Lara , RC Hagen-Lenne, Belo Horizonte
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Lara , RC Hagen-Lenne, Belo Horizonte
Meinen Jahresabschlussbericht möchte ich beginnen, indem ich mich zurückerinnere an den Zeitpunkt, als ich schon ein knappes halbes Jahr in Brasilien gewesen bin. Damals sagte mein Jugenddienstleiter zu mir, ich habe mein Jahr mit einer ganzen Menge Schwung und positiver Energie begonnen und er sei zuversichtlich, dass ich es auch so beenden würde. Ich hoffe, in diesem Bericht ein bisschen von diesem Schwung in Worte verwandeln zu können. Mein Jahr im Ausland begann mit dem Verpassen des Anschlussfluges von Sao Paulo nach Belo Horizonte. Der Flieger aus Deutschland kam eine Stunde zu spät in der Millionenmetropole an und mindestens die Hälfte aller Austauschschüler meines Fluges ereilte dasselbe Schicksal wie mich auch. Doch das stellte sich insgesamt nicht als ein großes Problem heraus. Wir alle steckten schließlich im gleichen Schlamassel, schnell fanden wir heraus, wer mit derselben Fluggesellschaft wohin weiter musste und in diesen Grüppchen gingen wir an die Schalter, erklärten auf Englisch unsere Situation und unsere Flüge wurden kostenfrei auf den nächsten Flug umgebucht. So kamen wir mit einer gewaltigen Verspätung in Belo Horizonte an. Für mich und die beiden anderen deutschen Jungs, die mit mir flogen, war dies die Endstation. Für die Letzte in unserer Gruppe war diese Stadt nur ein weiterer Streckenpunkt auf ihrer Reise. In „BH“, wie die Brasilianer die Hauptstadt des Staates Minas Gerais liebevoll abkürzen, erwartete mich ein gewaltiges Empfangskomitee: Gastmütter, -schwestern und –brüder aus allen vorgesehenen Gastfamilien waren gekommen, um mich abzuholen. Ein riesiges Tohuwabohu und so fühlte ich mich sofort aufgenommen in die Mitte dieser „verrückten“ Gesellschaft. Wie sehr ich als Teil der Familie noch vor meiner Ankunft akzeptiert worden war, zeigte mir meine Gastoma. Jedes Mal wenn ein neues Familienmitglied geboren wird, näht „Avó“ diesem neuen Baby ein Püppchen. Dieses Mal wurde ich „geboren“ und mit einem solchen Püppchen beschenkt und war so furchtbar gerührt, dass ich meine Gastoma direkt ins Herz schließen musste. Diese alte Dame muss man einfach lieben. Meine Oma Stael, meine Schwester Mariana und ich Schon in den ersten Monaten lernte ich viel von meiner Umgebung kennen, Zeit für Heimweh blieb mir nicht einmal. In der ersten Woche wurde ich pausenlos von hier nach dort gebracht, lernte die Märkte kennen, die Familienmitglieder, die vielen öffentlichen Parks und Plätze in Belo Horizonte. Minas Gerais ist ein Staat, den man lieben muss, wenn man ihn kennt. Einen Monat nach meiner Ankunft in Brasilien hatte ich Geburtstag – und das im Ausland. Von vielen anderen Austauschschülern hatte ich gehört: Geburtstag im Ausland? Das bedeutet Heimweh. Nun, in meinem Fall traf dies überhaupt nicht zu. Mein Geburtstag fiel zufälligerweise in diesem Jahr auf den Tag des alljährlichen „Cousins und Cousinenfestes“ meiner Familie und es kamen rund 200 Mitglieder der Familie. Es war ein lustiger, angenehmer Tag, wir hatten ein Haus mit Garten und Pool, sowie eine Wasserrutsche und einen Popcornstand angemietet. Ich kann stolz behaupten, dass das die wohl größte Geburtstagsfeier meines Lebens war. Auch in der Schule kam ich gut klar, nach knapp zwei Monaten verstand ich soviel, dass ich die Aufgaben aus dem Chemieunterricht mitlöste und dadurch die zuständige „Professora“ erstaunte. Alles in Allem jedoch war die Schule nicht so recht anspruchsvoll und ich lernte nicht viel, wir wiederholten dort den Stoff, den ich schon von Deutschland konnte. Mitte September lud mein Bruder aus der zweiten Familie meine Gastschwester samt Freund, meine Schwester aus der dritten Familie und mich ein, ihn in seiner Wohngemeinschaft zu besuchen. Er studiert Journalismus in einer kleinen Stadt aus der Kolonialzeit, genannt „Ouro Preto“, die Touristen förmlich anzieht, und in der jedes Jahr ein Jazz Festival stattfindet. Zu diesem Event wollten wir alle zusammen bei ihm übernachten, seine Mitbewohner räumten dafür sogar extra eines der Zimmer und zogen kurzzeitig in das Wohnzimmer um. Ouro Preto ist, das muss man sagen, die süßeste kleine Stadt, die ich je gesehen habe. Es gibt dort kleine Märkte mit Specksteinartikeln, die alle per Hand gefertigt werden, viele prunkvolle Kirchen und alte, niedliche kleine Häuschen. Wer eine typisch mineirische Stadt sehen will, der sollte bei Ouro Preto anfangen. Anfang Oktober begann dann für mich die erste Reise. Zwei Tage lang fuhren wir in Richtung Süden, bis wir im Pantanal ankamen. Als wir dort unseren komfortablen Reisebus verlassen mussten, um über einen Feldweg weitere zwei Stunden mit einem offenen Touristenbus bis zu unserem Hotel zu kommen, wurden wir schon direkt an der Bustür von Mücken begrüßt. Heiß und schwül war es zu dieser Jahreszeit in diesem Teil Brasiliens, knapp vierzig Kilometer von der bolivianischen Grenze entfernt. Rund vierzig Austauschschüler aus aller Welt waren wir und die Tour zeigte uns allen einen äußerst interessanten Teil Brasiliens: viele von uns sahen dort zum ersten Mal nicht nur Affen, Papageien und Wasserschweine in freier Wildbahn, sondern auch Millionen von Alligatoren (so zumindest fühlten wir uns). Es war beeindruckend: unser Hotel war umgeben von drei kleinen Seen und in jedem davon konnte man sehen, wie es von diesen eindrucksvollen, gefährlichen Tieren nur so wimmelte. Noch erstaunter waren wir, als sich eines Abends fünf von ihnen in unserem Hotelpool tummelten, und der Padre des Hotel ganz locker ein Stück vom Lattenzaun herausriss, es als Rampe für die Tiere in den Pool stellte und meinte, ‚das käme dann und wann mal vor…’ Alligatorenalarm im Pantanal Nach dieser Tour war ich erstaunt, festzustellen, wie sehr sich meine Sprachkenntnisse in dieser Zeit verändert, gebessert hatten, obwohl ich auf der Tour nur ein Minimum an Portugiesisch gesprochen hatte. Ich konnte meiner Gastmutter in einem beinahe zwei Stunden andauernden Gespräch die deutschen Sitten und Bräuche zur Weihnachtszeit erklären. Doch dann ging es bald weiter. Nun stand eine Tour in den heißen Nordosten des Landes auf dem Plan. Wieder waren wir eine Gruppe von circa 40 „Intercambistas“ – Austauschschülern – und es gab einen Reisebus unserer Reiseagentur. Einen Monat lang war dieser Bus so etwas wie unser Zuhause. Unsere Reise begann direkt in Belo Horizonte, führte uns durch die Hauptstadt Brasilia, bis hinauf nach Maceió und Fortaleza. Dort bekamen wir die ersten brasilianischen Strände zu sehen, Sommer, Sonne, Strand und Meer. Von dort aus ging es dann wieder südwärts, unter anderem über Salvador und Porto Seguro, dem Ort der Entdeckung Brasiliens, bis nach Rio de Janeiro und dann über Angra dos Reis – einem wahren Schnorchelparadies – zurück nach Belo Horizonte. Wunderschöne Strände, brasilianische Volkstänze und das Ballett in Salvadors „Cidade Alta“ sowie Handwerksmärkte, genannt „Feiras“ und eine weitere, ganz andere und doch so brasilianische Atmosphäre lernten wir kennen. All dies und noch viel mehr umgab uns auf dieser Tour. Doch leider wird diese Reise nicht nur mit schönen Dingen in unseren Gedächtnissen bleiben. In Rio de Janeiro besuchten wir die Favelas, die brasilianischen Slums, fuhren mit Kleinbussen durch Rocinha, die größte Favela Rios und wahrscheinlich ganz Brasiliens. Es war erschreckend! Einige Favelabewohner versuchen, das Beste aus ihrer Situation herauszuholen, malen Bilder oder verkaufen recycelte Handtaschen und Gürtel an die Touristen. Doch diese Chance hat bei Weitem nicht jeder. Einmal in eine Favela hineingeboren, ist der Weg hinaus nicht mehr so einfach. In Rocinha, sagte unsere Reiseleiterin uns, gibt es jede Menge Drogenhandel – wie auch in den meisten anderen Favelas. Uns wurde zum Beispiel gesagt, wo wir fotografieren durften und wo nicht. So hieß es teilweise: „Auf dieser Seite der Straße dürft ihr fotografieren, alles was jenseits der Bordsteinkante liegt ist tabu. Sehen wir eine einzige Kamera auf die verbotene Stelle gerichtet, müssen wir euch hinausjagen!“. Man konnte sich sicher sein, dass dann irgendwo jenseits der Bordsteinkante ein wichtiger Knotenpunkt für den Drogenhandel liegt und damit ist nicht zu spaßen. Mara, die Fremdenführerin aus Rio, die in meinem Kleinbus saß, erklärte uns, es sei schon öfter vorgekommen, dass Favelabesucher nach einer solchen Aktion dann tatsächlich aus dem besagten Gebiet „hinausgejagt“ wurden. Rio de Janeiro - Die wundervolle Stadt, A Cidade Maravilhosa! Das passierte unserer Gruppe Gott sei Dank nicht. Neben Rocinha besuchten wir noch eine weitere Favela, eine bedeutend kleinere. Da die Verwaltung von Rio im Hinblick auf die olymischen Spiele 2016 im Moment dabei ist, die Favelas „aufzuräumen“ und für Menschen von auswärts wohnlicher zu gestalten, haben in dieser Favela die winzigen Gässchen und Straßen nun Namen, die Bewohner alle eine feste Adresse die im Rathaus vermerkt wird. Auch wenn diese Veränderungen vorrangig das Bild der „Wundervollen Stadt“ Rio für Touristen verbessern sollen, so bringen sie auch positive Veränderungen für die Bewohner der Slums. So besuchten wir mit unserer Gruppe eine kleine Schule, wo Kinder von Lehrern aus den Favelas, die so einen Job bekamen, unterrichtet werden konnten. Vielleicht öffnen diese Umstrukturierungen den Menschen in den Favelas in Zukunft neue, bessere Chancen fürs Leben. Nach dieser Reise stand Weihnachten vor der Tür. Weihnachten – und das in Brasilien, bei sengender Hitze und mit einem Plastikbäumchen, vielleicht mit einem Kokosnusswasser am See von Pampulha begonnen und mit einem Bananenmilchshake am Abend abgeschlossen. Das Ganze war mir sehr suspekt und trotzdem – ich sah alles relativ positiv. Als dann der 24. Dezember endlich kam – und mit Regenschauern begann – fühlte ich mich schon fast wie zu Hause. Regen zum Heiligen Abend – oder Morgen – das war mir schließlich nicht fremd. Wir feierten diesen Tag mit der ganzen Familie. Es wurde eine Art brasilianisches Wichteln veranstaltet, jeder hatte ein Geschenk für eine bestimmte Person mitgebracht, musste dann nach vorne gehen und einen Satz oder einen Text sagen, in dem diese Person umschrieben wurde. War die Person erraten, durfte sie ihr Geschenk abholen und es ging genauso weiter. Meine Oma hatte eine Pute gebraten und es gab zusätzlich Reis und Bohnen, obwohl die beiden letzteren nicht extra erwähnt werden müssten, gehörten sie schließlich immer irgendwie mit dazu. Ich vermisste meine Weihnachtsente mit Rotkohl nur ein ganz kleines bisschen. Wir sangen gemeinsam brasilianische Weihnachtslieder, sogar Jingle Bells auf Portugiesisch war mit darunter, und ich musste ein paar deutsche Lieder zum Besten geben, bis wir uns alle vor den Computer stellten und per Skype meine Familie hier in Deutschland anriefen. Wieder wurde gesungen, ein frohes Fest gewünscht, mein Gastonkel verkleidete sich als Weihnachtsmann, um meinen kleinen Geschwistern in Deutschland eine Freude zu bereiten. Alles in Allem muss ich sagen, hatte ich mir diese Zeit schwieriger vorgestellt. Sie war nicht so einfach wie der Rest meines Jahres und doch, es war nicht schlimm. Schließlich hatte ich eine wunderbare Gastfamilie, die mich die Sehnsucht nach dem Schnee bald vergessen ließ. Nach Weihnachten ging das Leben eigentlich erst richtig los. Ich sprach nun fast fließend portugiesisch, lebte so richtig auf und fand Freude daran, mit meinen Gastschwestern durch die Gegend zu ziehen und die Stadt zu erkunden – wir hatten Zeit, es waren ja schließlich Ferien. So besuchten wir Geburtstagsfeiern, schauten uns mit der ganzen Mannschaft ein Beatles Cover an das an diesem Abend in der Stadt spielte und gingen in die Kinos. Mittlerweile ertappte ich mich dabei, dass ich nicht mehr zuhörte, wie die englischen Originalstimmen den Text der Filmcharaktere sprachen, sondern mich voll und ganz auf die Untertitel konzentrierte, die auf Portugiesisch mit eingespielt wurden. Kurzum: mein Leben war normal geworden. Silvester verbrachten wir dann ebenfalls mit der gesamten Familie, drei Tage vorher kam mein Cousin Rafa aus Sao Paulo zu Besuch und gemeinsam beschlossen er, meine Schwester Carolina und ich, dass das Motto für diese Silvesterfeier der venezianische Karneval sein sollte. Gemeinsam riefen wir alle geladenen Gäste an und dann stürzten wir uns in die Vorbereitungen. Rafa fuhr in die Apotheke und kaufte eine ganze Ladung Gips, dann wurden Masken gebastelt. Die Silvesterfeier war eine lustige, äußerst angenehme Familienfeier und ich werde mich noch lange an all die venezianischen Masken erinnern, die dort in großer Vielfalt herumliefen. Um Mitternacht startete auf dem höchsten Gebäude der Umgebung ein sagenhaftes Feuerwerk Kurz nach Neujahr begann ich, das Wort „Austausch“ noch ein wenig mehr umzusetzen. Schon lange war geplant gewesen, die Familie meines Gastbruders Cadu zu besuchen, der in dieser Zeit in meiner deutschen Familie lebte, und endlich, endlich war es soweit. Ich hatte die Einverständniserklärung von Rotary in der Tasche und schon konnte es losgehen, auf nach Saltinho, einer kleinen Stadt im Bundesstaat Sao Paulo. Hier lernte ich eine ganze Menge neuer, netter Leute kennen, bekam in dieser kurzen Zeit eine weitere Familie. Wir unternahmen viele interessante Dinge gemeinsam, gingen zum Bowling und zum Paintball, veranstalteten Grillabende und Poolpartys. Am Samstag, als wir nach dem Paintball alle verschwitzt nach Hause kamen und uns eine wilde Partie Wasserball geliefert hatten verabredeten wir uns für später, um bei Cadus Cousins Gabriel und Pedro eine Pizza zu essen. Doch kaum hatten wir die Pizza verspeist und waren nach oben zum Karten spielen verschwunden, stand ein maskierter Mann mit einer Waffe mitten im Fernsehraum und bedeutete uns, leise zu sein. Bis auf Gabriel hat wohl ein jeder von uns gedacht, es handele sich um den schlechten Scherz eines Freundes, doch nachdem das Licht an und ausgeschaltet worden war und der Fremde die ungeteilte Aufmerksamkeit aller geschenkt bekam, wurde einem jeden klar, dass das erwartete "BUH!" nicht mehr kommen würde und dass die Knarre verdammt echt war. Gabriels und Pedros Eltern wurden in Begleitung eines anderen Bewaffneten zu uns nach oben geführt, dann wurden uns Handys, Geldbörsen, Uhren, Ketten und Ringe abgenommen. Wir bauten den Computer ab und schoben ihn über den Boden in Richtung Treppe, die Playstation wurde weitergegeben. Die Handtasche der Freundin eines der Cousins wurde ausgeräumt und mitgenommen, die Eheringe von Gabriels Elternebenfalls. Sogar nach den Autoschlüsseln wurde gefragt. Das Ganze dauerte vielleicht eineinhalb Stunden, dann wurden wir, den Typen mit der Waffe in unserem Rücken, dazu aufgefordert, uns unten im Badezimmer zu versammeln. Besonders bewundert habe ich die ganze Zeit über Gabriels Gelassenheit. Mit 15 Jahren war er der Jüngste und trotzdem die Person, die versuchte, alle anderen zu beruhigen und derjenige, der meine Hand nahm und mir den Weg zeigte. Es war eine bedrückende Stimmung, als wir zu neun Personen in ein enges Badezimmer eingeschlossen wurden, mit der Anweisung, nicht innerhalb der nächsten Stunde irgendwelche Anstalten zu machen, dieses durch das vorhandene Fenster zu verlassen. Wir hielten uns daran, waren wir doch froh, dass bisher keinem etwas passiert war. Das blieb glücklicherweise auch so. Nach einer knappen Stunde wollten wir jemanden durch das Fenster heben, als Gabriels Mutter einen Ersatzschlüssel fand und das "Entfliehen" aus der stickigen Luft des Badezimmers so um vieles erleichterte. Das Haus war in einer einzigen Unordnung zurückgelassen worden, die Einbrecher hatten so gut wie alles mitgehen lassen. Unter anderem eine teure Gitarre und die Markenklamotten von Pedro, Gabriels Bruder. Schmuck, Schuhe, Geld. Der Autoschlüssel fand sich jedoch glücklicherweise auf dem Küchentisch wieder. In der Küche herrschte ein einziges Chaos. Tomaten lagen matschig zusammen mit geschälten Zwiebeln auf dem Boden, eine Wassermelone war aufgebrochen worden, Kaffee hatten sie getrunken und den Medizinschrank geplündert. Später erklärte uns die Polizei, dass es nicht unüblich sei, dass solche Überfälle von Drogensüchtigen getätigt wurden, die die gestohlenen Gegenstände hinterher sofort verscherbelten, um Geld für mehr Stoff zu erhalten. Eins kann ich sagen: dieses Erlebnis muss ich nicht noch einmal haben. Einmal reicht, ist sogar schon zu viel! Meine Fingernägel waren nach diesem Abend einmal gepflegt gewesen… Mein Jugenddienstleiter schrieb mir, nachdem er von meinen Eltern erfahren hatte, was dort passiert war, eine liebe Email in der er mir erklärte, dass es in solchen Situationen nicht schlimm sei zu sagen: Okay, das ist für mich ein Grund, den Austausch zu beenden und fragte mich explizit, ob dies mein Wunsch sei. Ich war überaus erstaunt zu lesen, dass in Deutschland angenommen wurde, ich könnte mich nicht mehr wohl oder sicher genug in diesem Land fühlen. Ich beantwortete die Email sofort - hatte ich doch keine Sekunde lang daran gedacht, mein Jahr abzubrechen. Schließlich fühlte ich mich doch in meiner brasilianischen Umgebung nicht unsicherer als in Deutschland auch. Solche Dinge geschehen üblicherweise nicht in diesem Ausmaß und wenn sie geschehen kann einem dies überall passieren. Ob ich nun auf dieser Seite der Erdhalbkugel bin oder auf der anderen. In Gedanken plante ich zu diesem Zeitpunkt sogar schon einen weiteren Besuch in Saltinho. Die Ferien um diese Zeit sind lang in Brasilien, so kam es, dass wir Mitte Januar noch einmal zehn Tage mit der Familie an den Strand fuhren. Alle zusammen, zwei meiner Gastfamilien und zusätzlich drei Tanten und zwei Onkel kamen mit uns. Wir waren eine große Gruppe, hatten sehr viel Spaß – bis einer nach dem anderen von uns den Salmonellen „zum Opfer“ fiel, die wohl in dem Essen aus dem Restaurant enthalten gewesen waren. So wurde aus diesem Traumurlaub schließlich etwas ganz anderes, die Ferienwohnung war glücklicherweise mit genügend Badezimmern ausgestattet. Zum Glück waren zum Ende hin wieder alle gesund genug, damit wir ohne Probleme Auto fahren konnten, was unser aller Sorge gewesen war. So kam für mich und jeden anderen der Februar, doch für mich bedeutete das: Umzug in die nächste Familie. Ich muss ehrlich sagen, es fiel mir äußerst schwer - ich habe mich innerlich ziemlich gegen diesen ersten Umzug gewehrt. Ein halbes Jahr lang war ich mit meiner ersten Familie glücklich und zufrieden, nun sollte ich zu der Cousine meiner Gastmutter, die ich ebenfalls schon kennen gelernt hatte. Rotz und Wasser wurde geheult, auf beiden Seiten, als wir meine Koffer die Treppen aus dem dritten Stock hinunter zum Auto trugen und Angelo, mein Gastpapa, brachte mir noch eine Packung Cornflakes – damit ich auch etwas zu essen habe, das mich an sie alle erinnern würde. Dann fuhren Bel, meine neue Mutter, und ich los in Richtung Savassi, dem Stadtteil der Reichen und Schönen Belo Horizontes. Zwei Monate lang lebte ich bei Bel, Inacio und Mathias zu Hause. Wirklich daheim fühlte ich mich jedoch nicht. Mathias unternahm nur mit seinen eigenen Freunden etwas, war viel jünger als ich und Bel und Inacio arbeiteten und verreisten viel. Mit dem Umzug stand mir auch ein Schulwechsel bevor, das Schuljahr fing neu an, durch den Umzug lebte ich so weit von meiner alten Schule entfernt, dass der Weg zu weit war. Ich kam auf die Schule meiner nächsten Gastschwester Luiza, verbrachte die Tage meist bei ihr zu Hause und schlief im Haus von Bel. Luiza und ich kannten uns ebenfalls von Anfang an, hatten immer schon viel zusammen unternommen, doch in der Zeit in der ich in Bel’s Haus lebte, da brauchte ich sie. Savassi war nicht meine Welt. So war ich glücklich als sich zur Karnevalszeit noch einmal die Möglichkeit ergab, nach Saltinho zu fliegen. Gemeinsam mit Cadus Eltern Vania und Carlos und der deutschen Austauschschülerin Kathinka fuhren wir nach Sao Paulo, wo Carlos unter der Woche arbeitet und daher ein Apartment hat. Beeindruckend waren die Karnevalsumzüge, die Sambagruppen von Sao Paulo, der Hauptstadt des Staates. Nach zwei Tagen in der Hauptstadt fuhren wir zurück ins „Interior“, ins Landesinnere Sao Paulos, um in Saltinho gebührend den Straßenkarneval zu feiern. Niemand entging diesem Schicksal, jeder "durfte" einmal baden gehen Kathinka und ich hatten sehr viel Spaß dabei, einmal brasilianischen Karneval live miterleben zu dürfen. Es war einfach nur genial. Einen Tag gab es eine Schaumparty mitten auf der Straße, organisiert von „unserer“ Umzugsgruppe, den anderen Abend liefen alle durch die Straßen des Städtchens, Rollentausch war angesagt. Männer liefen in Frauenkleidern die Straßen hinunter, Frauen in Fußballtrikots und Schlabberlook. Karneval in Brasilien war eine ganz und gar einzigartige Erfahrung. Nach dieser Zeit kehrte Ruhe ein in mein Leben. Karneval war vorüber und in der Schule wurde es für die meisten Mitschüler zunehmend ernster, die Noten, die nun kamen, zählten. So zog der Februar an mir vorbei, ich lebte mich in meinem neuen Zuhause einigermaßen gut ein. Oft waren meine neuen Eltern nicht zu Hause, und wenn dies doch einmal der Fall war wurde mir erzählt wie sehr sich beide schon immer eine Tochter gewünscht hätten um mit ihr „Mädchendinge“ unternehmen zu können. So begleitete ich meine Mutter unter Anderem zum Kauf von Sofakissen für die drei Sofas im Apartment. Bel und Familie gaben sich Mühe, mir eine schöne Zeit zu ermöglichen, aber ich habe mich in dieser reicheren Umgebung nicht so heimisch fühlen können. Diese Zeit war eine schwierigere Episode in meinem Austauschjahr. Auch wenn ich diese neue Familie von Anfang an gekannt hatte, sogar schon Wochenendbesuche und Übernachtungen hinter mir hatte, ich konnte tun was ich wollte - ich fühlte mich dort nicht so richtig zu Hause. Im März lud mich meine ursprünglich vorhergesehene zweite Gastfamilie (bei denen ich jedoch aufgrund einiger Renovierungsarbeiten im Haus nicht wohnen konnte) zu einem Wochenendtrip in den Süden Brasiliens ein, wo wir gemeinsam mit meinen zwei Gastschwestern aus der ersten und der letzten Familie und meinem Cousin aus Ouro Preto die Katarakte von Iguassu bestaunten. Dieses Naturschauspiel würde ich gerne in Worte fassen, doch ich bezweifle stark, dass meine Worte kräftig genug sind, um bildlich klar vor Augen zu führen, wie viel Wasser wir sahen. Wasser, soweit das Auge reicht, Wasser und es hört nicht auf. Wasser! Ein Phänomen mitten im Länderdreieck Brasilien, Argentinien und Paraguay. Nach dieser Reise schien alles sehr, sehr schnell zu gehen. Die Zeit flog nur so an mir vorbei. Plötzlich stand die Distriktkonferenz vor der Tür - wieder traf ich meine Freunde vom Distrikt 4520. Wir fuhren in einen kleinen Kurort namens Águas de Lindoia im Staat Sao Paulo, und probten dort zusammen mit den zukünftigen Outbounds und zwei Rebounds unsere Präsentation. Jonas, ein weiterer Deutscher, den ich schon aus meinem deutschen Distrikt kannte, und ich probten mit ein paar der Outbounds ein Theaterstück ein. Eine Freundin von mir brachte uns allen ein Lied bei. Die Distriktkonferenz 2010 wurde ein voller Erfolg Wir zeigten einen Art Forró – Tanzbeitrag, und lasen Berichte vor, erklärten, was Rotary Jugendaustausch für uns bedeutete. Mit „Time of Your Life“ von Greenday schlossen wir dann alle gemeinsam unsere Präsentation ab und gingen zurück ins Hotel, um uns für die Feierlichkeiten am Abend umzuziehen. Die Konferenz schloss ab mit einem Ball und nach einer schlaflosen Nacht fuhren wir alle am nächsten Tag todmüde mit dem Reisebus nach Belo Horizonte zurück. Nach der Konferenz stand der Umzug in die dritte und nunmehr letzte Familie kurz bevor. Ich zählte die Tage und als es soweit war, trauerte ich nicht eine eigene Sekunde lang meinem eigenen Zimmer mit angrenzendem Badezimmer nach, sondern war froh, nun mit Luiza, die bisher meine Cousine gewesen war und nun meine Schwester wurde, in einem Zimmer zu leben. Nachts schoben wir eine zweite Matratze ins Zimmer, tagsüber gingen wir zusammen zur Schule, zu Freunden oder in die Shopping Mall. Mein Leben war tatsächlich geregelt und ruhig geworden. Ein paar Mal kochte ich hier für meine Familie, und als Beth, das Hausmädchen, schließlich kündigte, wollte Luiza zumindest lernen, wie ich das Risotto machte, das sie so gerne aß. Also verbrachten wir auch viele Stunden gemeinsam in der Küche am Herd. Der Mai trug mich hinauf in den Norden, bis hin nach Manaus in den Amazonas. Dort blieb ich zusammen mit rund vierzig anderen Austauschschülern 9 Tage, wobei wir die Hälfte davon auf dem Wasser verbrachten. Mit zwei Booten fuhren wir über den Rio Negro, schliefen nachts in Hängematten und lernten tagsüber Dinge über den Amazonas. Einen Tag lang wanderten wir durch den Regenwald, zusammen mit einem „Wald“Führer, der ausbildungsbedingt, für eine bestimmte Zeit mitten im Regenwald leben und sich ernähren und schützen lernen musste, und uns einige Tricks verriet. Mitten im brasilianischen Regenwald aßen wir dann mittags Fisch von großen Blättern, die wir als Teller verwendeten, direkt mit den Fingern, und Fleisch, aufgespießt auf Stöcken. Nie zuvor hätte ich mir träumen lassen, einmal so zu Mittag zu essen, mit dreckigen Fingern von einem Teller aus einem durchgeschnittenen Riesen-Blatt aus dem Urwald. Diese Erfahrung wird für mich wohl einzigartig bleiben. Im Amazonas begegneten uns wieder eine Menge Alligatoren, Papageien und andere wildlebende Tiere, doch diesmal guckten wir sie uns nicht nur an. Einen Abend zogen wir in drei kleinen Bötchen los, um Alligatoren zu jagen. Der Führer meines Bootes, Mathias, erklärte, er wolle versuchen, ein knapp eineinhalb Meter langes Tier zu erwischen, damit wir es anfassen könnten. Leider erwischten wir in dieser Nacht zwar viele Tiere, doch nur sehr kleine Alligatoren. Der arme Winzling den Mathias fing, wird sich sein Leben lang an all die vielen Austauschschüler erinnern, die ihn da neugierig begutachteten und „betatschten“. Sogar ein Faultier fanden wir auf einem Baum. Mathias kletterte hinauf und jeder durfte „Debora“, wie wir sie spontan nach unserer sich ständig vor den Tagesausflügen drückenden Reiseleiterin tauften, einmal halten. Piranhas fischen durfte auf dem Programmplan natürlich auch nicht fehlen, ebenso wenig, wie das Schwimmen mit den rosa Amazonasdelfinen. Es war eine Reise in den Schoß der Natur, wie man so schön sagt. Meiner Meinung nach ist es die Schönste der von Rotary angebotenen Reisen. Der Amazonas ist so einzigartig vielfältig, dass ich ihn mit Worten nicht erfassen kann. "Debora" brachten wir danach natürlich auf ihren Ast zurück Zurück zu Hause kehrte wieder Ruhe ein. Es gab hier und da wieder mal die eine oder andere Geburtstagsfeier, doch im Allgemeinen war nicht wirklich viel los (Der Alltag hatte mich wieder eingeholt. Auch wenn sich mein Bericht wie das Tagebuch eines Weltenbummlers anhören mag, so überwog natürlich die „Normalität“, wie Schule, Hausaufgaben und hier und da ein Treffen mit Freunden oder die Besuche der Rotary Meetings. Aber mal ehrlich – das wollt ihr alle doch gar nicht wirklich hören, oder?). Dann allerdings begann die Fußballweltmeisterschaft. Brasilien drehte komplett am Rad. Und das ist wirklich wörtlich gemeint. Brasilien ließ alles stehen und liegen, wenn die Mannschaft spielte – das ist sogar noch wörtlicher zu nehmen. Es gab Spiele, die während der Schulzeit stattfanden – der Unterricht fiel dann halt aus und den Rest des Tages wurde gefeiert. Es gab Spiele, die später stattfanden – auf den Straßen herrschte noch zwei Stunden nach Abpfiff totaler Stillstand. Es gab Spiele am Sonntagmorgen – die Familie fuhr aufs Land hinaus, um zusammen den Sieg zu feiern. Diesen Fußballwahn erlebte ich die meiste Zeit im Bett oder in eine dicke Decke gewickelt auf dem Sofa. Zu Beginn der WM ging ich noch mit meinen Geschwistern zu dem üblichen Trubel mit, doch zwei Wochen vor meinem Heimreisetermin wurde ich krank. Und es dauerte eine lange Zeit, bis ich wieder gesund wurde. Dies war ein weiterer recht schwieriger Teil meines Auslandsjahres – vielleicht gerade weil es gegen Ende des Jahres geschah. Nicht zu wissen, welche Krankheit man hatte, von einem ratlosen Arzt zum nächsten zu ziehen, Röntgenaufnahmen im Krankenhaus machen lassen zu müssen, weil sich keiner darüber einig werden konnte, was nun notwendig war und was nicht. Ich verbrachte einen Großteil dieser Zeit in einem Nebel aus Unsicherheit und wartete darauf, dass es einfach aufhörte. Als noch eine heftige Mandelentzündung dazukam, befürchteten wir schon, der Rückflugtermin müsse nach hinten verlegt werden, bis ich wieder gesund wäre, doch dazu ist es nicht gekommen. Aufgrund dieser Umstände konnten wir leider meine Abschiedsfeier nicht so gestalten, wie wir es geplant hatten, doch meine Familie lud zwei Tage vor meiner Abreise einen Großteil meiner Freunde zu uns nach Hause ein und es gab Erdbeer-Schoko-Fondue und Pizza, was ich zu diesem Zeitpunkt zwar noch nicht wieder essen konnte aufgrund der Mandelentzündung, was ich jedoch furchtbar süß von allen fand. Die Feier war wunderschön, lieb und herzlich organisiert, mit einigen Freunden und einem Teil der Familie feierte ich leise, ein wenig traurig meinen Abschied von Brasilien. Eine vergleichsweise zu der geplanten Feier eine relativ kleine und ruhige Party Dann kam der Tag meiner Rückkehr nach Deutschland. Morgens früh fuhren wir an diesem Samstag zum Flughafen, drei Autos, drei Familien. Meine zweite Gastfamilie kam nicht zum Flughafen, dafür die Familie von Lucas, meinem Cousin aus Ouro Preto. Der Abschied fiel schwer. Da ich immer noch ein wenig unsicher auf den Beinen war, hatte Papa meinen Flug auf Business Class umbuchen lassen und schon in Belo Horizonte begleitete mich eine Stewardess vom Security Check an, damit ich sicher zum Flugzeug kam. Wir zögerten die Trennung bis zum Schluss hinaus, ich schritt erst im allerletzten Moment durch das große Tor - musste meine Brille absetzen, damit ich vor lauter Tränen überhaupt etwas sehen konnte. Der Abschied fiel mir sehr, sehr schwer. Brasilien war mein Zuhause geworden. Eine richtige zweite Heimat. Ich weiß, ich werde immer eine große Familie auf der anderen Seite der Erde haben, immer Freunde von einem anderen Kontinent. Immer werde ich mich an mein Jahr auswärts erinnern, es wird verbunden sein mit schönen, traurigen und einzigartigen Erinnerungen und Erlebnissen. Immer werde ich mich an meinen jugendlichen Schwung erinnern können, selbst wenn ich eines Tages alt und grau sein werde – denn wer solches erlebt hat, der vergisst es so schnell nicht wieder. Hin- und Hergerissen; der Abschied von meinen Lieblingsbrasilianern war schmerzhaft Träume sind Schäume – so heißt es, doch mein Traum von einem Jahr im Ausland wurde wahr. Mein Traum hieß Brasilien und er wird immer Brasilien heißen. Brasilien war das Land meiner Träume. Es wurde zum „Jahr meiner Träume“… Lara Büchmann, Rotary Club Hagen-Lenne