegekind ein Pflegegeld gezahlt wird, hat der Befragte bei der Antragstellung noch nicht gewusst. 136 Erst als die Pflegetochter in der Familie war, wurde über das Pflegegeld gesprochen. „Wobei ich natürlich auch sagen muss, ich habe am Anfang – ich sage mal so, ich habe gar nicht gewusst, dass es dieses Pflegegeld überhaupt gibt. Diese Entscheidung damals, als wir die getroffen haben, haben wir in Unkenntnis der Tatsache getroffen, dass es auch Pflegegeld gibt. Da war die Lisa schon hier und dann haben wir über das Pflegegeld gesprochen. Das war natürlich schön, aber das war uns vorher nicht klar. Insofern war das zu keinem Zeitpunkt auch vorher irgendeine Diskussion.“ (207/2-7) Verschiedene andere Fördermaßnahmen für Lisa, beispielsweise die Kur oder die Therapie bei Herrn Y zahlt die Krankenkasse des Pflegevaters. „Aber diese Dinge habe ich immer über meine Krankenkasse gemacht. Die hat das dann genehmigt, so viel Sitzungen, wenn die rum waren und das weitergehen musste, musste wieder neu was geschrieben werden. Dann habe ich das dahingeschickt oder die haben das selbst gemacht und, ja dann kriege ich die Antwort, so viele Sitzungen werden genehmigt und das war eigentlich bei der ersten Kur und der zweiten auch. Wir haben da finanziell nie das Problem gehabt, dass wir jetzt sagen, wir müssen noch was dabei tun, sondern das hat die Krankenkasse immer so anstandslos übernommen.“ (209/6-13) Die Therapie bei Herrn Y sieht Herr Müller als wichtig und erfolgreich an. Er fühlt sich seit langem verstanden und auch für Lisa ist die Therapie sehr gut aufgebaut. „So hat der das Ganze aufgebaut und das war für die Lisa gut. Und wir hatten das Gefühl, in ihm das erste Mal jemand gefunden zu haben, der versteht, was das heißt und wie viel Kraft das kostet, mit so einem Kind umzugehen. Das hatte der sehr schnell raus und hat es auch sehr schnell auf den Punkt gebracht.“ (210/3-7) Der Psychologe vertritt die Meinung, dass die Pflegeeltern ein Stück weit austauschbar sind. „ […] da unterscheide ich mich vielleicht etwas von der Gerlinde und vielleicht von vielen andern auch, weil immer diese Sache im Raum steht, dass man sagt, `sie sind nur so lange der Gute und der Ansprechpartner, wie sie Kaugummi oder Eis verteilen. In dem Moment, in dem sie ein Verbot aussprechen ist der der Gute, der die Schokolade hinhält. Und das ist austauschbar. … Sie sind das heute, aber morgen nicht mehr`.“ (210/29-34) 137 Diese Meinung teilt Herr Müller nicht. „Ich habe immer gesagt, ich habe da eine andere Einstellung zu. Ich sage, … ich glaube, dass die Lisa zu uns – vielleicht zu mir eher noch in unserer Familie – eine Bindung oder Beziehung aufgebaut hat und auch Angst hat, die zu verlieren oder zu zerstören.“ (210/34-211/3) Im weiteren Verlauf des Gesprächs sagte er dazu: „Das glaube ich nicht. Ich glaube, wenn es auch vielleicht nicht viel ist, irgendwas was wird zurückkommen und wenn es nur der Punkt ist, wenn so ein Kind später mal aus der Pflegefamilie raus ist, selbstständig ist, sich hoffentlich selbst versorgen kann, daran erinnert, dass es ein Zuhause gehabt hat, an das es sich positiv dran erinnert. Und wenn es nur das ist, dann ist es das Ganze eigentlich wert gewesen.“ (215/2-7), oder auch „Und ich sage, ich glaube das nicht. Ich glaube zwar nicht, dass das so ist, wie bei einem normalen leiblichen Kind, was diese Schäden nicht hat. Ich bin aber auf der anderen Seite der festen Überzeugung, dass es bestimmte Grundprinzipien gibt, auch der Wertschätzung und des Umgangs miteinander, auch des Familiengedankens, des Zuhauses, des Geborgenseins, der Wärme, auch der Berührung, die auch da ist, die ich zum Beispiel relativ stark habe mit der Lisa. Wenn die also ins Bett geht oder ich komme oder so irgendwas, ist die sehr anlehnungsbedürftig, was meine Person betrifft. Eh, und deshalb glaube ich, sind das alles Dinge, wo auch immer in ihrem Bewusstsein, glaube ich, werden die bleiben.“ (216/10-18) Nach einer schwierigen Phase im vergangenen Jahr war das Jugendamt der Ansicht, dass für Lisa der Zeitpunkt gekommen war, die Pflegefamilie zu verlassen. „Weil wir auch mal dieses Thema hatten, dass das Jugendamt gesagt hat, man muss überlegen, ob jetzt nicht der richtige Zeitpunkt ist, dass die Lisa aus der Familie geht.“ (211/3-5) Diese Entscheidung hielten die Pflegeeltern und auch der Psychologe für völlig fatal, weil die einzigen Bindungen, die Lisa in ihrem Leben hat und die beständig und tragbar sind, die Bindungen an die Pflegeeltern sind. „Da war sie vor einem Jahr in einer besonders schwierigen Phase und wir haben dann gesagt, wir halten das für absolut das Falsche, weil das Einzige, was sie an Bindung o138 der Beziehung hat, wo sie sich drauf verlässt – bei allen Problemen die auftreten – das sind wir. Und, wenn die jetzt gekappt wird, dann wird sie in dem Zustand sein, dass sie sagt: „Es gibt hier überhaupt nichts Verlässliches auf dieser Welt, ich bin hier alleine für mich zuständig, mir kann eh keiner helfen, es gibt niemand auf den man sich verlassen kann, oder was auch immer.“ Und deshalb haben wir gesagt, wir hielten das für ganz fatal jetzt diese Trennung einzuleiten. Und der Herr Y, als Kinderpsychologe, den wir dann damit reingenommen haben, in diese Diskussion mit dem Jugendamt, der hat das dann bestätigt. Der hat dann was dazu geschrieben und hat gesagt, das wäre absolut falsch. Zum jetzigen Zeitpunkt diese Bindung – es ist eine Bindung und Beziehung da, wenn sie überhaupt da ist zu irgendjemand, dann zu dieser Familie - und die jetzt zu zerstören wäre absolut fatal. Das ging so weit, dass wir sogar die Situation hatten, dass er manchmal dann einmal hier angerufen hat und gesagt hat, sie müssen aufpassen: „Die Lisa ist in hohem Maße suizidgefährdet. Und der Einzigste, der sie auffangen kann, das sind sie. Und dann müssen sie besonders drauf Acht geben und gucken...“ und was weiß ich, sonst würde das keiner können. Weil wir hier die Einzigsten sind, die diese Bindungen haben und sie auffangen können. So, und wenn dann natürlich jemand um die Ecke kommt und dir so was sagt, dann musst du natürlich auch erst mal tief Luft holen.“ (211/5-24) Es stellte sich dann die Frage, nach welchen Kriterien solche Vorhaben vom Jugendamt getroffen werden. Die Variante des `betreuten Wohnens` wurde vom Jugendamt angesprochen. Die Pflegeeltern haben erst im Verlauf des Gespräches verstanden, dass es dabei lediglich um eine Kostenfrage ging. „Und dann hat das Jugendamt gesagt: `Ja pf, wenn wir die raus tun in betreutes Wohnen…` - dann haben wir das aber nachher erst verstanden - das ist beim Kreis S., beim Jugendamt so, wenn das passiert wäre, rein finanziell gesehen, hätte das die Kasse des Jugendamtes nicht mehr belastet, weil das dann die Jugendhilfe trägt, in irgendeiner Form. Das heißt auch, da gehen die Gedanken in die Richtung: Was ist für uns hier billiger, was kostet uns Geld und was kostet kein Geld? Und das muss man als Pflegeeltern erst mal verstehen, ja? Du sitzest da und denkst, was geht hier eigentlich ab? Das interessiert mich doch gar nicht, was die da intern, wer welches Geld bezahlt oder wie auch immer. Es geht hier um die Frage, was ist für das Kind jetzt das Beste. Und die diskutieren darüber und denken darüber nach, wer hat hier am wenigsten Kosten. Ja, dann sitzt du da und bist eigentlich geneigt zu sagen, wisst ihr was, in vielen Fällen wa139 ren wir ja auch in der Lage dazu – auch finanziell – das zu sagen, aufwiedersehen. Wir machen die Dinge hier so, wie wir sie für richtig halten und, wenn wir sie bezahlen müssen, dann müssen wir sie halt bezahlen, fertig.“ (212/15-28) Für Herrn Müller stellt die Aufnahme von Lisa eine Lebensaufgabe dar, die er als sein Leben ansieht und er möchte auch kein anderes Leben führen. Eine Bestätigung für diese Lebensaufgabe sind für ihn Äußerungen von Psychologen oder Ärzten in Bezug auf die Dauer des Pflegeverhältnisses. „Und dann ist das natürlich auch gut, wenn ein Psychologe oder auch – jetzt waren sie gestern im Kinderkrankenhaus – und da hat die Gerlinde gesagt, ja, der Doktor Z. hat gesagt, es ist äußerst selten, dass ein Kind mit diesen Schäden, im Alter von vierzehn oder fünfzehn Jahren überhaupt noch in der Familie ist und auch da bleiben wird. Da habe ich gesagt, `das ist gut, wenn er das so sagt tut mir das gut`. Weil dann kann man irgendwo sagen, also alles haben wir scheinbar nicht verkehrt gemacht.“ (216/34-217/5) 5.3.3. Themenspezifische Auswertung des Interviews Die im Text herausgearbeiteten Motivationsgründe möchte ich an dieser Stelle näher erläutern und erklären sowie mit weiteren Textpassagen belegen. Was hat Herr Müller damit gemeint? Was drücken sie aus? 5.3.3.1. Wie kam es zur Aufnahme eines Pflegekindes? Die Entscheidung ein Kind anzunehmen, fiel schon sehr früh. Bei einem Vortrag zum Thema Pflegekinder war schon klar, dass man unabhängig von eigenen Kindern ein fremdes Kind aufnehmen würde. Zu der Zeit des Vortrages waren die Pflegeeltern noch sehr jung und nicht verheiratet. Die Entscheidung wurde mit der Ehefrau gemeinsam getroffen. Angeregt durch diesen Vortrag verfestigte sich die Entscheidung von Herrn Müller, ein fremdes Kind aufzunehmen. „Also, die Entscheidung war ja nicht alleine meine Entscheidung, sondern war unsere Entscheidung. Ich bin etwas geprägt vielleicht von der Vorstellung, dass Kinder, die aus entsprechenden Verhältnissen kommen, auch geschädigte Kinder, mehr Probleme ha140 ben, wenn sie in Heimen aufwachen, auch später mehr Probleme haben, als wenn sie in Familien aufwachsen. Damals, zum damaligen Zeitpunkt. Und ich habe noch so ein bisschen in den Ohren, ja so eine Aussage aus einem Vortrag, damals noch von der Familie B., die sich sehr stark auch um Heimkinder und diese Dinge gekümmert haben und selber auch Pflegekinder hatten – ich glaube zehn Stück, oder wie das war damals – holt die Kinder aus den Heimen. Und da wir damals, zu dem Zeitpunkt, als wir die Entscheidung getroffen haben, die Laura, unser Kind, noch nicht hatten, haben wir gesagt, egal ob wir mal eigene Kinder haben werden oder nicht, auf jeden Fall kristallisierte sich heraus, dass das unsere Aufgabe ist – auch unsere Lebensaufgabe ist – auch als Christen unsere Aufgabe ist, uns darum zu kümmern, wo Kinder kein zu Hause haben, oder keine Eltern haben oder schlechte Startvoraussetzungen haben, mit dem Jugendamt zu sprechen und sich anzubieten, da zur Verfügung zu stehen.“ (200/13-27) Innerhalb dieser Textpassage gibt es mehrere Aussagen, von denen Rückschlüsse auf die Motivation gezogen werden können. Diese werden an dieser Stelle kurz genannt und im weitern Verlauf der Arbeit wird explizit dazu Stellung genommen. • Motivation von außen • Familiäre Motivation • Christliche Motivation • Soziale/Altruistische Motivation 5.3.3.2. Motivation von außen Der Vortrag, den Herr Müller damals besuchte, bestärkte ihn in seinem Vorhaben, ein Kind zu adoptieren oder auch zur Pflege zu nehmen. Der Satz „Holt die Kinder aus den Heimen“ (200/21) hat sich ganz deutlich eingeprägt und später auch motiviert. Die Kampagne „Holt die Kinder aus den Heimen“ habe ich in Kapitel 5.2.3.5. näher und ausführlicher erläutert. Diese Aussage lässt auf eine Motivation von außen – eine extrinsische Motivation, schließen. Er wurde von anderen Menschen (mit-)motiviert, ein Kind anzu- 141 nehmen. Der Anstoß dazu, in Verbindung mit seinem christlichen Glauben kann sicherlich von dem genannten Vortrag ausgelöst worden sein. 5.3.3.3. Familiäre Motivation Ganz unabhängig davon, wie sich die familiäre Situation einmal darstellt, stand die Entscheidung schon fest, ein Kind aufzunehmen, egal ob man eigene Kinder haben würde oder nicht. Daraus lässt sich auf eine familiäre Motivation schließen. In zwei Textpassagen geht Herr Müller darauf ein: „Und da wir damals, zu dem Zeitpunkt, als wir die Entscheidung getroffen haben, die Laura, unser Kind, noch nicht hatten, haben wir gesagt, egal ob wir mal eigene Kinder haben werden oder nicht, auf jeden Fall kristallisierte sich heraus, […] ,“ (200/21-24) und auch in dieser Passage: „Dann hatten wir ja schon die Laura, als wir die Lisa bekamen. Wir haben dann aber nachher, das war eine grundsätzliche Entscheidung und dann haben wir nachher gesagt, wir haben zwar jetzt ein eigenes Kind, aber diese Entscheidung gilt nach wie vor. So sind wir eigentlich dazu gekommen.“ (200/29-33) 5.3.3.4. Christliche Motivation Für Herrn Müller stellt es eine Lebensaufgabe - für ihn als Christ - dar, so dass man von einer christlichen Motivation ausgehen kann. Für diese Feststellung, die sich durch die intensive Betrachtung des Interviews herauskristallisierte, gibt es mehrere Textstellen, die dies belegen: „Und da wir damals, zu dem Zeitpunkt, als wir die Entscheidung getroffen haben, die Laura, unser Kind, noch nicht hatten, haben wir gesagt, egal ob wir mal eigene Kinder haben werden oder nicht, auf jeden Fall kristallisierte sich heraus, dass das unsere Aufgabe ist – auch unsere Lebensaufgabe ist – auch als Christen unsere Aufgabe ist, uns darum zu kümmern, wo Kinder kein zu Hause haben, oder keine Eltern haben oder schlechte Startvoraussetzungen haben, mit dem Jugendamt zu sprechen und sich anzubieten, da zur Verfügung zu stehen.“ (200/21-27) 142 Zusätzlich berichtet er: „Und ich für mich persönlich muss sagen, das ist einfach mein Leben. Und ich kann mein Leben nicht zweimal leben. Ich habe diese Entscheidung so getroffen und insofern gehört diese Entscheidung mit der Lisa zu meinem Leben. Ich wollte auch gar kein anders haben. Mit allen Problemen die da sind. Und deshalb würde ich an der Stelle auch nichts anders machen, ich persönlich nicht. Ein anderer hat vielleicht eine andere Lebensaufgabe, aber wir für uns, wir haben ja viele andere Aufgaben auch, auch in der Familie selber natürlich, ist ja klar. Aber das mit diesem Pflegekind kann man nicht einfach so betrachten, dass man sagt, man macht das mal, sondern das ist einfach eine Lebensaufgabe, die einen fordert. Die einen mehr fordert, wie alles andere.“ (215/7-16) Was bedeutet eine „Lebensaufgabe“ für einen Christen? Dazu möchte ich kurz Stellung nehmen. Worauf kommt es Gott dabei an? Entscheidend sind das Halten seiner Gebote und eine Lebensführung, die auf ihn ausgerichtet ist. Es geht somit um das praktische Leben. In Jakobus 1, Vers 22 steht: „Es genügt aber nicht, dieses Wort nur anzuhören. Ihr müsst es in die Tat umsetzen, sonst betrügt ihr euch selbst“ (zit. n. Gute Nachricht Bibel). Zu der Lebensaufgabe eines Christen zählen unter anderem die Liebe zu Gott und die Nächstenliebe. Für einen Christen gibt es zwei Bibelverse, die darüber alles aussagen: „Jesus sagte: `Das wichtigste Gebot ist dieses. Höre Israel! Der Herr ist unser Gott, der Herr und sonst keiner. Darum liebet ihn von ganzem Herzen und mit ganzem Willen, mit ganzem Verstand und mit aller Kraft. Das zweite ist: Liebe deinen Mitmenschen wie dich selbst! Es gibt kein Gebot, das wichtiger ist als diese beiden.“ (zit. n. Markus 12, Vers 29 - 31, Gute Nachricht Bibel) In dem 1. Gebot wird deutlich, dass Gott nicht nur „etwas Liebe“ von den Menschen erwartet, sondern deren ungeteilte Hingabe zu ihm. Bei Gott gibt es keine halben Sachen – entweder ganz oder gar nicht. Aber genau so wichtig wie die Liebe zu Gott ist es, seinen Nächsten zu lieben (Wer unser Nächster ist, habe ich unter 5.2.3.4. erklärt). Durch diese Verse wird deutlich, dass es nicht möglich ist Gott zu lieben ohne gleichzeitig auch seinen Nächsten zu lieben. Durch die Liebe ist der Mensch mit Gott und den Mitmenschen verbunden. 143 Dementsprechend kann man hier von christlicher Nächstenliebe oder christlicher Motivation sprechen. Der Lebensweg als Christ kann für jeden Menschen unterschiedlich aussehen. Nicht jeder Christ hat die gleichen Aufgaben im Leben. Der Lebensweg als Christ ist individuell verschieden und für jeden Christen gibt es „seinen ganz persönlichen Weg“ mit Gott, auf dem Gott ihn erreichen kann. 5.3.3.5. Soziale oder Altruistische Motivation Im Verlauf des Interviews mit dem Befragten gibt es zwei Textstellen, von denen man auf eine soziale/altruistische Motivation schließen kann. Diese Textstellen werden ebenfalls im Zusammenhang mit anderen Motivationsgründen angesprochen, so dass daraus auch ein Bezug zu sozialer/altruistischer Motivation gesetzt werden kann. „Ich bin etwas geprägt vielleicht von der Vorstellung, dass Kinder, die aus entsprechenden Verhältnissen kommen, auch geschädigte Kinder, mehr Probleme haben, wenn sie in Heimen aufwachen, auch später mehr Probleme haben, als wenn sie in Familien aufwachsen.“ (200/14-17) und meiner Meinung nach auch in: „ […] uns darum zu kümmern, wo Kinder kein zu Hause haben, oder keine Eltern haben oder schlechte Startvoraussetzungen haben, mit dem Jugendamt zu sprechen und sich anzubieten, da zur Verfügung zu stehen.“ (200/25-27) Das Thema „einem Kind etwas Gutes zu tun“ lässt sich durch diese Textstellen belegen und die Schlussfolgerung auf eine soziale/altruistische Motivation kann hier gezogen werden. Ebenfalls der Slogan aus dem Vortrag lässt Rückschlüsse auf eine soziale Motivation zu. 144 5.3.3.6. Finanzielle Motivation Innerhalb des Interviews gibt es mehrere Textstellen, aus denen Rückschlüsse auf eine Motivation aus finanziellen Gründen ausgeschlossen werden kann. Belegt durch viele Textpassagen, die sich auf die Kosten für Schule und Therapien beziehen, kann davon ausgegangen werden, dass das Pflegeverhältnis nicht aus wirtschaftlichen Gründen aufgenommen wurde, ganz im Gegenteil sogar. Zu Beginn des Pflegeverhältnisses haben die Pflegeeltern nicht gewusst, dass ein Pflegegeld gezahlt wird. „Ich sage mal so: Die Geschichte mit dem Pflegegeld, ich denke mal nicht, dass das Pflegegeld auch nur annähernd dazu ausreicht um das alles zu bezahlen oder zu händeln, was da an Problematiken aufkommt. Wobei ich natürlich auch sagen muss, ich habe am Anfang – ich sage mal so, ich habe gar nicht gewusst, dass es dieses Pflegegeld überhaupt gibt. Diese Entscheidung damals, als wir die getroffen haben, haben wir in Unkenntnis der Tatsache getroffen, dass es auch Pflegegeld gibt. Da war die Lisa schon hier und dann haben wir über das Pflegegeld gesprochen. Das war natürlich schön, aber das war uns vorher nicht klar. Insofern war das zu keinem Zeitpunkt auch vorher irgendeine Diskussion.“ (206/33-207/7) Aus den nächsten Textpassagen wird dies ebenfalls deutlich: „Es ging dann meistens immer nur, wenn es Nachhilfeunterricht war, dann haben wir das gemacht. Gut, die wollte dann bezahlt werden, obwohl wir einen Teil noch selber bezahlt haben. Aber sonst wüsste ich überhaupt nicht, dass es überhaupt dafür Zuschüsse gibt, habe ich mich noch nie mit beschäftigt. Ich habe immer gesagt: „Wir können das von dem was wir haben, bestreiten!“ … Da ist die Frage nie aufgekommen.“ (207/26-31) „Von daher gesehen haben wir viele Dinge, wo wir dann erst die Entscheidung getroffen haben und haben gesagt: `Wir machen das, ob das Jugendamt was dazu zahlt oder nicht. Das juckt uns überhaupt nicht. Wenn ja, ist gut. Aber für die Lisa ist es richtig und wichtig und wir können uns das leisten, also tun wir das`.“ (208/1-5) „Wir haben das immer da dran – wir haben ja auch Vieles probiert – da dran gemessen, ob wir jetzt bei der Lisa das positiv sehen, positive Entwicklung, Erfolg sehen, bringt 145 das was oder bringt das nichts? Und, wenn es was brachte, wenn wir gesehen haben, jawohl, das ist eine gute Sache – das war genauso mit der Privatschule, wo wir dann gesagt haben, wenn das sie weiterbringt, egal ob das Jugendamt da was bezahlt oder nicht – das war schon eh klar, dass da nichts bezahlen wird, weil die normalerweise auf eine andere Schule gekommen wäre – da haben wir gesagt, für Lisa ist das ein Segen, dass sie dahingeht, das kann gar nicht besser sein, also machen wir das. Das war dann so das Maßgebliche.“ (208/8-16) Die aufgeführten Textpassagen lassen erkennen, dass eine Motivation aus finanziellen Gründen ausgeschlossen werden kann. Die Pflegeeltern haben viele Fördermaßnahmen für Lisa finanziell selbst getragen. Sie haben es davon abhängig gemacht, ob es für Lisa wertvoll und wichtig ist und sie in ihrer Entwicklung weiterbringen kann, nicht von finanziellen Gründen. 5.3.4. Motivation des Pflegevaters In einer Studie geht Blandow (1972) auf eine empirische Arbeit von Fanshel ein, der als einziger auch die Pflegeväter in seine Analyse einbezogen hat. Er fand heraus, dass die Pflegeväter ihre Rolle als helfende Rolle gegenüber dem Kind ansehen und sich in ihrer Rollenbefriedigung signifikant von den Pflegemüttern unterscheiden. Einem verlassenen Kind helfen zu können bedeutet für sie die größte Rollenbefriedigung. An zweiter Stelle steht für sie, dass ihre Frau durch die Aufnahme eines Kindes glücklich und zufrieden ist. (Blandow, 1972: S. 24) Durch die vorliegende Untersuchung konnte festgestellt werden, dass es sich auch bei diesem Pflegevater nicht um ein Motiv alleine, sondern um mehrere verschiedene Motivationen handelt, was auch die Studie von Blandow (1972) bestätigt. Wesentlich für ihn sind die christliche, familiäre und soziale Motivation, wobei die christliche Motivation für ihn von größerer Bedeutung ist als die anderen. Durch den Vortrag, den er damals besuchte, kann auf eine Motivation von außen geschlossen werden, also eine extrinsische Motivation. Die christliche, familiäre oder soziale Motivation lassen auf eine intrinsische Motivierung schließen. 146 Meines Erachtens fand bei dem Pflegevater keine Motivationänderung statt. Im Laufe des Pflegeverhältnisses hat sich die Motivation erweitert. Heute geht es neben den erwähnten Motivationen auch um die „Motivation für das Pflegekind“. Von wesentlicher Bedeutung ist es für ihn auch heute, das Pflegekind auf ein Leben nach dem Leben in der Pflegefamilie vorzubereiten. „ […] irgendwann kommt der Zeitpunkt, da wird sie aus dieser Familie rausgehen. Dann gibt es Experten die sagen, die geht da raus und geht woanders rein und dann ist das alles vergessen. Und ich sage, ich glaube das nicht. Ich glaube zwar nicht, dass das so ist, wie bei einem normalen leiblichen Kind, was diese Schäden nicht hat. Ich bin aber auf der anderen Seite der festen Überzeugung, dass es bestimmte Grundprinzipien gibt, auch der Wertschätzung und des Umgangs miteinander, auch des Familiengedankens, des Zuhauses, des Geborgenseins, der Wärme, auch der Berührung, die auch da ist, die ich zum Beispiel relativ stark habe mit der Lisa. Wenn die also ins Bett geht oder ich komme oder so irgendwas, ist die sehr anlehnungsbedürftig, was meine Person betrifft. Eh, und deshalb glaube ich, sind das alles Dinge, wo auch immer in ihrem Bewusstsein, glaube ich, werden die bleiben. Und wenn die bleiben, dann muss man sagen: Auch das sind positive Dinge, wenn es auch schwierig ist, ich sag mal, mit viel Aufwand so ein ganz kleines bisschen zu hinterlassen oder weiterzugeben. Dann würde man normal sagen, der Aufwand ist eigentlich nicht gerechtfertigt, das sehe ich nicht so. Ich denke schon, dass das so ist, (216/8-22) oder auch in: „Ich glaube, wenn es auch vielleicht nicht viel ist, irgendwas was wird zurückkommen und wenn es nur der Punkt ist, wenn so ein Kind später mal aus der Pflegefamilie raus ist, selbstständig ist, sich hoffentlich selbst versorgen kann, daran erinnert, dass es ein Zuhause gehabt hat, an das es sich positiv dran erinnert. Und wenn es nur das ist, dann ist es das Ganze eigentlich wert gewesen.“ (215/2-7) Zum Schluss des Interviews wurde auch dem Pflegevater die Frage gestellt, ob sich seine Erwartungen bezüglich der Pflegschaft erfüllt haben und ob er es noch einmal machen würde. In unterschiedlichen Textpassagen sagt er dazu, dass er es wieder machen würde, weil es sein persönlicher Lebensweg als Christ ist. „Wenn es um die Frage geht, würdest du das noch mal so machen, diskutiert man oft drüber und sagt, wenn man das alles vorher gewusst hätte, würde man das in dieser 147 Form möglicherweise nicht tun. Das trifft aber nicht auf mich zu. Es trifft auch nicht auf uns allgemein zu.“ (214/11-14) „Das andere ist ein Part, das ist aber unsere ganz persönliche Entscheidung, dass ich sage, diese Frage, was würdest du anders machen, würdest du es noch mal machen, also mir würde so direkt nichts einfallen, was ich anders machen würde, weil man kann sich auch nicht davor schützen.“ (214/27-30) „Und ich für mich persönlich muss sagen, das ist einfach mein Leben. Und ich kann mein Leben nicht zweimal leben. Ich habe diese Entscheidung so getroffen und insofern gehört diese Entscheidung mit der Lisa zu meinem Leben. Ich wollte auch gar kein anders haben. Mit allen Problemen, die da sind. Und deshalb würde ich an der Stelle auch nichts anders machen, ich persönlich nicht. Ein anderer hat vielleicht eine andere Lebensaufgabe, aber wir für uns, wir haben ja viele andere Aufgaben auch, auch in der Familie selber natürlich, ist ja klar. Aber das mit diesem Pflegekind kann man nicht einfach so betrachten, dass man sagt, man macht das mal, sondern das ist einfach eine Lebensaufgabe, die einen fordert. Die einen mehr fordert, wie alles andere.“ (215/7-16) In den Auswertungen der Studien von Blandow (1972) und Danziger (1930) wird auf die christliche Motivation kaum Bezug genommen. In der Ausarbeitung des vorliegenden Interviews konnte die Erkenntnis gewonnen werden, dass aber hier die christliche Motivation die stärkste ist und tragfähigste ist. 5.4. Vergleichen der Interviews Auf der Basis der Ergebnisse der Interviews, werden in diesem Gliederungspunkt die Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen den jeweiligen Motivationen der Interviewten skizziert. 148 5.4.1. Konnten Gemeinsamkeiten herausgearbeitet werden? Die Auswertung der Interviews führte zu der Erkenntnis, dass die Pflegeeltern in vielen Punkten mit ihren Ansichten und Meinungen übereinstimmen. Sie haben ein gemeinsames Ziel in Bezug auf das Pflegeverhältnis. Vergleicht man die, durch die beiden Auswertungen deutlich gewordenen Motivationsgründe, kann man zu der Ansicht gelangen, dass die Motivation, aus der heraus die Pflegschaft entstanden ist, bei beiden relativ identisch ist. Beide wurden von einem Vortrag, den sie als junge Menschen besuchten, so beeindruckt, dass es für sie damals schon fest stand, einem fremden Kind bessere Startmöglichkeiten zu geben. Es lässt vermuten, dass dieser Vortrag – in Verbindung mit ihrem christlichen Glauben, der Auslöser für eine Pflegschaft oder Adoption war. Die Pflegemutter beschreibt diese Situation so: „Wir waren auf einem Vortrag – Klaus und ich zusammen damals, da war ich 17 und Klaus 21 Jahre alt und … an den Satz kann ich mich noch sehr genau erinnern, der im Prinzip alles ausgelöst hat, was weiter kam. Da sagte eine Frau: `Die Aufgabe des vergangen Jahrhunderts war, die Kinder von der Straße in Heime zu holen. Unsere Aufgabe ist es, Kinder aus den Heimen in Familien zu holen`. Das hat uns beide damals so beeindruckt in Verbindung mit diesem Satz, in dem Jesus sagt: `Wer ein Kind aufnimmt in meinem Namen, der nimmt mich auf`. So, dass wir damals entschieden haben, jung und nur verliebt, weder verlobt noch verheiratet, wenn wir noch irgendwie zusammen sind, dann werden wir auf jeden Fall Kinder aufnehmen; Kind oder Kinder.“ (161/1523) Der Pflegevater benennt die gleiche Situation wie die Pflegemutter. Er drückt das mit folgenden Worten aus: „Und ich habe noch so ein bisschen in den Ohren, ja so eine Aussage aus einem Vortrag, damals noch von der Familie B., die sich sehr stark auch um Heimkinder und diese Dinge gekümmert haben und selber auch Pflegekinder hatten – ich glaube zehn Stück, oder wie das war damals – holt die Kinder aus den Heimen. Und da wir damals, zu dem Zeitpunkt, als wir die Entscheidung getroffen haben, die Laura, unser Kind, noch nicht hatten, haben wir gesagt, egal ob wir mal eigene Kinder haben werden oder nicht, auf jeden Fall kristallisierte sich heraus, dass das unsere Aufgabe ist – auch unsere Lebensaufgabe ist – auch als Christen unsere Aufgabe ist, uns darum zu kümmern, wo Kinder 149 kein zu Hause haben, oder keine Eltern haben oder schlechte Startvoraussetzungen haben, mit dem Jugendamt zu sprechen und sich anzubieten, da zur Verfügung zu stehen.“ (200/17-27) Das Ehepaar besuchte einen Vortrag zu dem Thema „Holt die Kinder aus den Heimen“, als sie noch sehr jung und unverheiratet waren. Angeregt durch diesen Vortrag verfestigte sich bei beiden die Entscheidung, einem „fremden“ Kind bessere Startmöglichkeiten zu bieten und es in ihrer Familie aufzunehmen. Das Alter der Pflegeeltern damals war ungewöhnlich jung. Es setzt voraus, dass sie sich bereits mit dem Thema auseinandergesetzt hatten und man kann davon ausgehen, dass es sich dabei um eine familiäre und soziale Motivation handelt. Als ausschlaggebend kam dann der christliche Glaube als Motivation dazu, der für das Ehepaar auch heute noch als grundlegend und bedeutsam angesehen werden kann. Durch die vorliegende Untersuchung konnte aufgezeigt werden, dass eine ganz wesentliche Gemeinsamkeit der christliche Glaube der Pflegeeltern darstellt. Er ist für sie ein grundlegendes Fundament, das sich als sehr tragfähig erwiesen hat und für beide ihren persönlichen Lebensweg widerspiegelt. Die Gottesbeziehung bildet für beide eine wichtige Voraussetzung. Danziger (1930) fand in ihrer Studie heraus, dass es sehr schwierig ist, bei mehreren genannten Gründen das Hauptmotiv und das Nebenmotiv zu bestimmen. Bei der Gegenüberstellung der Interviews wurde sehr deutlich, dass die Pflegeeltern beide die gleichen Gründe angeben und auch nicht ein Motiv alleine, sondern mehrere Motive der Auslöser für eine Pflegschaft sind. Die Ergebnisse der beiden untersuchten Interviews meiner Studie schließen darauf, dass die christliche Motivation hier als Hauptmotiv definiert werden kann und gemeinsam mit der familiären und sozialen Motivation zu einer Pflegschaft geführt hat. Ferner wird ersichtlich, dass eine weitere Gemeinsamkeit der Interviews die heutige Motivation der Pflegeeltern ist. Als Ziel ihrer Pflegschaft sehen beide ein glückliches und relativ eigenständiges Leben ihres Pflegekindes an – mit oder ohne die Pflegefamilie. Ihre Aufgabe sehen sie darin, Lisa auf ein möglichst selbstständiges Leben vorzubereiten. 150 5.4.2. Lassen sich Unterschiede feststellen? Unterschiede bezüglich der Motivation zu Beginn der Pflegschaft konnten während der Auswertung keine festgestellt werden, da die Motivationen von beiden identisch sind. Die Gegenüberstellung der Interviews lässt lediglich auf eine unterschiedliche Rollenaufteilung schließen. Aufgrund der Störungen, die bei dem Pflegekind schon zu Beginn der Pflegschaft stark ausgeprägt waren, entschlossen sie sich zu einer Rollenaufteilung. Die Pflegemutter ist diejenige, die dem Pflegekind in der Beziehung die Distanz gibt, die es so dringend benötigt und der Pflegevater übernimmt die Rolle des „Vaters“, die dem Pflegekind die nötige Nähe gibt. Durch sein Selbst-Konzept nimmt er keine professionelle Rolle gegenüber dem Pflegekind ein und kann ihm so die nötige Nähe ermöglichen. Innerhalb des Interviews gab es mehrere Textstellen, aus denen sich Rückschlüsse über die Rollenaufteilung ziehen lassen. Frau Müller berichtet dazu, dass „Klaus immer der Gute und sie die Böse war“. (193/27-28) Unterschiedlich ist demnach ihre Rollenverteilung, die aber für Lisa absolut notwendig ist. Im Laufe der Auswertung entwickelte sich der Eindruck, dass hier die gute pädagogische Einstellung und die Fähigkeit der Pflegeeltern, sich den Bedürfnissen des Kindes anzupassen, dem Pflegekind zu Gute kommen. Bei allen Entscheidungen, die getroffen werden müssen, haben sie stets Lisas Wohl im Blick. Jedoch wurde ebenfalls ersichtlich, dass bei der Pflegemutter nach kurzer Zeit eine berufliche Motivation hinzukam, nachdem sie festgestellt hatte, dass sie das Pflegekind auf diesem Weg am ehesten erreichen konnte. Sie sieht es heute als „ihre Arbeit“ an, um den Bedürfnissen von Lisa gerecht werden zu können. Der Pflegevater nahm in seinen Aussagen eine wesentliche Stellung zu allgemeinen und politischen Problemen ein. An diesem Interview wird sehr deutlich, welche entscheidende und wichtige Aufgaben Pflegeväter annehmen. In diesem Fall hat der Pflegevater eine Rolle gegenüber dem Pflegekind eingenommen, die gesellschaftlich der Mutter zugesprochen wird. 151 5.4.3. Ist eine Motivationsänderung möglich? In Kapitel 3.4. habe ich auf Heckhausen (2006) verwiesen, der sich in seinem Buch auf Woodworth (1918) bezieht, der damals schon festgestellt hat, dass man eine Tätigkeit aufgrund extrinsischer Motive beginnen, sie dann aber während der Tätigkeit durch intrinsische Anreize weiter ausführen kann. Die Motivation kann sich demnach im Tätigkeitsverlauf auch verändern. Diesbezüglich wurde in der vorliegenden Arbeit festgestellt, dass die Pflegeeltern durch den Vortrag, den sie besucht hatten, extrinsisch „mit“motiviert waren und im Laufe der Jahre die Pflegschaft durch intrinsische Motivation weitergeführt und weitergelebt haben. Ferner möchte ich bei der Pflegemutter nicht von einer Motivationsänderung, sondern einer Motivationserweiterung sprechen. Zu der vorhandenen Motivation kam während der Pflegschaft die berufliche Motivation hinzu. Die Motivation hat sich nicht verändert (die wesentlichen Motivationsgründe sind immer noch präsent), sondern hat sich meines Erachtens lediglich um die berufliche Motivation erweitert, weil dies für das Pflegekind eine wichtige Voraussetzung für eine Beziehung war. 152 6. ABSCHLIEßENDE BETRACHTUNG Die im Erkenntnisinteresse meines Interviews aufgeführten Fragen werden im Folgenden nochmals aufgeführt und die Ergebnisse zusammenfassend dargestellt. Das Thema meiner Arbeit: „Warum machen wir das eigentlich“ möchte ich noch einmal aufgreifen. Die Pflegeeltern nannten mir eine Vielzahl von Gründen, warum sie ein Pflegekind aufgenommen haben. Für ein erfolgreiches und möglichst dauerhaftes Pflegeverhältnis ist es von wesentlicher Bedeutung, welche Gründe dafür ausschlaggebend sind. So macht meine Studie deutlich, dass es sich hier um Motivation von außen, familiäre, soziale und vor allem christliche Motivation handelt. Zusätzlich konnte durch meine Auswertung die Annahmen der Studien von Blandow (1972) und Danziger (1930) bezüglich der Motivation teilweise belegt werden. Die Motivation und die Beziehung zum Kind sind wesentlich für ein Gelingen oder einen Abbruch des Pflegeverhältnisses. Es hängt davon ab, ob die Pflegeeltern in der Lage sind, auf das Kind einzugehen und ob sie eine positive Beziehung zu dem Kind aufbauen können. Im Weiteren stelle ich durch die vorliegende Untersuchung fest, dass die christliche Motivation für die von mir befragten Pflegeeltern von großer Bedeutung ist. Der christliche Glauben bildet die Grundlage ihres Lebens. In den Studien von Blandow (1972) und Danziger (1930) ließen sich kaum Hinweise auf eine christliche Motivation finden und bisher wurde sich wenig damit auseinandergesetzt. Diesbezüglich wurde festgestellt, dass die christliche Motivation bei meiner Ausarbeitung als das Hauptmotiv angesehen werden kann und als wesentlich und tragfähig, sowie mit als der Grund für das Andauern des Pflegeverhältnisses gilt. Darüber hinaus weisen die Ergebnisse meiner Einzelfallstudie deutlich darauf hin, dass eine Motivation aus finanziellen oder wirtschaftlichen Gründen vollkommen ausgeschlossen werden kann, was sich durch entsprechende Textpassagen belegen lässt. Die Pflegeeltern tragen eine Vielzahl der Kosten selbst, was bei einer finanziellen Motivation nicht üblich wäre. Es kann davon ausgegangen werden, dass Liebe alleine in einer Pflegefamilie nicht ausreicht, um den Entwicklungsdefiziten und dem Entwicklungsbedarf ei153 nes Pflegekindes gerecht zu werden. Erziehungsprobleme, Verhaltensauffälligkeiten und -störungen des Pflegekindes, die durch eine Traumatisierung in der Herkunftsfamilie entstanden sind, bedürfen einer speziellen Förderung. Bei der Bewältigung aller Probleme, die in Verbindung mit diesen Störungen auftreten, sind die Pflegeeltern auf Unterstützung und Hilfsmöglichkeiten angewiesen, da dies im Rahmen einer Familie alleine nicht durchführbar ist. Die Pflegeeltern fühlen sich dabei in manchen Situationen überlastet und alleingelassen. Dabei wäre eine bessere Zusammenarbeit und Unterstützung seitens des Jugendamtes wünschenswert. Ebenso müssten Pflegeeltern allgemein auch die Möglichkeit gegeben werden, ein paar Tage ohne das Pflegekind verbringen zu können, um wirklich wieder Kraft tanken zu können, die sie dringend für den Alltag mit einem Pflegekind benötigen. Was nützt es den Jugendämtern, wenn die Pflegeeltern überfordert und ausgebrannt sind? Eine Variante, um den Pflegeeltern diese Auszeit zu ermöglichen ist bei Familie Müller begonnen worden, indem das Pflegekind Lisa ein Wochenende im Monat und einen Teil der Ferien bei einer anderen Familie verbringt, die etwa die Rolle der Großeltern für das Pflegekind übernommen haben. Lisa profitiert davon, indem sie ein wenig verwöhnt wird (wie das Großeltern üblicherweise machen) und für Familie Müller bedeutet das, einmal Luft holen und auftanken zu können. Dieses Problem betrifft sicher nicht Familie Müller alleine, sondern es geht vielen Pflegeeltern so. Daher sehe ich es als dringend erforderlich an, neue Wege und Möglichkeiten zu finden, um Pflegeeltern mit einem Pflegekind, das enorme Störungen aufweist, Hilfe anzubieten und zu entlasten. Ebenfalls als schwierig und belastend für Pflegeeltern ist das Ansehen, dass sie in ihrem Umfeld erfahren. Bei all den Problemen und Schwierigkeiten mit denen sie umgehen müssen, erfahren und begegnen sie oft sehr viel Kritik und Unverständnis. 154 7. Reflexion Mittels eines offenen qualitativen Forschungsverfahrens konnte ein Einblick in das Leben mit einem Pflegekind gewonnen werden. Die Motivation von Pflegeeltern bietet meines Erachtens ein sehr wichtiges und interessantes Forschungsgebiet. Auch, wenn meine Arbeit nicht als repräsentativ gelten kann, da es unmöglich ist, anhand von nur zwei Interviews Rückschlüsse auf alle Pflegeeltern zu ziehen, so haben sie mir doch einen Einblick in eine Pflegefamilie ermöglicht und mir einige, mir aus meiner eigenen Erfahrung teilweise auch bekannten Probleme aufgezeigt. In der Auswertung meiner Interviews stellte ich fest, dass es möglicherweise sinnvoller gewesen wäre, eine andere Eingangsfrage auszuwählen. Durch meine explizite Frage bezüglich der Motivation haben die Pflegeeltern meist nur zu Beginn und am Ende des Interviews von ihrer Motivation gesprochen. Des Weiteren ist mir bei der Transkription der Interviews aufgefallen, dass die Pausen in den Interviews von mir vielleicht nicht lange genug ausgehalten wurden, um den Pflegeeltern das weitere Erzählen zu ermöglichen. Ebenso hätten sich durch weiteres, explizites Nachfragen eventuell noch genauere Aussagen bezüglich der Motivation ergeben können. Auch, wenn die Interviews in ihrer Form etwas von einem narrativen Interview abweichen, empfinde ich die Gespräche mit den Pflegeeltern als sehr aufschlussreich und durchaus wert hier verwendet zu werden. 155 8. LITERATURVERZEICHNIS Zum Pflegekinderwesen: • Blandow, Jürgen: Pflegekinder und ihre Familien. Geschichte, Situation und Perspektiven des Pflegekinderwesens. Weinheim und München: JuventaVerlag, (2004) • Blandow, Jürgen: Rollendiskrepanzen in der Pflegefamilie. Analyse einer sozialpädagogischen Institution. München: Juventa-Verlag, (1972) • Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend: Bereitschaftspflege – Familiäre Bereitschaftsbetreuung. Empirische Ergebnisse und praktische Empfehlungen. Stuttgart: W. Kohlhammer. GmbH, (2002) • Colla; Gabriel; Millham; Müller-Treusler; Winkler (Hrsg.): Handbuch Heimerziehung und Pflegekinderwesen in Europa. Neuwied: Luchterland-Verlag, (1999) • Danziger, Lotte; Hetzer, Hildegard; Löw-Beer, Helene: Pflegemutter und Pflegekind. Leipzig: Verlag von S. Hirzel, (1930) • Deutsches Jugendinstitut (Hrsg.): Handbuch Beratung im Pflegekinderbereich. Weinheim und München: Juventa-Verlag, (1987) • Dührssen, Annemarie: Heimkinder und Pflegekinder in ihrer Entwicklung. Eine vergleichende Untersuchung an 150 Kindern in Elternhaus, Heim und Pflegefamilie. 6. Auflage. Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht, (1977) (Beiheft zur „Praxis der Kinderpsychologie und Kinderpsychatrie“ Nr. 1) • Faltermeier, Josef: Verwirkte Elternschaft. Fremdunterbringung, Herkunftseltern, neue Handlungsansätze. Münster: Votum-Verlag (2001) • Gintzel, Ulrich: Erziehung in Pflegefamilien. Auf der Suche nach einer Zukunft. Münster: Votum-Verlag, (1996) Kowalczyk, Charly: Mit fremden Kindern leben. Adoptiv- und Pflegeeltern erzählen. Idstein: Schulz-Kirchner-Verlag, (2007) • • Marmann, Alfred: Kleine Pädagogen. Eine Untersuchung über „Leibliche Kinder“ in familiären Settings öffentlicher Ersatzerziehung. Frankfurt am Main: IGfH – Eigenverlag (2005) • Nienstedt, Monika; Westermann, Arnim: Pflegekinder. Psychologische Beiträge zur Sozialisation von Kindern in Ersatzfamilien. 5. Auflage, Münster: Votum-Verlag, (1998) • Reimer, Daniela: Pflegekinder in verschiedenen Familienkulturen. Belastungen und Entwicklungschancen im Übergang. Siegen: Zentrum für Planung und Evolution Sozialer Dienste. Schriftenreihe Nr. 19, (2008) 156 • Sozialgesetzbuch: 32., vollständig überarbeitete Auflage. München: Deutscher Taschenbuch Verlag (dtv), (2005) • Stiftung zum Wohl des Pflegekindes (Hrsg.): 3. Jahrbuch des Pflegekinderwesens. Kontakte zwischen Pflegekind und Herkunftsfamilie. Idstein: SchulzKirchner-Verlag, (2004) • Wiemann, Irmela: Ratgeber Pflegekinder. Erfahrungen, Hilfen, Perspektiven. 7. Auflage, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Taschenbuch Verlag, (2008) • Wolf, Klaus: Machtprozesse in der Heimerziehung. Eine qualitative Studie über ein Setting klassischer Heimerziehung. Münster: Votum-Verlag, (1999) (Forschung und Praxis in der Sozialen Arbeit. Band 2) • Wolf, Klaus: Spezialisierte Profis oder geduldige Hausfrauen? Zum Selbstverständnis von Mitarbeiterinnen in Erziehungsstellen. Erschienen in: Evangelische Jugendhilfe, Heft 1, 24-33; Hannover: Evangelischer Erziehungsverband e.V., (2002) • Zur Motivation: Heckhausen, Jutta; Heckhausen, Heinz: Motivation und Handeln. Heidelberg: Springer Medizin Verlag, (2006) • Krug, Joachim Siegbert; Kuhl, Ulrich: Macht, Leistung, Freundschaft. Motive als Erfolgsfaktoren in Wirtschaft, Politik und Spitzensport. Stuttgart: Kohlhammer-Verlag, (2006) • Rheinberg, Falko: Motivation. 7. Auflage, Stuttgart: Kohlhammer-Verlag, (2008) • Rudolph, Udo: Motivationspsychologie. Ein Lehrbuch. Weinheim, Basel und Berlin: Beltz-Verlag, (2003) • Literatur zu Forschungszwecken: Flick, Uwe; von Kardoff, Ernst; Steinke, Ines (Hrsg.): Qualitative Forschung. Ein Handbuch. 3. Auflage, Hamburg: Rowohlt-Verlag, (2004) • Glinka, Hans-Jürgen: Das narrative Interview. Eine Einführung für Sozialpädagogen. 2. Auflage, Weinheim und München: Juventa-Verlag, (2003) • Lamnek, Siegfried: Qualitative Sozialforschung. Lehrbuch. 4. Auflage, Weinheim: Beltz-Verlag, (2005) • Lenz, Karl: Alltagswelten von Jugendlichen. Eine empirische Studie über jugendliche Handlungstypen. Frankfurt / Main: Campus-Verlag, (1986) • Meyers Kleines Lexikon: Psychologie. (1986) • Schmidbauer, Wolfgang: Lexikon der Grundbegriffe. Psychologie. Hamburg: Rowohlt-Verlag, (1989) 157 • Christliche Literatur: Bibellesebund: Gute Nachricht Bibel. Stuttgart: Deutsche Bibelgesellschaft, (2000) • Blunck; Grünzweig; Holland; Laepple; Scheffbuch (Hrsg.): Biblisches Wörterbuch. Wuppertal: R. Brockhaus Verlag, (2001) • Bonhoeffer, Dietrich: Nachfolge. München: Chr. Kaiser - Verlag, (1937) • Evangelischer Gemeinde Katechismus. 2. Auflage, Gütersloh: Verlagshaus Gerd Mohn, (1979) • Joest, Wilfried: Dogmatik Band 2. Der Weg Gottes mit den Menschen. 3. Auflage, Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht, (1993) • Maier, Gerhard: Bibel – Kommentar Band 1. Neuhausen – Stuttgart: Hänssler Verlag, (1979) • Maier, Gerhard: Bibel – Kommentar Band 3. Neuhausen – Stuttgart: Hänssler Verlag, (1995) • Ortberg, John: Das Abenteuer nach dem du dich sehnst. Asslar: Gerth Medien GmbH, (2002) • Ortberg, John: Abenteuer Leben. Gottes überströmende Liebe im Alltag entdecken. Asslar: Gerth Medien GmbH, (2004) • Rienecker, Fritz: Das Evangelium des Matthäus. Wuppertal: R. Brockhaus Verlag, (1961) Online – Dokumente: www.blja.bayern.de (Stand: 21.01.2009) www.business-wissen.de (Stand: 21.01.2009) www.familienhandbuch.de (Stand: 21.01.2009) www.kiel.de/pflegekinderdienst (Stand: 21.01.2009) www.kvjs.de (Stand: 21.01.2009) www.pib-bremen.de (Stand: 21.01.2009) www.uni-siegen.de/fb2/mitarbeiter/wolf/wissarbeiten/?lang=de (Stand: Januar – März 2009) 158 8. ANHANG 8.1. Transkriptionszeichen verwendete Transkriptionszeichen: … Pause (Anzahl der Punkte entspricht etwa der Dauer) ...((6))… längere Pause von sechs Sekunden Dauer ((lachen)) außersprachliche Aktivitäten, wie z.B. lachen irgendwo besondere Betonung eines Wortes d a m a l s intensive Betonung eines Wortes …eh… Selbstkorrektur oder Wortabbruch 159