Ohne das Jecke kein gutes Marketing

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Ohne das Jecke kein gutes Marketing
MARKENFÜHRUNG
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111 JAHRE MARKENVERBAND
MARKENARTIKEL SONDERHEFT
Ohne das Jecke
kein gutes Marketing
Die Zahl 111 ist eine Jeckenzahl. Gut, dass der Markenverband
sie feiert!
WENN DER HONORIGE, ehrbare Markenverband zum
111-jährigen Bestehen ein Sonderheft herausgibt, ist
dies zunächst auch ein Bekenntnis zu den sinnlichen,
lustvollen Dimensionen des Menschlichen und vermutlich auch von Marken. Denn die Zahl 111 ist eindeutig eine Jeckenzahl; und zudem ist sie auch noch eine
sogenannte Schnapszahl. In der Zahl 111 steckt auf jeden Fall die 11. Die 11 ist wiederum in Köln untrennbar mit dem Karneval verbunden.
Der Markenverband belässt es jedoch nicht bei diesem
Bekenntnis, sondern beschäftigt sich anlässlich des Jubiläums mit einem ernsthaften Thema: Die Marke als Treiber von Innovation und Wohlstand. Damit entsteht eine
gute Gelegenheit, sich einmal intensiver mit der Bedeutung des Jecken für den Erfolg von Marken und ihren
Einfluss auf Innovation und Wohlstand zu beschäftigen.
Köln als Lehrstück eines Markenaufbaus
Prädestiniert für eine exemplarische Betrachtung ist
die Geschichte der Stadt Köln – gerade weil das Jecke
und die Zahl 11 hier so eine große Rolle für die Entwicklung der Marke Köln spielen. Die Elf ist für Köln
in vielerlei Hinsicht prägend und sogar in Form von elf
Flammen im Stadtwappen vertreten. Die Zahl und ihre Geschichte in Köln ist zugleich ein hervorragendes
Lehrstück dafür, wie eine Marke aufgebaut und mit einer Zahlensymbolik versehen wurde. Es lohnt sich daher, an der Kölner Geschichte – etwas augenzwinkernd,
aber durchaus ernst gemeint – zu prüfen, ob und wie
eine Marke mit ihrer Symbolik zu Treiber von Innovation und Wohlstand werden kann.
Eine wirklich erfolgreiche Marke erzählt immer eine
oder sogar mehrere Geschichten. Im mittelalterlichen
Köln ist es zunächst die Geschichte der Heiligen Ursula, die mit einem Gefolge Jungfrauen den Märtyrertod
gefunden haben soll. Der Legende nach war die fromme Frau einem englischen Prinzen versprochen, der ihr
zuliebe bereit war, zum Christentum zu konvertieren.
Vor der Heirat besuchte Ursula mit ihrem Gefolge die
heilige Stadt Rom, wurde jedoch auf dem Rückweg am
Rhein von heidnischen Hunnen gefangen genommen.
Ein hunnischer Prinz verliebte sich in sie und wollte sie
heiraten. Sie lehnte ab und wurde zusammen mit ihren
Gefährtinnen getötet. Der hunnische Prinz selbst soll
sie mit einem Pfeil tödlich getroffen haben!
Etwas pointiert formuliert ist es die Geschichte einer
Frau, die alle jeck macht und ihnen den Kopf verdreht.
Sie handelt von Liebe und Begehren einerseits und Religion und Moral andererseits. Sie zeigt zugleich auch
die Gefahren des Jeck-Machens auf: Die Unnahbarkeit und Bereitschaft der Ursula für Ideale und Prinzipien einzustehen, provoziert Gegner und ihre barbarische Rachsucht und Grausamkeit. Der Liebespfeil des
Prinzen verkehrt sich, kann verletzen und tödlich werden, da seine Liebe verschmäht wird.
Wichtig ist in der mittelalterlichen Darstellung immer,
dass es sich um Jungfrauen handelt. Jungfrauen stehen symbolisch einerseits für das Jecke in Form von
sexueller Lust und Begehrlichkeit, aber zugleich auch
für die zivilisierte Reinheit und Unschuld, die es gegenüber dem Teufel in Gestalt der barbarischen Hunnen zu bewahren gilt. Die Standfestigkeit der Heiligen
Ursula gegenüber den Anträgen und Verführungsversuchen beeindruckte im mittelalterlichen Umfeld sehr.
Von ihr erhoffte man sich Beistand im eigenen Management der Lüste.
Marken greifen das Jecke in unserer Psyche auf
Wie diese Geschichte greifen auch Marken bis heute immer das Jecke in unserer Psyche auf und bieten
ihm eine kulturell akzeptierte, konsumierbare Form.
Wie haben aber die Kölner nun aus dieser Legende eine konsumierbare Marke erschaffen, die einen Beitrag
zu Innovation und Wohlstand leistet?
Die Geschichte von der Heiligen Ursula musste dazu
irgendwie konkreter und anfassbar werden. Die Kölner haben daher zunächst für sich in Anspruch genommen, dass sie die Gebeine der Märtyrerinnen in einer
ortsansässigen Kirche aufbewahren. Zu einer solchen
Kirche ließ es sich natürlich gut pilgern. Sie legten damit den Grundstein für einen bedeutenden mittelalterlichen Köln-Tourismus.
Die Konkurrenz an Pilgerstätten war jedoch groß. Im
Wettbewerb mussten die Kölner sich Gedanken über
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Für Hotels, Gastronomen, Einzelhandel, Musiker und Wagenbauer leistet die Marke Kölner Karneval einen wertvollen Beitrag zu ihrem Wohlstand
den Mehrwert ihrer Marke machen. Die mittelalterlichen Marketiers gingen daher noch weiter. Die Zahl
der Opfer – ursprünglich waren es nämlich nur elf –
wurde dramatisch gesteigert. In der mittelalterlichen
Kommunikation wurden daraus elftausend Jungfrauen
gemacht, die von den Hunnen dahingeschlachtet wurden. Diese hohe Zahl brachte einerseits mehr Aufmerksamkeit und ermöglichte es andererseits, einen
lebhaften Reliquienhandel zu betreiben. Denn es war
dadurch plausibel, dass genügend Knochen zur Verfügung stehen, um sie weiter zu vermarkten.
In der Folge wurden ganz pragmatisch die Knochen
des die Kirche umgebenden Friedhofs als Gebeine der
Märtyrerinnen interpretiert und geborgen. Jeder Pilger konnte für einen entsprechenden Obolus angebliche Knochenteile der Märtyrerinnen erwerben – je
nach Art und Umfang für mehr oder weniger Geld.
Für einen kultivierten Umgang mit den Knochenteilen
war eine angemessene Verpackung erforderlich. Gefordert waren Gebinde, die die Reliquien gebührend zur
Geltung kommen ließen. Das Kölner Handwerk profitierte davon, indem es Reliquienbüsten und Reliquiare
unterschiedlicher Güte- und Preisklasse herstellte und
verkaufte. Noch heute lassen sich in einer Goldenen
Kammer unzählige, kunstvoll zusammengestellte Knochen in der Kirche St. Ursula in einer Mischung aus
Schaudern und Staunen betrachten. Kalt-psychoanalytisch formuliert lässt sich sagen, dass so in abgetöteter,
kunstvoll drapierter Form das jeck machende Jungfräuliche im Mittelalter zugänglich gemacht wurde.
Maximen des Karnevals zum Ausdruck zu bringen.
Bis heute findet sich die Elf im Karneval immer wieder: vom Elferrat bis zum Datum des Karnevalsbeginns
am 11.11. um 11:11 Uhr.
Im Grundsatz haben die Kölner die Marketing- und
Kommunikations-Strategie des Mittelalters im Karneval von heute erfolgreich fortgesetzt – nur moderner
und freizügiger erzählt: Mit den lustvollen Grenzüberschreitungen des Karnevals werden moderne Feier-Pilger jedes Jahr aufs Neue millionenfach angelockt und
der Köln-Tourismus nach vorne getrieben.
Für Hotels, Gastronomen sowie Musiker, Wagenbauer,
Modedesigner und Einzelhändler leistet die traditionelle
Marke Kölner Karneval einen wertvollen Beitrag zu ihrem Wohlstand. Die jecken Seiten des Menschlichen
ernst zu nehmen und ihnen im Karneval ein Forum zu
geben, bringt Köln nach Schätzungen der Boston Consulting Group jährlich knapp eine halbe Milliarde Umsatz und schafft etwa 5.000 Arbeitsplätze.
Dabei zeigt sich die Marke trotz ihrer Jahre erstaunlich lebendig: Permanent wird um neue Interpretationen und Erscheinungsformen gerungen. Viele innovative Impulse aus Köln, insbesondere aus Kunst und
Musik, hätte es ohne den jecken Karneval sicherlich
nicht gegeben. Und natürlich schimmert die Zahl elf
in einer der bekanntesten Traditionsmarken aus Köln
auch wieder auf: 4711 echt kölnisch Wasser.
Gerne gratuliere ich daher dem Markenverband zu seinem 111-jährigen Bestehen. Hätte der Verband seinen
Sitz in Köln, würde ich auch ein fröhliches »Alaaf«
ausrufen.
Jens Lönnecker
Der Kölner Karneval als Wohlstandsbeitrag
Während das Lustvoll-Jecke in der Ursula-Legende
eher verdeckt mit der Zahl 11 verbunden wurde, stand
die Elf in anderen Kontexten des Mittelalters viel offener für ein Symbol von verbotenen Lüsten und Neigungen. Auch hier ist wiederum ein religiöser Hintergrund zu finden: die biblischen zehn Gebote. Die Zahl
11 wurde zum Symbol der Überschreitung der Anzahl
dieser göttlichen Gebote und damit zum Ausdruck der
Überschreitung und des Sündigen überhaupt. Gerade
dadurch war sie später auch dafür prädestiniert, die
MARKENFÜHRUNG
Jens Lönnecker ist Gründer und
Mitinhaber des Kölner
Marktforschungsinstituts Rheingold, das 1987 unter dem Namen
Grünewald & Lönneker an den Start
ging. Seit 2011 zudem Managing
Partner von Rheingold Salon.