LEBEN Motorrad

Transcrição

LEBEN Motorrad
LEBEN Motorrad-Umbauten
Heiße Phase: Wenn
das rohe Fahrwerk
auf den Rädern
steht, geht die
Bastelei im Detail
erst richtig los
10 2
Leben
3/2014
V
or der Werkstatt steht ein Baum
und unterm Baum steht ein Motorrad, manchmal zwei. Meist
sind das dann Maschinen, die in
der Werkstatt umgebaut wurden oder aus
einer Ansammlung unterschiedlichster
Bauteile zu einem Unikat mutiert sind. So
wie die kleine Suzuki GS 400 E, aus der über
einen langen, strengen Winter eine nette
Mischung aus Scrambler und Racer wurde,
kurz Scracer 402. Weil sich mittlerweile
mehr als ein halbes Dutzend solcher Basteleien angesammelt hat, bleibt kaum noch
Zeit, um mit allen auch zu fahren. Also
kommen sie unter den Baum.
Wo andere Gartenzwerge aufstellen oder
Fischteiche haben, stehen hier eben Motorrad-Skulpturen im Garten. Weshalb
Spezl Tommy jedes neue Winterprojekt mit
dem Spruch kommentiert: „Aha, wieder mal
ein neues Bike zum Untern-Baum-Stellen.“
Bei solchen Macken könnte man sich
ernsthaft Gedanken über seinen Geisteszustand machen, wären da nicht die unzähligen Motorrad-Freaks, die genau derselben
Bastelleidenschaft erlegen sind. Was letztlich dazu führt, dass die Motorradszene mit
unglaublich schönen und pfiffigen Eigenbauten so bunt ist wie nie zuvor.
Nicht nur die Kreationen der bekannten
Edelschrauber, sondern auch jede Menge
private Motorrad-Skulpturen zeugen davon,
dass aktuelle Serienmotorräder zweifelsohne zuverlässig und solide daherkommen,
den Puls aber lange nicht so beschleuni-
REZEPT
FREI
Die Sonne macht
sich dünne, und die
Seele droht unter
dem Grauschleier
zu ersticken. Da ist
Basteln, Tüfteln und
Schrauben, was das
Zeug hält, eine prima Medizin. Sie hilft,
um den Entzug vom
geliebten Krad zu
lindern, und hat beste Nebenwirkungen.
Von Werner Koch
Fotos: Jahn (3), Koch (4)
gen, wie ein raffiniert zurechtgemachtes
Eigenbau-Motorrad. Allerdings darf man
sich nichts vormachen: Herrlich luftige Konstruktionen mit minimalistischer Ausstattung taugen nur bedingt für den Alltag und
schon gar nicht für längere Ausfahrten. So
manche gefeierte Design-Kreation würde
bei einer TÜV-Prüfung sogar die Prüfhallen
nur noch auf dem Transporter verlassen –
sofort stillgelegt.
Auch Tankvolumen, Ergonomie und
Fahrverhalten stehen bei so manchem
Umbau-Künstler ganz unten oder gar
nicht auf dem Zettel. Selbst bei der hochgelobten BMW R 90 S-Studie von Roland
Sands hat der Designer auf den Fahrer keinerlei Rücksicht genommen, Lenker und
Verkleidung in erster Linie nach der Optik
gestaltet. Fragt sich nur: Wollen wir Motorräder zusammenbasteln, die nur unterm
Baum stehen können? Pustekuchen, Motor-
w w w. m otor r ad onl i ne.d e
Leben
103
LEBEN: Motorrad-Umbau
räder müssen fahren. Und zwar gut, schräg,
sicher und zumindest mit einem Hauch von
Komfort. Alles andere ist für die Tonne. Genau dieser Spagat zwischen Nutzwert und
Faszination sollte bei der
Suzuki Scracer 402 bestmöglich gelingen.
Als Basis dient der schier unkaputtbare
dohc-Motor aus der Suzuki GS 400 von
1978. Mit den beiden demonstrativ zur
Schau gestellten Nockenwellen auf dem
großzügig verrippten Zylinderkopf, dem
schlichten Doppelschleifenrahmen und einer schnörkellosen Tank-Sitzbank-Linie gehört die GS 400 zu den letzten Vertretern
klassischer Motorräder. Von der Honda CB
Seven Fifty oder Kawasaki Zephyr-Baureihe
mal abgesehen.
Rohrrahmen, Drahtspeichenräder,
Luftkühlung – die beste Basis für einen
schicken Umbau. Denn eines ist auch klar:
Plumpe, wassergekühlte Motoren mit entsprechend grauseligem Gummischlauchgewürm bringt auch der genialste Künstler
Spanende Angelegenheit: Aus hochfestem Alu­minium
werden Halterungen ­geschnitzt.
Was durchaus auch
mit Säge, Feile
und Bohrständer
möglich ist
10 4
Leben
Das Schöne an solchen Winterprojekten: Man hat keinen
Stress. Weil das eigentliche Gebrauchsmotorrad unter der Pelerine
vor sich hinschlummert und im Frühjahr im Handumdrehen losbrummt, ist der Zeitdruck erträglich. Wann der Eigenbau tatsächlich fertig wird, ist unerheblich, wichtig ist die Lust am Tüfteln und
Basteln. Und das kann sich über Jahre hinziehen. Auch deshalb,
weil so ein Projekt oft erst mittendrin Form annimmt.
Dann werden Ideen wieder verworfen, bereits fertige Teile
landen in der Mülltonne. Weil ein Gedankenblitz die scheinbar geniale Lösung in den Schatten stellt, kann, nein, muss man sich zu
neuen Ideen bekennen. Nichts Beklemmenderes, als ein Projekt
durchzuziehen, von dem man nicht überzeugt ist. Das gilt auch für
den Punkt, an dem man sich in einer Sackgasse festgefahren hat
und für wichtige Details ums Verrecken keine Lösung findet. Der
beste Tipp: Schauen, was und wie’s die anderen machen. Nicht
plump kopieren, aber anstecken lassen, Ideen aufgreifen, umarbeiten, ans eigene Konzept anpassen. Damit die Bastelei von vornherein in eine klare Richtung geht, helfen auch handgezeichnete
­Skizzen oder Fotos von Maschinen, die als Vorbild dienen.
Bei aller Euphorie und Leidenschaft für das eigens erdachte
Motorrad nicht vergessen: Grundfunktion und TÜV-Prüfung. Es
gibt nichts Lästigeres und ist unter Umständen auch noch recht
kostspielig, wenn der fertige Umbau bei TÜV oder DEKRA in Ungnade fällt und die Plakette verweigert wird. Oft sind es nur Lappalien,
wie ein zu schräg angestelltes Kennzeichen, Lichtanlagen mit falschen oder schlecht erkennbaren E-Prüfzeichen oder zu kleine
Rückspiegel. Wenn aber tragende Bauteile wie etwa ein gekürztes
Rahmenheck dem Prüfer ins Auge stechen, wird’s brenzlig. Deshalb
sollte jede Änderung oder Schweißarbeit am Hauptrahmen vorher
mit einem kompetenten Sachverständigen oder einer Fachwerkstatt durchgesprochen werden. Dasselbe gilt auch bei der Verwendung von Bauteilen von anderen Fahrzeugtypen oder Herstellern.
Ein großes Plus, um solche Teile ohne unbezahlbare Festigkeitsgutachten zu legalisieren, ist es, wenn sie nachweislich von Fahrzeugen stammen, die schwerer (Traglast) oder schneller sind als der
Umbau. Ein Umstand, der bei der Suzuki Scracer 402 die Zulassung
wesentlich vereinfacht hat.
Auch bei der ersten Hauptuntersuchung zwei Jahre nach dem
Stapellauf gab’s vom TÜV-Prüfer neben einem netten Kompliment
die Plakette ohne Mängel. Als Stadt- und Kurzstreckenflitzer eingesetzt, stehen inzwischen gut 10 000 Kilometer auf der Uhr – ohne
Ausfall, ohne Defekt. Nur beim Motoröl muss man gelegentlich etwas mehr als üblich nachgießen. Aber sonst, alles paletti.
Feine Sache: Die sandgestrahlten,
polierten oder frisch renovierten
Bauteile liegen zur endgültigen
Montage bereit
nicht in Form, und für schwülstige Aluminium-Brückenrahmen gilt dasselbe.
Der ganz große Vorteil an der alten GS
400: Die Dinger gehen für kleines Geld über
den Tresen und schonen das Budget. Wie
auch ein Blick in die einschlägigen InternetVerkaufsportale zeigt.
Klar, wer ins prall gefüllte Portemonnaie
greifen kann, darf sich gern einen klassischen, aber auch teuren Engländer oder Italiener zur Brust nehmen. Für alle anderen
taugen preisgünstige japanische Youngtimer besser, weil bei guter Pflege oder
gründlicher Restaurierung eine passable
Zuverlässigkeit garantiert ist. Von der meist
gesicherten Ersatzteilversorgung ganz zu
schweigen.
3/2014
Weshalb als Depressionshemmer für
den Winter 2014 schon das nächste Projekt
in allen Einzelteilen zerlegt auf der Werkbank liegt: eine BMW R 80 G/S von 1982. Eigentlich sollte ich nur einen Zweiseiter unter der Rubrik „Kultbike“ abliefern, als bei
der Preisrecherche ein mit schwarzer
Sprühdose übertünchtes Originalmodell
auf dem Schirm aufblitzte.
Wenn weniger
mehr ist: die
minimalistische
Fahrmaschine
Scracer 402
Kalt erwischt: Weil
das nächste Winterprojekt in die
Werkstatt darf,
muss die Scracer
402 ihr Dasein unterm Baum fristen
Anruf und Abholung waren ein Vorgang.
Jetzt muss die Scracer 402 untern Baum und
die G/S darf in die geheizte Bastelbude.
Und wie sieht’s mit euren Winter-Bastel-Umbau-Projekten aus? Schon fertig
oder noch im Rohbau? Egal wie, MOTORRAD möchte sehen, was in den Schuppen
und Kellern der Republik für Schätze
schlummern und bittet alle Bastler, Tüftler
und Denker, ihre Projekte vorzustellen:
Unter dem Stichwort „Mein Eigenbau“ freut
sich die Redaktion auf eure E-Mails mit
Fotos ([email protected], Einsendeschluss: 9. Februar 2014). Mit etwas Glück
lohnt sich das Mitmachen auch ganz handfest: Unter allen Einsendern verlost MOTORRAD ein hochwertiges Werkzeug-Set.*
*Alle eingesandten Beiträge können von MOTORRAD online
oder gedruckt veröffentlicht werden. Barauszahlung des Preises und Rechtsweg sind ausgeschlossen. Mitarbeiter der Motor Presse Stuttgart (Veranstalter) und deren Angehörige dürfen nicht an der Verlosung teilnehmen.
Umbau-Info Scracer 402
R
und 3500 Euro Materialkosten und etwa 150 Arbeitsstunden waren nötig, um aus
zweieinhalb ziemlich ramponierten Suzuki GS 400 (800 Euro)
ein alltagstaugliches und zuverlässiges Motorrad zu basteln.
Während das Rahmenheck geändert wurde, blieb der Hauptrahmen unverändert. Die Aluminium-Schwinge stammt von der
ersten Suzuki GSX-R 750 und
stützt sich ohne Hebeleien über
ein Wilbers-Federbein ab. Auf
die 17-Zoll-Drahtspeichenräder
aus einer Sachs Roadster 800
mit einer 320er-Bremsscheibe
vorn sind Reifen in 110er- und
130er-Breite aufgezogen. Eine
mächtige Sechskolbenzange der
w w w. m otor r ad onl i ne.d e
GSX-R-Baureihe bringt das 163
Kilogramm leichte Motorrad aus
100 nach 39 Metern zum Stehen. Und das, obwohl vorn die
Seriengabel mit nur 33 Millimeter dünnen Standrohren verbaut
ist. Allerdings sind Dämpfung
und Federung optimiert. Der Serientank ist leicht umgebaut,
Sitzbank wie auch vorderes
Schutzblech aus zwei Millimeter
Aluminiumblech sind
selbst gedengelt.
Leichter, 34 PS
starker Stadtund Kurzstrecken-Flitzer
im klassischen
Scrambler-Look
der 1970er-Jahre
Leben
105