ITS magazine - Siemens Schweiz AG

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ITS magazine - Siemens Schweiz AG
ITS magazine
Fachmagazin für Straßenverkehrstechnik I 3/2011
www.siemens.de/traffic
IMPRESSUM
ITS magazine · Fachmagazin
für Straßenverkehrstechnik/ITS
Herausgeber: Siemens AG · Industry Sector ·
Mobility Division · Complete Transportation ·
Intelligent Traffic Systems · Hofmannstraße 51 ·
D-81359 München
Redaktionsleitung: Dr. Michael Ostertag
(verantwortlich), Karin Kaindl: Siemens
I MO CT BD&MK
Koordination:
Roland Michali: Siemens I MO CC Erlangen
Textredaktion: Peter Rosenberger, Philip Wessa:
www.bfw-tailormade.de · Eberhard Buhl
(„Im Seitenspiegel“)
Fotos:
Corbis Titel, S. 4/5, 6, 7 oben, 9, 10, 14 links,
16, 17 unten · dpa picture alliance S. 7 unten, 8,
12/13, 14 rechts, 15, 19 unten · Roland Michali
S. 18 Mitte · AutoNOMOS S. 20 · Photocase.com
S. 21 · Achim Graf S. 22–25
Alle anderen Fotos: Siemens AG
Konzeption & Gestaltung: Agentur Feedback,
München · www.agentur-feedback.de
Druck: Mediahaus Biering, München
Copyright: © Siemens AG 2011
Alle Rechte vorbehalten. Vervielfältigung dieser
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lässig, soweit nicht ausdrücklich zugestanden!
Technische Änderungen vorbehalten.
Printed in Germany.
Das nächste ITS magazine erscheint
am 15. Januar 2012
www.siemens.de/traffic
ISSN 2190-0299
Bestell-Nr. A19100-V355-B105
Dispo-Nr. 22300 · K-Nr. 7604
313686 IF 09115.5
www.siemens.com/mobility
Blaupausen
der Zukunft
Wie die moderne Mobilitätsplanung
die Welt in Bewegung halten will
S
Editorial & Inhalt
Editorial
Liebe Leserin, lieber Leser,
„Prognosen sind schwierig, vor allem, wenn
sie die Zukunft betreffen“, soll Nobel­preis­
träger Niels Bohr einmal gesagt haben. Oder
war es doch Mark Twain? Oder gar Karl
Valentin, wie manch einer behauptet?
Allein die Tatsache, dass ein Bonmot mehreren Vätern zugeschrieben wird, sagt schon
einiges nicht nur über seine Originalität,
sondern letztlich auch über seinen Wahrheitsgehalt. Den in diesem Fall sicherlich
jeder bestätigen kann, der professionelle
Planungen auf Basis von Vorhersagen entwickeln muss. Auf Mobilitätsplaner trifft
dies ganz besonders zu, denn die anhand
ihrer Konzepte realisierten Lösungen sind
meist buchstäblich in Stein gemeißelt respektive in Asphalt oder Stahl gegossen – das
heißt: Sie lassen sich nicht so ohne weiteres
korrigieren, wenn die nächste Umfrage
etwas anderes ergibt als die vorherige.
Jedenfalls bisher noch nicht. Dass moderne Technologie gerade in unsicheren
Zeiten den Weg zur nötigen Flexibilität eröffnet, darin sind sich zumindest zwei der
Experten einig, die das ITS magazine im
Rahmen des Themenschwerpunkts Mobilitätsplanung befragt hat: Der eine, Universitätsprofessor Dr. Klaus J. Beckmann vom
Deutschen Institut für Urbanistik, hält intermodale Verkehrsmanagementsysteme
für einen wichtigen Beitrag zur Zukunft
der Mobilität – der andere, US-Bestsellerautor Tom Vanderbilt, sieht die mobile Gesellschaft dank Computer-Clouds auf dem
Weg in Richtung Wolke sieben.
Eines jedoch bleibt für Mobilitätsplaner
trotz innovativster Denkanstöße unerlässlich – auch das kann man, vor allem zwischen den Zeilen, aus sämtlichen Beiträgen zu diesem Thema herauslesen: ein
Partner, der in der Lage ist, Zukunft zu
denken und nachhaltig zu begleiten. Ich
wünsche Ihnen viel Spaß bei der Lektüre.
Herzlichst Ihr
Hauke Jürgensen
Leiter Intelligent Traffic Systems
4
„Wer will
wann wie
wohin?“
Inhalt
Im Fokus
4„Wer will wann wie wohin?“
Universitätsprofessor Dr. Klaus
J. ­Beckmann, Wissenschaftlicher
­Direktor des Deutschen Instituts
für Urbanistik, über die wichtigsten
Ansichten, Einsichten und Aussichten
der modernen Mobilitätsplanung
10Unterwegs zu Wolke sieben
Tom Vanderbilt, Autor des New York
Times-Bestsellers „Auto – Warum
wir fahren wie wir fahren und was
das über uns sagt“, über die revolutionierende Rolle, die ComputerClouds bei der Lösung von Mobilitätsproblemen spielen könnten
2 its magazine 3/2011
12Die Bretter, die die Zukunft bedeuten
Immer häufiger entstehen ganze Städte
oder Stadtteile auf den Reißbrettern
von Architekten und Infrastrukturexperten. Die Konzeption der Transportnetze spielt eine wesentliche Rolle,
wenn praktisch aus dem Nichts eine
neue Welt erschaffen wird
16Den Rat neu erfunden
Wenn Hersteller von Verkehrstechnik
Beratungsleistungen anbieten, stehen
in der Regel die eigenen Produkte im
Mittelpunkt. Der Ansatz der Mobility
Consultants von Siemens ist mindestens eine Etage darüber zu verorten:
Sie geben fundierte strategische und
konzeptionelle Antworten auf die wichtigsten Zukunftsfragen im Hinblick auf
nachhaltige Stadtentwicklung
12
20
Die Bretter, die die
Zukunft bedeuten
Von Geistes Hand
Trends & Events
Wissen & Forschung
Rubriken
18Trendspot
Neue Kleinsignalgeber zur separaten
­Signalisierung für Radfahrer und
­Fußgänger bieten eine komfortable
Möglichkeit zur Erhöhung der Verkehrssicherheit
20Von Geistes Hand
Die Story klingt nach Hollywood, spielt
aber an der Spree und handelt von
­Science, nicht von Fiction: Forscher
der FU Berlin haben es geschafft, ein
Fahrzeug allein mit der Kraft der
Gedanken zu steuern
21Im Seitenspiegel
Nachdenkliches und Quergedachtes zum Thema Mobilitätsplanung: „Der große Plan“
18 Eventnews
Kompaktmeldungen zu aktuellen
­Veranstaltungen
Partner & Projekte
19 Shortcuts
Aktuelle Projekte im Bereich Straßen­
verkehrstechnik in England und der
Schweiz
26Profil
Simone Köhler, Mobility Consultant bei der Siemens AG, über
den für ihre Arbeit nötigen Blick
über den Tellerrand des eigenen
Unternehmens: „Interne Denkgrenzen verlassen“
Mobilität & Lebensraum
22Power sucht Frau
Mit unnachahmlichen Energieleistungen
dominiert Verena Bentele die Paralympics.
Aber wie sicher bewegt sich die von
­Geburt an blinde Spitzensportlerin im
­Straßenverkehr einer Metropole?
28Impressum
3/2011 its magazine 3
Im Fokus
„Wer
will
wann
wie
wohin?“
Interview n Universitätsprofessor
Dr. Klaus J. Beckmann, Wissen­
schaft­licher ­Direktor des Deutschen ­Instituts für ­Urbanistik,
über die wichtigsten Ansichten,
­Einsichten und Aussichten der
modernen Mobilitätsplanung.
4 its magazine 3/2011
3/2011 its magazine 5
Im Fokus
Herr Professor Beckmann, die Qualität
einer Angebotsplanung steht und fällt
mit der Qualität der zugrunde liegenden
Bedarfsprognosen. Einige Ihrer Kollegen
sind der Meinung, dass man sämtliche
vor der Krise getroffenen Vorhersagen
hinsichtlich der künftigen Mobilitätsnachfrage getrost in die Tonne treten
kann. Sie auch?
Ich denke schon auch, dass die Realität inzwischen viele der noch vor einigen Jahren
gezeichneten Szenarien ausbremst. Meines Erachtens liegt das nur zum Teil an den
Verwerfungen der Weltwirtschaftskrise,
sondern vor allem an den deutlich weiter
reichenden Änderungen der Rahmenbedingungen für Mobilität, die sich im Grunde schon viel früher angebahnt haben.
Da sind zum einen die steigenden Energiepreise, die durch aktuelle politische Entwicklungen wie die Instabilität in mehreren Erdöl-Förderländern und die immer
hitziger geführte Debatte um die Energiequellen der Zukunft noch mehr als bisher
in den Fokus rücken. Und da ist zum anderen beispielsweise auch die Diskussion um
den Klimawandel, die zumindest in Europa
in zunehmender Lautstärke geführt wird
und in der der Verkehr als einer der Hauptverursacher mit steigenden CO2-Emissionen natürlich eine Hauptrolle spielt.
Dann bereiten Aktualitäten wie die an
den Weltbörsen derzeit herrschende
Angst vor einer neuerlichen Rezession
in den USA der Mobilitätsplanung also
nicht allzu viel Kopfzerbrechen?
Das lässt sich so pauschal kaum beantworten. Fakt ist: Vor den Unsicherheiten kurzfristiger Turbulenzen kann sich die Mobilitätsplanung ganz gut schützen, indem sie
sich auf die Beobachtung längerer Perioden und nachhaltiger Trends konzentriert.
Eine Ausnahme wäre hier natürlich der
­totale Kollaps der Weltwirtschaft, aber der
ist im Moment nun wirklich nicht in Sicht.
Im Normalfall kommt es darauf an, ob das,
was gerade die Schlagzeilen beherrscht,
dazu geeignet ist, grundsätzliche Verhaltensänderungen auszulösen oder nicht.
­Eine der wichtigsten Fragen, die sich die
Mobilitätsplanung angesichts der aktuellen
Situation stellen sollte, lautet demnach:
Könnte es sein, dass wir durch Wiedererrichtung von Zollschranken in eine Art
Kleinstaaterei zurückfallen? Dies hätte
massive Auswirkungen auf die Globalisierung und damit auf den G
­ üterverkehr.
6 its magazine 3/2011
nun einmal mehr Straßen und Wege als
Schienenstrecken haben und der Busverkehr zudem auch die Straßen nutzt.
Internetsurfer im Café: „Eine spannende Zukunftsfrage ist,
inwieweit die zunehmende virtuelle Mobilität die räumliche
Mobilität beeinflussen wird“
Neu-Londoner vor einem Stadtplan: „Dass sich immer mehr
ältere Menschen dafür entscheiden, in die Stadt zu ziehen,
hat für die Mobilitätsplanung vielfältige Auswirkungen“
Was meinen Sie – könnte es sein?
Nein, das Risiko halte ich für äußerst
­begrenzt.
Im Hinblick auf die künftige Personenverkehrsleistung scheinen grundsätz­
liche Verhaltensänderungen in den
Vorher­sagen bereits enthalten zu sein:
Sie soll in vielen Industrieländern nur
noch bis 2020 steigen und danach relativ deutlich zurückgehen. Im Bereich
­Güterverkehr ­signalisieren die aktuellen
Prognosen noch immer beinahe ungebremstes Wachstum. Halten Sie das
für realistisch?
„Die Entwicklung
in der Logistik
geht in Richtung
­Dezentralisierung“
Jein. Auch ich kann mir nicht vorstellen,
dass die Güterverkehrsleistung auf ab­
sehbare Zeit signifikant sinken wird. Aber
an die Fortschreibung der bisherigen Steigerungsraten glaube ich ebenso wenig.
­Dazu sind die Umstrukturierungen der
­Logistikketten, die sich seit einigen Jahren
beobachten lassen, viel zu gravierend. Die
Tendenz, die Verbrauchsstellen ganzer
Länder von einem einzigen Zentrallager
aus zu ­beliefern oder zum Beispiel die
­einzelnen Komponenten eines Bechers
Fruchtjoghurt erst Tausende von Kilometern durch die Weltgeschichte zu transportieren, ehe das Produkt endlich im
Kühlregal steht, nimmt d
­ efinitiv ab. Die
Entwicklung in der Logistik geht eindeutig
in Richtung Dezentralisierung, in der Warenwirtschaft erlangen r­ egionale Kreisläufe wieder höhere Bedeutung. Und das
hat nicht nur mit nachhaltig steigenden
Transportkosten etwa durch höhere Energie­
preise und den politischen Trend zur so
­genannten Internalisierung externer Be­
lastungen zu tun, sondern auch mit der
Tatsache, dass Just-in-time-Belieferungen
über die Straße auf großen ­Entfernungen
immer unzuverlässiger ­werden. Denn
­jeder Lkw, der zu spät ankommt, birgt
letztlich das Risiko extrem teurer Produk­
tionsausfälle.
Neben der Entwicklung der Gesamtnachfrage gilt es bei der Mobilitäts­
planung – insbesondere im Bereich
­Personenverkehr – natürlich auch,
­Präferenzen im Hinblick auf einzelne
Verkehrsmittel zu berücksichtigen.
­Einiges spricht dafür, dass das Auto
­seine Dominanz verlieren wird …
Richtig. Was wir seit einigen Jahren verstärkt beobachten, ist eine Entkopplung
der Mobilitätsentscheidungen von Status-
überlegungen. Diese Entwicklung hat bei
einem Teil der jungen Generation begonnen, setzt sich inzwischen aber auch in
anderen Altersgruppen fort – selbst bei
den so genannten Silver Surfern, auf deren Wunschzettel zum 18ten Geburtstag
der Führerschein und das eigene Auto
noch ganz oben gestanden haben. Das
heißt nun keineswegs, dass die Menschen
in Zukunft nicht mehr Auto fahren wollen, sondern lediglich, dass aus einer ehedem emotionalen Beziehung mehr und
mehr eine rationale wird: Die Verkehrsteilnehmer entscheiden künftig mehr als bisher nach pragmatischen Kriterien, welches Verkehrsmittel sie für welche Strecke
benutzen. Für die Mobilitätsplanung ergibt sich daraus die klare Forderung nach
ganzheitlichen, möglichst effizient vernetzten Transportangeboten.
kehr haben eben schon einige Jahrzehnte
auf dem Buckel. Ich denke da nicht zuletzt an Bauwerke wie Brücken und Tunnel
– die müssen zwar nicht allzu oft saniert
werden, aber wenn, dann wird es meist
ziemlich teuer. Vor allem die Kommunen
sehen sich diesbezüglich in einer echten
Zwickmühle – zwischen schrumpfenden
Etats auf der einen und der Sicherung der
Mobilität auf der anderen Seite. Die höheren Kosten für den Straßenverkehr resultieren einfach daraus, dass wir in den Städten
Welche Rolle spielen eigentlich Mega­
trends wie Urbanisierung und Aging
­Society für die Mobilitätsplanung?
Zweifellos eine ganz entscheidende. Wobei sich gerade an diesen beiden Beispielen gut zeigen lässt, dass hier vieles mit
vielem zusammenhängt. Dass sich heute
immer mehr ältere Menschen ganz bewusst dafür entscheiden, aus dem Umland in die Stadt zu ziehen, hat für die
­Mobilitätsplanung verschiedene Auswirkungen: Zum ­einen verändern sich die
Wegestrukturen, weil sich die älteren Einwohner stärker auf ihr Nahumfeld konzentrieren. Zum anderen entsteht aber auch
mehr Wettbewerb zwischen den Kommunen im Hinblick auf ihre Lebensqualität.
Und die Mobilität ist hier ein wichtiges Kriterium. Neben Urbanisierung und Aging
Society gibt es aber noch eine ganze Reihe
weiterer Megatrends, die von der Mobilitätsplanung zu berücksichtigen sind. Eine
ungemein s­ pannende Zukunftsfrage ist
zum Beispiel, inwieweit die zunehmende
virtuelle Mobilität auf längere Sicht die
räumliche Mobilität beeinflussen wird.
Meines Erachtens dürfte sie nicht nur
dämpfende, sondern auch induzierende
Wirkung haben: Denn natürlich möchten
sich die digitalen Romeos und Julias, die
sich im Netz kennenlernen, i­rgendwann
»
auch persönlich treffen.
Brückensanierung in Dresden: „Angesichts begrenzter öffentlicher Budgets muss
der Fokus zunächst auf dem Erhalt bestehender Infrastruktur liegen“
Dennoch haben Sie jüngst in einem
­Vortrag über Mobilitätsplanung an
der Uni Greifswald dargestellt, dass
der kommunale Investitionsbedarf im
­Bereich Straßenverkehr derzeit mehr
als viermal so hoch liegt wie im Bereich
­ÖPNV. Wie passt das zusammen?
Ganz einfach: Da die öffentlichen Budgets,
die den Mobilitätsverantwortlichen zur
Verfügung stehen, meist begrenzt sind,
muss der Fokus zunächst auf der Erhaltung der bestehenden Infrastruktur liegen.
Und viele Anlagen im Bereich Straßenver
3/2011 its magazine 7
Im Fokus
Auf freien Märkten bestimmt in der ­Regel
die Nachfrage das Angebot. Ganz so
­einfach ist es im Bereich Mo­bilität nicht,
da hier neben ökonomischen auch
­ökologische Kriterien gelten. Wie weit
geht der gestalterische Auftrag der
­Mobilitätsplanung?
Zunächst möchte ich den Begriff gern erweitern und nicht nur von Ökologie reden,
sondern von Nachhaltigkeit, weil das Wort
per Definition soziale und ökonomische
Aspekte in die Betrachtung mit einbezieht.
Dann fällt mir auch die Antwort auf die
Frage leichter. Denn das gezielte Vorantreiben nachhaltiger Lösungen ist meines Erachtens in allererster Linie eine öffentliche
Aufgabe. Natürlich gibt es auch Unternehmen, die ihre Verantwortung sehr ernst
nehmen, aber eine viel größere Chance auf
eine nur an der Sache orientierte, mehrdimensionale Abwägung haben in der Regel
die öffentlichen Institutionen. Deshalb
würde ich mir wünschen, dass die Politik
ihre Gestaltungsmöglichkeiten in Zukunft
noch mehr als bisher nutzt – wohl wissend, dass das nicht immer leicht ist.
Das hört sich an, als wären Sie nicht
sehr davon überzeugt, dass die
aktuellen Mandatsträger bei diesen
mehrdimensionalen Abwägungen
zu den ­richtigen Schlüssen kommen?
Auch hier sollte man sich vor Pauschal­­
ur­teilen hüten. Natürlich gibt es Ent­
wick­lungen, die uns nicht glücklich m
­ achen
– unter anderem, dass wir durch Verkehrs­­
angebote lange Zeit die Suburbanisierung
eher noch gestützt haben. Aber mir fallen
auch durchaus positive Entscheidungen
ein: So hat man in einer Reihe von deutschen Städten nicht den Fehler begangen,
während des Siegeszugs des motorisierten
Invidualverkehrs Straßenbahnlinien zu
schließen. Davon profitieren wir natürlich
jetzt zu Beginn des Zeitalters der Multimodalität, während beispielsweise unsere
französischen Nachbarn fieberhaft versuchen, den früheren Status quo wiederherzustellen.
„Erfolgreiche
­Mobi­litätsplanung
beginnt bei der
­Stadtentwicklung“
Aber gerade in Deutschland, so kritisieren
viele Verkehrswissenschaftler, fehlte der
Politik bisher der Mut, die dringend nötige Nutzerfinanzierung des Straßenverkehrs voranzutreiben. Wie lange wird –
oder besser: kann – dies noch so bleiben?
Ich bin kein Hellseher, deshalb kann ich
­Ihnen auch kein Datum nennen. Aber ich
finde es bezeichnend, dass hierzulande inzwischen genau das politische Lager, das
früher am vehementesten dagegen war,
das Thema Maut besonders intensiv thematisiert. Aus mehreren Gründen: Erstens
wird es immer schwieriger, die verkehrliche Infrastruktur allein mit den bisher verfügbaren öffentlichen Mitteln zu finanzieren. Und zweitens haben sich die anfangs
äußerst kritisch beäugten Projekte zum
Beispiel in Stockholm und London unterm
Strich bestens bewährt. Zumindest haben
die Initiatoren alle wichtigen Ziele erreicht:
Staus wurden reduziert, die Verkehrsströme flüssiger und die Umweltbelastungen
Computeranimation der geplanten Stadtbahn in Hamburg: „Das gezielte Vorantreiben nachhaltiger Lösungen ist in allererster Linie eine öffentliche Aufgabe“
8 its magazine 3/2011
geringer. Und was vielleicht noch wichtiger
ist – zumindest in den Augen von Politikern: Inzwischen ist klar geworden, dass
die Bürger solche Bezahlsysteme durchaus
akzeptieren, wenn sie die Zielsetzung dahinter verstehen und nicht das Gefühl haben, lediglich abgezockt zu werden. In
Deutschland hat meines Erachtens allerdings zumindest im ersten Step nicht die
Citymaut, sondern eine flächendeckende
Benutzungsgebühr für Fernstraßen die
größte Chance auf Realisierung.
Wenn nun sämtliche Daten zur Entwicklung der Mobilitätsnachfrage auf
dem Tisch liegen und alle politischen
und gesellschaftlichen Ziele formuliert
und gewichtet sind: Wie geht der Mo­­bi­­­
­litätsplaner
­­­­
von diesem Punkt aus vor?
Erst einmal geht es darum, die Fülle an Informationen so weit zu analysieren beziehungsweise zu interpretieren, dass man
letztlich die simpel klingende, aber de facto ungemein vielschichtige Frage beantworten kann: Wer will wann mit welchem
Verkehrsmittel wohin? Daraus wird die zu
erwartende Belastung des Straßen- und
Schienennetzes errechnet und mit den vorhandenen Kapazitäten abgeglichen. In einigen Fällen stellt man dabei fest, dass
entsprechende Angebote fehlen und ein
Ausbau der Infrastruktur nötig ist. In anderen Fällen mag es genügen, existierende
Angebote zu optimieren. Auf jeden Fall
kommt man auf diese pragmatische Art zu
einem Maßnahmenkatalog, der dann in
konkrete Handlungskonzepte umgesetzt
wird – zum Beispiel zur Verbesserung der
intermodalen Schnittstellen der Verkehrsmittel in der Innenstadt.
Welche Instrumente kommen denn
bei der Ermittlung der künftigen Netz­
be­lastungen und der Definition der
Handlungskonzepte zum Einsatz?
Im Bereich der Grobplanung wird teilweise
noch mit deterministischen Ansätzen gearbeitet. In der Feinabstimmung greift man
inzwischen jedoch auf Computersimulationen zurück – und zwar auf Basis stochastischer Modelle, weil die Ereignisse im realen Verkehr letztlich auch stochastischen
Gesetzen gehorchen. Aber der vielleicht
­intelligenteste Ansatz der kommunalen
Mobilitätsgestaltung ist ein ganz anderer:
eine umsichtige Stadtentwicklung, die bereits bei der Festlegung der künftigen Flächennutzung darauf achtet, dass zusätzlicher Verkehr nur dort entsteht, wo er sich
auch mit vertretbarem Aufwand bewälti-
gen lässt und wenig unerwünschte Wirkungen hat. Das heißt: Die Nähe zu Versorgungseinrichtungen ist ebenso wichtig
wie eine hochwertige Erschließung mit
dem öffentlichen Personennahverkehr.
Mit vertretbarem Aufwand heißt vermutlich: mit bezahlbaren Maßnahmen?
Stimmt. In der ersten Phase der Mobilitätsplanung werden zwar zunächst einmal nur
die Effekte betrachtet, aber danach muss
zwangsläufig der Blick auf die Kosten folgen.
Dabei kommt man dann in aller Regel zu
dem Schluss, dass Anzahl und Umfang der
nötigen Maßnahmen die verfügbaren Budgets mehr oder weniger deutlich übersteigen. Dann gilt es, Prioritäten zu setzen: eine
schwierige Aufgabe, die zudem unter relativ hohem Zeitdruck erledigt werden muss.
Denn gerade im Bereich Mobilität spielt die
zügige Umsetzung der als notwendig erkannten Maßnahmen eine entscheidende
Rolle – bei aller Unsicherheit, die naturgemäß ständiger Begleiter des P
­ laners ist. Die
insgesamt höchste Trefferquote verspricht
meines Erachtens die Kombination aus pro­
fessioneller Planung, ver­ant­­­­­wortungsvoller
Abwägung, zügiger Um­­­setzung und kontinuierlicher Evaluierung.
„Die Mobilität der
­Zukunft bedarf
der Vernetzung der
Verkehrssysteme“
Eine mögliche Antwort auf Planungs­
unsicherheiten wäre eine Erhöhung
der Flexibilität im Bereich der Lösungen.
Viele Verkehrswissenschaftler plädieren
deshalb für einen verstärkten Einsatz
von intermodalen Verkehrsmanagementsystemen. Sehen auch Sie darin
ein probates Mittel?
Ja, auf jeden Fall. Starre, undurchlässige
Infrastrukturen bergen logischerweise
­immer die Gefahr, dass ein Teilsystem bereits kollabiert, lange bevor die Kapazitätsgrenze des Gesamtsystems erreicht ist. Mit
intermodalem Verkehrsmanagement lässt
sich nicht nur das Angebot optimal nutzen,
sondern bis zu einem gewissen Grad auch
die Nachfrage beeinflussen – aus meiner
Sicht eine der wichtigsten Voraussetzungen für die Bewältigung der Herausforderungen in der Zukunft. Im Idealfall ist das
­intermodale Verkehrsmanagement sozusa-
Citymaut in Stockholm: „Inzwischen ist klar geworden, dass die Bürger solche Bezahlsysteme durchaus akzeptieren, wenn sie die Zielsetzung dahinter verstehen“
gen der verlängerte Arm eines ganzheitlichen Mobilitätsmanagements, das schon
viel früher ansetzt – zum Beispiel auch in
Unternehmen, die für ihre Mitarbeiter entsprechende Mobilitätspläne entwickeln.
Speziell in diesem Bereich sind Länder wie
Belgien oder die Niederlande nach meiner
Beobachtung übrigens schon deutlich weiter als wir hier in Deutschland.
reifenden Überzeugung, dass die Mobilität
der Zukunft einer effizienten ­Vernetzung
der Verkehrssysteme bedarf. Und das gilt
letztlich nicht nur im multimodalen, sondern auch im räumlichen Sinn.
Herr Professor Beckmann, wir danken
­Ihnen für das Gespräch. «
Inwieweit werden die Mobilitätspla­
nungen auf den unterschiedlichen
­Ebenen eigentlich aufeinander abgestimmt – kommunal, regional, national,
international?
Ohne einen solchen Abgleich würden wir
natürlich eher früher als später im Tollhaus
landen – deshalb findet er seit geraumer
Zeit auf allen Ebenen statt, aber eben mit
sämtlichen Schwierigkeiten, die mit der
Überwindung administrativer Grenzen verbunden sind. Schon bei der Abstimmung
­etwa des Münchener Verkehrs mit dem in
den Umlandgemeinden gibt es naturgemäß
­Interessenkonflikte – und deren Ausmaß
nimmt bei nationalen oder gar internationalen Synchronisierungsversuchen natürlich
eher zu als ab. Trotzdem gibt es zum Beispiel in Europa dank des EU-Weißbuchs Verkehr und der Konzeption der europäischen
Netze (TEN-V) einige vielversprechende Ansätze. Das hat zwar teilweise sicherlich mit
den in Aussicht gestellten ­Zuschüssen zu
tun, aber ebenso mit einer immer weiter
Zur Person
Universitätspro­
fessor Dr. Klaus J.
Beckmann wurde
1985 für das Lehrund Forschungs­
gebiet Kommunale
Infrastrukturplanung an die Universität Karlsruhe
­berufen. Von 1990 bis 1996 war er
als Technischer Beigeordneter im
Stadtbaurat Braunschweig, danach
als Leiter des Instituts für Stadtbau­
wesen und Stadtverkehr der RWTH
­Aachen ­tätig. Seit Oktober 2006 ist
er Wissenschaftlicher Direktor und
­Geschäftsführer des Deutschen Instituts für Urbanistik (www.difu.de),
der größten Forschungs-, Fortbildungsund Informationseinrichtung für
­Städte, Gemeinden, Landkreise, Kommunalverbände und Planungsgemeinschaften im deutschsprachigen Raum.
3/2011 its magazine 9
Im Fokus
anderen Zielorten abstellten“, schreibt er.
„Als die Dichte der Fortbewegungsmittel
gering, die Einkommen hoch und Taxis rar
waren, war es die einzige Möglichkeit, eine
zeitnahe Direktbeförderung zu garantieren.
Dann wurde das ‚Cloud-Commuting’ erfunden: Autos werden aus einem riesigen Pool,
der von einer Organisation in der Cloud betrieben wird, auf Anforderung kurzfristig
zum Kunden geschickt und bringen ihn zu
seinem Ziel.“ Dieses System gibt es natürlich bereits, in Form von verschiedenen Carund Bike-Sharing-Systemen, obwohl es
heute den frühen Tagen der digitalen Musik ähnelt: sporadischer Service, umständliche Bezahlung und ein vages Misstrauen
gegenüber der Zuverlässigkeit von etwas,
das nicht mehr greifbar ist.
Unterwegs zu
Wolke sieben
Ein Balanceakt zwischen individuellem
Komfort und systemweiter Effizienz
Essay n Tom Vanderbilt, Autor des New York Times-Bestsellers „Auto –
Warum wir fahren wie wir fahren und was das über uns sagt“, über die
revolutionierende Rolle, die Computer-Clouds bei der Lösung von Mobilitätsproblemen spielen könnten.
Wenn ich in letzter Zeit über Mobilität
nachdenke, kommt mir immer wieder
Musik in den Sinn. Früher war Musik in
meinem Leben etwas sehr Greifbares.
Während meines Studiums durchstöberte
ich stundenlang das Sortiment der Plattenläden, und das Ergebnis dieser Beutezüge
quoll in meinem Zimmer aus gestapelten
Getränkekisten. Den Boden meines Autos
bedeckte eine Sedimentschicht aus lädierten Kassetten. Dann kamen die CDs, und
ich verbrachte die 90er-Jahre mit dem vergeblichen Versuch herauszufinden, wie
man sie am attraktivsten und effektivsten
aufbewahrt: Zickzackturm von Ikea oder
Einlagen in Aktenordnern?
In den letzten Jahren bin ich zu MP3s,
Streaming-Diensten und Cloud-Speichern
10 its magazine 3/2011
übergegangen, und die Musik in meinem
Leben wurde von einem Produkt zu einer
Dienstleistung. Meine Musiksammlung besteht jetzt – zur unendlichen Freude meiner Frau – statt aus Schränken voller CDs
oder Festplatten aus einem einzigen Computer mit Internetverbindung. Statt eines
ganzen Bergs von CDs nutze ich jetzt, wenn
ich Musik hören möchte, einfach die Streaming-Software Spotify. Über die Cloud habe ich Zugriff auf Millionen von Songs, und
die Sammlung ist äußerst mobil – ich kann sie
auf meinem iPhone überallhin „mitnehmen“.
Denken Sie jetzt einmal an Ihr Auto. Wie
die alte CD-Sammlung verbringt es fast 95
Prozent seiner Lebenszeit damit, auf seinen
Einsatz zu warten, irgendwo geparkt und
mit nichts anderem beschäftigt als Stauraum
zu beanspruchen. Oder welche Funktion
erfüllt es sonst dabei? Es ist eigentlich nur
eine Reserve zukünftiger Mobilität, abgesehen vielleicht von der sozialen Signalfunktion, die es mit der riesigen, alphabetisch geordneten CD-Sammlung gemeinsam
hat. Was wäre, wenn wir das Auto oder
irgendein anderes persönliches Fortbewegungsmittel „streamen“ könnten, wenn wir
es brauchen?
David Levinson, Verkehrswissenschaftler
der University of Minnesota, hat – in Anlehnung an den IT-Terminus Cloud Computing – den Begriff Cloud Commuting geprägt: „Früher hielten die Menschen ihre
persönlichen Fortbewegungsmittel in ihrer
Nähe, indem sie Autos und Fahrräder in der
Nähe ihres Zuhauses, ihrer Arbeitsstätte oder
Der Schlüssel zur Mobilität in zunehmend
überfüllten urbanen Gegenden ist ein Balanceakt zwischen individueller Bequemlichkeit und systemweiter Effizienz. In diesem
Sinne müssen unsere Verkehrsingenieure
denken wie Software-Entwickler und unsere
physischen Verkehrsnetze Computernetzwerken ähnlicher werden. Wie der niederländische Design-Guru John Thackera feststellt, ist „die geschwindigkeitsbesessene
Computerwelt, in der Netzwerkdesigner gegen Verzögerungen in Millisekunden kämpfen, uns um Jahre voraus, wenn es darum
geht, Raum-Zeit-Fragen neu zu durchdenken.“
Bei all dem Gerede über den „Tod der
Entfernung“, das die schnellen Computer
mit sich gebracht haben – ich kann meine
Cloud-Musiksammlung an jedem beliebigen
Ort hören – versuchen Computer-Freaks die
Entfernung in der Mikrochip-Architektur und
in Netzwerken zu verringern, um Latenzen
und Dämpfung zu verhindern. „Netzwerkdesigner sind gute Lokalisierer“, schreibt
Thackera, „die versuchen, die geodätische
Entfernung zu reduzieren und dabei das so
genannte Speicherbreitenparadigma oder
‚Cache and Carry’ entwickelt haben. Sie konzentrieren sich darauf, Webseiten so nah wie
möglich an ihren endgültigen Zielorten zu
speichern, zu kopieren und zu replizieren,
auf so genannten Content-Access-Points.“
Unsere Verkehrsnetze dagegen strotzen
nur so vor Ineffizienz. Über Jahre, schreibt
Alex Steffen vom Online-Magazin Worldchanging, „haben wir Mobilität benutzt,
um den Zugang zu bekommen, den wir
brauchen“, und dazu ausufernde und jetzt
überfüllte Netzwerke zu Schleuderpreisen
gebaut. Heutzutage jedoch, wo die sozialen und persönlichen Konsequenzen der
Hypermobilität in den Mittelpunkt rücken,
verschiebt sich die Aufmerksamkeit darauf,
wie viel Zugang man mit weniger Mobilität
haben kann. „Die einzige nachhaltige Reise
ist die, die man nie antreten muss“, sagt
Steffen dazu.
Trotz all der Zeit, die in Verkehrsstaus in
Stoßzeiten verloren geht, sind nach Untersuchungen des Rand Institutes mehr als 90
Prozent der amerikanischen Straßen 90 Prozent der Zeit nicht verstopft. Die meisten
auftretenden Stauungen können auf „Benutzerfehler“ zurückgeführt werden. Wie
Sebastian Thrun, Informatiker an der Stanford Universität, der zurzeit an Googles
autonomer Autotechnologie arbeitet, festgestellt hat, lässt sich nicht einmal ein überfüllter Highway mit der tatsächlichen Zahl
der Autos erklären, sondern mit den
menschlichen Reaktionszeiten und Fahrfähigkeiten: Bei einer Flotte autonomer Autos
wäre die Kapazität bei gleicher Spurzahl
zwei- bis dreimal so hoch.
Aber es geht nicht nur um den Straßenverkehr: Einer von fünf Containern, die
weltweit transportiert werden, ist leer. Die
Betonung der Transportgeschwindigkeit
maskiert manchmal unsere Ineffizienz. Wie
der Journalist Philip Longman hervorhebt,
konnte früher die Beförderung mit Postexpresszügen sicherstellen, dass ein Brief, der
mit einer normalen Zwei-Cent-Briefmarke
in New York abgeschickt wurde, bereits am
nächsten Tag in Chicago ankam. Heute geht
der gleiche Brief wahrscheinlich zuerst per
Luftpost an den FedEx-Hub in Memphis, wo
er ausgeladen, sortiert und wieder auf ein
anderes Flugzeug verladen wird – ein Vorgang, der viel mehr Geld und Treibstoff
kostet und mehr CO2 produziert und in vielen Fällen länger dauert als vor 80 Jahren.
Daher denke ich, dass die nächste große
Revolution im Verkehrswesen nicht wie zuvor in Form eines neuen Transportmittels
auftreten wird; obwohl es natürlich Leute
gibt, die immer noch auf fliegende Autos
warten. Die wahre Revolution ist vielmehr
bereits geschehen und befindet sich in unseren Hosentaschen. Die Tatsache, dass die
Menschen zunehmend Computer mit sich
herumtragen, stellt eine noch nie dagewesene Chance dar, nicht nur ein umfassenderes Bild des Verkehrs, der verschiedenen
Optionen, unserer Warte- und Reisezeiten
sowie der jeweiligen Kosten zu vermitteln,
sondern uns in Sensoren mit mächtigen
Feedback-Schleifen zu verwandeln, die Verkehrssysteme effizienter machen. Genauso, wie wir nicht mehr nach CDs suchen,
sollten wir auch nicht mehr nach Parkplät-
zen suchen. Wir sollten vorher wissen, wo
sie sind und wie viel sie kosten.
Carlo Ratti, Direktor des Senseable Cities
Lab am Massachusetts Institute of Technology, bemerkt dazu, dass früher Städte ihre
Bürger von oben steuern konnten (und in
den Smart Cities wie Masdar, die aus einem Guß gebaut sind, kann das anfangs
zumindest noch möglich sein), dass jedoch
mit dem Wachstum der Städte und der Erhöhung der Komplexität der Wunsch nach
Bottom-up-Open-Source-Betriebssystemen
aufkommt. Warum Geld für Induktionsschleifen in Asphalt ausgeben, wenn eine
Armee von „Sonden“-Fahrern mit Smartphones sogar noch mehr Informationen
bereitstellen kann? Für ein Projekt, welches
das Labor zurzeit im gut vernetzten Singapur durchführt, ist ein Mix von Datenschichten vorgesehen: Wenn es auf einem Teil
der Insel plötzlich einen Regenschauer gibt,
können Taxis sofort in das Gebiet mit dem
plötzlich auftretenden Bedarf geschickt
werden, sogar noch bevor Kunden damit
begonnen haben, sie über ihre Taxi-Apps
anzufordern.
Die meisten Staus
lassen sich auf
„Benutzerfehler“
zurückführen
Mobile Geräte allein werden unsere
Mobilität nicht sicherstellen, wir brauchen
immer noch harte Infrastruktur. Sogar bei
etwas so Prosaischem wie einem Autobahnkreuz gibt es noch Raum für Innovationen.
Aber wir wissen, dass eine große Veränderung bevorsteht, wenn jemand wie Bill Ford,
Vorstandsvorsitzender des vielleicht archetypischten Autoherstellers, sagt, dass er
sich inzwischen nicht mehr ausschließlich
darüber Gedanken macht, wie er mehr Autos und Laster verkaufen kann, sondern
auch darüber, „was passiert, wenn wir nichts
anderes tun, als einfach immer mehr Autos
und Laster zu verkaufen“.
Für die Realisierung des Bedürfnisses
nach individueller Mobilität in einer zunehmend beschränkten Landschaft muss der
Verkehr „auf den Punkt gebracht“ werden,
so wie ­Spotify das mit der Musik macht.
Wir müssen die Ineffizenz der Aufbewahrung einer großen Sammlung von Dingen,
die kaum benutzt werden, abschaffen und
stattdessen in Echtzeit kurzfristig jederzeit
und überall Zugang möglichst effizient für
möglichst viele Menschen gestalten. Es ist
höchste Zeit, dass unsere Verkehrsplaner
das Zeitalter der Clouds entdecken. «
3/2011 its magazine 11
Im Fokus
Die Bretter, die die
Zukunft bedeuten
12 its magazine 3/2011
Mobilitätsplanung auf der grünen Wiese n
Immer häufiger entstehen ganze Städte oder
Stadtteile auf den Reißbrettern von Architekten und Infrastrukturexperten. Die Konzeption
der Transportnetze spielt eine wesentliche Rolle,
wenn praktisch aus dem Nichts eine neue Welt
erschaffen wird.
Zugegeben: Taufrisch ist sie nicht, die
Idee der so genannten New Towns. So
wurde bereits 1891 der Beschluss, mit Brasilia eine neue Hauptstadt zu bauen, in der
ersten föderativen Verfassung der Republik
Brasilien verankert. Anlass war der Wunsch
nach einem neutralen Regierungssitz im
bis dahin völlig unterentwickelten geografischen Zentrum des Staatsgebiets. Als reine
Kompromisslösung notierten die Geschichtsschreiber 1927 die Ernennung der ReißbrettSiedlung Canberra als australische Hauptstadt, nachdem sich zuvor die Dauerrivalen
Sydney und Melbourne im unentschiedenen Kampf aufgerieben hatten. In späteren
Dekaden ging es bei der Neuanlage ganzer
Städte dann meist darum, Arbeitern und
Kumpeln ein Quartier in unmittelbarer Nähe
ihrer Werkbänke und Zechen zu schaffen –
wie etwa in Wolfsburg oder in der Neuen
Stadt Wulfen.
Der stadtgeografische Begriff New Town
jedoch stammt aus Großbritannien: Er steht
für eine nach funktionalen Gesichtspunkten
geplante und neu gebaute Stadt, die hauptsächlich einem Zweck dient: der Entlastung
von Ballungszentren. Genau das ist auch
heute noch die wichtigste Aufgabe solcher
Planstädte, die deshalb im frühen 21. Jahrhundert vor allem in der weiteren Peripherie wild wuchernder Megacities in Schwellenländern entstehen. Von spektakulären
Ausnahmen wie der ersten CO2-neutralen
Wissenschaftsstadt Masdar City in Abu Dhabi,
deren Bau 2008 begonnen hat, einmal abgesehen.
Das Know-how für die Mobilitätsplanung
der New Towns, die bei der Erschaffung von
urbanem Lebensraum aus dem Nichts eine
immer größere Rolle spielt, kommt in vielen
Fällen aus den so genannten alten Industrie­
ländern: zum Beispiel im Rahmen des Forschungsvorhabens „Young Cities – Develop­
ing Urban Energy Efficiency“, das innerhalb
des Gesamtprogramms „Future Megacities
of tomorrow“ vom deutschen Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF)
gefördert wird. In insgesamt zehn Regionen
wird dabei das entsprechende Wissen exportiert: nach Süd-, Ost- und Westasien genauso wie nach Nord-, Ost- und Südafrika
sowie nach Südamerika.
Wesentliche Bestandteile dieser geistigen
Fracht sind zum Beispiel all die modernen
Standards, die sich in den hoch entwickelten Ländern unter dem Druck extremer
Verkehrsbelastungen im Lauf der Jahre als
effiziente Lösungen heraus kristallisiert haben. Dies beinhaltet den Ansatz eines integrierten Verkehrsplanungsprozesses, der
eine ausgewogene Lösungsfindung der
Verkehrsprobleme bezüglich der Zielkonflikte zwischen den Verkehrsteilnehmern
herstellt. „Das Lösungsspektrum reicht »
3/2011 its magazine 13
Im Fokus
Aktueller Blick auf
­Brasilia: Die Wurzeln
der Reißbrett-Hauptstadt reichen zurück
bis ins 19. Jahrhundert
Verkehrsalltag in Ho-Chi-Minh-Stadt: Ins Verkehrskonzept für die Stadt am Mekong sollen vor allem
die dort bisher wenig beachteten Verkehrsarten Fußgänger und Radfahrer einbezogen werden
zum Beispiel von der Kategorisierung von
Straßen bis hin zur zur integrierten Netzgestaltung“, sagt Andreas Karger, Verkehrsplaner bei Siemens Mobility, der während
seines Studiums an der TU Berlin an einem
der BMBF-Projekte mit­gearbeitet hat. Auch
bei der Wahl der Transportmittel helfen
Richtwerte zum Beispiel aus Europa: „Auf
weniger nachgefragten Strecken setzt man
vorzugsweise Busse ein – ab etwa 5000
Fahrgästen pro Tag wäre eine Straßenbahn
das effizientere Verkehrsmittel, um den
Verkehrsstrom abzuwickeln. Und bei über
30.000 Fahrgästen pro Tag ist schon eine
U- oder S-Bahn rentabel.“
So entsteht Schritt
für Schritt ein stimmig dimensioniertes
Verkehrsnetz
Am Anfang der Mobilitätsplanung von
New Towns steht nach Kargers Erfahrung
jedoch erst einmal das Sammeln möglichst
umfassender Raumstruktur- und Bevölkerungsstrukturdaten, die meist von staat­
lichen Instutionen vor Ort zur Verfügung
gestellt werden. Informationen zu verkehrsspezifischem Mobilitätsverhalten,
Motorisierungsgrad und Unfallstatistiken
sind für die Verkehrsplanung in Entwick14 its magazine 3/2011
lungs- und Schwellenländern ebenfalls von
hoher Relevanz. Daten zur Flächennutzung
liegen meist in Form eines Masterplans vor.
Anhand dieser Erkenntnisse lassen sich
Mobilitätsmuster über wahrscheinliche
Quelle-Ziel-Beziehungen von Fahrten und
Wegeketten entwickeln.
Auf dieser Basis entwickeln die Planungs­
teams Szenarien für die Anbindung an die
nächstgelegene Metropole sowie zur Grobund Feinerschließung der New Town selbst
– sowohl im Bereich des Motorisierten Individualverkehrs (MIV) wie auch des Öffentlichen Verkehrs (ÖV). Die einzelnen Szenarien werden dann per Computersimulation
bewertet und optimiert. So entsteht Schritt
für Schritt ein stimmig di­men­sioniertes Ver­
kehrsnetz aus Haupt­straßen mit Verbindungsfunktion und Sam­melstraßen als Zubringer aus den Wohn­gebieten sowie aus
Haupt- und Quartiersbussen.
Insgesamt funktioniert der Wissenstransfer aus den alten Industrieländern in den
Mittleren und Fernen Osten oder Süden
ziemlich reibungslos – mit einer Ausnahme:
Die modernen Konzepte zur nachhaltigen
Verkehrsgestaltung mit intermodaler Vernetzung des Mobilitätsangebots stößt vor
Ort zunächst meist auf Unverständnis. „Die
dortigen Entscheider haben zum großen
Teil in den 60er- oder 70er-Jahren in Industrieländern studiert und sind oft noch in
altem Denken verhaftet“, sagt Dr. WulfHolger Arndt von der TU Berlin, Koordinator
der Quervernetzung „Megacities Mobility“
für das gesamte BMBF-Programm. „Deshalb
setzen sie noch immer auf den einseitigen
Ausbau der Kapazitäten für den Individualverkehr – was natürlich, wie sich inzwischen
nachdrücklich bestätigt hat, keineswegs
zur gewünschten Lösung der Probleme,
sondern lediglich zu noch mehr Verkehr,
zu ökologischen Schäden und zu höheren
Unfallzahlen führt.“
Gerade bei New Town-Projekten bietet
sich jedoch die Möglichkeit, die neu zugezogenen Verkehrsteilnehmer bei der Ausbildung anderer Mobilitätsroutinen zu begleiten. Deshalb legt das Planungsteam um
Dr. Arndt trotz regelmäßiger Konfliktsituationen großen Wert darauf, in Schwellenländern die Integration der Verkehrsmittel,
der Stadt- und Verkehrsplanung und zumindest von Ansätzen eines effizienten
Mobilitätsmanagements umzusetzen: „Auf
dem Weg zur Nachhaltigkeit sollen mit Hilfe
von Beratungsangeboten nahraumorientierte Mobilitätsstile etabliert werden, die
mit distanzregulierender Stadtentwicklung
korrespondieren.“
Besonders deutlich werden diese Ziele
am Beispiel der New Town Hashtgerd im
Umland der 12-Millionen-Metropole Teheran. In einem durch die Forscher erweiterten
herkömmlichen Verkehrssimulationsmodell
wird die Flächennutzung der New Town
­verkehrsminimiert geplant – zum Beispiel
durch Verdichtung und Ausbildung von
Mischnutzungsgebieten. Ein auf die regionalen Ver­hältnisse angepasstes Emissions-
modell schätzt dabei die CO2-Emissionen
der Planungsalternative ab. Die Verkehrsmittel­
wahl in dieser New Town soll auch durch ein
qualitativ hochwertiges ÖPNV-System nachhaltig gestaltet werden. Dazu gehören ein
Bus-­Rapid-Transit-System (BRT) und Straßen­
bahnlinien als Bestandteile des Hauptnetzes,
das durch Stadtbusse und im bedarfsgesteuerten Betrieb fahrende Nachbarschaftsbusse
komplettiert wird. Landestypische Verkehrsdienstleistungen wie das tiefgestaffelte
­Paratransit-Angebot mit seinen vielfältigen
Taxi- und Mitfahr-Angeboten werden in das
Verkehrskonzept integriert.
Nicht nur um die Neuanlage von Siedlungen zur Entlastung von Megacities, sondern vor allem auch um die Optimierung
der Verkehrssysteme der jeweiligen Stadt
selbst geht es bei den BMBF-Projekten in
Indien und Vietnam. Für Hyderabad beispielsweise erarbeitet die PTV AG mit den
Partnern vor Ort Instrumente zur Planung
und Implementierung eines energieeffizienten und insgesamt nachhaltigen Verkehrssystems. Mit im Vordergrund stehen
dabei unter anderem Planungen, wie sich
Netzausfälle durch klimatisch bedingte Einflüsse wie etwa Überschwemmungen oder
extreme Hitzeperioden minimieren lassen.
Für Ho-Chi-Minh-Stadt erstellen Verkehrsforscher der TU Wien ein integriertes,
multimodales Landnutzungs- und Verkehrsmodell, das die Verkehrsmittelwahl, Ver­
kehrs­unfälle, Emissionen, Verkehrsstaus,
die Entwicklung der Flächennutzung und
andere Indikatoren gleichermaßen prognostiziert. Im Verkehrskonzept für die Stadt
am Mekong sollen vor allem die dort bisher
wenig beachteten Verkehrsarten Fuß­gänger
und Radfahrer einbezogen werden. Die derzeit wichtigste Empfehlung der westlichen
Forscher: Statt des geplanten, teuren Ausbaus der Metro im Bereich des überschwemmungsanfälligen Mekongdeltas haben sie
den Ausbau des BRT-Systems als günstigere, schneller zu realisierende und weniger
anfällige Alternative zum täglichen Verkehrsstau auf den Straßen angeboten.
Dass eine gelungene Mobilitätsplanung
einem der grundsätzlichen Probleme bei der
Anlage von New Towns entgegenwirken
kann, wird am Beispiel Anting deutlich –
­eines vom renommierten Frankfurter
­Architekturbüro Albert Speer & Partner in
Frankfurt am Main (AS&P) konzipierten
Stadtteils, der die Megacity Shanghai entlasten soll. Die Akzeptanz am Reißbrett geplanter neuer Städte leidet naturgemäß an Defiziten in Sachen Tradition, Geschichte, Kultur
und damit Identifikation. „Auch deshalb“,
sagt AS&P-Partner Johannes Dell, „wollten
wir mit dem Baubeginn eigentlich warten,
bis die Light Railway-Verbindung ins Zentrum von Shanghai fertig ist. Aber unsere
chinesischen Auftraggeber waren der Meinung, dass unser schlüssiges architektonisches Konzept genügt, um die Menschen
anzulocken.“ Die Folge war, dass die Besiedelung von Anting zunächst eher schleppend begann, bis im Vorfeld der Expo 2010
die verkehrlichen Anbindungen an Shanghai
realisiert wurden. Inzwischen über­steigt die
Nachfrage nach Appartments in Anting das
Angebot bei weitem – und die Erweiterung
Anting East ist längst in Planung.
Die Chancen, die sich durch die effiziente Mobilitätsplanung auf der grünen Wiese
ergeben, werden natürlich nicht nur in
Schwel­lenländern genutzt, sondern auch in
den Ballungszentren der alten Industrieländer. So hat beispielsweise die Stadt Dortmund für ihren Zukunftsstandort PHOENIX
Entlastungsstadt Anting: Seit Realisierung der effizienten verkehrlichen Anbindung an Shanghai
übersteigt die Nachfrage nach Appartments das Angebot bei weitem
Airrail Center in Frankfurt: Manchmal ist
­Erreichbarkeit nicht Bedingung, sondern Auslöser
für die Entstehung eines neuen Zentrums
Zukunftsstandort PHOENIX in Dortmund:
­Moderne Abwicklung der Verkehre durch
­einen intelligenten Mix der Verkehrsarten
West, der auf einem ehemaligen Hochofenund Stahlwerksgelände entsteht, ehrgeizige
Ziele formuliert. „PHOENIX West“, sagt Winfried Sagolla, Leiter des Geschäftsbereichs
Mobilität, „steht für eine moderne und zeitgemäße Abwicklung der Verkehre – zum Beispiel durch einen intelligenten Mix der Verkehrsarten, die Schaffung von Angeboten
und Anreizen zur Reduzierung des Verkehrs
und flächen­sparenden Bau von Parkplätzen.“
Und manchmal ist die perfekte verkehr­
liche Vernetzung nicht eine zu realisierende
Bedingung, sondern gewissermaßen der
Auslöser für die Entstehung eines neuen
Zentrums. So wie bei der Airport City in
Frankfurt am Main, die wie Anting von den
Städtebau-Spezialisten von Albert Speer ­
& Partner konzipiert wurde. „Hier“, sagt
­Stefan Kornmann, einer der AS&P-Partner,
„wird ­Erreichbarkeit zur Triebfeder für Planer und Nutzer.“ «
3/2011 its magazine 15
Im Fokus
Den Rat neu erfunden
Mobility Consulting n Wenn Hersteller von Verkehrstechnik Beratungsleistungen
anbieten, stehen in der Regel die eigenen Produkte im Mittelpunkt. Der Ansatz
der Mobility Consultants von Siemens ist mindestens eine Etage darüber zu verorten: Sie geben fundierte strategische und konzeptionelle Antworten auf die
wichtigsten Zukunftsfragen im Hinblick auf nachhaltige Stadtentwicklung.
16 its magazine 3/2011
Das Patentrezept ist, nicht auf Patent­
rezepte zu setzen. Denn letztlich ist das,
was eine Stadt in Bewegung hält, so einzigartig wie ihre Skyline. Lösungen von der
Stange helfen den Architekten kommunaler und regionaler Mobilität heute kaum
mehr weiter, wenn es darum geht, sich
und ihre Verkehrssysteme wirklich nachhaltig auf die Herausforderung Zukunft
vorzubereiten. Zu unterschiedlich präsentieren sich die aktuellen Voraussetzungen,
zu individuell die politischen Vorgaben,
zu spezifisch die lokalen Möglichkeiten.
Das sind die wichtigsten Prämissen,
unter denen vor etwas mehr als einem
Jahr die neue Siemens Einheit Mobility
Consulting an den Start ging. Zu ihren
dringlichsten Aufgaben gehört es, im
aktiven Dialog mit den Mobilitätsverantwortlichen von Städten vor allem folgende Fragen zu beantworten: Mit welchen
Strategien und Konzepten lassen sich genau hier die vielfältigen Anforderungen
an die Mobilität von heute und morgen
möglichst effizient erfüllen? Was kann
man aus den Erfahrungen anderer Städte
für die Entwicklung maß­geschneiderter
eigener Lösungen lernen? Und schließlich: Welche Geschäftsmodelle schaffen
die nötigen finanziellen und organisatorischen Freiräume, um vor Ort die wirksamsten Lösungen zu realisieren?
Um aus all diesen Fragezeichen Ausrufezeichen zu machen, schickt die Einheit
Mobility Consulting je nach Aufgabenstellung ein interdisziplinäres Team ausgewiesener Spezialisten ins Rennen – Experten für Straßen- und Schienenverkehr, für
Häfen und Flughäfen, für ökonomische
und ökologische Berechnungen. Und sie
alle haben eines gemeinsam: Ihr Job ist es
nicht, Siemens Produkte zu verkaufen,
sondern die Probleme ihrer städtischen
Partner zu verstehen, zu analysieren und
im aktiven Dialog mit ihnen gemeinsam
auf pragmatische Art zukunftssicher
zu lösen (siehe Interview auf Seite 26:
„Interne Denkgrenzen verlassen“).
Die langjährige internationale Expertise des Unternehmens in allen Bereichen
der Mobilität schafft dabei beste Voraussetzungen für die Entwicklung ganzheitlicher, vollständig integrierter Lösungen.
Schließlich ist eines allen klar auf dem
immer schmaler werdenden Grat zwischen Urbanisierung und Klimawandel:
Mit verkehrlichen Insellösungen lassen
sich die Herausforderungen der Zukunft
kaum bewältigen. Das Zusammenspiel
der Megatrends erfordert ein Zusammenspiel der Systeme – mit möglichst leistungsfähigen Schnittstellen.
Regelmäßig fließt neben den Erkenntnissen eigener Best-Practice-Projekte
rund um den Globus auch das Knowhow ausgewählter externer Fachleute
in die Beratung ein. Zum Beispiel das
des renommierten Stadt- und Transportplaners Professor George Hazel von
der Robert Gordon University im schottischen Aberdeen, der unter anderem
das Verkehrssysstem der österreichischen Hauptstadt Wien unter die Lupe
genommen und in seinem Resümee als
Modell für moderne, nachhaltige Mobilität beurteilt hat. Besonders hervorgehoben wurde dabei, dass die Donaumetropole in ihrem „Masterplan Verkehr
2003“, der die wesentlichen Maßnahmen zum Ausbau der Infrastruktur und
zur Steigerung der Attraktivität des öffentlichen Verkehrs bis zum Jahr 2020
festlegt, bereits einen rasan­ten Anstieg
der Mobilitätsnachfrage berücksichtigt.
Trambahn in Wien: Bestandteil eines Modells
für moderne, zukunftsweisende Mobilität
Zum Beispiel Wien:
mit einem weitsichtigen Masterplan zu
nachhaltigem Erfolg
Und auch von den Resultaten breit
angelegter weltweiter Studien wie des
Green City Index oder des Complete
Mobility Index profitieren die Kunden
der Mobility Consultants. Auf bis zu 30
Prozent taxieren die Untersuchungen
das Optimierungspotenzial allein im
Bereich des Verkehrsmanagements.
Dieses gebündelte Wissen sitzt gewissermaßen mit am Tisch, wenn über regionale Lösungen diskutiert wird – auch
wenn es im ersten Gespräch vielleicht
noch gar nicht um die Realisierung integrierter multimodaler Konzepte für
die jeweilige Stadt geht, sondern zunächst
einmal nur um die Zukunftsfähigkeit konkret ins Auge gefasster Teillösungen.
Kein Wunder also, dass die Beratungsleistungen schon kurz nach der
Aufstellung des neuen Teams hoch im
Kurs stehen bei Städten auf fast allen
Kontinen­ten – von Europa über Asien
bis Nordamerika. Besonders umfassend
ist die Aufgabenstellung etwa im kana­
dischen Toronto, wo fast alle Aspekte
der Mobilität auf dem Prüfstand stehen: die Steuerung des Individualverkehrs genauso wie die Attraktivität
öffent­licher Nahverkehrsmittel und
die entsprechenden Informations- und
Bezahlsysteme, die Verkehrssicherheit
und die Energieeffizienz ebenso wie
die ökonomische und ökologische Seite
des urbanen Transportangebots.
Stadtverkehr in Toronto: In der größten Stadt Kanadas
­stehen alle Aspekte der Mobilität auf dem Prüfstand
Nicht zuletzt aufgrund der meist ehrgeizigen CO2-Richtlinien, die inzwischen
von vielen Städten beschlossen wurden,
ist die Optimierung der Verkehrssysteme
längst keine Frage des „Ob“ mehr, sondern nur noch eine Frage des „Wie“. Und
wie jede große Reise beginnt auch der
Weg zur Nach­haltig­keit mit dem ersten
Schritt – zum Beispiel in Form eines halboder ganztägigen Strategie-Workshops,
in den das Mobility Consulting-Team seine gesamte Erfahrung einbringt, um die
kommunalen Ent­scheider bei der Identifizierung praxisgerechter und realisierbarer Maßnahmen zu unterstützen. «
3/2011 its magazine 17
Trends & Events
Partner & Projekte
Die Stadt von morgen
Komfortabel? Aber sicher!
Kleinsignalgeber n Mit einer speziellen
Signalisierung für Radfahrer und Fußgänger lässt sich die Sicherheit an Verkehrsknoten erhöhen – separate Grünund Rotphasen für jede dieser beiden
Gruppen versprechen weitere Optimierung. Eine besonders komfortable
­Lösung zur Realisierung dieser Maßnahmen bieten die neuen Kleinsignalgeber
von Siemens Mobility, die sich darüber
hinaus auch bestens als Hilfs- oder
­Zusatzsignal für die Signalisierung in
­besonderen Situationen eignen. Verschiedenste Technologien und Betriebs-
spannungen, eine Vielzahl von Symbolen
sowie diverse Signalisierungsfarben erlauben eine genaue Anpassung an den jeweiligen Einsatzzweck. Als besonders vorteilhaft
­erweisen sich dabei die LED-Ausführungen:
Sie sind besonders wartungsarm, verbrauchen nur einen Bruchteil an Strom und
­erfordern keinen Lampentausch. Für ein
Höchstmaß an Sicherheit sorgt eine elek­
tronische Überwachungsschaltung, die in
­jeder LED-Lichtquelle die Strom- und Spannungswerte der LEDs permanent beobachtet: Bei Über- oder Unterschreiten vorher
definierter Grenzwerte wird der Eingangs-
Separate Signalisierung für Radfahrer
strom sofort unterbrochen (Signalsicherung).
Selbstverständlich sind die Kleinsignalgeber
voll kompatibel zur Sitraffic-Steuergerätefamilie Cx00V, Cx40V und Cx40ES sowie zur
Signalsicherung dieser Steuergeräte. «
Zukunft unter Strom
Start eines E-Car-Sharing-Systems n
Um zwölf Elektrofahrzeuge auf Basis des
Opel Agila hat die Siemens AG Anfang
September in Berlin ihre E-Car-Flotte erweitert, die rund zehn Monate zuvor im
Zuge des Pilotprojekts 4-S (For sustainelectromobility) in Betrieb genommen
worden war. Mehr als 100 Mitarbeiter
können die zusätzlichen Stromer künftig
über einen Zeitraum von einem Jahr im
Rahmen eines neuen Car-Sharing-Systems für Dienstfahrten in der deutschen
Bundeshauptstadt nutzen. Das E-CarSharing-System beinhaltet ein ganzheitliches Bündel integrierter Lösungen für
die Anforderungen an die moderne Elektromobilität. Im intelligenten Zusammenspiel von volldynamischen Flotten-,
Parkraum- und Umweltzonen-Managementsystemen ist auch die Lade-Infrastruktur für Elektroautos berücksichtigt.
Jedes Auto wurde mit einem mobilen
Bordcomputer (Onboard-Unit) ausge­
rüstet, der Informationen zur Reservierungsdauer, zum Ladezustand und zur
verbleibenden Reichweite liefert. Darüber hinaus kann dem Fahrer dank Satel­
litennavigation (GPS) und ständiger Kommunikation mit einer übergeordneten
Leitzentrale auch der Weg zum nächsten
freien Parkplatz mit Lademöglichkeit
­angezeigt werden. Miete, Parkgebühren
und Ladekosten lassen sich mit Hilfe
­einer sicheren Datenübertragung via
­Onboard-Unit automatisch abrechnen.
Die Praxiser­fahrungen des Flottenversuchs sollen wesentlich dabei helfen,
die Mobilität in Städten dank eines optimierten Zusammenspiels von Ladeinfrastruktur-, Flotten- und Parkmanagementsystemen ­wesentlich effizienter und vor
allem ­umweltschonender zu machen. «
Onboard-Units liefern den E-Car-Testfahrern wichtige Informationen
18 its magazine 3/2011
Auch auf der IAA war das neue E-Car-SharingSystem ein Thema
London n Mehr als 100.000 Besucher pro
Jahr erwartet das „Centre for Urban Sustain­
ability“, das die Siemens AG derzeit im
Green Enterprise District der Themseme­
tropole errichtet. Das Zentrum soll kommunalen Entscheidungsträgern, Planern,
­Architekten, aber auch der interessierten
Öffentlichkeit die Technologien, Strategien
und Konzepte näherbringen, die in den
Städten von morgen für Nachhaltigkeit
und Lebensqualität sorgen. Neben einer
rund 2000 Quadratmeter umfassenden
Ausstellung, die einen teilweise interaktiven Blick in das urbane Leben der Zukunft
erlaubt, bietet die Anlage reichlich Platz für
Konferenzen, Forschung und Büroräume.
Und auch das Gebäude selbst ist Teil der
Demonstration und macht erlebbar, wie
Energie und Wasser umweltfreundlich genutzt werden können. Die kristalline, von
der Natur inspirierte Geometrie resultiert
aus der besonderen Lage an den Londoner
Docklands: Reflektierende und transparente Materialien fangen das Licht auf unterschiedliche Art ein und schaffen so eine
dynamische Architektur. Die Eröffnung
des Zentrums für städtische Nachhaltigkeit, in dem auch die Mobilität der Zukunft
eine wesentliche Rolle spielt, ist für Frühjahr 2012 geplant. «
Mobilität von
morgen
Internationale Automobilausstellung (IAA)
in Frankfurt am Main n Rund ein Zehntel
der gesamten Ausstellungsfläche war bei
der diesjährigen IAA der Elektro­mobilität
gewidmet – unter anderem auf dem „Boulevard der Zukunft“ am Stand der Siemens
AG, wo das Unternehmen seine umfangreichen Aktivitäten im Bereich Elektromobilität
vorstellte. Dazu ­gehören neben Komponenten für die elektrische A
­ ntriebstechnik, Leistungselektronik und Ladetechnik auch Konzepte für die ­passende Ladeinfrastruktur
und maßgeschneiderte Software-Lösungen für die ­Entwicklung und Produktion
von Elektrofahrzeugen. Als weltweit führender Anbieter von Industriesoftware und
­Automatisierungstechnik wird Siemens dazu
beitragen, die Fahrzeug-, Komponentenund Batterieproduktion von Herstellern zu
optimieren und damit die Gesamtkosten
von Elektrofahrzeugen zu senken. «
Die Eröffnung des „Centre for Urban Sustainability“ ist für Frühjahr 2012 geplant
Frischer Wind
Beim Bau des Gotthard-Basis­
tunnels steht Sicherheit im Fokus
Luzern n Die größte je gebaute Tunnelbetriebslüftung wird im Gotthard-Basistunnel
realisiert. Sie besteht aus zwei Lüftungszentralen, die den Tunnel in drei annähernd gleich lange Teile trennen. Dort
werden jeweils vier Ventilatoren zum
­Einsatz kommen, die während eines normalen Tunnelbetriebs für Frischluftzufuhr
sorgen. Bei der Sperrung eines Teilabschnitts
beispielsweise für Wartungsarbeiten belüften sie diesen Teil. Bei einem Brandfall
sollen die Lüftungszentralen für gezielten
Rauchabzug in der Röhre sorgen sowie
die Fluchtwege von Rauch freihalten.
Eine besondere Herausforderung bei der
Konzeption der Betriebslüftung sind die
hohen Druckstöße im Tunnel, die durch die
mit hoher Geschwindigkeit durchfahrenden Züge verursacht werden. Die Ventilatoren der Siemens Tochter TLT Turbo zeichnen sich dabei durch einen kontinuierlich
stabilen Arbeitsbereich aus, was sie bereits
bei entsprechenden Versuchen in einem
anderen Teilbereich des Projekts nachweisen konnten. Der Gotthard-Basistunnel
wird nach seiner Fertigstellung im Jahr
2016 mit einer Länge von 57 Kilometern
der längste Tunnel der Welt sein. Mehr als
28 Millionen Tonnen Gestein wurden für
den Bau bewegt. Die Gesamtkosten dieses
Jahrhundertbauwerks belaufen sich auf
rund acht Milliarden Euro. «
3/2011 its magazine 19
Wissen & Forschung
Von
Geistes
Hand
Projekt Braindriver n Die
Story klingt ein bisschen
nach Hollywood. Tatsächlich aber spielt sie an der
Spree und handelt von
Science, nicht von Fiction:
Forscher der Freien Universität Berlin haben es
geschafft, ein Fahrzeug
über eine MenschMaschine-Schnittstelle
allein mit der Kraft der
Gedanken zu steuern.
20 its magazine 3/2011
In der Traumfabrik Kino ist die Zukunft
schon wieder Schnee von gestern. Im
US-Thriller „Firefox“ etwa spielte bereits
1985 neben Clint Eastwood ein experimenteller Düsenjäger die Hauptrolle, der seine
Kommandos in Form von Gehirnwellen empfängt. Und auch der oscarüberhäufte Blockbuster „Matrix“ rückte 14 Jahre später einen
buchstäblich kopfgesteuerten Computer in
den Mittelpunkt. Und jetzt soll das alles nur
noch Science und nicht mehr Fiction sein?
Ziemlich genauso ist es. Am Lehrstuhl
Künstliche Intelligenz von Professor Dr. Raúl
Rojas erforscht das Team AutoNOMOS der
Freien Universität Berlin unter der Projektleitung von Tinosch Ganjineh seit 2006
schwerpunktmäßig die Entwicklung vollautonomer Fahrzeuge, die alltägliche Verkehrssituationen selbstständig erfassen und da­
rin ohne menschliche Unterstützung agieren.
Dazu wurden zwei Fahrzeuge gebaut – darunter der Prototyp „MadeInGermany“: ein
VW Passat, der mit Kameras, Laserscannern,
Radarsensoren, einem hochpräzisen GPS
sowie einer Anbindung an das Fahrzeugnetzwerk (CAN) ausgestattet ist. Im Rahmen
dieses Forschungsschwerpunktes befasst
sich AutoNOMOS auch mit Benutzerschnittstellen zwischen Mensch und Maschine.
Sichtbare Ergebnisse dieser Bemühungen
sind zum Beispiel eine Fahrzeugsteuerung
über iPhone, eine komplexere Steuerung
und Sensorüberwachung über ein iPad so-
Prototyp „MadeInGermany“: Verschiedene
­Gedanken erzeugen unterschiedliche Zeitreihen
wie eine Augensteuerung, die mit Hilfe
­einer Pupillenverfolgung funktioniert.
Von da aus war es dann gar nicht mehr so
weit bis zu dem spektakulären Projekt, mit
dem eine AutoNOMOS-Forschungsgruppe
um Professor Rojas jüngst für A
­ ufsehen sorgte: Über ein so genanntes Brain-ComputerInterface (BCI) ist es den Wissenschaftlern
gelungen, das Experimentalfahrzeug „MadeInGermany“ von Probanden allein durch die
Kraft ihrer Gedanken steuern zu lassen. Dazu
setzt der Testfahrer eine Gehirnkappe mit 16
elektrischen Sensoren auf, die nach dem
EEG-Prinzip an ­bestimmten Positionen am
Kopf andocken und die Spannungen des Gehirns in ihrer Region messen können. Konzentriert sich die Versuchsperson auf ein
vorher definiertes Gedankenmuster, zum
Beispiel auf eine bestimmte Farbe oder
­ inen Gegenstand, treten an den Sensoren
e
Spannungsschwankungen im Mikro- bis
Millivoltbereich auf, die im Idealfall eine
vom Computer identifizierbare Zeitreihe
über einem 16-dimensionalen Spannungsvektor ergeben. Verschiedene Gedanken
erzeugen dabei unterschiedliche Zeitreihen, die später vom Rechner auf verschiedene Klassen abgebildet werden sollen.
Damit der Computer verschiedene Zeitreihen verschiedenen Klassen – in diesem
Fall den Kommandos „links, rechts, vor, zurück“ – zuordnen kann, muss der Proband
seine Gedankenmuster vom Rechner lernen
lassen. Für diesen Lernprozess gibt es eine
Software, die in Form eines Würfels und
­einer Aktivierungsanzeige Rückmeldung
über die erkannten Signale gibt. Denkt der
Mensch an eine Kategorie, die als „links“
klassifiziert werden soll, und wird diese vom
Computer richtig erfasst, wandert der Würfel nach links. Bis zu fünf verschiedene Klassen lassen sich dabei unterscheiden: die vier
Klassen, in denen ein bestimmter Gedanke
einer bestimmten Richtung entspricht – und
eine Null-Klasse, in der keiner der kalibrierten Gedanken gedacht wird und deshalb
keine Änderung von Fahrtrichtung oder
Geschwindigkeit erfolgen soll.
Die Ergebnisse der Gedankenklassifikation werden dann via Ethernet an den SteuerRechner im autonomen Fahrzeug übertragen. Zur Anwendung der erkannten
Kommandos setzt das AutoNOMOS-Team
zwei verschiedene Steuerprogramme ein:
• Bei Variante 1 („Semi-Autonomie“) fährt
das Fahrzeug autonom die Straße entlang und fordert nur an Kreuzungen oder
Abfahrten auf Autobahnen e
­ ine per
­Gedanken übermittelte Richtungsentscheidung an.
• Bei Variante 2, dem so genannten
„Freien Fahren”, kann der Mensch ein
Fahrzeug kom­plett allein durch sein
Denken steuern. Die vier Kommandos
„links, rechts, vor, zurück” werden dabei
auf die entsprechenden Lenkrichtungen
sowie auf die Erhöhung oder Reduzierung der Geschwindigkeit abgebildet.
Da das Konzentrieren auf bestimmte
Ge­danken für einen Menschen recht schwierig sein kann und oft nur mit ein bis drei
Sekunden Verzögerung funktioniert, haben
die Forscher der FU Berlin ihre Tests für das
„Freie Fahren“ bisher nur im Rahmen einer
Machbarkeitsstudie auf einem abgesperrten Gelände durchgeführt. Und noch aus
einem anderen Grund erscheint Variante
1 aus heutiger Sicht weitaus praxistauglicher: Die wirklich zuverlässige Ansteuerung des Fahrzeugs mit 4+1 verschiedenen
Gedankenklassen war mit der aktuellen
BCI-Hardware nur bei einem kleinen Prozentsatz der Probanden möglich. «
Im Seitenspiegel
Der große Plan
Was wären wir heute ohne Visionen und große Pläne! Doch die
meisten Utopien erreichen schnell ihr Verfallsdatum. Dann kann
der pragmatische Blick aufs Detail helfen.
Seit Menschengedenken haben Vordenker und visionäre Planer neue Städte entworfen und alte umgestaltet. Manchmal, um die Welt zu verbessern und der
Menschheit zu dienen. Öfter im Auftrag
prunksüchtiger Herrscher oder aus strategischen Überlegungen heraus. In jüngerer Vergangenheit auch, um mehr
Platz für das Automobil zu schaffen.
Der Architekt und Stadtplaner Le
Corbusier zum Beispiel stellte auf der
Kunstgewerbe- und IndustriedesignAusstellung 1925 in Paris einen utopischen Entwurf namens „Plan Voisin“ vor.
Der war vom Automobil- und Flugzeughersteller Gabriel Voisin finanziert worden und sah vor, für breitere Straßen
und eine gigantische Hochhaussiedlung
große Teile des Pariser Zentrums abzureißen. Das fanden die Pariser nicht witzig. Doch Le Corbusier war nicht zu bremsen: „Wohin eilen die Automobile? Ins
Zentrum!“, schnöselte er. „Es gibt keine
befahrbaren Flächen im Zentrum. Man
muss sie schaffen. Man muss das Zentrum abreißen!“
Immerhin: 20 Jahre später griffen Stadtplaner die Idee wieder auf, walzten Betonschneisen durch die Innenstädte und
schufen die autogerechte Stadt.
Da war die Gegenseite längst aktiv.
„Autos kaufen nichts“, polemisierte zum
Beispiel der Exil-Österreicher Victor Gruen
und erfand die Shopping Mall für den
Fußgänger. In seinem 1952 bei Detroit
eröffneten Einkaufszentrum sollten die
Besucher nicht bloß einkaufen, sondern
auch ins Theater gehen, im Grünen flanieren und einfach Spaß haben. Weil
seine Idee so gut ankam, dass immer
mehr Autos die Zufahrtsstraßen verstopften, plante er seine Malls später
draußen auf der Grünen Wiese. Was haben wir heute davon? Zu viele Autos in
der Stadt – und auf den grünen Wiesen.
Der Literat Friedrich Dürrenmatt
bringt’s auf den Punkt: „Je planmäßiger
die Menschen vorgehen, desto wirksamer trifft sie der Zufall.“ Also statt kühner Pläne besser Erbsenzählerei?
Der Amerikaner Charles Komanoff
hat sich genau darauf verlegt. Seit ein
paar Jahren arbeitet der studierte Mathematiker daran, Manhattans Verkehr
exakt zu vermessen. Er nutzt die Tabellenkalkulation seines PCs, tippt Wartezeiten von Taxis, Fahrzeiten und Passagierzahlen der U-Bahn, Nutzerzahlen
der Brückenverwaltungen und vieles
mehr ein und stellt die Daten frei ins
Web. Nicht eben visionär, die Idee. Verkehrsplaner finden sie toll: Endlich Fakten statt kühner Ideen!
Manchmal bringt es eben weiter,
einfach mal Eins und Eins zusammenzuzählen. «
3/2011 its magazine 21
Mobilität & Lebensraum
Power sucht Frau
Unterwegs mit Verena Bentele n Energiebündel ist eine sehr defensive
­Umschreibung für die Frau, die mit ihrer Power die Paralympics dominiert.
Wie unnachahmlich Verena Bentele ihren Vorwärtsdrang in der SkilanglaufLoipe und im Biathlon-Stadion in Seriensiege umsetzt, darüber weiß die Welt
bestens Bescheid. Aber wie sicher bewegt sich die von Geburt an blinde Spitzensportlerin im hektischen Getriebe des Straßenverkehrs einer Metropole?
Eigentlich hätten wir es wissen können,
vielleicht sogar müssen. Zwölf Goldmedaillen bei den Paralympics und vier Weltmeistertitel gewinnt niemand, der sich
­jeden Schritt dreimal überlegt, der zaghaft einen Fuß vor den anderen setzt, um
bloß nicht anzuecken. Zwölf Goldmedaillen
bei den Paralympics und vier Weltmeistertitel, das spricht eher für einen Menschen,
der ganz genau weiß, was er will und vor
allem: wohin er will – auch wenn er es
nicht sehen kann.
Im Grunde ist das dem Redaktionsteam
des ITS magazine ja auch klar, als es zum
vereinbarten Treffen mit Verena Bentele im
Münchener Westend kommt. Dennoch lässt
die Realität dann schon innerhalb weniger
Minuten die ersten Klischees zerplatzen:
Verena Bentele empfängt uns nämlich
Der Fotograf hält
kaum Schritt und
bittet immer wieder
um Entschleunigung
Verena Bentele im Stadtverkehr: Sie marschiert los, als ginge es um Weltcup-Punkte
22 its magazine 3/2011
nicht in einer leicht zugänglichen, geome­
trisch möblierten und barrierefreien Erd­
geschoss-Wohnung, sondern in einem nur
über zig Treppenstufen erreichbaren Altbau-Juwel direkt unterm Dach. Und sie
trägt – obwohl es heute um die Demons­
tration ihrer urbanen Beweglichkeit gehen
soll – nicht etwa Turnschuhe, sondern
High Heels. Die Powerfrau definiert sich
nicht über ihr Handicap; und letztlich
auch nicht allein über ihre sportlichen
­Erfolge, wie sie sehr bald noch heraus­
stellen würde.
Verena Bentele mag ihre „Studenten­
bude“ mit den alten Holzdielen in ruhiger
Lage – trotzdem will sie demnächst umziehen. „Ein paar Quadratmeter mehr wären
nicht schlecht.“ Vielleicht auch, damit sie
künftig all ihre Trophäen immer um sich
haben kann. Bisher musste sie einen großen
Teil davon zu ihren Eltern an den Bodensee
auslagern, unter anderem den renommierten Medienpreis Bambi, der zum Beispiel
auch bei ­Sophia Loren im Schrank steht.
Aber selbst die kleine Auswahl hier in
München wirkt mehr als beeindruckend:
Weltcup-Kugeln, Goldmedaillen – und
­natürlich der Laureus World Sports Award,
der seine Inhaber schon zu Lebzeiten zur
Legende macht: Neben Verena Bentele
wurden 2011 zum Beispiel Tennisgott
Rafael Nadal und der – wie sie findet –
sehr charmante Golf-­Shooting-Star Martin
Kaymer mit dem Sport-Oscar ausgezeichnet. Fast genauso stolz ist sie übrigens auf
ihre riesige Bücher­sammlung: „Die habe
ich alle entweder s­ elber gelesen oder mir
vom Computer vorlesen lassen.“
Nach den ersten Fotos in der Wohnung
geht’s los in Richtung Stadtverkehr. Und
schon auf dem Weg durchs Treppenhaus
wird deutlich, welche Gangart das Redak­
tionsteam in den nächsten zwei Stunden
erwartet: Während sich die Untrainierten
hechelnd durch die Stockwerke quälen,
schwebt Verena Bentele leichtfüßig zur
Haustür und macht damit alle Hoffnungen
zunichte, dass vielleicht wenigstens die
­hohen Absätze das Energiebündel ein bisschen einbremsen könnten. Auch auf dem
Bürgersteig drückt sie aufs Tempo, ganz
­offensichtlich, ohne sich dessen wirklich
bewusst zu sein. Sie kennt die Gegend –
buchstäblich in- und auswändig sogar –
und marschiert los, als ginge es um Welt-
cuppunkte. Der Fotograf kann kaum Schritt
halten und muss immer wieder um Entschleunigung bitten, damit er sie auch ohne
Teleobjektiv formatfüllend ins Bild bekommt.
So kommt unterwegs ein ziemlich einseiti-
Hohe Bordsteine –
für Blinde ein Segen,
für Rollstuhlfahrer
ein Fluch
ges Interview zustande: extrem kurze,
weil kurzatmige Fragen – und entspannte,
ausführliche und trotzdem auf den Punkt
gebrachte Antworten.
Wie sie sich in ihrer Umgebung orientiert? Hier spielen Hören und Tasten ­­­
eine wesentliche Rolle. „Wenn man sie
braucht“, sagt die von Geburt an blinde
Vorzeige-Athletin, „werden die anderen
Sinne automatisch besser geschult.“
Unter anderem hat sie gelernt, an den
­unterschiedlichen Schallreflexionen zu
­erkennen, ob sie gerade an einer Wand
oder an einem Hauseingang vorbeigeht.
Auch das Zischen der U-Bahn-Türen leistet
Orientierungshilfe. Mit dem Stock dagegen lassen sich Bordsteinkanten gut
­ertasten. Und manchmal ist auch das
­ein­­fache Abzählen eine wirksame Lösung –
zum Beispiel, wenn an einer Straße
­mehrere Hauseingänge liegen, die sich
alle gleich anhören.
Was sehbehinderten Menschen die
Fortbewegung in der Stadt erleichtert?
„Zunächst einmal kann man selbst eine
ganze Menge tun“, sagt Verena Bentele.
Das ­be­ginnt beim organisierten Mobi­li­ »
3/2011 its magazine 23
Mobilität & Lebensraum
täts­training: In der Schule gehört das ­
zu den Pflichtfächern, da wird einem die
Entscheidung abgenommen. Später
bleibt es jedem selbst überlassen, ob er
etwa nach einem Umzug ein spezielles
Mobilitätstraining in der neuen Stadt
­absolviert. Aber natürlich gibt es auch
bau­liche und technische Hilfsmittel, die
im Verkehr helfen: So sind an einigen
­U-Bahn-Steigen mit dem Stock gut tast­
bare Orientierungsrillen eingelassen, die
über die jeweilige Distanz zum Gleis
­informieren. Die mit Abstand wichtigste
Unterstützung bieten jedoch die Blindenampeln, die durch akustische Signale und
Vibrationen verdeutlichen, wann die Straße überquert werden kann. Diese tickenden und sich schüttelnden Heinzelmännchen kommen zwar inzwischen immer
häufiger zum Einsatz, insgesamt aber
nach wie vor nicht oft genug: „Es macht
einen manchmal schon ein bisschen traurig – wenn man weiß, dass diese Technik
existiert, aber aus Kostengründen nicht
genutzt wird …“
Ob die Bedürfnisse Sehbehinderter bei
der Stadtplanung genug Beachtung finden? „Das ist ein schwieriges Thema“,
Es gibt eine ganze
­Reihe baulicher und
technischer Hilfsmittel,
die Sehbehinderten
im Verkehr helfen
meint die Spitzensportlerin, „weil man es
natürlich nicht allen gleichzeitig Recht
machen kann.“ Das heißt: Hohe und damit
gut ertastbare Bordsteine zum Beispiel
bieten zwar für blinde Verkehrsteilnehmer
die bestmögliche Orientierung, für Roll-
stuhlfahrer, ältere Menschen mit Rollatoren und Mütter mit Kinderwägen jedoch
stellen sie ein schwer überwindliches Hindernis dar. „Die Verantwortlichen müssen
über diese Punkte einfach intensiv mit
den Betroffenen reden – und dann auch
Lösungen finden, die für alle Verkehrsteilnehmer tragbar sind.“
Welche Verkehrsmittel Verena Bentele in
München bevorzugt? „Mein Favorit ist die
U-Bahn“, verrät sie, „die fährt am häufigsten, wird im Winter am wenigsten von Wetterkapriolen beeinflusst, und die Stationen
sind übersichtlicher als bei S-Bahnen.“ Mit
auf ihrer Positivliste stehen auch die ähnlichen Längen der U-Bahn-Züge, die ihr die
Orientierung ebenso erleichtern wie die
­bereits angesprochenen Rillen im Boden.
„Trotzdem bleibt einem natürlich nichts
­anderes übrig, als die Wege auswändig zu
lernen – und bei manchen Plätzen, die besonders oft neu gestaltet werden, muss man
sich fragen, ob sich das eigentlich lohnt …“
Szenen einer beeindruckenden Begegnung:
„Wenn es um barrierefreie Mobilität geht, müssen die Verantwortlichen über die unterschied­
lichen Anforderungen einfach intensiv mit den
Betroffenen reden – und dann Lösungen finden,
die für alle Verkehrsteilnehmer tragbar sind“
Verena Bentele an einer Blindenampel: „Es macht traurig, wenn verfügbare Technik aus Kostengründen nicht eingesetzt wird“
Wie ihre Mitmenschen den Sehbehinderten im Stadtverkehr helfen können?
„Auch hier sind beide Seiten gefragt“, sagt
Verena Bentele. „Das Wichtigste ist, aufeinander zuzugehen, vor allem, weil die meisten unsicher sind, wie viel Unterstützung
wir Blinde brauchen.“ Ein paar Hilfestellungen würde sie sich aber durchaus unauf­
gefordert wünschen: zum Beispiel, dass
man Stolper- und Kollisionsfallen wie Koffer oder Fahrräder nicht einfach im Weg
stehen lässt oder dass vor neuen Situationen wie etwa Baustellen gewarnt wird.
­Ansonsten gilt: einfach fragen. „Die Notwendigkeit, oft den Nächstbesten um Hilfe
zu bitten, schafft übrigens auch eine an­
dere Einstellung zum Thema Vertrauen.“
Nach zwei hurtigen Stunden kreuz und
quer durch München, über Hauptverkehrsstraßen, auf Rolltreppen und durch Ein24 its magazine 3/2011
kaufspassagen, zu Fuß, per S-Bahn und per
U-Bahn, sind wir fertig – im wahren Sinn
des Wortes. Vor allem der Fotograf braucht
dringend eine Pause: Modeshootings in
„­Aufeinander zuzugehen ist das Wichtigste.
Kaum einer weiß, wie
viel Unterstützung
wir wirklich brauchen“
Miami oder London stellen offenbar weitaus weniger Anforderungen an die Kondi­
tion als eine ausgedehnte Städtetour mit
einem einzigartigen Powerpaket.
Beim Abschieds-Capuccino bleibt Verena
Bentele beim Thema Vertrauen – neben
Motivation und Kommunikation im Team
übrigens auch ein Schwerpunkt ihrer
­Arbeit im Bereich Personaltraining und
-entwicklung. Und die Literaturwissen­
schaft­lerin mit Magister in Ger­manistik
weiß bekanntlich sehr genau, worüber ­
sie in ihren Vorträgen und Seminaren
­redet: 2009 hatte sie bei den Deutschen
Meisterschaften in Nesselwang ­einen
schweren Unfall, weil ihr B
­ egleitläufer
­bei der Wegweisung rechts und links
­verwechselte. Ein Jahr später avancierte
sie mit einer Niere weniger und insgesamt fünf Goldmedaillen mehr zusammen mit der alpinen Über­fliegerin Lauren
Woolstencroft zur erfolgreichsten Teilnehmerin an den Winter-­Paralympics in
Vancouver. «
3/2011 its magazine 25
Profil
„Interne Denkgrenzen
verlassen“
„Im Idealfall gelingt
es, in ökologischer
und ökonomischer
Hinsicht optimale
Lösungen zu finden“
Interview n Simone Köhler, Mobility Consultant bei der Siemens AG,
über die Effizienzvorteile projektspezifisch zusammengestellter Beraterteams, den Trend zur interdisziplinären Stadtplanung und den für ihre
Arbeit nötigen Blick über den Tellerrand des eigenen Unternehmens.
Frau Köhler, dank Ihrer internationalen
Erfahrungen als Mobility Consultant
­haben Sie sicherlich einen ganz guten
Überblick: Welche Stadt hat das Thema
Mobilität Ihres Erachtens bisher am
­besten gelöst?
In der weltweiten Betrachtung gibt es
­wesentliche Unterschiede. In Europa aber
liegen die Städte, was die Qualität ihrer
Mobilität betrifft, eng beieinander. Hier
zählen Zürich, Wien, Stockholm zu den
­Favoriten. Aber auch meine Wahlheimat
München ist vorne dabei. Zum einen
überzeugt mich hier der gute Ausbau des
öffentlichen Nahverkehrs, der Radwege
und des Individualverkehrs. Zum anderen
sind die einzelnen Transportmodi gut
­aufeinander abgestimmt.
Derzeit betreuen Sie ein Projekt in
­Portugal, zuvor waren Sie für eine
­chinesische Großstadt aktiv. Worin
­konkret b
­ estehen Ihre Aufgaben bei
solchen Projekten?
Im Vordergrund meiner Arbeit steht die
Erarbeitung von strategischen Mobilitätskonzepten, wobei mein persönlicher Fokus
auf dem Straßenverkehr liegt. Bei uns hat
jeder Mitarbeiter neben einem breiten
Fachwissen rund um die Mobilität sein
­eigenes Spezialgebiet, also beispielsweise
Schienen- oder eben Straßenverkehr,
­Häfen oder Flughäfen. Es gibt aber auch
unterschiedliche Betrachtungsweisen für
eine Problemlösung wie etwa wirtschaft­
liche Bewertungen oder CO2-Effi­zienz.
Dieses umfassende Kompetenz­spek­trum
macht es möglich, je nach Kundenanfor26 its magazine 3/2011
derung individuelle Consulting-Teams
­zusammenzustellen – und damit wirklich
maßgeschneiderte Konzepte für die jewei­
ligen Kunden zu entwickeln.
Wie weit gehen Sie bei der Entwicklung
dieser Konzepte – bis zur einzelnen
Lichtsignalanlage?
Nein, unsere Konzepte zeigen wesentliche
Hebel auf, beinhalten aber keine Detail­
planung. Wir wollen unseren Kunden verschiedene Möglichkeiten zur Optimierung
von Mobilität und Logistik aufzeigen. Unsere Aufgabe ist die ganzheitliche Beratung
– und nicht das spezifisch-technische
­Lösungsdesign.
Das heißt: Obwohl Sie bei Siemens
­ar­beiten, empfehlen Sie keine Siemens
­Produkte?
So ist es. Wir präsentieren zwar das eigene
Portfolio, aber nur zur Information und
eventuell zur Veranschaulichung unserer
konzeptionellen Lösungsansätze. Die Arbeit als Consultant ermöglicht ein tieferes
Eintauchen in das Thema sowie auch die
Chance, die Umsetzung zu betreuen. Dabei
müssen wir jedoch auch immer in der Lage
sein, unsere unternehmenseigenen Denkgrenzen zu verlassen, nur so bekommen
unsere Kunden die optimale Lösung.
Und was genau ist für Ihre Kunden
optimal? Worauf legen sie den größten
Wert – auf ökonomische oder ökologische Aspekte?
Wir versuchen, den goldenen Mittelweg zu
finden. Im Idealfall gelingt es, Lösungen zu
entwickeln, die in beiderlei Hinsicht Vor­
teile bieten. So ist etwa ein Straßenverkehrsmanagementsystem manchmal
­ökonomisch und ökologisch günstiger als
beispielsweise ein Tunnelbau. Grundsätzlich spielt die Finanzierung der Mobilitätsinfrastruktur in jeder Stadt eine zentrale
Rolle. Hier loten wir gemeinsam mit Partnern verschiedene Optimierungs-Möglichkeiten aus – von Public Private Partnerships
über intelligente eigene Finanzierungs­
modelle bis zu Maut- und Parksystemen
­als eigenständige Finanzierungsquellen.
Außerdem wird eruiert, welche finanziellen Hilfen etwa aus EU-Töpfen Städte in
Anspruch nehmen können. Bei Bedarf ­geht
unser Consulting-Ansatz sogar noch
­weiter – bis hin zu den übergeordneten
­Erfolgsfaktoren, die eine attraktive Stadt
ausmachen wie zum Beispiel die Auswirkungen auf das Umland und die Einbindung der Bürger. Kurz gesagt: Die Kernkom­
petenz des Mobility Consulting besteht
darin, die Herausforderungen des Kunden
zu verstehen und adäquate, zukunftsfähige
Lösungen zu bieten.
Apropos Zukunft: Welche Vorstellungen
haben Sie von der Mobilität – sagen wir
– im Jahr 2030?
Die sicherlich weiter steigende Mobilitätsnachfrage macht eine optimale Nutzung
von Kapazitäten unumgänglich. Deshalb
wird der öffentliche Personennahverkehr
stärker als bisher mit dem Individualverkehr verbunden sein und insgesamt an
­Bedeutung gewinnen – in welchem Maß,
dürfte nicht zuletzt vom Erfolg der Bemü-
hungen abhängen, die Attraktivität der
entsprechenden Angebote zu erhöhen. Ich
bin davon überzeugt, dass die intelligente
Kommunikation der Verkehrsträger untereinander und mit der Verkehrsinfrastruktur
sowie die Vernetzung der Verkehrsträger
und der begleitenden Daten im Jahr 2030
eine entscheidende Rolle spielen werden.
Und welche Trends beobachten Sie im
Bereich der Stadtplanung? Wird der
­Fokus vermehrt auf „grünen“ Städten
­liegen – und somit auf Elektromobilität?
Ob Elektromobilität tatsächlich das Allheilmittel sein wird, ist noch nicht final entschieden. Eine wachsende Nachfrage nach
alternativen Antrieben besteht jedoch auf
jeden Fall. Neue Arbeits- und Wohnkonzepte, die Zentren innerhalb einer Stadt schaffen, ermöglichen Bewohnern zudem ein
Lebens- und Arbeitskonzept mit kurzen
Wegen. Dies entlastet zum Beispiel den
­Berufsverkehr. Aber auch wenn der Mobi­
litätsbedarf der Menschen dadurch sinkt,
Güter müssen nach wie vor transportiert
werden. Auch im Hinblick auf den Ablauf
der Planungsprozesse gibt es einen klaren
Trend: weg von der isolierten Betrachtung
einzelner Bereiche wie Bebauung oder Verkehr – hin zum interdisziplinären Vorgehen
zur Entwicklung ganzheitlicher Lösungen.
Zum Schluss noch eine persönliche Frage:
Wenn Sie sich als nächstes Projekt eine
Herausforderung wünschen dürften –
wie würde die aussehen?
Der Traum eines jeden Consultants ist
­natürlich die „Mobilitätsplanung auf der
grünen Wiese“. Aber das Glück dürften die
wenigsten von uns haben, da nur in ganz
seltenen Fällen eine Stadt aus dem Nichts,
also komplett auf dem Reißbrett neu geplant wird. Deshalb habe ich mir ein etwas
realistischeres Traumprojekt gesucht: die
Entwicklung eines strategischen Mobilitätskonzepts für eine Stadt, die kurz vor dem
Verkehrskollaps steht. Ich stelle es mir ungeheuer reizvoll vor, hier eine Verkehrsentspannung und letztlich die Entstehung eines lebenswerten urbanen Zentrums mit
zu entwickeln und deren Umsetzung und
Erfolg zu beobachten. Aber auch sonst hat
mein Beruf so einiges zu bieten: Das Spannendste für mich ist die Zusammenarbeit
mit unterschiedlichsten Menschen wie Bürgermeistern, Experten in diversen Ämtern,
Ingenieuren, Architekten oder unseren
­Siemens Spezialisten sowie das Kennenlernen der verschiedenen Perspektiven, aus
denen sie das Thema Mobilität betrachten.
Simone Köhler: Die wichtigsten
Stationen auf einen Blick
• Geboren 1974 in Heilbronn
• 1994-1996: Ausbildung zur Luftverkehrskauffrau bei der Lufthansa AG in
Köln, Stuttgart, Frankfurt/Main, Nairobi
• 1996-2001: Betriebswirtschafts­stu­dium an der Johann Wolfgang
­Goethe-Universität in Frankfurt/Main;
Abschluss: Diplomkauffrau
• 1996-1998: Marketingkoordinatorin
im Vertrieb für Europa/Afrika, Lufthansa
Cargo AG
• 1998-2000: Pricing Executive, Lufthansa Cargo AG
• 2000-2001: Consultant und Projekt­
leiterin bei der Integra GmbH in Bad
Homburg und Berlin
• 2002-2010: Verschiedene Managementaufgaben im Bereich Consulting
bei Siemens Business Services und
Siemens IT Solutions and Services
• Seit 2010: Principal Consultant bei
Siemens Mobility
Frau Köhler, wir danken Ihnen für das
Gespräch. «
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