NZZ, 24. April 2011 - Neue Zürcher Zeitung
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NZZ, 24. April 2011 - Neue Zürcher Zeitung
Nr. 4 | 24. April 2011 Bascha Mika Die Feigheit der Frauen | Gerhard Roth Orkus | Jan Karski Mein Bericht an die Welt | Christoph Blocher über «Der Schweizerkönig» | Hannelore Schlaffer Interview über die intellektuelle Ehe | Neue Bücher zum Thema Die Welt nach 9/11 | Weitere Rezensionen zu Jonathan Littell, Milan Kundera, Eleonore Frey und anderen | Charles Lewinsky Zitatenlese Endlich Frühling! Auch als Hörbuch Marie Ndiaye Selbstporträt in Grün Auch als Hörbuch Paulo Coelho Carlos Ruiz Zafón CHF 29.90 CHF 29.90 Schutzengel Marina Auch als Hörbuch Siri Hustvedt Der Sommer ohne Männer CHF 27.90 CHF 29.90 <wm>10CAsNsjY0MDAx1TU0MrY0MwQAxwS2lg8AAAA=</wm> <wm>10CEXKIQ6AMAwF0BOx_N-tG6WSzBEEwdcQNIrzEzCI596yuCZ85r7ufXMCRQdKtkpX0ySt-iiSUJqjoAnICVWNJs3833FLgFYzcjDIN8cbwXQd5wMbY71rawAAAA==</wm> Schöne Aussichten – mit den Frühlings-Highlights von buch.ch. Ganz bequem online bestellt – schnell 15 Jahre und zuverlässig geliefert. Auf Wunsch auch mit kostenlosem Geschenkservice. www.buch.ch www.buch.ch David Baldacci Die Jäger CHF 29.90 Inhalt Wer kennt heute noch Mary Lavater-Sloman? «Um der Langeweile zu entgehen», hatte Mary Lavater-Sloman (1891– 1980) begonnen, Bücher zu schreiben. Die Hamburger Reederstochter, die mit Sulzer-Ingenieur Emil Lavater verheiratet und Mutter von vier Kindern war, wurde nach Aufenthalten in Moskau, Athen und Ascona zur preisgekrönten Schweizer Meisterin der Romanbiografie. Einer literarisch umstrittenen, aber äusserst erfolgreichen Gattung zwischen Sachbuch und Belletristik. Lavater-Sloman verfasste 30 Werke über Berühmtheiten wie Jeanne d’Arc, Lucrezia Borgia, Pestalozzi, Katharina die Grosse und Richard Löwenherz. Hinreissend erzählte, detailreiche Lebensgeschichten. Heute, wo sich die Schweiz wieder mal mit ihren Nachbarn arrangieren muss, gibt der Römerhof Verlag Slomans Porträt des legendären Basler Bürgermeisters Johann Rudolf Wettstein (1594– 1666) neu heraus. Christoph Blocher hat für uns die Vita des Politikers gelesen und kommentiert, der die Unabhängigkeit der Schweiz im Westfälischen Frieden geschickt verteidigt hat (Seite 23). Zu einem heftigen Streit in der Frauenbewegung hat das Buch von Bascha Mika, Ex-Chefredaktorin der «taz», geführt. Mit ihren Thesen zur «Feigheit der Frauen» setzt sich die feministische Linguistin Luise F. Pusch auseinander (S. 18). Und Komiker Mike Müller, der sich als Thriller-Fan outet, setzt zu einem Lob auf den Krimi «Clockers» von Richard Price an (S. 6). Wir wünschen viel Vergnügen. Urs Rauber Nr. 4 | 24. April 2011 Bascha Mika Die Feigheit der Frauen | Gerhard Roth Orkus | Jan Karski Mein Bericht an die Welt | Mary Lavater-Sloman Der Schweizerkönig | Hannelore Schlaffer Interview über die intellektuelle Ehe | Neue Bücher zum Thema Die Welt nach 9/11 | Weitere Rezensionen zu Jonathan Littell, Milan Kundera, Eleonore Frey und anderen | Charles Lewinsky Zitatenlese BaschaMika (Seite18). Illustrationvon AndréCarrilho ErichSchmid:InSpaniengekämpft,in Russlandgescheitert 18 BaschaMika:DieFeigheitderFrauen Von Luise F. Pusch R.JamesBreiding,GerhardSchwarz: WirtschaftswunderSchweiz Von Beat Kappeler 19FransdeWaal:DasPrinzipEmpathie DanielaSchwegler,SusannBosshard-Kälin: UnterderHaube 20 FritzStern,JürgenOsterhammel:Moderne Historiker AllanGuggenbühl:WasistmitunserenJungs los? 21 YanickLahens:Undplötzlichtutsichder Bodenauf Von Urs Rauber 22 RüdigerSchaper:DieOdysseedesFälschers Belletristik KurzkritikenSachbuch 4 GerhardRoth:Orkus Von Angelika Overath 6 RichardPrice:Clockers 15LuiseF.Pusch:DeutschaufVorderfrau Von Mike Müller 7 JonathanLittell:Berichtübernichts Von David Signer WolfgangScheppe:Sight-Seeing 8 EleonoreFrey:AusderLuftgegriffen Von Gerhard Mack Von Sandra Leis MilanKundera:EineBegegnung Von Stefana Sabin 9 JanKarski:MeinBerichtandieWelt YannickHaenel:DasSchweigendesJ.Karski DerKarski-Bericht Von Sieglinde Geisel 10 MichailSchischkin:Venushaar Von Ralph Dutli 11 EmmanuellePagano:BübischeHände Von Geneviève Lüscher Von Urs Rauber Von Thomas Köster Von Kathrin Meier-Rust Von Urs Bitterli Von Kathrin Meier-Rust Sachbuch 16 BerndGreiner:9/11 MichaelButteru.a.:9/11–KeinTag,derdie Weltveränderte Von Dieter Ruloff Von Fritz Trümpi ClaudiaWeiss:DasReichderZaren.Aufstieg undUntergang Von Geneviève Lüscher 23 MaryLavater-Sloman:DerSchweizerkönig JohannRudolfWettstein Von Christoph Blocher 24 PhilippBlom:BösePhilosophen Von Monika Burri Von Kirsten Voigt KurzkritikenBelletristik 11 LindaStift:KeineinzigerTag 25 GeorgeG.Szpiro:DieKeplerscheVermutung GeorgeG.Szpiro:DieverflixteMathematik derDemokratie Von Regula Freuler PeggyMädler:LegendevomGlück Von Regula Freuler Von André Behr FranzHessel:SpaziereninBerlin 26 MichaelZick:DierätselhaftenVorfahrender Inka Von Manfred Papst CarminaBurana Von Manfred Papst Interview TIM BRAKEMAIER / EPA 12 HanneloreSchlaffer,Germanistin «Die Frau ist immer das, was jammert» Von Regula Freuler Kolumne 15 CharlesLewinsky Das Zitat von Ludwig Marcuse MarcelHänggi:Ausgepowert Von Patrick Imhasly MitseinerneuenErzählung«Berichtübernichts»führt JonathanLittellwiederumineinMinenfeld. Von Geneviève Lüscher DasamerikanischeBuch RebeccaSkloot:TheLifeofHenriettaLacks Von Andreas Mink Agenda 27 JerryHall:MeinLebeninBildern Von Manfred Papst BestsellerApril2011 Belletristik und Sachbuch AgendaMai2011 Veranstaltungshinweise Chefredaktion Felix E. Müller (fem.) RedaktionUrs Rauber (ura.) (Leitung), Regula Freuler (ruf.), Geneviève Lüscher (glü.), Kathrin Meier-Rust (kmr.), Manfred Papst (pap.) StändigeMitarbeitUrs Altermatt, Urs Bitterli, Andreas Isenschmid, Manfred Koch, Gunhild Kübler, Charles Lewinsky, Beatrix Mesmer, Andreas Mink, Klara Obermüller, Angelika Overath, Stefan ZweifelProduktionEveline Roth, Hans Peter Hösli (Art-Director), Urs Schilliger (Bildredaktion), Felix Eberlein (Layout), Korrektorat St. Galler Tagblatt AG AdresseNZZ am Sonntag, «Bücher am Sonntag», Postfach, 8021 Zürich. Telefon 044 258 11 11, Fax 044 261 70 70, E-Mail: [email protected] 24. April 2011 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 3 Belletristik Roman Der österreichische Erzähler Gerhard Roth vollendet seinen zweiten grossen Romanzyklus «Im Unglück sehe ich das eigentliche Leben» Gerhard Roth: Orkus. Reise zu den Toten. S. Fischer, Frankfurt a. M. 2011. 668 Seiten, Fr. 37.90. Von Angelika Overath Am Anfang war der Verlust des Leids: «Ich war dreissig Jahre alt, als ich entdeckte, dass mein Leben eintönig und flach geworden war. Es wies nicht mehr die Dichte, den Schrecken, die Verzweiflung auf wie in meinen früheren Jahren, die ich fast vergessen hatte.» Geblieben waren einzig Erinnerungen aus «trüben Wolkenbildern», Wörtern, die im Dunst ihrer Höfe nach ihren wahren Geschichten suchten: «Blutflecken auf zerfleddertem Verbandsmull, aus Mauern, von denen Verputz abbröckelt, Fischschuppen, Kanälen voll Scheisse, Hühnerfedern, Tintenklecksen, gelben Bleistiften, entzündetem Zahnfleisch, Stille nach der Angst, erfundenen Ameisen, rostiger Luft, blühenden Briefmarken, aus bleichen Spermien, Erbrochenem, den Träumen von Embryos, gehäkelten Hakenkreuzen (. . .).» Gerhard Roth kündigte die bürgerliche Existenz auf und Gerhard Roth Geboren 1942 in Graz, Sohn eines Arztes und einer Krankenschwester, studierte Gerhard Roth Medizin mit dem Wunsch, Psychiater zu werden. Nach Abbruch des Studiums arbeitete er zehn Jahre als Programmierer in einem Grazer Rechenzentrum. Seit 1976 ist er freier Schriftsteller. Gerhard Roth hat Romane, Erzählungen, Dramen, Essays, Hörspiele und Drehbücher (zum Teil nach eigener Prosa) geschrieben. Er war Mitglied der Grazer Autorenversammlung und lebt heute abwechselnd in Wien und in der Steiermark. 4 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 24. April 2011 wurde freier Schriftsteller. Heute sieht er auf ein gigantisches Werk zurück. Im Kern stehen zwei monumentale Wahrnehmungs- und Schreibzyklen. Nach «Die Archive des Schweigens» (sieben Bücher, veröffentlicht zwischen 1980 und 1991) ist nun mit «Orkus» der Schlussstein eines gleichnamigen zweiten Zyklus (acht Bücher, erschienen zwischen 1995 und 2011) herausgekommen. An der Grenze der Realität «Orkus» ist das Existenz-Credo eines schreib- und lesebesessenen Autors. Die stoffüppige, barocke Auseinandersetzung mit einem Schriftstellerleben in Österreich folgt einem alten Kinderinstinkt, der «Neugierde auf das Unglück». Denn: «Im Unglück sehe ich das eigentliche Leben. Ich durchforschte schon in meiner Jugend die Biografien von Malern und Dichtern, Komponisten und Philosophen nach Unglücksfällen, las später bereits aus Gewohnheit zuerst die Abschnitte über deren Krankheiten und Tod, und je mehr sie gelitten hatten, desto wahrhaftiger erschienen mir nachträglich ihre Existenz und ihre Kunst.» Die früh gelesenen Lebensbeschreibungen seien ihm so etwas wie seine «Identitätsausweise» geworden; sein Ich, das er damals war, sei «hingegen verschwunden». Lesen (und Schreiben vom Lesen) ist Urbarmachung von Lebenswelt. Roth arbeitet haarscharf an der Grenze von Realität und Fiktion, diesem Koordinatensystem der Kunst, das wiederum in die Realität zurückkippen kann. Oder anders gesagt: Seine Texte atmen die Durchlässigkeit von Wahn (Traum, Erfindung, Anarchie, Obsession) und Wirklichkeit (Normalität, Oberfläche, Ordnung). Solches Fluktuieren zwischen realen und irrealen Wahrnehmungsmöglichkeiten gibt seinem Schreiben einen existenziellen Sog. Kunst ist konkurrierende Parallelwelt. Einer seiner Zentralbegriffe ist das Unbewusste. Es öffnet Paradies und Hölle zugleich. Es manifestiert sich in entgrenzenden Akten des Verbrechens, in Geisteskrankheit und Kunst. Wo aber, wenn nicht im freudgetränkten Wien, wäre das Unbewusste zu Hause? Und wann, wenn nicht in der Erfahrungsgegenwart des bis in die Jetztzeit hineinwirkenden Nationalsozialismus, wäre diese Höllenfahrt in die verdrängte Historie notwendig? Die «Reise zu den Toten» ist ein von Dante inspirierter Abstieg in die eigene Schreibexistenz auf der Folie österreichischer Zeitgeschichte zwischen Psychoanalyse und KZ Mauthausen. Was ist der Mensch? Wozu ist er fähig? Wie leicht kann Normalität unter dem Seidenpapiergeraschel der Konvention aufbrechen in tiefes Grauen? Roth wagt die Expedition zu denen, die gelebt haben. Als könnten Spuren vergangenen Daseins das Rätsel des widersprüchlich Humanen lösen. Warum schlagen und stechen zwei stellenlose Jugendliche auf eine Klavierlehrerin ein? Sie haben ihr, damit sie endlich aufhört zu röcheln, noch die Kehle durchgeschnitten, nun rauchen sie neben der bluttropfenden toten Frau auf dem Sofa. Glaubt man den Akten, wissen die Buben selber nicht, was in sie gefahren ist. Roths Ton bleibt kühl, gerade da, wo das Erzählte brutal ist. Oft schickt er Freunde vor (Juristen, Museumsführer, Journalisten, Ärzte, Kranke), die für ihn die Geschichten erzählen, die er vermitteln möchte. Und am Ende sind all diese Vertrauten Facetten des einen AutorenIchs, das über fremde Stimmen professionellen Abstand gewinnt («Ich bin Ascher, ich bin Jenner, ich bin Lindner. Ich bin der Schriftsteller»). Roth streift die abseitigen Orte, Krankenhäuser, Seziersäle, ein Kriminalmuseum, Gerichtssäle. Es gibt einen wunderbaren Besuch im Wiener Fundbüro ten.) Anrührend ein Besuch bei Kenzaburo Oe, dem japanischen Schriftstellerkollegen, der über Dante und sein eigenes, hochbegabtes geistig behindertes Kind Hikari spricht. Und dann sitzt Hikari kurz am Computerklavier, versteckt sich «Schutz suchend halb hinter seiner Mutter, von wo aus er uns stumm und neugierig beobachtete». PHILIPP HORAK / ANZENBERGER Ins Epizentrum des Ich mit Helmut Qualtinger oder ein belauschtes Gespräch zwischen dem FAZKorrespondenten Andreas Graf Razumovsky (der sich heimlich Insulin spritzt, bevor er Grünen Veltliner bestellt) und einem über die Wiener Häme wutschäumenden Thomas Bernhard im Café Bräunerhof. Faszinierende Porträts Formal ist in diesem grossen romanhaften Essay Unterschiedlichstes möglich: ein Traum aus dem Uterus, Schreibspiele mit Anklängen an verstorbene Kollegen («Im Innern ist es März. Die Uhren ticken ‹Anna Blume›») sind ebenso plausibel wie lakonische Referate aus Kriminalakten, Hinweise auf Lieblings- filme oder Bücher oder reportagehafte Alltagsszenen. Der Zusammenhang der einzelnen Passagen ist locker, Assoziationen folgend. Immer wieder sind wunderbare Porträtstudien eingeflochten. So etwa ein Besuch beim jugendlichgreisen Simon Wiesenthal, der, dem Tod in verschiedenen KZs entkommen, nach dem Krieg als Überlebender das «Dokumentationszentrum Jüdischer Verfolgter des Nazi-Regimes» gegründet hat. Ihm ist die Aufspürung von Adolf Eichmann zu verdanken und ebenfalls die Verhaftung von Karl Silberbauer, der 1944 die damals vierzehnjährige Anne Frank festgenommen hatte. (Bis 1963 konnte Silberbauer als Kriminalrayonsinspektor bei der Wiener Polizei arbei- Schreiben über Grenzerfahrungen: Gerhard Roth vor dem «Haus der Künstler» in der psychiatrischen Klinik Gugging (Österreich), im Juni 2004. Roth referiert Expeditionsberichte und psychoanalytische Literatur. Zu Grenzerfahrungen gehört auch ein Kapitel der grossen Alkohol-Fahrt ins Epizentrum des Ich, jenem Fegefeuer der Waghalsigen: «Das bürgerliche Graz ist ein sogenanntes hartes Pflaster für Künstler. Es starben Gunter Falk mit 41 Jahren an einer Lungenentzündung, Werner Schwab mit 36 Jahren an einem Herzstillstand und Franz Innerhofer mit 58 Jahren durch Selbstmord. Die wahre Todesursache aber war bei allen der Alkoholismus.» In rauschhaft-irren Aufzeichnungen von Sonnenberg (dem ehemaligen Schulfreund, späteren Untersuchungsrichter, der am Leben wahnsinnig wird, bevor er durch einen Autounfall stirbt) endet die Reise zu den Toten im Florenz der Bilder: «Ich bin Sprache, ich bin Wörter, ich bin die nächste Seite. Ich bin nicht wirklich im Palazzo Vecchio, sondern ich befinde mich in einem Buch, als Name, als Wörter, als Sätze, als Sprechen. Ich werde gelesen.» «Orkus» schliesst mit der Kadenz: «Der Stille Ozean». Das ist zum einen der Name für das tiefste Meer der Erde, zum andern eine Bezeichnung für das von Leo Navratil initiierte «Haus der Künstler» im psychiatrischen «Landessonderkrankenhaus» Gugging. Und es ist der Titel des ersten Kapitels, mit dem «Die Archive des Schweigens» begannen. Ein rückhaltloser Erinnerungskreis der Seelenarbeit von über zwanzig Jahren schliesst sich. l 24. April 2011 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 5 Belletristik Krimi Nach dem Erfolg von «Cash» liegt nun der 16 Jahre ältere Roman des Erzählers Richard Price auf Deutsch vor Mord im Schnellimbiss Richard Price: Clockers. Aus dem Amerikanischen von Peter Torberg. S. Fischer, Frankfurt am Main 2011. 800 Seiten, Fr. 24.90. Ein einziger Vorbehalt sei erlaubt, bevor hier zum Loblied angesetzt wird: Prices grosser New-York-Roman, der letzten Sommer unter dem Titel «Cash» auf Deutsch erschien, ist vielschichtiger, moderner, nervöser und verstörender als «Clockers». Man merkt den beiden Büchern die sechzehn Jahre Unterschied an. Doch wahrscheinlich ist es einerlei, welches Buch man zuerst liest, man erliegt dem Autor sowieso. 1992 erschien «Clockers» erstmals unter dem Titel «Söhne der Nacht» auf Deutsch. Warum haben wir im deutschsprachigen Raum so tolle Übersetzer, wenn deren Arbeit von Verlagszuchthäuslern mit einer billigen Titelübersetzung zunichte gemacht wird? Der S. Fischer Verlag jedenfalls hat es nun glücklicherweise beim Original «Clockers» belassen. Clockers sind Strassenhändler für kleine Kokainportionen. «Clockers» gilt als Vorlage für die Kultserie «The Wire», und dass das Buch erst jetzt erneut auf Deutsch erschienen ist, dürfte auch am gleichnamigen Film von Spike Lee liegen. Das Drehbuch wurde zwar für den Oscar nominiert, der Film aber bleibt ein unentschiedenes Werk. Er ist so verunglückt, dass er den durch die Lektüre entstandenen Bildern im Kopf nichts anhaben kann. Der Roman ist zu gross für einen Kinofilm und beansprucht den Rahmen einer aufwendig produzierten Serie. Ungeklärter Mord Wo es um Kriminalfälle geht, gibt es zwei Pole: Strafverfolgung und Gesetzlosigkeit, Cop und Dealer, Gut und Böse. Das ist in «Clockers» nicht anders, doch Price bewegt sich meist am Äquator und lässt dann noch die Magnetfelder wandern. Er erklärt einem die Welt, am Schluss glaubt man alle und alles zu verstehen, bloss jenes Phänomen nicht, um welches sich das Buch dreht: den Mord an einem Schichtleiter in einem Schnellimbiss. Das schiere Nicht-verstehenKönnen der Gewalt lässt einem 45-jährigen Cop keine Ruhe, obwohl dieser kurz vor der Pensionierung steht und sich mit junger Frau, kleinem Kind und Loft in Manhattan ein wenig Gelassenheit leisten könnte. Das ist natürlich die Gelassenheit des Lesers, auf den der schlaue Hund von Schriftsteller die Mission des Cops überträgt. Price ist gewissermassen selber ein Kilodealer, denn wer das 950 Gramm schwere Buch zu lesen beginnt, wird süchtig und bedauert die Ankunft auf Seite 799. Das Motiv des Nicht-verste6 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 24. April 2011 CINETEXT Von Mike Müller «Clockers» von Richard Price wurde 1995 von Spike Lee verfilmt; Szene mit Harvey Keitel (links) und Mekhi Phifer. hen-Könnens, weil es eben nichts zu verstehen gibt, kennt man schon aus «Cash», und Price lässt nicht locker. Er liefert für den Gipfel der Gewalt weder einen soziologischen, ökonomischen oder psychologischen Verständnisrahmen. Für die vier tödlichen Schüsse gibt es keine schlüssige Erklärung. «Clockers» spielt beinahe in New York City. Dempsy ist nicht die gentrifizierte Lower East Side in Manhattan, nicht Brooklyn, nicht Queens, sondern das als spiessig verschriene ganz andere Ufer der grossen Stadt, da, wo man als Tourist eigentlich nicht hinkommt, ausser man muss zum Flughafen Newark. Dempsy liegt in New Jersey und ist lower als die Lower East Side. Es ist eine Welt der Süssigkeiten-Shops, Bars, Ladentheken, Schnellimbisse, Autofahrten, Parkbänke, Polizeibüros und Countygefängnisse. Es ist die Welt der Ampullendealer, Unzendealer, Kilodealer, der Polizeiabteilungen Mord, Betäubungsmittel und Quartierstreife. Man blickt in die Wohnungen von Rentnern, Behinderten, fleissigen Müttern und verwahrlosten Jungmüttern, der Strassenbuben, die zu bösen Buben werden oder zu hoffnungslosen, fleissigen Mehrfachjobbern, die aber auch nicht aus dem Schneider kommen. Der Tremor um das Gelingen der eigenen Biografie versetzt alle Beteiligten in Unrast, Gemütlichkeit findet sich hier nirgends. Selbst den übelsten Grossdealer, jenen, der verschiedene Crews am Laufen hat, jenen, der junge Clockers nachzieht, lässt Price als «motivational speaker» aufglühen, wenn der Inbegriff des Bad Guy seinem schwarzen Nach- wuchs die Notwendigkeit eines Sparbüchleins einpaukt, damit sie frisches Drogengeld nicht gleich in Goldketten und Sneakers verpulvern. Vom Stoff selber halten sich ohnehin alle fern, da ist nichts mit szeniger Verklärung einer rauschhaften Bohème. Einzig gesoffen wird in «Clockers», aber nur bei den Cops. Sie saufen zum Teil bis zum Umfallen, und das machen sie gegen Ende einer Schicht oder bevor sie an einem Tatort mit Toten erscheinen. Sie saufen auch mit einem Schauspieler, der sie zu Recherchezwecken bei der Arbeit begleitet. Das ist vielleicht die einzig lächerliche Figur in diesem Buch, jene also, die mit Fiktion zu tun hat. Recherchieren vor Ort Möglich ist auch, dass Price sich da selber auf die Schippe nimmt, weil es zum amerikanischen Selbstverständnis des Schriftstellers gehört, vor Ort zu recherchieren. Price soll viele Nächte bei den New Yorker Cops zugebracht haben, was ihm den Ruf eines realitätsnahen Dialogschreibers eingebracht hat. Doch wie überprüft man das, zumal als deutschsprachiger Leser, mit schweizerischem Hintergrund und relativ wenig Kontakt mit der hiesigen Polizei? Wie verzwackt die Aufgabe eines Fahnders der Mordkommission sein kann (Homicide Cop klingt knackiger, aber lassen wir das), lässt sich wohl nur in der Fiktion realisieren. Als Schauspieler jedenfalls ist man damit besser bedient. ● Mike Müller ist Schauspieler und tritt in der Late Night Show «Giacobbo/Müller» am Schweizer Fernsehen auf. Erzählung Auch in Jonathan Littells neuem Werk geht ein Mann gleichgültig durchs Leben Neugierig auf alles, aber interesselos seiner Spiegelung findet er sich in jedem dunklen Fenster, sogar in den Augen seines Gegenübers wieder. Die Unterscheidung zwischen Vorstellungen und Realität ist nur schwach ausgebildet. Es gibt einen «Freund», aber einen Namen oder irgendwelche individuellen Züge trägt er nicht. Littell hat Bataille, Blanchot und de Sade übersetzt; diese Autoren geistern auch durch den «Bericht». Zu echten, realen Grenzüberschreitungen kommt es allerdings nicht. Alles bleibt diffus; Blut fliesst lediglich bei einer Corrida. Aber auch dort ist der Zuschauer vor allem fasziniert von der Gleichgültigkeit des Matadors seiner eigenen Verletzung gegenüber. Und als der Stier schliesslich zusammenbricht, stolziert der Mann davon, ohne sich umzudrehen. Vielleicht ist Littells neuer Protagonist die Jonathan Littell: Bericht über nichts. Aus dem Französischen von Hainer Kober. Matthes & Seitz, Berlin 2011. 112 Seiten, Fr. 19.90. Von David Signer Tirol Tourismus und Heimatgefühl MONIKA HÖFLER Vor fünf Jahren publizierte Jonathan Littell «Die Wohlgesinnten», Erinnerungen an den Zweiten Weltkrieg aus der Sicht des fiktiven SS-Offiziers Maximilian Aue. Das Werk polarisierte. Einerseits erhielt es in Frankreich die höchsten Preise, andererseits war von Kitsch und Trivialität die Rede. «Die Zeit» brachte die Vorbehalte auf den Punkt, indem sie fragte: «Wozu, bitte schön, brauchen wir einen nationalsozialistischen Helden?» Dann erschienen Erzählungen, die Littell schon vor den «Wohlgesinnten» geschrieben hatte, als er für die humanitäre Organisation «Aktion gegen den Hunger» in Krisengebieten unterwegs gewesen war, ein Essay über Faschismus und zwei grosse Reportagen über Tschetschenien beziehungsweise Georgien. Nun meldet sich Littell zum ersten Mal mit einem neuen literarischen Text zurück, «Bericht über nichts». Das Buch unterscheidet sich fundamental von seinem Vorgänger; in gewisser – beunruhigender – Weise jedoch nicht. «Die Wohlgesinnten» umfasste 1400 Seiten; «Bericht über nichts» rund 100. Während ersteres geografisch und historisch genau verortet war, bleibt im neuen Text alles schwebend. Er spielt in einem vage südeuropäischen Ambiente; der Ich-Erzähler liegt auf einer Matte, schaut sich einen Pornofilm an, flirtet an einer Party mit einer koksenden Russin, besucht einen Stierkampf und ein Freibad. Die Atmosphäre ist flirrend, deliriös, unfassbar. Sie hat definitiv nichts Soldatisches, und trotzdem werden wir immer wieder an den unsäglichen Maximilian Aue mit seinen kalten Obsessionen erinnert. Nicht nur, wenn der neue, namenlose Ich-Erzähler Frauenkleider anprobiert, sondern generell durch seine losgelöste, gleichgültige Art, durchs Leben zu gehen wie durch einen Film. So sei er eben, schreibt er einmal: «Neugierig auf alles, aber an nichts interessiert.» Das Schreckliche an «Die Wohlgesinnten» war ja, dass man sich durchaus in den Protagonisten einfühlen, ja sich sogar mit ihm identifizieren konnte. Man konnte – sofern man sich darauf einliess – etwas über den eigenen, potenziellen Faschismus lernen. Natürlich fragte man sich gelegentlich, was eigentlich Littell selbst mit Aue verband, insbesondere da der Autor gelegentlich in Interviews Ideen ausführte, die auch von Aue selbst hätten stammen können. In «Bericht über nichts» haben wir es nun gewissermassen mit der BohémienVersion des Nihilisten im beginnenden 21. Jahrhundert zu tun. Fasziniert von abschreckende Version des postmodernen, «flexiblen» Menschen, immer dabei, aber nie ganz. Einmal ist von «grossen Kerlen» die Rede: «Ich hatte andere wie sie gekannt, früher, im Osten, während blutiger Kriege, die Festen glichen, ich hatte mit ihnen gelacht und getrunken, während sie sich gegenseitig umbrachten, hatte mir aber immer meinen Freiraum bewahrt.» Das könnte eine Reminiszenz an Aue im Zweiten Weltkrieg sein wie auch an Jonathan Littell selbst während seiner humanitären Einsätze in Tschetschenien. Der ganze Abgrund liegt im Wort «Freiraum», das im einen Falle Gleichgültigkeit, im anderen Fall Abgrenzung bedeuten kann. «Bericht über nichts» ist voll solcher versteckter Minen. Aber Littell liebt bekanntlich das Spiel mit dem Feuer. ● Carina steht mit ihrer Schwester an einer Tankstelle. Sie ist stolz auf ihre Tracht und wollte in ihr porträtiert werden. Die Fotografin hatte dagegen Angst, das könnte klischeehaft wirken. Kennengelernt haben sich die beiden Frauen bei einem Schützenfest in Sankt Jakob in Osttirol. Monika Höfler ist Reisefotografin für grosse Magazine in Europa und den USA. «Ich mag das Ursprüngliche», sagt sie. In den Osttiroler Tälern faszinierte sie die Spannung zwischen den vielen Bräuchen und unserer traditionsfremden Gegenwart. «Ich mochte die Tracht sehr gern, aber ich hatte Angst, dass es kitschig werden könnte», erzählt sie. Die Tankstelle war eine perfekte Umgebung: «gebrochen und doch ganz natürlich». Die Bilder, die Wolfgang Scheppe in seinem neuesten Band versammelt, zeigen Szenen einer scheinbar heilen Lebenswelt, die wir aus mehr oder weniger erholsamen Ferien kennen. Zusammen mit der Tirol-Werbung lancierte der Bildtheoretiker und Architekturhistoriker ein Projekt, in dem sieben Reisefotografen die Bildwelt der Tourismus-Werbung und die Bilder-Codes der zeitgenössischen Fotografie reflektierten. Herausgekommen ist ein subtiles Porträt einer angeblich sattsam bekannten Region. Gerhard Mack Wolfgang Scheppe (Hrsg.): Sight-Seeing. Bildwürdigkeit und Sehenswürdigkeit. Hatje Cantz, Ostfildern 2011. 192 Seiten, 188 Abb., Fr. 49.90. 24. April 2011 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 7 Belletristik Roman Eleonore Frey legt einen Mix aus Märchen und Poetologie vor Schlimmer als ein Hundeleben Droschl, Graz 2011. 168 Seiten, Fr. 30.50. Von Sandra Leis Nicht haftbar sind Autorinnen und Autoren für Gestaltung und Annoncierung eines Buches. Das ist Aufgabe des Verlages. Droschl, Eleonore Freys publizistische Adresse in Graz, ist diesbezüglich bislang nicht negativ aufgefallen. Jetzt aber tut Droschl es, denn viel zu explizit sind Buchumschlag und Werbetext: Ein hellblauer, wolkenbehangener Himmel kündet vom Herkunftsort der Hauptfigur; der Text auf dem Buchrücken («Eine vom Himmel gefallene Heldin – in einem Roman mit doppeltem Boden!») winkt mit dem Zaunpfahl und ruft der Leserschaft zu: Schaut her, das ist Literatur! Und wenn die Heldin zu allem Übel auch noch Helen Schnee heisst (das allerdings geht aufs Konto der Autorin Eleonore Frey), so klingt das mehr nach Wille zur Kunst als nach literarischer Qualität. Trotz diesen misslichen Voraussetzungen, die Grundidee des Romans «Aus der Luft gegriffen» ist bestechend: Was geschieht mit einem Engel, wenn er plötzlich aus dem Himmel stürzt und sich hienieden einleben muss? Der Engel namens Helen Schnee landet am 17. November 2009 als vierzigjährige, weisshaarige Frau auf einer grünen Wiese. Helen Schnee sucht Arbeit und kommt in einem dubiosen Büro für telefonische Seelsorge mit dem klingenden Namen «Das offene Ohr» unter. Sie braucht ein Dach über dem Kopf und zieht schliesslich in einen Wohnwa- gen auf einem Hof, wo der Bauer Albert mit zwei Mägden einen Ménage à trois führt und obendrein Ausschau hält nach seiner neuen Mieterin. Die aber sucht keinen Mann, sondern einen Lebenslauf, ohne den ihr jegliche Existenzberechtigung fehlt. Nach nur drei Tagen bricht Helen Schnee das Experiment ab und kehrt zurück in ihre luftigen Gefilde. Ihr Fazit: «Ein Hundeleben (. . .) oder noch schlimmer, wenn man bedenkt, dass es Alberts Hund doch ganz gut geht, wo ihn weder die Einwohnerkontrolle belästigt noch die Polizei, und eine mehr oder weniger kriminelle Chefin hat er auch nicht.» Aussenseiter und Randständige bekommen dank Eleonore Frey immer wieder eine literarische Stimme. Erinnert sei etwa an Hans und sein existenzielles Anderssein aus dem glasklaren, an keiner Stelle verschwurbelten Buch «Muster aus Hans. Ein Bericht» (2009), mit dem die Autorin auf die Shortlist des Schweizer Buchpreises gelangte. Im Roman «Aus der Luft gegriffen» will die 71-jährige Zürcher Schriftstellerin und Literaturwissenschafterin zweierlei: Zum einen erzählt sie ein modernes Märchen einer Luft-Frau, die während dreier Tage versucht, festen Boden unter den Füssen zu gewinnen. Zum andern liefert die Autorin einen Einblick in die eigene Werkstatt und zeigt, wie sie ihre Figuren findet, woher ihre Einfälle kommen und wie sie zu Literatur formt, was sie inspiriert. Kurz: Sie versucht sich an einer erzählten Poetologie, und das geht gründlich schief. Denn das meiste ist schlicht nicht von öffentlichem Interesse und obendrein enorm betulich formuliert. Die Zürcher Erzählerin und Literaturwissenschafterin Eleonore Frey beschreibt die Entstehung ihres Romans. LUKAS LEHMANN / KEYSTONE Eleonore Frey: Aus der Luft gegriffen. Die Autorin heftet sich ihren Figuren an die Fersen und schreibt beispielsweise: «Ich frage mich, ob es nicht ergiebiger wäre, Harry Hotz [einem Bettler] nachzugehen, als auf Helen Schnee zu beharren. Da sich aber Letzteres noch im Sitzen erledigen lässt und somit weniger Anstrengung kostet, bleibe ich bei Helen Schnee.» Auch der Schnee wird Frey sprachlich zum Verhängnis: Sie mag auf kein noch so abgegriffenes Bild oder Mätzchen verzichten – Helen Schnee ist «in die Welt geschneit», die Chefin hilft sich mit einer Prise Kokain über die Runden, denn gemäss homöopathischem Prinzip gibt es gegen Helen Schnee kein besseres Mittel als den Schnee, den man schnupft. Und natürlich ist Helen Schnee bereits an ihrem zweiten Tag auf Erden «Schnee von gestern». Am Ende vermögen weder Luftmensch-Märchen noch Poetologie zu überzeugen. Zu stark kommen sich die Schriftstellerin und die Literaturwissenschafterin in die Quere. Schade, denn dass Eleonore Frey auch anders kann, steht ausser Frage. ● Roman Milan Kundera sinniert über grosse Meister von Literatur, Kunst und Musik Reflexionen über die Rolle des Schriftstellers Milan Kundera: Eine Begegnung. Aus dem Französischen von Uli Aumüller. Hanser, München 2011. 205 S., Fr. 28.90. Von Stefana Sabin Nach der «Kunst des Romans» (1986, dt. 2007), nach den «Verratenen Vermächtnissen» (1993, dt. 1994) und nach dem «Vorhang» (2005) stellt Milan Kundera Aufsätze aus den vergangenen Jahrzehnten zusammen. Es handele sich, wie er in einer mottoartigen Notiz erklärt, um eine «Begegnung alter (existentieller und ästhetischer) Themen mit alten Lieben (Rabelais, Janácek, Fellini, Malaparte . . .)». So reichert Kundera Erinnerungen an Begegnungen mit Dichtern und 8 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 24. April 2011 mit Büchern, die sein Leben und sein Schaffen begleitet haben, mit Reflexionen über die aufklärerischen Möglichkeiten der Literatur, über die gesellschaftliche Rolle des Schriftstellers in Zeiten politischer Unterdrückung und über seine Bindung zu Heimat und Heimatsprache an. Hinter allen Betrachtungen scheint immer wieder die grundlegende Frage nach der emotionalen und sprachlichen Verankerung durch. Der Exilant Kundera, der von Prag nach Paris und aus dem Tschechischen ins Französische übersiedelte, führt in diesen Aufsätzen auch eine literarische Weltanschauung vor: nicht die der kosmopolitischen goetheschen Weltliteratur, sondern ein literarisches Weltkulturerbe als engagierte, der Moderne verpflichtete Literatur, die den Menschen in den Mittelpunkt stellt und das ganze Repertoire menschlichen und gesellschaftlichen Verhaltens verständlich macht. Den modernen Roman stellt sich Kundera als «Archiroman» vor, der alle stilistischen und formalen Möglichkeiten aufwendet, um das essentiell Menschliche zu beschreiben. Dass die Rezeptionsgeschichte eines Werks nicht zuletzt «das Ergebnis des Spiels historischer Zufälle» ist, zeigt er, indem er historische und ästhetische Verhältnisse aufeinander bezieht. Aber jenseits aller klugen Einsichten zeugen diese Aufsätze von jener «existentiellen Versessenheit», die Kunderas literarisches Denken – wie sein Schreiben – zu einem Teil des literarischen Weltkulturerbes macht. ● Fiktion und Dokumentation Ein Film und zwei Bücher erinnern an den polnischen Juden Jan Karski: ein erschütternder, authentischer Lebensbericht und ein fragwürdiger Roman Shoah erträgt keine Fiktion Geschichte eines Staates im Untergrund. Aus dem Englischen von Franka Reinhart, Ursel Schäfer. Antje Kunstmann, München 2011. 618 S., Fr. 40.50. Yannick Haenel: Das Schweigen des Jan Karski. Aus dem Französischen von Claudia Steinitz. Rowohlt, Reinbek 2011. 187 Seiten, Fr. 28.90. Der Karski-Bericht. Ein Film von Claude Lanzmann. DVD, 49 Min. Absolut Medien, Berlin 2010. Fr. 151.90. Von Sieglinde Geisel Man ist hypnotisiert von der Erzählung des aufgewühlten, vornehmen alten Mannes, der von der Verzweiflung der beiden Juden berichtet, die ihn bitten, das Gewissen der Welt aufzurütteln über den Massenmord an ihrem Volk. Der von seinem Besuch im Warschauer Ghetto berichtet, vom Unfassbaren. Mit dieser Filmszene in Claude Lanzmanns «Shoah» trat Jan Karski (1914–2000) ins Bewusstsein der Öffentlichkeit. Der Augenzeuge hatte eigentlich nach dem Krieg beschlossen zu schweigen. Er geriet in Vergessenheit, wie auch sein Buch «Story of a Secret State», das 1944 in den USA erschienen war. Erschütternder Bericht Erst jetzt ist dieses Buch unter dem Titel «Mein Bericht an die Welt» erstmals auf Deutsch erschienen, dafür in einer mustergültigen Edition. Da er enttarnt worden war, konnte Karski 1943 nicht nach Polen zurückkehren, und nun war dieses Buch Teil seiner Mission, die Weltöffentlichkeit auf den Kampf des polnischen Widerstands und das Leid der Juden aufmerksam zu machen. In einem Vorwort macht die Herausgeberin Céline Gervais-Francelle die Entstehungsbedingungen des Buchs deutlich, etwa die Einflussnahme des amerikanischen Literaturagenten oder Karskis Verschleierung von Namen und Orten, um die polnischen Widerstandskämpfer nicht zu gefährden. Das Buch ist ein packendes Dokument: Jan Karski schildert den Alltag im Untergrund, die Methoden der Geheimhaltung, die enormen Opfer. Er selbst wurde von der Gestapo verhaftet und unternahm nach der Folter einen Selbstmordversuch; aus dem Krankenhaus wurde er von einem Widerstandskommando befreit, das den Auftrag hatte, alles zu tun, um ihn zu retten – und ihn zu erschiessen, falls es schiefging. Man erfährt, wie komplex der polnische Staat im Untergrund organisiert und wie raffiniert das Verbindungssystem eingerichtet war, dem Karski in leitender Position angehörte. Von der Vernichtung der Juden berichten nur zwei der 33 Kapitel, doch die Schilderungen des Warschauer Ghettos und vor allem des La- gers Izbica Lubelska gehören zu den erschütterndsten Augenzeugenberichten, die überliefert sind. Zeitgleich mit Karskis «Mein Bericht an die Welt» ist nun auch Yannick Haenels «Das Schweigen des Jan Karski» auf Deutsch erschienen. In Frankreich führte das Buch zu heftigen Kontroversen: Über eine Figur wie Karski könne man keinen Roman schreiben, meinte Claude Lanzmann damals. Haenels Buch ist eine Mischform. Die erste Hälfte hat dokumentarischen Charakter: Sie besteht aus einer Exegese von Karskis Auftritt in «Shoah» sowie einer Zusammenfassung von Karskis eigenem Buch. Erst die zweite Hälfte hat dem Band die (irreführende) Bezeichnung «Roman» eingebracht: In einem fiktiven Ich-Monolog lässt Yannick Haenel einen etwa 80-jährigen Karski Rückschau auf sein Leben halten. Man begegnet einem Schmerzensmann, dem die Schlaflosigkeit «zur Gefährtin» wird, der klagt und zürnt. Hohles Pathos («um mich in diesem Grab einzuschliessen, wo sich Gott und die Vernichtung Auge in Auge begegnen»), missglückte Poesie («Nur die Einsamkeit ist der Liebe würdig») und barer Unsinn (die Juden seien «vom Verlassen selbst verlassen worden») finden sich in dieser Rede. Gelegentlich aber auch Sätze, welche die Situation Karskis erhellen: «Wenn ich von den Juden sprach, bemitleideten sie absurderweise mich», so der frustrierte Zeuge nach einem seiner vielen Vorträge in den USA. Erst gegen Ende finden sich Reflexionen über die Bedeutung der Shoah: Sie sei kein Verbrechen gegen die Menschheit, sondern ein von der Menschheit begangenes Verbrechen. Karskis Besuch im Weissen Haus im Sommer 1943 musste Haenel erfinden, da ihm keine Informationen zugänglich waren. Sein Ich-Erzähler Karski zeichnet von Roosevelt eine billige Karikatur. Er lecke sich nach dem Essen den Mund, gähne und schaue der Sekretärin auf die Beine – «er ist schon dabei, die Vernichtung der europäischen Juden zu verdauen», so der fiktive Karski bitter. Geschmacklosigkeiten Rekrutierung von Zwangsarbeitern im Warschauer Ghetto 1941. Doch inzwischen hat Claude Lanzmann den zweiten Teil seines Interviews mit Jan Karski auf «arte» gezeigt und als DVD veröffentlicht. Man versteht, warum er ihn nicht in den Film aufgenommen hat. Am zweiten Tag des Interviews, wo es um die Vergeblichkeit seiner Bemühungen geht, sitzt ein anderer Karski vor der Kamera, sehr von sich eingenommen, souverän bis zur Theatralik. Mit Hochachtung berichtet er von einem konzentrierten Roosevelt, einem «Weltenführer». Auf die Bemerkung, dass die Juden ohne Hilfe von aussen dem Untergang geweiht seien, sei Roosevelt zwar nicht eingegangen, doch habe er ihm eine Liste mit Kontaktpersonen gegeben, die Karski aufsuchte. Wo endet die Erfindung, und wo beginnt die Fälschung? Mit dem Satz, man dürfe die Shoah nicht fiktionalisieren, ist die Literaturkritik rasch zur Hand, doch damit begibt sie sich auf die falsche Fährte. Der Tabubruch besteht nicht in der Fiktion, sondern in deren Geschmacklosigkeiten, die schwerer wiegen als historische Unstimmigkeiten. Die Shoah erträgt keinen schlechten Stil: Sie macht ästhetische Ausrutscher zu einem ethischen Versagen. ● BPK Jan Karski: Mein Bericht an die Welt. 24. April 2011 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 9 Belletristik Roman Der in der Schweiz lebende russische Autor Michail Schischkin webt in «Venushaar» einen grandiosen Erzählteppich aus tausendundeiner Geschichte Göttin der Liebe im Exil Michail Schischkin: Venushaar. Aus dem Russischen von Andreas Tretner. DVA, München 2011. 556 Seiten, Fr. 38.90. Zahlreiche Asylsuchende wollen Zugang zum heissbegehrten Schweizer Paradies, das vor Wohlstand und Verschontheit glänzt. Sie werden bürokratisch kalt als «GS» (Gesuchsteller) etikettiert. Der Hauptakteur in Michail Schischkins Roman «Venushaar» ist Russischdolmetscher in Diensten der Asylbehörde und bekommt schauerliche Erzählungen zu hören, denn nur die haarsträubendsten Ungeheuerlichkeiten haben Aussicht auf Erfolg. Am Paradiestor nämlich wacht argwöhnisch Peter alias Petrus, dem der Stempel der beschleunigten Abweisung bedrohlich locker in der Hand liegt. Für ihn hat der namenlose «Dolmetsch», wie er im Roman genannt wird, die immergleiche Frage – «Warum haben Sie Asyl beantragt?» – und den obligat folgenden Wortschwall zu übersetzen. Die tragischen Kunden kommen aus Russland, haben Grauenhaftes in Tschetschenien, im Straflager oder Jugendknast durchlebt, Greuel und Misshandlungen erlitten. Und sie reden um ihr Leben, überbieten sich in drastischen Details, damit sich besagtes Paradiestor nicht zu schnell wieder schliesst. Leichtfüssiges Hüpfen Sie kommen «mit einem Packen Bescheinigungen aus allen nur erdenklichen Klapsmühlen, Kittchen und Knochenflickereien» und wollen nur eines: endlich ein besseres Leben. Aber wo liegt die Wahrheit, und wo beginnt die Flunkerei? Was ist authentisch erlebt und was bloss geschickt erzählt? Die wortgewandten Simulanten, die ihre Lebenserzählung gut einstudiert haben, sind anscheinend auch recht zahlreich. «Wer ihr wirklich seid, kriegen wir sowieso nicht raus», meint der Dolmetscher desillusioniert. Schon die Ausgangslage hat der Autor genial gewählt. Denn worum geht es in Romanen, wenn nicht um die Kraft des Erzählens von abgrundtiefem Unglück und der Hoffnung auf ein besseres Leben? Erzählen, nichts als erzählen, um Unglück und Tod zu überwinden – dieses Urmotiv der Weltliteratur liegt dem Roman des 1961 in Moskau geborenen, 1995 in die Schweiz emigrierten Michail Schischkin zugrunde. In Russland, wo er längst die wichtigsten literarischen Auszeichnungen umgehängt bekommen hat, wird er zu Recht als einer der bedeutendsten zeitgenössischen Schriftsteller gepriesen. Eigentlich ist das auch in Rest-Europa so, nur die deutschsprachige Rezeption hatte bisher ein Hörproblem. Doch jetzt 10 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 24. April 2011 KARL MATHIS / KEYSTONE Von Ralph Dutli Michail Schischkin ist selber ein Pendler zwischen den Welten. Hier nehmen Grenzbeamte im Tessin einen illegalen Einwanderer fest. muss alles anders werden, mit diesem von Andreas Tretner vorzüglich übersetzten «Venushaar», das kein leicht konsumierbares, linear erzähltes Romänchen ist, sondern ein grandioser Erzählteppich aus tausendundeiner Geschichte. Ob Agatha Christies «Zehn kleine Negerlein», Xenophons Schilderung der Kämpfe im Perserreich, die Geschicke einer Sängerin, deren Leben das 20. Jahrhundert umspannt, oder die reichbestückten Tresore der russischen Literatur – Schischkin hüpft leichtfüssig, aber anspruchsvoll und tiefschürfend zwischen den Erzählwelten hin und her, mischt Stimmen und Spuren, Epochen und Räume auf atemberaubende Weise. Erzähler mit Klassikerpotenz Nur eins der sattsam bekannten postmodernen Spielchen? Nein, die Geschichten sind ernst und beklemmend. Von der verstümmelten Frauenleiche im Kamin bis zum tschetschenischen Foltervideo – Schischkin versammelt keine Sirup-Episoden, das Erzählte offenbart eine zutiefst heillose Welt. Der «Graue» bei der Armee, der die «Frischlinge» quält und demütigt, wird zur Parodie Gottes. «Sag mal, Grauer, wie hast du diese Welt nur so hinbekommen?» Natürlich berühren all die Flüchtlingsschicksale den Dolmetscher, der selber ein Pendler zwischen den Welten ist. «Zu Hause gleich alles zu vergessen, was tagsüber gewesen ist, das funktioniert nicht. Man trägt es bei sich. Diese Menschen, diese Reden – man wird sie nicht los.» Aus dem Frage-und-Antwort- Schema wird ein Selbstverhör. Je enger der Mann umzingelt ist von den wimmelnden Erzählstoffen, desto mehr eigene Erinnerungen tauchen auf an eine verlorene Liebe, eine verlorene Familie. Die Vergegenwärtigung einer RomReise mit der geliebten Frau, die den mythischen Namen Isolde bekommt, spricht von der Gefährdung eines Paares. Das Tristan-Phantom eines bei einem Verkehrsunfall umgekommenen früheren Geliebten legt sich wie ein Schatten über alles. Misstrauen und zersetzende Eifersucht kommen auf. Hier bebt jedes Wort vor Wehmut und dem Bewusstsein entschwundenen Glücks, hier liegt das Glutzentrum des Erzählens. Auf die Bedrohtheit einer zarten Pflanze weist auch der nur vordergründig kokett anmutende Romantitel «Venushaar». Damit ist kein pikanter Auswuchs am Körper der Liebesgöttin gemeint, sondern eine Farnart, die zwar auf römischen Ruinen als Unkraut wächst, im eisigen russischen Heimatland aber nur bei Zimmerwärme und Zuwendung gedeiht. Als Unkraut überlebt sie noch die schlimmsten Katastrophen, wächst beharrlich wieder nach. Erst die letzten, von einem traumhaften Sog vorangetriebenen Seiten dieses russischen Romans enthüllen, worum es im Gewimmel der Geschichten geht: um die Überwindung des Unglücks durch das Wort. Michail Schischkin ist ein mächtig ausgreifender Erzähler und Wortgläubiger mit Klassikerpotenz, wie man ihn schon lange nicht mehr sah in der russischen Weltliteratur. ● Roman Wortstark seziert die französische Schriftstellerin Emmanuelle Pagano ein Lügengeflecht Missbrauch im Dorf Kurzkritiken Belletristik Linda Stift: Kein einziger Tag. Roman. Deuticke, Wien 2011. 172 Seiten, Fr. 25.90. Peggy Mädler: Legende vom Glück des Menschen. Roman. Galiani, Berlin 2011. 213 Seiten, Fr. 25.90. Wie nennt man ein solches Buch? Geschwisterroman? Einfach Horrorliteratur? Tatsächlich geht im dritten Roman der 42-jährigen Österreicherin Linda Stift, die 2009 ans Bachmannpreis-Wettlesen eingeladen war (mit einem anderen Text), so manches nicht mit rechten Dingen zu. Die Hauptfiguren Paco und Paul sind siamesische Zwillinge, wurden jedoch als 5-Jährige getrennt – zum Leid von Paco, zur Freude von Paul. Zu Beginn taucht Paco nach 20 Jahren Funkstille bei Paul auf, das heisst: Er hat ihn ausfindig gemacht. Paul ist Inhaber eines schlecht gehenden MalerzubehörLadens und Freund einer schlecht gelaunten Kreativen (höchst unglaubwürdig, dass man mit so etwas liiert sein will). Und er hat «ein Tier» im Keller – lässt hier Natascha Kampusch grüssen? Auf jeden Fall wird er am Ende bestraft – und zwar so, wie es zu einem echten Horrorstreifen passen würde. Entweder man mag das Genre – oder nicht. Regula Freuler Peggy Mädler frönt in ihrem Début weder der Ostalgie, noch trompetet sie eine Hasstirade gegen ihre alte Heimat, die DDR, hinaus. Im Gegenteil, sie schaut auf die Geschichte, die ungefähr ihre eigene ist, beinahe wie eine Fremde. Mädler, in Berlin freie Dramaturgin und Regisseurin, hat als Ausgangspunkt einen Bildband von 1968 genommen, welcher der Ich-Erzählerin Ida bei der Wohnungsauflösung der Grosseltern in die Hand fällt. Er heisst: «Vom Glück des Menschen.» Mädler ist 1976 in Dresden geboren, die alte DDR kennt sie nur aus Berichten. Was hiess Glück damals? Was ist das Glück von heute schon im Vergleich zu jenem von damals? Ein Geringes, denkt man. Dann aber: Man kann nichts für seinen Geburtstermin, darum hat jeder das Glück, das in seiner Zeit möglich ist. Früher mag das eine Banane gewesen sein, heute ist es ein Sommerabend auf dem Balkon. Eine angenehm nüchterne Vergangenheitsbewältigung. Regula Freuler Franz Hessel: Spazieren in Berlin. Verlag für Berlin-Brandenburg, Berlin 2011. 235 Seiten, Fr. 30.50. Carmina Burana. Hrsg. von Benedikt Konrad Vollmann. Deutscher Klassiker Verlag, Berlin 2011. 1415 Seiten, Fr. 30.50. Wer an das Berlin der 1920er Jahre denkt, der kommt nicht umhin, den Erzähler, Feuilletonisten und Übersetzer Franz Hessel (1880–1941) zu würdigen. Der kleine, elegante Mann war ein vollendeter Stilist. Der Sohn eines jüdischen Bankiers, der von 1906 bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs in Paris lebte, verkörperte den Typus des Flaneurs. In welcher Stadt er auch war: Stets schlenderte er mit wachen Sinnen durch die Strassen, und selten kehrte er ohne luzide, atmosphärisch dichte Beobachtungen zurück. Vor der Katastrophe des Dritten Reichs arbeitete er für den Rowohlt Verlag. Mit Walter Benjamin übersetzte er zwei Bände Proust. «Spazieren in Berlin» bleibt eines seiner schönsten Bücher. Es erschien erstmals 1929. Hier wird es mit erhellenden Essays von Moritz Reininghaus und Bernd Witte präsentiert. Manfred Papst Es ist ein Segen, dass diese mustergültige Edition, die 1987 erstmals erschien, endlich in wohlfeiler Broschur vorliegt. Denn die «Carmina Burana», die in einer einzigen Prachthandschrift aus dem oberbayerischen Benediktbeuern überliefert ist, wirken auf uns so frisch wie am ersten Tag. Die Sammlung umfasst 254 meist mittellateinische, zum Teil auch mittelhochdeutsche, altfranzösische und provenzalische Texte, die zur Hauptsache im 11. und 12. Jahrhundert verfasst wurden. Liebeslieder stehen neben Spottgesängen, Trinkliedern und zwei geistlichen Dramen. In dieser Dichtung tritt uns die ganze Farbigkeit der Stauferzeit entgegen. Carl Orff hat in seinem 1937 uraufgeführten Chorwerk die Sinnlichkeit dieser Verse gefeiert. In dieser Edition, mit Originaltext, Übersetzungen und umfassendem Kommentar, entfalten sie ihren ganzen Zauber. Manfred Papst Emmanuelle Pagano: Bübische Hände. Aus dem Französischen von Nathalie Mälzer-Semlinger. Wagenbach, Berlin 2011. 144 Seiten, Fr. 25.90. SABINE BERLOGE Von Monika Burri Für Tabuthemen kennt die französische Sprache den Begriff des «non-dit», des nicht Gesagten. Um die Macht des Unausgesprochenen kreist der mehrfach preisgekrönte, nun in deutscher Übersetzung erschienene Roman der Französin Emmanuelle Pagano. Es geht um Gewalt, Feigheit und Lebenslügen. Das Verbrechen liegt Jahrzehnte zurück, ein zehnjähriges Mädchen wurde von seinen Schulkameraden über Monate missbraucht. Alle bis auf einen vergriffen sich an ihr, niemand im Dorf hat je darüber gesprochen, selbst die Dorflehrerin verdrängte die Hilferufe des Opfers. Pagano überlässt drei Frauen und einem Mädchen das Wort. Die Vertreterinnen unterschiedlicher Generationen sind teils Komplizinnen, teils erneute Opfer des untergründig schwelenden Lügen- und Schuldkomplexes. Die impulsiven, von Alltagssorgen zermürbten Selbstgespräche reiben sich an den engen Grenzen der ländlichen Lebenswelt, die Konturen von Personen und Handlungen erschliessen sich nur bruchstückhaft. Alle Zeuginnen leiden an Wahrnehmungs- und Erinnerungsstörungen, betäubenden Ohrenschmerzen, Schwindelgefühlen, übertriebener Geräuschempfindlichkeit. Im Zentrum des Romans gärt das Unausgesprochene, das sich einen unheilvollen Weg in die Gegenwart frisst. Dreissig Jahre nach der Tat hat sich das Vergewaltigungsopfer mitten in der Dorfgemeinschaft verdient gemacht. Als Putzfrau im Winzergut, als Pflegerin im Altenheim erscheint sie als unheimlicher Racheengel, in einer albtraumhaften Vergeltungsaktion durchbricht sie das lastende Schweigen und reisst neue Wunden auf. Klug und subtil transportiert das mehrstimmige Erzählgerüst das generationenübergreifende Fortleben einer Missbrauchskonstellation. Pagano entwirft brutale Bilder für das geschundene Ichgefühl, ungerührt dringt sie in schambehaftete Intimzonen vor. Die Stimmen der Erzählerinnen finden in der kargen Landschaft Südfrankreichs einen sinnstiftenden Echoraum. Wortund bildstark verknotet Emmanuelle Pagano die vom Stillhalten vergifteten Sprechweisen zu einer aufwühlenden écriture féminine. ● 24. April 2011 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 11 Interview Früher haben Menschen geheiratet, weil es passte. Heute tun sie es, weil sie wollen. Hannelore Schlaffer hat ein erhellendes und ehrliches Buch über moderne Beziehungen geschrieben. Interview: Regula Freuler «Die Frau ist immer das, was jammert» Bücher am Sonntag: Frau Schlaffer, was ist eine «intellektuelle Ehe»? Hannelore Schlaffer: Gemeint ist damit nicht etwa eine Verbindung zwischen Intellektuellen – obwohl um 1900 tatsächlich Intellektuelle an der Theorie zu einer «neuen» Ehe arbeiteten. Sie entwarfen eine Beziehung, die heute für alle brauchbar ist. Da nicht mehr Kirche oder Familie den Zusammenhalt eines Paares garantieren, müssen nun die Bedingungen des Zusammenlebens unentwegt diskutiert und neu begründet werden. Das ist ein intellektueller Akt, den jedes Paar leisten muss, unabhängig von Beruf und Stand. Ist deshalb die Zahl der Eheschliessungen seit den siebziger Jahren deutlich gesunken? In gewissem Sinne schon. Der Begriff «intellektuelle Ehe» steht nicht zwangsläufig für eine standesamtlich beglaubigte Ehe, sondern einfach für eine langjährige Partnerschaft, wie sie etwa zwischen Simone de Beauvoir und JeanPaul Sartre bestand. Hannelore Schlaffer Alles in allem klingt das sehr anstrengend. In meinem Buch zitiere ich darum auch den Soziologen Max Weber, der sich bei seiner Frau Marianne über «diese ewige Diskutiererei über die Sittengesetze» und die Funktion der Ehe beklagte. Es ist ja tatsächlich so: Solche Gespräche sind anstrengend. Aber wenn man bedenkt, wie viel in Fernsehen und Rundfunk über Paarbeziehungen diskutiert wird, dann kann es gar nicht anders gehen, als dass ein Paar auch in den eigenen vier Wänden sein Paar-Sein reflektiert. Die intellektuelle Ehe ist also die moderne Form der Partnerschaft. Zeigen dieses exzessive Diskutieren und die unzähligen Beziehungsratgeber, dass die Institution Ehe in ihrer tiefsten Krise steckt? Ja. Ich schildere die «intellektuelle Ehe» ja nicht als den Himmel auf Erden, sondern zeige, wo das Konzept scheitert. Der beste Beweis für die intellektuelle Ehe in ihrem Glück so gut wie in ihrem Unglück sind gerade die vielen Scheidungen. Na ja, man könnte auch sagen, dass Frauen heute ihren Lebensunterhalt selbst verdienen und sich darum scheiden lassen können. Ja natürlich, die Emanzipation ist Voraussetzung für die intellektuelle Ehe. PETER-ANDREAS HASSIEPEN Und wer waren ihre Vorreiter? Das reicht weit zurück. Ich habe da wohl noch ein Stück Revolutionsgeschichte des Bürgertums verfasst. Denn was sich im Privaten als Folge der Französischen Revolution ergeben hat, wird oft nicht beschrieben, vor allem nicht als historischer Prozess. Und einer der wichtigsten Prozesse ist gerade jener der Ablösung von traditionellen Sicherungsinstanzen wie Kirche und Familie. Die 1939 geborene Germanistin lehrte bis 2001 an der Universität München. Seit 1980 schreibt sie als freie Publizistin («FAZ», «Süddeutsche Zeitung», «Zeit», NZZ). Sie ist Autorin mehrerer Bücher, u. a. «Mode. Schule der Frauen» (2007), «Das Alter» (2003), «Schönheit» (1996). Hannelore Schlaffers neustes Buch «Die intel lektuelle Ehe» (Hanser, Fr. 28.90) untersucht das Beziehungsleben seit Beginn des 20. Jahr hunderts anhand von Paaren wie Marianne und Max Weber, Simone de Beauvoir und JeanPaul Sartre, Bertolt Brecht und Helene Weigel. Hannelore Schlaffer ist mit dem Germanisten Heinz Schlaffer verheiratet und lebt in Stuttgart. 12 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 24. April 2011 Wann beginnt dieser Prozess? Um 1800. Ein Kapitel meines Buches handelt von der Gelehrten-Tochter Caroline Schelling und den Brüdern August Wilhelm und Friedrich Schlegel. Mit August Wilhelm war Caroline von 1796 bis 1803 verheiratet, im Jahr der Scheidung ehelichte sie den 12 Jahre jüngeren Friedrich Schelling, mit dem sie seit 1799 eine Liebesbeziehung hatte. Caroline Schelling brach aus dem bürgerlichen Muster aus, und Friedrich Schlegel hat das in «Lucinde» literarisch verarbeitet. Die Belletristik des 19. Jahrhunderts hat mit einer ganzen Reihe von Ehebrecherinnen-Romanen wie «Anna Karenina», «Madame Bovary» und «Effi Briest» die Entwicklung im 20. Jahrhundert vorgespurt. Ja, in diesen Büchern fanden Frauen Beispiele dafür, dass man den Mann auch verlassen kann – wenngleich das damals gesellschaftlich bestraft und durch den tragischen Ausgang der Romane bestätigt wurde. Gibt es auch positive Beispiele? Das Referenz-Buch ist immer wieder «Lucinde», obwohl es am Ende nicht wirklich in eine Ehe führt. Es gab auch die feministische Schriftstellerin Hedwig Dohm. Ihre Tochter war die spätere Schwiegermutter von Thomas Mann. Hedwig Dohms Schriften wurden um 1900 von Frauen gerne gelesen, ebenso August Bebels Buch «Die Frau und der Sozialismus». «Es kann doch nicht schön sein für einen Mann, unentwegt Frauen beschlafen zu müssen!» Welches Buch hatte den grössten Einfluss auf die Entstehung der «intellektuellen Ehe»? Der Roman «Was tun?» des russischen Autors Nikolai Tschernyschewski von 1863. Und weshalb? Er ist programmatisch, weil man darin erfährt, wie ein Ehepaar, das allein aus Liebe geheiratet hat, gemeinsam arbeitet und jeden Winkel seines Daseins und seiner Wohnung dementsprechend einrichtet. Das ist nicht gerade unterhaltsam zu lesen, aber interessant aus soziologischer Sicht. Wann wurde die Ehe-Reform gesellschaftlich virulent? Ab 1900 bis ungefähr 1930. Ich widme zwei Paaren je ein grösseres Kapitel: Einerseits der 1870 geborenen Marianne Weber und dem Heidelberger Soziologie-Professor Max Weber, mit dem sie seit 1893 verheiratet war. Andererseits dem Philosophen-Paar Simone de Beauvoir und Jean-Paul Sartre in Paris. Marianne und Max Weber diskutierten unentwegt das Modell Ehe. Haben sie ihre Beziehung zerredet? Nein. Sie unterscheiden sich insofern von Beauvoir/Sartre, als der Angriff auf die tradi- GUY LE QUERREC / MAGNUM PHOTOS Teilten die Obsession, ihr Paar-Sein zu demonstrieren: Jean-Paul Sartre und Simone de Beauvoir (Paris 1973). 24. April 2011 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 13 Interview Leistung der Frauen war, sondern dass sie nur beide Geschlechter gemeinsam schaffen konnten – und die Männer haben mitgemacht. HENSCHEL THEATER ARCHIV / CINETEXT Gilt das auch für die Ehe-Reform? Ja, durchwegs. Die Männer traten für die Reform ein, weil sie sie wollten – und natürlich, weil sie sie leichter befördern konnten: Sie waren bevorzugt durch Bildung und durch die erotische Freiheit, die ihnen traditionell schon immer zugestanden war. Bertolt Brecht (2. v. l.) und Helene Weigel (r.) bei Proben im Theater (Berlin, 1949). Was hat das für die Ehe der Webers bedeutet? Die romantische Liebe, die völlige Verschmelzung der Partner, die der Bürgerstochter Marianne Weber vorschwebte, ist eine Vorform der intellektuellen Ehe, da sie der Frau die Wahl lässt, den Mann selbst auszusuchen. Gegenseitige Verehrung stützte die Ehe der Webers, auch noch als Max Weber eine Geliebte hatte. Marianne Weber hatte zwar schon Vorstellungen von Emanzipation, sie besuchte als Gasthörerin Vorlesungen ihres Mannes. Ihre Vorstellung von einer «Gefährtenehe» sah schon die Gleichwertigkeit der Partner vor – die mehr ist als Gleichberechtigung –, und die strebt jede intellektuelle Ehe an. Und dann kam Otto Gross. Gross, der aus einer namhaften Juristenfamilien aus der Steiermark stammte, drogensüchtig war und ein Bohème-Leben führte, drang mit seinen Theorien in die Ruhe dieser Bürgerlichkeit ein. War er der erste Ehe-Revolutionär? Ja, denn er kam als erster mit einem Programm: Die Ehe muss zerstört werden. Deshalb tat er das systematisch. Er behauptete, er schlafe die Frauen frei, was für ihn manchmal eine geradezu schwere Last sei. Wir können – nach 68 – darin wohl auch gewisse eigennützige Motive ausmachen. Ich erinnere mich an Arnhelm Neusüss, Mitglied des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes (SDS), der Ende der sechziger Jahre sagte, er müsse die Frauen nach links schlafen. Das hat man ihm geglaubt! Die Emanzipation der Sexualität galt den Studenten als ein weltbefreiendes Programm. Otto Gross starb obdachlos an einer Strassenecke in Berlin. War er zu früh mit seinen Theorien? Alle, die eine Revolution beginnen, sind zu früh und riskieren, zu scheitern. Gross hat sich bewusst aus der bürgerlichen Gesellschaft heraus begeben. Doch er war kein Bonvivant, sondern ein Theoretiker. Max Weber hat sich zwar ins Fäustchen gelacht, als Marianne ihm erzählte, Otto Gross tue es nur aus missionarischer Berufung. Aber ich glaube Gross. Es kann doch nicht schön sein für einen Mann, unentwegt Frauen beschlafen zu müssen! 14 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 24. April 2011 Kommt wohl auf den Mann an. Nehmen wir den Dramatiker und Lyriker Bertolt Brecht. Er hat keine Ehe-Theorie entwickelt, hat aber die Ehe als das Fundament des Bürgertums schnöde behandelt. Darum musste die Beziehung aus einer Überzeugung der beiden Partner kommen. Und das strebte der junge Brecht an, auch wenn er eine Frau nach der anderen an sich band. «Ich schreibe immer gegen Frauen. Warum, weiss ich nicht. Jetzt können Sie mir eine psychoanalytische Behandlung empfehlen.» Brecht und Helene Weigel nennen Sie weniger ein Ehepaar als ein Team. Ist das der Preis: Man bekommt öffentliche Anerkennung für das gemeinsam Erarbeitete, aber auf der Gefühlsebene bleibt’s dürftig? Sie formulieren das so negativ! Die intellektuelle Ehe schliesst in keiner Art und Weise Gefühle aus. Ich würde sagen, öffentliche Anerkennung ist gerade das Glück der intellektuellen Ehe. Sprechen Sie da auch von sich? Sie sind Germanistin und mit einem Germanisten verheiratet, beide waren Sie Universitätsprofessoren. Führen Sie eine intellektuelle Ehe? Über die rede ich zwar nicht gerne, aber wenn ich die These vertrete, dass es nichts mehr anderes gibt als die intellektuelle Ehe, dann: Ja. Und weshalb schreiben Sie immer gegen die Frauen? Das weiss ich nicht. Jetzt können Sie mir eine psychoanalytische Behandlung empfehlen. Aber ich finde halt, dass oft nicht stimmt, was Feministinnen schreiben. Ich habe vielleicht grosses Glück gehabt, dass ich nie einem Mann begegnet bin, der mich unterdrückt hätte. Der Feminismus ist eine Partei, auch wenn es keine eingeschriebene ist. Und Parteilichkeit führt naturgemäss zu Übertreibungen. Dabei haben wir dem radikalen Feminismus auch einiges zu verdanken. Manchmal muss man vorpreschen, um wenigstens einen Bruchteil seiner Forderungen durchsetzen zu können. Ich unterscheide zwischen Emanzipation und Feminismus. Zur Zeit der Studentenbewegungen war das Bestreben der Frauen, zu werden wie die Männer. Weil sie sich sagten: Das ist meine einzige Chance in dieser Gesellschaft. Diese emanzipierten Frauen waren oft Einzelkämpferinnen. Erst in den späten siebziger Jahren entwickelte sich allmählich eine Bewegung, die sich gegen diese Frauen wandte, weil sie sich der männlichen Kultur anpassten. Man suchte nach dem spezifisch Weiblichen. Ein solches habe ich aber nicht gefunden, es sei denn, die Frau ist immer das, was jammert – und diese falsche Einstellung möchte ich ein wenig korrigieren. Wie sind Sie – als Literaturwissenschaftlerin – eigentlich auf dieses Thema gekommen? Ich las Briefe des deutschen Schriftstellers Rudolf Borchardt und seiner Frau Karoline Ehmann, in denen er sie ermunterte, künstlerisch zu arbeiten. Da habe ich mich daran erinnert, dass es viele Männer gab in der Bohème, die das auch taten – zum Beispiel Max Weber. Davon liest und hört man wenig. Ach, ich hatte immer eine Abneigung gegen den klagenden Feminismus, dieses Gejaule, dass es den Frauen nur schlecht geht und die Männer nur das Böse für sie wollen. Dabei haben die Männer viel geleistet für die Gesellschaft, indem sie zum Beispiel für den Unterhalt der Familie sorgen mussten. Deshalb wollte ich zeigen, dass die Emanzipation nicht allein eine BPK tionelle Ehe, die sie geführt haben, von aussen kam, nämlich in der Person des österreichischen Psychoanalytikers Otto Gross. Sie haben Bücher unter anderem über Schönheit, Mode und das Alter geschrieben, alles typische Frauenthemen. Ging es Ihnen wie Marianne Weber, die nach einer Publikation über Fichtes Sozialismus – dem Fachgebiet ihres Mannes – auf Fragen der Ehe und der weiblichen Moral ausgewichen ist? Ich schreibe ja immer gegen die Frauen. Die amerikanische Feministin Naomi Wolf hat die Schönheitsdiktatur, der sich die Frauen unterwerfen, diffamiert. Aber ich wollte in «Schönheit. Schule der Frauen» zeigen, dass Mode eine Chance für die Frauen war. Im 19. Jahrhundert hatten sie keine Sprache. Wie konnten sie sich also ausdrücken? Durch die Mode. So lernten sie, in der Öffentlichkeit einen eigenen Stil und eine Individualität darzustellen. Das war mein Beitrag zur Korrektur der feministischen Klagen. Soziologen-Ehepaar Marianne und Max Weber (1893). Kolumne Charles Lewinskys Zitatenlese GAËTAN BALLY / KEYSTONE Brillanz verdeckt nicht selten die Abwesenheit einer Erkenntnis. Charles Lewinsky ist Schriftsteller und arbeitet in den verschiedensten Sparten. Sein neuer Roman «Gerron» erscheint in diesem Sommer bei Nagel & Kimche. Kurzkritiken Sachbuch Luise F. Pusch: Deutsch auf Vorderfrau. Sprachkritische Glossen. Wallstein, Göttingen 2011. 140 Seiten, Fr. 15.90. Erich Schmid: In Spanien gekämpft, in Russland gescheitert. Männy Alt. Orell Füssli, Zürich 2011. 191 Seiten, Fr. 39.90. Die nicht nur in feministischen Kreisen bekannte Linguistin Luise F. Pusch betreibt auf Fembio.org einen Weblog namens «Laut und Luise». Einige der dort erschienenen Glossen zu Sprachproblemen hat sie nun in einem Büchlein zusammengefasst. Nicht immer sind die humorvollen Feminisierungsvorschläge ernst gemeint, aber immer steckt ein wahrer Kern dahinter. Pusch macht etwa darauf aufmerksam, dass eine «Frauenfussballmannschaft» etwa so absurd ist wie ein «Frauenmännerklo». Sprache verändert sich, und Pusch ermuntert uns Frauen, auf eine sprachliche Präsenz zu bestehen und Änderungen einzufordern. Der Tod des «Fräuleins» oder die Erfindung des «Hausmanns» zeigen, dass frau – Beharrlichkeit vorausgesetzt – etwas bewirken kann: «Hausmann» wie «frau» haben sich durchgesetzt und stehen mittlerweile sogar im Duden. Geneviève Lüscher Der Dokumentarfilmer Erich Schmid («Max Bill», «Meier 19», «Er nannte sich Surava») lernte 1987 den Baselbieter Kommunisten Hermann Alt (1910– 2000) kennen und besuchte ihn «an einigen Nachmittagen mit einem Tonband». 23 Jahre später verarbeitet er das Oral-History-Dokument zu einem Buch, interviewt auch Schwester und Kinder des inzwischen verstorbenen «Männy». Entstanden ist das Porträt eines linken Politaktivisten, der 1937/38 in den Internationalen Brigaden in Spanien kämpfte, in der Schweiz dafür verurteilt wurde, sich in der Gewerkschaft engagierte und 1956 mit Frau und Kindern in die Sowjetunion auswanderte, um in einem Stahlwerk Arbeit zu finden. Desillusioniert kehrte die Familie 1960 wieder in die Schweiz zurück. Ein bewegtes Leben, empathisch geschildert, mit zahlreichen Schwarzweissfotos illustriert – ein Stück Geschichte von unten. Urs Rauber Daniela Schwegler, Susann BosshardKälin: Unter der Haube. Huber, Frauenfeld 2011. 235 Seiten, Fr. 29.90. Allan Guggenbühl: Was ist mit unseren Jungs los? Kreuz, Freiburg 2011. 200 Seiten, Fr. 28.90. Gehorsam, Armut, Ehelosigkeit versprachen diese Frauen, als sie ins Diakoniewerk Bethanien der methodistischen Kirche eintraten. Wie von einem fernen Stern scheint in unserer statusbesessenen Gegenwart die Leichtigkeit, mit der sie es taten: «Eine Familie wollte ich sowieso nicht. Arm war ich bereits. Und gehorchen konnte ich auch», so sagt es die 93-jährige Emmi Egloff. Zwanzig heute pensionierte Diakonissen erzählen von ihrem Leben, von Armut und Arbeit auf dem Land. Bis sie die Haube wählten, und damit die Ausbildung zur Krankenpflege. Sie lernten und arbeiteten rastlos, in verschiedensten Berufen, oft in verantwortungsvoller Stellung. Alles wurde anders, geblieben ist nur die Bescheidenheit. Diese Lebensbilder sind nicht nur anrührend, sie sind ein sozialhistorisches Dokument einer Lebensform, die heute am Ende ist. Kathrin Meier-Rust In seinem neuen Buch fasst der Psychologe, Gewalt- und Jugendexperte Allan Guggenbühl die Botschaft zusammen, die er in vielen publizistischen Beiträgen unentwegt zu verbreiten sucht: Jugendgewalt ist ein komplexes Phänomen, das weder mit Friedens- und Empathie-Training in Schulen noch mit hochtrabenden Leitbildern und Bekenntnissen zur Gewaltlosigkeit bekämpft werden kann. Eindrücklich der kleine historische Exkurs, der vor Augen führt, wie jung die Männer waren, die einst Europas Schlachten vom Zaun brachen. Guggenbühls Buch erreicht seinen Höhepunkt mit der Schilderung des Anti-Aggressivitäts-Trainings, das die üblichen Konzepte der Psychotherapie in ihr Gegenteil verkehrt, jugendliche Täter geradezu provoziert und bei ihrer eigenen Ehre nimmt. Es hat, sagt der Autor, in 7 von 10 Fällen Erfolg. Kathrin Meier-Rust Ludwig Marcuse Es gibt Bücher, die sind wie Feuerwerk. Seenachtsfeste mit Fadenheftung. Kein Satz, in dem der Autor nicht seinen Geist aufblitzen liesse, auf dass der bunte Widerschein der sprachlichen Glanzlichter sein Genie auch gebührend beleuchte. Da steigen ganze Batterien von Metaphern in den Himmel, Periphrasen knattern, Antonomasien explodieren, und immer mal wieder schiesst ein Aphorismus als Rakete in den Himmel. Jedes Wort ein Knaller. Wie es sich für ein Feuerwerk gehört, soll der Betrachter «Ah!» und «Oh!» rufen, wenn die bunten Farben in immer neuen Schattierungen aufleuchten, Ringbomben und Zylinderbomben und immer noch eine Bombe mehr. Als Leser tut man das auch gern. Bereitwillig lässt man sich überwältigen, applaudiert und staunt, wenn wieder eine erlesene Formulierung aufleuchtet und noch eine und noch eine. Und noch eine und noch eine und noch eine. Solche Bücher können grossen Spass machen. Wenn sie kurz genug bleiben. Denn allzu lang hält man das permanente Geböllere und Geballere nicht aus. Brillanz ermüdet, wenn sie zum Selbstzweck wird. Da erleuchtet immer noch ein römisches Licht den Himmel, immer noch ein bengalisches Feuer flackert am Horizont, und man schaut gar nicht mehr hin. Denn irgendwann taucht im Hinterkopf unweigerlich die Frage auf, die einem die Freude am prächtigsten Feuerwerk verderben kann: «Wozu eigentlich das Ganze?» Man blättert dann vielleicht im Klappentext nach oder in der Rezension, aber dort erfährt man auch nicht mehr, als was man schon selber gemerkt hat: Dieses Buch ist brillant. Aber sonst nicht viel. Wenn man das einmal gedacht hat, verpufft der Zauber wie die künstlichen Sterne am Himmel. Die geheimnisvollen Düfte, die einen eben noch verzaubert haben, sind plötzlich nur noch Schwefel und Kaliumnitrat, die immer gleichen altbekannten Ingredienzien, die nur wieder einmal neu gemischt und zusammengerührt wurden. Das ist schade, denn Feuerwerke sind eigentlich etwas Schönes. Sie dürfen nur nicht so lang dauern, dass einem der Nacken weh tut, weil man die ganze Zeit in Demutshaltung nach oben schauen musste. Wenn dann die Kanonenschläge endlich verklingen und sich der Rauch verzieht, realisiert man allzu oft, dass ihr Schöpfer das Schwarzpulver auch nicht erfunden hat. 24. April 2011 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 15 Sachbuch Terrorismus Zehn Jahre nach den Anschlägen der al-Kaida in den USA stellt sich die Frage, ob sich die westliche Gesellschaft dadurch verändert hat. Zwei neue Bücher geben unterschiedliche Antworten 9/11 und die Welt danach Bernd Greiner: 9/11. Der Tag, die Angst, die Folgen. C. H. Beck, München 2011. 280 Seiten, Fr. 30.50. Michael Butter, Birte Christ, Patrick Keller (Hrsg.): 9/11 – Kein Tag, der die Welt veränderte. Ferdinand Schöningh, Paderborn 2011. 169 Seiten, Fr. 25.90. Von Dieter Ruloff Im Herbst dieses Jahres jähren sich die Anschläge vom 11. September zum zehnten Mal. Runde Jahrestage stimulieren den Bedarf an Rückblicken und Bewertungen, Autoren und Verlage bedienen diese Nachfrage gerne. Ein Handicap hat jedes neue Buch über 9/11 allerdings: Es gibt bereits Massen davon, und zwar etwa sechstausend. Tatsächlich wissen wir über kaum ein Ereignis der jüngeren Zeitgeschichte bereits jetzt so viel wie über die Anschläge vom 11. September 2001. Allerdings gehen die Meinungen auch hierbei weit auseinander, sowohl was den Ablauf selbst als auch was dessen Bewertung betrifft. Wer sich in die Materie auf eigene Faust einarbeiten möchte, kann beim 9/11 Commission Report des amerikanischen Kongresses beginnen, das als Buch («The 9/11 Commission Report: Final Report of the National Commission on Terrorist Attacks Upon the United States», New York 2004) oder E-Book erhältlich ist und auch als PDFDatei (7 MB) von der Webseite des amerikanischen Parlamentes heruntergeladen werden kann. Aber da beginnt schon das Problem, denn der Bericht wurde ediert und gekürzt, was sofort den Verdacht der Manipulation auf den Plan rief: Was wurde weggelassen und warum? Wer weder die Zeit noch den Nerv besitzt, gegen den Berg von Material über 9/11 anzulesen, der ist für eine au16 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 24. April 2011 toritative Darstellung der Ereignisse und Folgen des 11. September dankbar. Und eine solche bietet das gerade erschienene Werk des Hamburger Historikers und Politologen Bernd Greiner mit dem Titel «9/11. Der Tag, die Angst die Folgen». Keine umfassende Geschichte des letzten «nervösen Jahrzehnts» soll geboten werden, so der Autor in der Einleitung. Vielmehr sollen einige weisse Flecken auf der Road Map der Entwicklungen beseitigt und etliche der Legenden über 9/11 entkräftet werden. Die Schilderung der Anschläge im Stile eines atemlosen Reporters zu Beginn des Buches ist vielleicht nicht jedermanns Sache. Glücklicherweise stellt sich aber rasch ein ruhiger, besonnener Ton ein. In dichter Sprache werden die Entwicklungen nachgezeichnet: Bin Ladens Mutierung vom Sohn reicher Eltern zum Topterroristen; die Entstehung der Idee vom «Regimewechsel»; die Illusionen der Neokonservativen vom «Imperium» Amerika, das nicht auf die Welt hören müsse, weil man die Welt selbst gestalte, und zwar nach dem eigenen Vorbild. Selbst bei der Beschreibung haarsträubender Fehlleistungen der Regierung Bush erspart sich Greiner jeden Sarkasmus. Verschwörungstheorien Ob das Buch einige jener zahlreichen Legenden um 9/11 wirklich «entkräftet», wie es im Klappentext heisst, sei einmal dahingestellt. Wer bislang der Meinung war, die Anschläge seien nicht ein Werk der al-Kaida und Osama bin Ladens, sondern eine Verschwörung der US-Regierung, um einen Vorwand für den Krieg gegen den Irak zu fabrizieren, der wird sich durch die Lektüre dieses Buches kaum eines Besseren belehren lassen. Der Glaube der Verschwörungstheoretiker ist gegenüber Fakten bekanntlich immun. Tragisch nur, dass jene, die Verschwörungsgeschichten in die Welt set- zen, weit grössere Aufmerksamkeit erregen als jene, die sich dann daran machen, die Dinge wieder geradezurücken. Was die Folgen der Anschläge vom 11. September betrifft, beschränkt sich Greiner auf jene für Amerika selbst, nämlich den Wandel der USA vom Rechtsstaat zum «Machtstaat» beim Krieg gegen den Terrorismus: den Aufbau der gewaltigen Heimatschutzbehörde, der der Bürger hilflos ausgeliefert ist, Weltkrieg oder dem Ende des Kalten Kriegs sicher nicht. Vielmehr haben die monströsen Anschläge auf das World Trade Center und das Pentagon jene Säkulartrends verstärkt, über die man schon seit Jahren, Jahrzehnten und länger sprach: die Probleme von Machtverlust und «imperialer Überdehnung» der USA, die Paul Kennedy 1987 mit seinem Buch über den Aufstieg und Niedergang grosser Mächte vorhersagte («The Rise and Fall of the Great Powers: Economic Change and Military Conflict From 1500 to 2000», New York 1987). Oder die fortschreitende Globalisierung, die auch global agierenden Kriminellen und Terroristen das Terrain ebnete; auch für sie ist die Welt nun «flach», wie Thomas Friedman es in seinem Bestseller formulierte («The World Is Flat: A Brief History of the Twentyfirst Century», New York 2005). MARTY LEDERHANDLER / AP Kaum bleibende Spuren sollte er unter Verdacht geraten; die Stärkung der Exekutive zu Lasten der Legislative; und schliesslich die Doktrin der militärischen Prävention, die den Angriffskrieg gegen jede potenzielle Bedrohung rechtfertigt, entgegen den sehr eindeutigen Regeln des Völkerrechts. Alle drei Trends konnte (und wollte) auch der neue Präsident Obama nicht umkehren. Nicht thematisiert wird bei Greiner die Frage der weiter reichenden histori- schen Wirkungen der Anschläge vom 11. September 2001. Haben diese die Welt, wie wir sie kannten, verändert, also strukturellen Wandel bewirkt? Das gerade erschienene Buch «9/11 – Kein Tag, der die Welt veränderte» von Michael Butter, Birte Christ und Patrick Keller bestreitet dies, und zwar mit gutem Grund. Eine weltgeschichtliche Zäsur war 9/11 im Vergleich mit Meilensteinen wie dem Ersten und Zweiten Brennende Türme des World Trade Center in New York. Der 11. September 2001 war keine weltgeschichtliche Zäsur, hat aber den Machtverlust der USA beschleunigt. Selbst Amerikas Neigung zu Alleingängen ist keine Erfindung von George W. Bush. Diese Form der unilateralen Machtpolitik zum Zwecke der Förderung eng definierter US-Interessen wird bezeichnenderweise Jacksonianism genannt, trägt also den Namen des 7. Präsidenten der USA (1829 bis 1837 im Amte). Auch in Kunst, Religion und Wirtschaft hat 9/11 keine bleibenden Spuren hinterlassen. «Wall Street» war weniger als eine Woche nach den Anschlägen wieder online. Und Ursache der Finanzkrise der Jahre 2008/09 waren weniger die durch zwei Kriege aufgelaufenen Staatsschulden der USA, sondern die Immobilienblase, die wiederum auf staatliche Eigenheimförderung und private Spekulation zurückzuführen ist. Ähnlich ist der Befund bei anderen Themen: Verschwörungstheorien? Die gab es auch nach der Ermordung John F. Kennedys. Antiamerikanismus? Lyndon Johnson war in Europa in den späten 1960er Jahren mindestens so unbeliebt wie George W. Bush am Ende seiner Amtszeit zu Beginn 2010. Führende amerikanische Politologen haben George W. Bush bereits zu seiner Amtszeit zum fünftschlechtesten Präsidenten aller Zeiten erklärt, zum schlechtesten seit Beginn des 20. Jahrhunderts. Es ist das Pech dieses insgesamt lesenswerten und anregenden Buches, dass es zu spät kommt. Wer jetzt noch auf Bush herumhackt, steht ganz hinten in der Schlange; die Sache selbst ist so gut wie erledigt. Und wer heute die bleibende weltpolitische Wirkung von 9/11 bestreitet, hätte vor fünf oder sechs Jahren wenn nicht Aufsehen erregt, so doch für Diskussion in Politologenzirkeln gesorgt. So ist die Karawane weitergewandert, und man ängstigt sich über Aktuelleres. Wird Fukushima die Welt verändern? Auch hier muss man wohl skeptisch sein und antworten: die Welt wohl nicht, aber vielleicht die europäische Energiepolitik. l Dieter Ruloff ist Professor für Internationale Beziehungen an der Universität Zürich. 24. April 2011 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 17 Sachbuch Feminismus Streitschrift der «taz»-Chefredaktorin Bascha Mika Reden wir über uns, nicht über die Männer Bascha Mika: Die Feigheit der Frauen. Rollenfallen und Geiselmentalität – Eine Streitschrift wider den Selbstbetrug. C. Bertelsmann, München 2011. 255 Seiten, Fr. 24.90. «Geben wir es zu: Wir Frauen haben es vermasselt. (. . .) Rhetorisch sind wir emanzipiert, doch in der Praxis versagen wir jämmerlich. Wir ordnen uns unter. Freiwillig. Weil es bequem ist, weil wir Konflikte scheuen, weil wir davon profitieren. Frauen sind zu feige.» So redet Bascha Mika im Klappentext den Frauen ins Gewissen. Auf die Frage, weshalb sie die Frauen als feige beschimpfe, sagte sie während einer Buchvorstellung in Hannover, das sei ein Mutmachbuch. Ob uns das wirklich hilft? Ermutigen wollten uns schon viele vor ihr, z.B. Olympe de Gouges, Mary Wollstonecraft, Hedwig Dohm, Simone de Beauvoir, Iris von Roten, Betty Friedan, Alice Schwarzer. Sie versuchten dies, indem sie die Männer als Urheber und Nutzniesser des Patriarchats angriffen. Das tut Bascha Mika kaum mal. Gewalt erwähnt sie nur mit Bezug auf – Verbrecherinnen! Bei ihr sind die Frauen selbst schuld an ihrer Misere, weil sie den falschen Mann gewählt haben und/oder sich die Gemeinheiten der Männer bie- MARCO URBAN / SÜDDEUTSCHE ZEITUNG Von Luise F. Pusch Bascha Mika, 1999–2009 Chefredaktorin der linken «tageszeitung» (taz). ten lassen. Ob ihre Methode des «blaming the victim» (dem Opfer die Schuld geben) wirklich hilft? Oder ob sie nur hilft, das Buch zu verkaufen? Immerhin entscheiden meist Männer darüber, ob Bücher rezensiert werden. Die Rechnung ist anscheinend aufgegangen: Mikas Buch ist ein Renner. In Hannover sagte Bascha Mika, sie wende sich an die Frauen, weil nur die etwas ändern könnten. Die Männer wären zwar an vielem schuld, sähen aber gar keinen Grund zur Änderung. Das leuchtet ein. Aber selbst wenn ganz viele Frauen Mikas Appell individuell folgen und sich mutig in die «Fröste der Freiheit» und todesmutig in «Konflikte» mit dem tyrannischen und/ oder mit dem faulen Partner stürzen, überleben die patriarchalen Strukturen völlig unbeschadet. Es bedarf weiterhin des gezielten kollektiven Kampfes gegen diese Strukturen, deren Fortbestand Mika ausgerechnet den Frauen zur Last legt: «Die Strukturen sind katastrophal, und Frauen leiden darunter. Aber warum sind sie so zählebig? Warum schaffen es Frauen nicht, sie in die Luft zu jagen? Weil wir es gar nicht wollen. Weil wir nicht nur leiden, sondern auch geniessen.» Mit Verlaub, das ist Blödsinn. Strukturen lassen sich nicht «in die Luft jagen». Als feministische Linguistin und Theoretikerin kann ich ein Lied davon singen. Wie gerne würde ich mal ein paar grammatische Strukturen, frauenfeindliche Gesetze und patriarchale Denkmuster in die Luft jagen. Was not tut, sind geeignete Gegenstrukturen. Appelle, das eigene Verhalten zu ändern, können sicher mithelfen. Aber private Verhaltensänderung reicht in der Regel nicht, weil da erstens immer noch «die patriarchalen Strukturen» sind und zweitens die Mitmenschen, die ihr Verhalten nicht ändern. Frau wüsste auch gerne, wer denn mit diesem «wir» eigentlich gemeint ist. Quote und Verbote Gesellschaftlicher Wandel funktioniert nicht so, wie Bascha Mika sich das vorstellt. Nehmen wir mal die erfolgreiche Nichtrauchbewegung als Lehrbeispiel, auch wegen der Parallele des «nicht nur leiden, sondern auch geniessen». Da waren die einen, die genossen (das Rauchen) und litten (ihre Gesundheit nahm Schaden). Und da waren die anderen, die litten bloss (sie rauchten nicht und litten unter der Luftverpestung). Die beiden Gruppen als «wir» zusammenzufassen, wäre wohl ein kapitaler Denkfehler. In Bascha Mikas Eintopf namens «wir» fehlen vor allem die Widerständigen: Feministinnen, Lesben, alte Frauen, die das Spiel durchschaut haben. Auf sie, die vermutlich genauso viele sind wie die, die Unternehmensgeschichte Ein Branchenüberblick zeigt, wie die Schweizer Wirtschaft gross geworden ist Viele schämen sich für den Erfolg, weshalb R. James Breiding, Gerhard Schwarz: Wirtschaftswunder Schweiz. Ursprung und Zukunft eines Erfolgsmodells. NZZ Libro, Zürich 2011. 429 S., Fr. 58.–. Von Beat Kappeler Niemand ist dankbar, kaum jemand weiss es so richtig: Wie auf einer Insel der Seligen durchschifft die Schweizer Wirtschaft heute die Krisen des Westens – Finanzkrise, Eurokrise, Rohstoffteuerung. Das ist aber nicht neu, das Niveau der Einkommen, die Zahl der internationalen Firmen, die annähernde Vollbeschäftigung übertreffen seit Menschengedenken das nähere und fernere Ausland. Das Buch über das «Wirtschaftswunder Schweiz» von R. James Breiding und 18 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 24. April 2011 Gerhard Schwarz spürt deshalb den Ursachen nach. Dazu führt es explizit eine 43 Jahre alte Analyse fort, nämlich Lorenz Stuckis «Das heimliche Imperium» (1968). Die Hauptthese der Autoren ist klar wie bei Stucki: Die Schweizer Wirtschaft ist «imperial» gross, aber gleichzeitig sind zu viele Fakten unbekannt, heimlich fast. Und sie ziehen den Schluss gegen den Zeitgeist der letzten dreissig Jahre Schweizer Gewissensbisse: «Man sollte sich für Erfolg nicht schämen.» Die Methode folgt dem von Stucki seinerzeit eingeschlagenen Weg. Exemplarische Geschichten der grossen und mittleren Unternehmen werden nachgezeichnet. Da wundert sich der Leser, Fachmann wie Laie, wie oft Beharrlichkeit, Spürsinn und schierer Zufall zusammenspielen. Heutige grosse Uhrenmarken entstanden vor hundert und mehr Jahren oft nur, weil sich zwei Fachleute – ein Techniker und ein gewiefter Geschäftsmann – trafen. Oder die Durchbrüche zur Kondensmilch, zur Milchschokolade resultierten mehr aus Pröbelei als systematischer Forschung. Aber selbstverständlich werden auch die ganz grossen Firmen und ihre planvollen globalen Strategien vorgezeigt. Breiding und Schwarz bieten sodann eine breite Branchenschau der neuesten und innovativen Firmen. Die Medizinalfirmen Synthes, Tecan, Ypsomed, Zimmer, Nobel Biocare, Phonak werden vorgestellt, oder die verschlungenen Restrukturierungen und Aufkäufe von Teilen der grossen Maschinenindustrie. Man sieht, wie die wendigen neuen, oft unbekannten Maschinenfabriken entstanden – die Ferag für Zeitungsbeförderung, Piepers Küchen für McDonald’s, konzerne mühelos Nachwuchs erzeugen konnten, der sie dann durch süchtigen Konsum am Leben erhielt. Genau wie unsere patriarchalen Massenmedien und Institutionen systematisch ihren Nachwuchs an Mädchen und Frauen heranbilden, die die Interessen des Patriarchats in einem noch wehrlosen Alter als ihre eigenen internalisieren und es so am Leben erhalten. Meine Empfehlung: Quote und Verbote! Kommen wir von der erfolgreichen Nichtrauchbewegung zu unserer tapfer kämpfenden Frauenbewegung. Sie hat mit ihrer Aufklärungsarbeit, ihren Organisationen, Institutionen und Aktionen in der Gesellschaft Fuss gefasst und wird schliesslich das Patriarchat zu Fall bringen. Aber vielleicht gelingt das ein bisschen schneller, wenn auch die «feigen Frauen» durch Mikas Appell aufwachen und mithelfen. ● Luise F. Pusch ist Linguistin und Frauenbiografie-Forscherin in Hannover. HULTON ARCHIVE / GETTY IMAGES Mika im Visier hat und «wir» nennt, trifft ihre Analyse nicht zu. Trotz der Appelle, das Rauchen aufzugeben, rauchten die meisten weiter, und «die Strukturen» blieben ein stabiles Hindernis: die mächtigen Tabakkonzerne, ihre raffinierte Werbung, das süchtig machende Nikotin, nicht zuletzt der Staat, der an der Tabaksteuer mitverdient. Was diese Strukturen schliesslich zerstört hat, sind nicht die bekehrten ExRaucher und -Raucherinnen. Es waren vielmehr die Gegenstrukturen: Gewiefte und entschlossene Organisationen, die die Tabakkonzerne durch Musterprozesse in die Knie zwangen, und immer mehr Rauchverbote. Sicher haben Raucherinnen die «katastrophalen Strukturen» mit aufrechterhalten. Aber ihre Beteiligung war im Vergleich zu dem Anteil der wirklich Schuldigen minimal. Persönlicher Verzicht nützte wenig, solange die Tabak- Frauen kämpfen für ihre Rechte – heute ebenso wie vor 40 Jahren in New York. bloss? Thermoplans Anlagen für Starbucks. Neueste Dramatik fehlt nicht, so bei der Analyse des Finanzplatzes nach der Finanzkrise und unter dem eingeschränkten Bankgeheimnis. Die «Swiss Value Chain» mit dem ihr eigenen Vierklang aus elektronischem Handel, zentraler Käufer- und Verkäuferstelle, Effektenabwicklung und Zahlungssystem wird auf die Zukunftsfähigkeit abgeklopft. Der Schluss aus all dem lautet zuerst bescheiden, dass der Erfolg keine Garantie für die Zukunft sei und dass es keinen «Masterplan Schweiz» gegeben habe. Die vielen lebensnahen Unternehmerporträts des Buches unterstreichen die individuellen Voraussetzungen. Offenheit (auch für geniale Zuzüger), Professionalität, Berufsbildung, vernünftige Beziehungen zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern sowie der mutige Zug in die Welt hinaus zählen dazu. Obwohl die Autoren nicht in grosser Gesellschaftstheorie machen wollen, sichten sie die überindividuellen Voraussetzungen. Dazu gehören der unternehmerische Freiraum im Lande, eine nüchterne Bodenhaftung in Verbindung mit der direkten Demokratie, welche illusionäre Visionen herunterholt, die Verschiedenheit auf kleinem Raum, wodurch jeder einmal in Minderheit ist und sich anpassen muss. Die Zukunft bietet aber auch Klippen. Die globale Regulierungsmaschine senkt nationale und unternehmerische Spielräume, die «demografische Dividende» (ein boomender Nachwuchs) ist bezogen, die stete Zuwanderung macht den Raum knapp. Für andere Länder hingegen sei die Schweiz «nicht Vorbild, sondern eine Alternative». ● Evolution Primatenforscher Frans de Waal über die uralte Fähigkeit des Menschen zur Empathie Lob der Einfühlung Frans de Waal: Das Prinzip Empathie. Was wir von der Natur für eine bessere Gesellschaft lernen können. Hanser, München 2011. 352 Seiten, Fr. 37.90. Von Thomas Köster Wenn er Gott wäre, so wurde Frans de Waal von einer religiösen Zeitschrift einmal gefragt, was würde er an der Menschheit ändern? Der niederländische Primatenforscher musste lange überlegen, aber dann fiel ihm eine Antwort ein. «Wäre ich Gott», resümiert er im letzten Kapitel seines Buches, «würde ich an der Reichweite der Empathie arbeiten». Den Grund für diese weise Einsicht hat sein Buch zuvor anhand von zahllosen Beispielen aus der Welt der Affen, Katzen, Mäuse, Elefanten und Delfine illustriert. Man muss de Waal dankbar dafür sein, dass er – anders als etwa Stefan Klein in «Der Sinn des Gebens» (2010) – nicht dem Trugschluss verfällt, evolutionär gewachsenes Einfühlungsvermögen mit selbstloser Nächstenliebe zu verwechseln. Stattdessen gelingt es ihm, Empathie in sozial orientierten Gattungen schlüssig und anschaulich zwischen der «egoistischen» Überlebensstrategie einer Spezies und nicht erklärbaren, oft gattungsübergreifenden «altruistischen» Elementen zu verorten. «Ich glaube, dass alles menschliche (und tierische) Verhalten letztlich den Akteuren dienen muss», heisst es dementsprechend im Buch. Und: «Bei Empathie hat die Evolution einen Mechanismus geschaffen, der unabhängig davon funktioniert, ob es um unser unmittelbares Interesse geht oder nicht.» Natürlich gibt es auch hier beim Übersetzungsversuch in die Sphäre des modernen Homo sapiens Übertragungsfehler. So lässt de Waal fast völlig die geschichtlich gewachsene Komponente menschlichen Einfühlungsvermögens ausser acht: eines Einfühlungsvermögens, dessen Grenzen sich nicht zuletzt dort offenbaren, wo es Vertretern einer kulturellen Gruppe schwerfällt, sich in die Bräuche und Verhaltensweisen einer anderen Gruppe einzufühlen: Die europaweite Irritation angesichts der Empörung über dänische Mohammed-Karikaturen in der islamischen Welt wäre hierfür vielleicht ein Beispiel. Aber das tut der Klugheit von de Waals Ausführungen kaum einen Abbruch. «Empathie ist Teil unserer Evolution und nicht bloss ein jüngerer Teil, sondern eine uralte, angeborene Fähigkeit», lautet de Waals gut belegtes Credo. «Sich auf diese angeborene Fähigkeit zu besinnen, kann jeder Gesellschaft nur zum Vorteil gereichen.» Nach der Lektüre des Buches will man das – mit besagten Einschränkungen – nur allzu gerne glauben. ● 24. April 2011 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 19 Sachbuch Geisteswissenschaft Fritz Stern und Jürgen Osterhammel versammeln die wichtigsten Texte zum Selbstverständnis ihres Fachs – von Voltaire bis Fernand Braudel Historiker und Geschichte Fritz Stern, Jürgen Osterhammel (Hrsg.): Moderne Historiker. Klassische Texte von Voltaire bis zur Gegenwart. C. H. Beck, München 2011. 558 Seiten, Fr. 43.50. Es macht den Reiz, aber auch die Fragwürdigkeit der Geschichtswissenschaft aus, dass ihre Einsichten nicht unanfechtbar sind und die Wahrheit ihrer Erkenntnisse nicht absolut ist. Zwar ist es ein Grundbedürfnis des Menschen, sich von der Vergangenheit Rechenschaft zu geben; aber jedes Individuum und jede Epoche tut dies auf eine eigene Weise. Dies war dem deutschamerikanischen Historiker Fritz Stern, Professor an der Columbia University in New York, bewusst, als er vor einem halben Jahrhundert seine Sammlung wichtiger Texte zum Selbstverständnis des Fachs unter dem Titel «The Varieties of History from Voltaire to the Present» herausgab. Nun, im hohen Alter von 85 Jahren, hat sich Stern mit dem fast dreissig Jahre jüngeren Kollegen Jürgen Osterhammel von der Universität Konstanz zusammengetan, und beide haben diese Anthologie erweitert und bis in die Gegenwart fortgeführt. Am Anfang stehen damals wie heute Texte von Voltaire, der im Geist der Aufklärung den kritischen Zugang zu den Geschichtsquellen suchte und die Idee einer Universalgeschichte entwarf. Im 19. Jahrhundert fehlt es nicht an aufschlussreichen Aussagen der Historiker zu ihrem Geschichtsbild. Von den Autoren, welche die Herausgeber zu Wort kommen lassen, seien hier Leopold von Ranke, Jules Michelet, Thomas Carlyle und Henry Thomas Buckle hervorgehoben. Ranke, oft zitiert und wenig gelesen, wird mit einer kritischen Stellungnahme zur Geschichtsphilosophie und zur Fortschrittsgläubigkeit vorgestellt. Michelet präsentiert sich in einem temperamentvollen Brief an einen Fachkollegen als Entdecker der französischen Volksseele, während Carlyle ein beredtes Plädoyer für die grosse Persönlichkeit in der Geschichte hält. Für Methodenvielfalt Von Henry Thomas Buckle wird ein Bekenntnis zum Positivismus wiedergegeben, das die Geschichte in die Nähe der Naturwissenschaften zu rücken sucht. Einer der schärfsten Kritiker Buckles war Johann Gustav Droysen, der in seiner «Historik» dem Glauben an histori20 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 24. April 2011 BPK Von Urs Bitterli Leopold von Ranke (1795–1886): deutscher Historiker und königlich preussischer Wirklicher Geheimer Rat. sche Gesetzmässigkeiten widersprach und für Vielfalt und Verfeinerung der Methoden eintrat. Der historische Materialismus wird in der vorliegenden Anthologie relativ knapp, aber mit eindrücklichen Textpassagen von Karl Marx, Friedrich Engels und Jean Jaurès dargestellt. Das Zeitalter der bürgerlichen Geschichtsschreibung wird abgeschlossen mit zwei umfangreichen Texten von Friedrich Meinecke und Johan Huizinga. Meinecke sucht die Tradition von Rankes Historismus fortzusetzen, und der Holländer Huizinga warnt mit einem Text aus den dreissiger Jahren des letzten Jahrhunderts eindringlich vor den Gefahren einer Mystifizierung und Ideologisierung der Geschichte. Wie sich dann die Diktaturen Stalins und Hitlers der Verführbarkeit der Historiker zu bedienen wussten, wird an Texten des sowjetischen Historikers Michail N. Pokrovskij und des Nazi-Historikers Karl Alexander von Müller auf beklemmende Weise deutlich. Die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg ist im Wesentlichen durch eine Öffnung der Geschichtswissenschaft gegenüber den Sozialwissenschaften gekennzeichnet. In Frankreich ging die Historikerschule der «Annales» neue Wege; sie ist in diesem Sammelband mit wichtigen Texten von Marc Bloch und Fernand Braudel vertreten. Im Gefolge der «Annales» erweiterte sich das Themenfeld der Geschichte zur Alltags- und Mentalitätsgeschichte hin, und das Fach nahm Anregungen aus benachbarten Disziplinen wie der Ethnologie und Volkskunde auf. Die Grenzen der nationalen und kontinentalen Geschichte wurden aufgebrochen, wie die Texte der Inderin Romila Thapar und des Chinesen Ma Keyao zeigen. Selbst das Erscheinungsbild des Historikers scheint sich verändert zu haben, wie man einem aufschlussreichen autobiografischen Bericht einer Vertreterin der Historischen Anthropologie, der Amerikanerin Natalia Zemon Davis, entnehmen kann. Der Professor, der ein dickes Buch schreibt und den Rest seines Lebens darauf verwendet, das so erlangte Wissensmonopol einfach nur zu verteidigen, scheint endgültig verschwunden. Lesenswerte Texte Der moderne Historiker ist neugierig, aufgeschlossen und weiterbildungswillig, bewegt sich gewandt in weltweiten Beziehungsnetzen, schreibt vornehmlich wissenschaftliche Artikel und Buchbeiträge und erweist sich nebenher noch als Meister der Projektplanung und der Drittmittelbeschaffung. Kein Zweifel: Es atmet sich freier in den historischen Kompetenzzentren heutiger Universitäten als in den Seminarien von einst, wo eine einzige ungeschickte Antwort den Gunstentzug des Professors bewirken konnte. Bleibt nur zu hoffen, dass die Historiker in der babylonischen Verwirrung der Methodenvielfalt und im L’art pour l’art ihrer scharfsinnigen Kontroversen nicht ganz die politische Wirklichkeit und die staatsbürgerliche Funktion ihres Fachs aus den Augen verlieren. Die Sammlung historischer Texte von Stern und Osterhammel ist mit ihren nützlichen Literaturhinweisen ein lesenswertes Buch, auch wenn man sich natürlich Textsammlungen vorzustellen vermag, welche die Akzente ganz anders setzen. ● Urs Bitterli ist emeritierter Professor für neuere Geschichte an der Uni Zürich. Erdbeben Grossartiger Augenzeugenbericht aus Haiti Yanick Lahens: Und plötzlich tut sich der Boden auf. Ein Journal. Rotpunkt, Zürich 2011. 155 Seiten, Fr. 27.–. Von Urs Rauber Am 12. Januar 2010 um 16.53 Uhr bebt in Port-au-Prince die Erde. 40 Sekunden lang. Haitis Hauptstadt ist besessen «von einem jener Götter, die Fleisch essen und Blut trinken». Yanick Lahens steht in ihrem Wohnzimmer und hält sich am Türrahmen fest. Erlebt Schübe von links nach rechts, von unten nach oben. «Ich schaue nach draussen, sehe mein Auto auf- und abhüpfen und warte darauf, dass es jeden Moment den Hang hinterm Haus hinabrollt.» Die 58-jährige Schriftstellerin Yanick Lahens, eine der wichtigsten intellektuellen Stimmen ihres Landes, hat die Erschütterung Haitis in einem Journal festgehalten, das 2010 in Paris in der französischen Originalausgabe erschienen ist. Der 150 Seiten starke Essay ist zugleich Augenzeugenbericht wie politische Analyse: kraftvoll, poetisch, eindringlich. Wie der ausdrucksstarke Blick dieser haitianischen Autorin auf der Innenseite des Buchumschlages. Kann ein Katastrophen-Buch schön sein? Es kann – wie Lahens beweist. Die Publizistin und Dozentin für Literatur in Port-au-Prince schildert nicht nur die dramatischen Ereignisse am 12. Januar und danach. Erzählt, wie Menschen per Handy mit Nachbarn in Kontakt treten, die unter Trümmern begraben liegen. Sie erlebt den Schrei eines Mädchens, dem im Hof eines Spitals ohne Narkose beide Beine amputiert werden. Aber sie beschreibt auch, wie in ihr das «beschützende Muttertier» erwacht, wie sie in ihrem nur teilweise zerstörten Haus eine Kaffeepause einlegt und wie sie – wie immer am Sonntag – ihre intellektuellen Freunde zum Gedankenaustausch, zur geistigen Ernährung trifft. Hier greift der Erlebnisbericht weit über die Erdbeben-Reportage hinaus, wird zur Reflexion über die tektonischen Veränderungen der ersten schwarzen Republik und ihrer 200-jährigen Geschichte. Mit analytischer Schärfe seziert die Autorin die verhängnisvolle Zweiteilung der haitianischen Gesellschaft in «Bossales» (von franz. «peau sale», dunkelhäutige, afrikanischstämmige Arme) und «Creoles» (hellhäutige Mulatten, Wohlhabende). Beide Gruppen liefern sich seit einem halben Jahrhundert ein Katz-und-Maus-Spiel, wenn es um die Besetzung des öffentlichen Raumes geht. Die Rede ist von den Wun- den der Stadt, von Elend und Desillusionierung ebenso wie von den immer wieder keimenden Hoffnungen. Mit kritischem Blick verfolgt Lahens das Wirken der ausländischen Medien, die «laut und undifferenziert» von Inkompetenz und Korruption berichteten und so die Beschäftigten der öffentlichen Verwaltung ein zweites Mal sterben liessen. Und zwiespältig beurteilt sie das Wirken der zahlreichen internationalen NGOs, die nach Ausbruch der Katastrophe das Land richtiggehend besetzt und sich «neunzig Prozent der bereitgestellten Gelder gesichert» hätten. Diese künstliche «Mund-zu-Mund-Beatmung» funktioniere hier nicht, eine un- RAMON ESPINOSA / AP Vierzig Sekunden verändern eine Gesellschaft Das Erdbeben vom 12. Januar 2010 stürzt Haiti erneut ins Elend. terentwickelte Gesellschaft wie Haiti könne durch solche Hilfe nicht wiederbelebt werden. Schliesslich verzahnt die Literatin ihren Augenzeugenbericht und die politische Analyse mit zwei Figuren aus dem von ihr begonnenen Liebesroman, an dem sie bei Ausbruch des Erdbebens am 12. Januar 2010 gesessen hat. Sie begleitet fiktiv die beiden Protagonisten Nathalie und Guillaume an den Schauplatz ihrer ersten Begegnung in Port-au-Prince, der inzwischen verschwunden ist. Noch weiss sie nicht, wie die Geschichte weitergeht. Ein grossartiges Buch, das dem gebeutelten Haiti ein Stück Stolz und Würde zurückgibt. ● Eckhardt Köhn Rolf Tietgens – Poet mit der Kamera Fotografien 1934 -1964 Hamburg, Berlin und seit 1939 New York sind die Lebensstationen von Rolf Tietgens (1911-1984), einem der talentiertesten Fotografen seiner Generation. Neben zwei außergewöhnlichen Fotobüchern kennzeichnen Arbeiten zur Landschafts-, Reise-, Werbe- und Porträtfotografie sowie surrealistische Bildstudien sein Werk, das hier erstmals in einer umfassenden Monographie vorgelegt wird, zugleich ein Beitrag zur deutschen Fotografie im Exil. 382 Seiten, deutsch/englisch, 210 Abbildungen, Format 21,5 x 23,5 cm, Leinen, F 48.– ISBN 978-3-906336-57-2 (28) 24. April 2011 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 21 Sachbuch Porträt Das abenteuerliche Leben eines schwererziehbaren griechischen Jugendlichen, der zum Jahrhundertfälscher wurde Die Welt um den Finger gewickelt Rüdiger Schaper: Die Odyssee des Fälschers. Die abenteuerliche Geschichte des Konstantin Simonides, der Europa zum Narren hielt und nebenbei die Antike erfand. Siedler, München 2011. 205 Seiten, Fr. 26.90. Von Fritz Trümpi Es gibt ein richtiges Leben im Fälschen! Der deutsche Publizist Rüdiger Schaper widmet der Wirklichkeitsflunkerei ein hübsches Büchlein und begab sich dazu auf die Spuren des Jahrhundertfälschers Konstantin Simonides. Vom biografischen Aspekt her betrachtet ist dies kein leichtes Unterfangen, denn Simonides verstand sich nicht nur bestens darauf, Schriften aus der Antike zu fälschen – genauer gesagt: zu erfinden –, sondern er wandte seine erfinderische Fälschungskunst nur allzu gerne auch auf sein eigenes Leben an. So wurde er an mindestens zwei Orten zu unterschiedlichen Zeitpunkten geboren (1820 in Symi und 1824 in Hydra) und starb einmal 1867 in Alexandrien an der Lepra, ein zweites Mal hingegen 1890 in Albanien. Dazwischen – und dies ist vielleicht die einzige biografische Gewissheit – lag ein abenteuerliches Leben, das einem äusserst kunst- und fantasievollen Umgang mit Wahrheit und Wirklichkeit verschrieben war. Simonides wurde – so viel steht fest – ins von einer Amour fou fürs Alte getragene 19. Jahrhundert hineingeboren. SERGEJ PRODUKIN-GORSKIJ Russland Glanz und Untergang des Zarenreiches Kaum war in Moskau Iwan IV. 1546 zum ersten Zaren von Russland gekrönt worden, begann das Reich sich auszudehnen und wurde zum Vielvölkerstaat. Tataren, Wotjaken, Jakuten, Tungusen, Korjaken Baschkiren, Kalmücken und viele andere mehr wurden dem Riesenimperium einverleibt. Deren rechtliche Ordnung, Wertesysteme und Religionen blieben jedoch oft unangetastet, viele der neuen Untertanen waren Moslems. So auch Alim Chan, der letzte Emir von Buchara (siehe Foto), dessen Herrschaftsgebiet lediglich als russisches Protektorat eingegliedert wurde. Der Fotograf Sergej ProkudinGorskij hat das Bild 1911 aufgenommen. Er hatte auf Geheiss von Nikolaus II. eine mehrjährige Reise durch das russische Reich unternommen; der letzte Zar wünschte ein Farbporträt seines ihm weitgehend 22 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 24. April 2011 unbekannten Imperiums. Sieben Jahre später wurden der Zar und seine Familie hingerichtet, die Leichen im Wald verscharrt – das unrühmliche Ende einer glanzvollen Ära. Der reich bebilderte Band der Historikerin Claudia Weiss führt uns durch die 370 Jahre Zarenherrschaft. Wir begegnen dem Reformer Peter I., der Russland nach westlichem Vorbild umformen wollte, der Deutschen Katharina der Grossen, dem autokratischen Restaurator Nikolaus I., der Russland politisch ins Abseits führte. Eingestreut sind Porträts von bedeutenden Russen, wie dem Ikonenmaler Andrej Rublev, dem Universalgelehrten Michail Lomonossov, dem Dichter Aleksander Puschkin. Geneviève Lüscher Claudia Weiss: Das Reich der Zaren. Aufstieg und Untergang. Theiss, Stuttgart 2011. 176 S., Fr. 56.90. «Es ist die Energie des technisch-industriellen Fortschritts, der ohne Rückgriff auf die verschütteten Zeiten anscheinend nicht auszuhalten ist», erläutert Schaper die Antiken-Vernarrtheit dieser Epoche. Zum Dreh- und Angelpunkt der Beschäftigung mit der Antike wurden alsbald die Klöster, jene des Balkans und der Levante etwa, in denen unermessliche Schätze schlummerten, welche deutsche oder britische Forscher nicht nur studierten, sondern gern auch kurzerhand mit nach Hause nahmen. Diese Gier nach antiken Artefakten rief zahlreiche Fälscher auf den Plan, die spektakuläre «Funde» erfanden, um westliche Jäger und Sammler auf lukrative Weise um den Finger zu wickeln. Einer der berüchtigtsten war der Grieche Konstantin Simonides, der früh mit dem Kloster Bekanntschaft schloss. Nach dem (gescheiterten) Versuch, seine Eltern zu vergiften, wanderte er als schwererziehbarer Jugendlicher auf den Athos. Von Mönchen unterrichtet, eignete er sich im Laufe der Jahre antike Sprachen und Schriften an und entfaltete daraufhin eine stupende Produktivität: Schaper schätzt, dass Simonides bis zu 3000 Manuskripte erfunden und gefälscht haben dürfte – und dies dank seiner hohen kalligrafischen Kunstfertigkeit auf höchstem Niveau. Dass zeitgenössische Quellen sogar von mindestens 5000 Schriftstücken berichten, die er in seinem Besitz gehabt haben soll, zeigt den hohen Respekt, den Simonides genoss – «als Wissenschaftler und als Schurke», so Schaper, der Simonides und dem Fälscherwesen insgesamt mit grosser Sympathie begegnet. Denn gerade in solchen Fälscher-Gestalten stecken nach Schaper starke geschichtsprägende Kräfte: «Simonides steht für die andere Seite der Geschichtsschreibung, für das nicht in Stein Gemeisselte. Aus seinem Leben und seinem Werk lernt man, wie das gemacht wird – Geschichte. Denn Geschichte ist immer etwas Gemachtes, Gewolltes, Unterdrücktes, Herausgehobenes, Hin- und Her-Gedrehtes. Es liegt viel Wahres in Fälschungen.» Dass Simonides zu letztlich verhängnisvollen Übertreibungen neigte, steht auf einem anderen Blatt. Seine vielleicht spektakulärste Fälschung ist ein Matthäus-Evangelium, das angeblich 15 Jahre nach Christi Himmelfahrt von einem Diakon Nikolaos geschrieben worden sein soll: Obschon im Handwerklichen von überragender Qualität, waren seine Fälschungen oft allzu aufsehenerregend, um nicht Verdacht auf sich zu ziehen. Simonides war denn auch immer wieder Verfolgungen ausgesetzt und einmal wurde er sogar verhaftet. Um sich definitiv aus dem Spiel zu nehmen, blieb ihm über kurz oder lang offenbar nur der vorgezogene Lepratod – mit Sicherheit die perfekteste Fälschung des Konstantin Simonides. ● Geschichte Mary Lavaters Biografie des Basler Bürgermeisters Joh. Rudolf Wettstein neu aufgelegt Schweizerkönig auf bescheidenem Thron Mary Lavater-Sloman: Der Schweizerkönig Johann Rudolf Wettstein. Römerhof, Zürich 2011. 239 S., Fr. 36.–. Von Christoph Blocher PHOTOPRESS / KEYSTONE «Es ist reichs- und weltkündig, dass die Eidgenossenschaft ein freier Stand ist, so nebst Gott einzig von sich selbst abhängt.» Mit dieser selbstbewussten, der Wirklichkeit entsprechenden Aussage begründete anlässlich der Westfälischen Friedensgespräche von 1646 bis 1648 der Schweizer Abgesandte seine unerschütterliche Absicht, für die Schweiz volle Souveränität zu erreichen. In die Reihe ungewöhnlicher Biografien nimmt der Römerhof Verlag in verdienstvoller Weise auch den Basler Bürgermeister Johann Rudolf Wettstein (1594–1666) auf. Dies geschieht nicht in einer modernen, sogenannt «kritischen» Studie, sondern in einer Neuauflage des 1935 erschienenen Romans «Der Schweizerkönig» von Mary Lavater-Sloman. Verteidiger der Souveränität Es dürfte manchen Zeitgenossen missfallen, dass neuerdings mit Johann Rudolf Wettstein eine Persönlichkeit gewürdigt wird, die der später so erfolgreichen schweizerischen Unabhängigkeit und Neutralität zum Durchbruch verhalf. Vielleicht darum empfanden es die Herausgeber für nötig, mit Georg Kohler einem Professor das Nachwort erteilen zu müssen, der die Souveränität unseres Landes gerne kleinschreibt und selbstverständlich auch hier als «Mythos» entlarvt. Etwas naserümpfend wird an die 1935 bereits herrschende Geistige Landesverteidigung erinnert, in deren Dienst sich die Autorin gestellt hat. Tatsächlich waren ihre reichs- und diktaturkritischen Ansichten für das damalige Schweizer Publikum unüberlesbar. Wenn Kohler – wohl in Begeisterung über den heutigen Kongresstourismus – lobend bemerkt, schon früher seien unsere Politiker an jene Orte gereist, wo die europäischen Entscheide gefallen seien, so wäre ihm nach der Lektüre von «Der Schweizerkönig» zu entgegnen, dass wir unsere Bundesräte durchaus gerne dorthin reisen liessen – sofern sie wie weiland Bürgermeister Wettstein so zäh und hartnäckig die schweizerische Souveränität verteidigten und mit einem entsprechend besiegelten Dokument zurückkehrten. Ausgangspunkt von Johann Rudolf Wettsteins diplomatischer Mission bildete ein relativ geringer Anlass, nämlich die Zitierung eines Basler Bürgers vor das Reichskammergericht in Speyer. Mit dem weitsichtigen Auge des Staats- Basel, die Heimat von Johann Rudolf Wettstein (1594 bis 1666). Kupferstich aus dem 17. Jahrhundert. manns erkannte der Basler Bürgermeister, dass anlässlich des Westfälischen Friedenschlusses nach dem Dreissigjährigen Krieg die einmalige Chance bestand, für die Eidgenossenschaft nach der faktischen auch noch die formelle Trennung vom Reich deutscher Nationen zu vollziehen. Zu seinem grossen Kummer erhielt er das Verhandlungsmandat nur von den reformierten Orten, doch kämpfte Wettstein in Münster und Osnabrück für die Unabhängigkeit der gesamten Schweiz. In ihrer packend zu lesenden, romanhaften Schilderung verlässt Mary Lavater-Sloman zuweilen die exakte Chronologie und schiebt auch eine frei erdachte Liebesbeziehung dazwischen. Dennoch hält sie sich im Wesentlichen an Briefe, Tagebücher und offizielle Berichte. Diesen ist zu entnehmen, wie bescheiden der Basler Bürgermeister residierte; anlässlich eines Besuchs des schwedischen Bevollmächtigten konnte Wettstein diesem lediglich einen Stuhl anbieten, an dem eine Armlehne fehlte: «Ich bin übereilt worden», schrieb er nach Hause, «hätte sonsten die andere zur Erhaltung der schweizerischen Reputation auch noch abgebrochen.» Mit Überlegenheit und feinem Gespür für das Machbare behielt er die Distanz zu den ihm wohlgesinnten Franzosen, gewann die Gunst der Kaiserlichen und vermochte die anfangs abweisenden Schweden umzustimmen. Dies alles gelang ihm bei schwersten körperlichen Leiden, die ihn nicht selten hinderten, seine armselige Herberge zu verlassen. Wettsteins Auftreten war schlicht und sicher, seine Kenntnisse der politischen Verhältnisse waren so umfassend, dass es ihm schliesslich gelang, die wichtigsten Abgeordneten des Friedenskongresses von der eidgenössischen Sache zu überzeugen. Er bewegte sich zwischen den Abgesandten europäischer Monarchien so selbstverständlich und wenig unterwürfig, dass Wettstein bei ihnen bald den Namen «Schweizerkönig» trug. Nach fast einjähriger Abwesenheit kehrte er in seine Heimat Basel zurück. Lebendiges Stück Geschichte So bescheiden sich sein Gefolge im Vergleich zur Prachtentfaltung der Fürstenhöfe ausnahm, so unermesslich wertvoll war der Vertrag, den er mit sich führte: Die Eidgenossenschaft und deren Gerichte waren fortan in «Besitz und Gewähr völliger Freiheit und Ausgliederung vom Reiche». Wie würde Wettstein heute urteilen, wenn er zusehen müsste, wie die Abgeordneten der Schweiz an Kongresse reisen, um dabei die schweizerische Freiheit zu verspielen und fremde Richter zu akzeptieren? Unseren Regierungsleuten, Politikern und Diplomaten wäre Mary LavaterSlomans neu aufgelegter Roman «Der Schweizerkönig» besonders zu empfehlen. Aber auch alle anderen Leserinnen und Leser erhalten mit der leicht überarbeiteten Fassung einen lebendigen Einblick in ein entscheidendes Stück Schweizer Geschichte. ● Christoph Blocher ist Unternehmer und alt Bundesrat. 24. April 2011 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 23 Sachbuch Aufklärung Philipp Blom erinnert an berühmte und weniger berühmte Denker im Schatten Voltaires und Rousseaus Philipp Blom: Böse Philosophen. Ein Salon in Paris und das vergessene Erbe der Aufklärung. Hanser, München 2011. 400 Seiten, Fr. 37.90. Von Kirsten Voigt Jenseits von Gut und Böse, den Normen einer religiös fundierten Ethik, sahen sie sich dem logischen Denken, der Empirie, dem Zweifel, der Gerechtigkeit, dem Streben nach wissenschaftlicher Erkenntnis und individuellem Glück für alle verpflichtet. Die wahren, die radikalen Aufklärer: Baron Paul-Henri Thiry d’Holbach, Denis Diderot und einige der klügsten Köpfe Europas. Die kühnsten Gedanken der Epoche wurden in der Rue Royale Saint-Roch gedacht, in Holbachs Salon. Das Essen war exquisit. Der Wein floss reichlich, vielleicht nicht zuletzt, weil Holbach 1723 als Sohn eines Winzers zur Welt gekommen war. Der Zirkel mutiger Frei- und Selbstdenker diskutierte hier Glaubensdinge und Politisches, die menschliche Natur und Fragen der Moral, Willensfreiheit, Sexualität, Todesstrafe und Tyrannenmord. Philipp Blom verhilft diesem Kreis, zu dem auch der Mathematiker d’Alembert, der Zoologe Buffon, der Ökonom Galiani, der Publizist Friedrich Melchior Grimm, David Hume und Adam Smith gehörten, mit seinem Buch zu neuen Ehren. Völlig neu sind diese freilich nicht, weil Blom selbst mit «Das vernünftige Ungeheuer» im Jahr 2005 die Geschichte der Enzyklopädie schrieb und damit Vorarbeiten leistete. Die Neuerscheinung legt nun den Akzent auf eine Umwertung und sucht, die weniger bekannten Denker aus dem Schatten Voltaires und Rousseaus treten zu lassen. Mit kühnen und aktuellen Argumenten schliesst Blom dabei ethisch ambitioniert an Forderungen dieser Materialisten an. Dass das Projekt der Aufklärung längst nicht erledigt, sondern noch nicht einmal in seinen differenzierteren philosophiehistorischen Verästelungen begriffen ist, wird dabei klar. Diese kartographiert der Historiker eingehend, aber er erzählt damit geschickt verwoben auch, unter welchen persönlichen, psychischen und sozialen Bedingungen diese Männer ihre Überzeugungen entwickelten. In Versailles verschwendete der Hof Unsummen, auf den Strassen von Paris häuften sich die Exkremente, für den Besitz blasphemischer Schriften konnte man hingerichtet werden. Und während «amüsante» öffentliche Elektroschock-Experimente an königlichen Leibwächtern und Kartäusermönchen gemacht wurden, kursierten im Salon erstaunlich treffende, prädarwinistische Thesen. Mit Texten, die unter falschen Namen gedruckt, in Heringsfässern über die Grenzen geschmuggelt wurden, gelang es Holbach und seinen Freunden, ihre Ideen zu lancieren. Diderot, der vielleicht nicht ganz so unterbewertet ist, ROGER VIOLLET / ULLSTEIN BILD Der Baron gab Gedankenfreiheit Das Pariser Café Procope, wo sich im 18. Jahrhundert die führenden Köpfe der Aufklärung trafen. wie Blom behauptet, hatte sich 1749 nach seiner Inhaftierung verpflichten müssen, keine philosophischen Traktate mehr zu verfassen. Seine Überzeugungen gingen von da an kryptisch in seine Romane und die Enzyklopädie ein, das subversivste publizistische Projekt des 18. Jahrhunderts. Holbach machte seine Überzeugungen in «Das entschleierte Christentum» oder «Le système de la nature» klar: Der Mensch sei unglücklich, weil er die Natur verkenne und bislang nicht in der Lage gewesen sei, eine Moral ohne Gott, das einzige Fundament einer wirklich friedlichen Gesellschaft, zu entwickeln. Laurence Sterne notierte 1764 nach dem Besuch von Holbachs Salon, hier verkehrten die Philosophen ohne «Beissen und Kratzen». Das galt für alle ausser Rousseau, den Blom als den perfiden und paranoiden Psychopathen der Aufklärung vorführt. Dass die Gebeine Holbachs und Diderots in der Eglise Saint-Roch ruhen, will bis heute nicht einmal der Pfarrer dieser Kirche wissen. Für manch einen sind die Thesen des Holbach-Kreises immer noch zukunftsweisend und bedenkenswert, für andere bleiben sie bedenklich, ja erschreckend. ● Zukunft Rezepte für eine bessere Welt, die weniger Energie braucht Siesta machen statt kühlen Marcel Hänggi: Ausgepowert. Das Ende des Ölzeitalters als Chance. Rotpunkt, Zürich 2011. 364 Seiten, Fr. 38.–. Von Patrick Imhasly Manchmal kommt es vor, dass das Thema eines Sachbuchs über Nacht brandaktuell und der Autor zum Troubleshooter wird. Dem Wissenschaftsjournalisten Marcel Hänggi ist es mit seinem neuen Buch «Ausgepowert» so ergangen. In dem Werk setzt sich der Zürcher Historiker mit der zentralen Frage auseinander, wie wir unseren Energiebedarf decken können, wenn das Zeitalter des Erdöls einmal vorbei ist. Wäre der Text nicht vor der Atomkatastrophe in Japan abgeschlossen gewesen, 24 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 24. April 2011 würde Hänggi im Untertitel wohl vom «Ende des Atomzeitalters» sprechen. Hänggi ist kein Freund der halben Sachen. Und so redet er nicht etwa den erneuerbaren Energien oder der effizienteren Nutzung von Energie das Wort. Nein, er fordert geradezu eine neue Gesellschaft, die massiv weniger Energie braucht. «Den Energieverbrauch auf ein Drittel zu reduzieren, indem man die Energie dreimal so effizient nutzt, hiesse, an unserer Hochenergiegesellschaft festzuhalten und das menschliche Mass weiterhin zu überschreiten. (...) Das wäre etwa so revolutionär, als hätte man 1789 in Frankreich gefordert, der Adel solle das Volk effizienter ausbeuten.» Das Buch ist erhellend, wenn der Autor analytisch vorgeht. Das Potenzial verschiedener Energieträger – vom Erdöl bis zum Wind – ist akribisch recherchiert und wird facettenreich beschrieben. Und die Darstellung des bisweilen grotesk hohen Energiebedarfs in der Landwirtschaft regt zum Denken an. Hänggis Rezepte für eine Gesellschaft, in der die Menschen gemächlicher ticken, bei Hitze Siesta machen statt ihre Büros mit Klimaanlagen zu kühlen oder verschwitzte Kleider in Kauf nehmen statt diese jeden Tag zu waschen, sind manchmal sympathisch öfter Geschmackssache, letztlich aber weltfremd. Ärgerlich wird es dann, wenn der Autor allzu tief in die ideologische Mottenkiste greift und zum Beispiel die Begeisterung für das Autofahren mit einem faschistoiden Hang zur Ausübung von Macht vergleicht. ● Mathematik NZZ-Korrespondent George Szpiro legt zwei historische Untersuchungen vor Von Orangen und Schneeflocken George G. Szpiro: Die Keplersche Vermutung. Wie Mathematiker ein 400 Jahre altes Rätsel lösen. Springer, Heidelberg 2011. 323 Seiten, Fr. 43.50. George G. Szpiro: Die verflixte Mathematik der Demokratie. NZZ Libro, Zürich 2011. 212 Seiten, Fr. 43.50. Von André Behr Wenn Mathematiker populäre Bücher schreiben, wählen sie oft die Form der gut konsumierbaren Stückchen. Auch George G. Szpiro hat auf Deutsch bereits drei solche Sammlungen veröffentlicht. Nun sind vom 60-jährigen, in Jerusalem lebenden NZZ-Nahostkorrespondenten Übersetzungen zweier 2010 in US-Verlagen publizierter Arbeiten erschienen, die sich einem Einzelthema widmen. Das eine Buch handelt von der «Kepler Vermutung», einem alten Problem. Ende des 16. Jahrhunderts hatte der englische Seefahrer Sir Walter Raleigh seinem Assistenten Thomas Harriot die Aufgabe gestellt, die Anzahl von gestapelten Kanonenkugeln allein aus der Stapelform zu ermitteln. Harriot lieferte seinem Meister die Formel, erweiterte das Problem aber um die Frage, wie man die Kugeln am effizientesten lagern muss, damit möglichst viele in den Schiffsladeraum passen. Da er die Antwort nicht gleich fand, schrieb er an Johannes Kepler, den damals führenden Mathematiker und Astronomen. Kepler erkannte, dass die Natur für dieses Problem bereits Lösungen gefunden hat, und begann, verschiedenste Formen wie Bienenwaben oder auch Schnee zu untersuchen, was im Jahr 1611 zur Veröffentlichung seiner Schrift «Über die sechseckige Schneeflocke» führte. In Bezug auf die Ursprungsfrage konnte jedoch selbst er nur eine Vermutung äussern: Die dichteste Packungsform sieht man etwa auf dem Markt, wenn Händler auf ihren Tischen Orangen stapeln. Einige der besten Köpfe versuchten über die Jahrhunderte einen Beweis für Keplers Vermutung zu finden. Bewiesen hat sie erst Thomas Hales 1998, dank dem Einsatz komplexer Computerberechnungen. Hätte er geahnt, dass das Clay Mathematics Institute im Jahr 2000 sechs berühmte Probleme auswählt, für deren Lösung man eine Million Dollar verdienen kann, hätte er mit einer Ver- öffentlichung wohl etwas zugewartet. Die meisten Mathematiker akzeptieren den computergestützten Beweis von Hales, obwohl er einem puristischen Anspruch nicht genügen kann. Szpiro schildert diese moderne Problematik genauso gründlich, wie er den verschlungenen historischen Wegen bis zu Hales nachspürt. Dasselbe gilt für Szpiros Buch über mathematische Probleme in der Demokratie. In den Nachrichten hören wir jeden Tag von den Schwierigkeiten, demokratische Strukturen zu implementieren. Zu welch paradoxen Resultaten die Umsetzung dieser hoch gelobten Staatsform jedoch allein aus mathematischen Gründen führt, wird erst bei der Lektüre klar. Etwa wenn es darum geht, eine der Parteienstärke gerechte Sitzverteilung in einem Parlament zu finden. Szpiro beschreibt die Lösungssuche wieder im Kontext der historischen Entwicklung und muss uns am Ende mit einer «traurigen Schlussfolgerung» zurücklassen: Alle Wahl- oder Zuteilungsverfahren haben ihre Unzulänglichkeiten. Warum das englische Vorwort nicht mit übersetzt worden ist, bleibt leider auch ein Rätsel. ● www.rowohlt-berlin.de <wm>10CAsNsjY0MDAx0jUwMLQ0MAMAtXfYTw8AAAA=</wm> <wm>10CFWKIQ6AMBAEX9Rm99o7Wk6SOoIg-BqC5v-KgkPMZpKddXWN-FjadrTdCWQJACvMtWqUyTzVGq1kR6YKyJmUxGL45WGsJaT-JgE5UPsQGX_pWhjv83oACP2M53EAAAA=</wm> © Frank Zauritz Auch als E-Book So weit ist Wolfgang Büscher noch nie gegangen Zu Fuß durch Amerika: «Hartland», das neue Reiseabenteuer 304 Seiten. Gebunden € 19,95 (D) / € 20,60 (A) / sFr. 30,50 (UVP) 24. April 2011 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 25 Sachbuch Südamerika Schon lange vor den sagenhaften Inkas gab es in den Anden hochzivilisierte Völker Fünftausend Jahre Kultur in Peru 5000 Jahre alten Entwicklung. Schon rund 1000 Jahre vor den ägyptischen Pyramiden bauten die Bewohner in Sechin Bajo im Casma-Tal die älteste monumentale Kultanlage Amerikas. Im Tal des Rio Casma, einer Verbindung zwischen der peruanischen Hochebene und der Pazifikküste, liegen über fünfzig sakrale Grossanlagen aus einer mehrtausendjährigen Geschichte. Zick hat die Ausgrabungsstätten besucht, mit Archäologen und Archäologinnen gesprochen. Er präsentiert uns gut lesbar und reich bebildert die neuesten Forschungsergebnisse einer in Peru noch sehr jungen Wissenschaft. Vorerst bleibt aber vieles rätselhaft, lässt sich nicht einordnen, kaum datieren. Erste Mosaiksteinchen lassen jedoch auf eine überraschend reiche Vergangenheit schliessen. Im Casma-Tal lebten schon vor den Monumentalarchitekten Menschen. Von ihnen stammen einfache Hütten. Wie Michael Zick: Die rätselhaften Vorfahren der Inka. Theiss, Stuttgart 2011. 160 Seiten, Fr. 49.90. Von Geneviève Lüscher Schon vor ein paar Jahren hat der deutsche Wissenschaftsjournalist Michael Zick eine Reise aus Raum und Zeit unternommen. Damals ging es in die Türkei, wo er uns mit der Wiege der westlichen Zivilisation vertraut gemacht hat. Nun zeigt er eindrücklich, dass der Westen nicht der Nabel der Welt ist: In Peru warten alte, faszinierende Kulturen nur darauf, entdeckt zu werden. Wer ans präkolumbische Peru denkt, denkt an die Inkas und vielleicht noch an Machu Picchu, dann hört das Wissen bald einmal auf. Das Reich der Inka aber war nur kurz; es dauerte von 1438 bis 1534 und war der Schlusspunkt einer und wo sich die Architektur der komplexen Kultbauten entwickelt hat, ist nicht bekannt; noch fehlen die Zwischenstufen. Ebenso plötzlich sind auch bildliche Darstellungen da; die ältesten Steinreliefs Amerikas befinden sich im Casma-Tal. Aber wo sind die Menschen geblieben? Bis anhin konnten keine Gräber gefunden werden. Auf die Sakralbauten im Casma-Tal folgen verschiedene Kulturausprägungen, die erst in den letzten zwanzig Jahren in den Fokus der archäologischen Forschung geraten sind: Nazca mit den berühmten Bodenzeichnungen in Südperu, Sipàn mit den reichen Königsgräbern in Nordperu und verschiedene regionale Kulturen. Als im 16. Jahrhundert der Spanier Francisco Pizarro entlang der Pazifikküste von Norden nach Süden vordringt, stösst er 1531 auf die berühmten Inka. Nur drei Jahre braucht er, um ihr Imperium zu zerstören. ● Das amerikanische Buch Die Geschichte der unsterblichen Henrietta Lacks «Dieses Buch hat Herz, Hirn und Tempo – obendrein hält es den Leser fest wie nur wenige andere Titel.» Mit dieser Empfehlung schloss die BuchBeilage der «New York Times» vor über einem Jahr eine begeisterte Rezension von The Immortal Life of Henrietta Lacks (Crown Publishers, 369 Seiten). Das Erstlingswerk der Wissenschaftsjournalistin Rebecca Skloot schildert die Geschichte der schwarzen Tabakbäuerin Henrietta Lacks aus Virginia, die 1951 einem aggressiven Gebärmutterhalskrebs erlegen ist. Kurz vor ihrem Tod haben Ärzte am Spital der Johns Hopkins University in Baltimore dem Geschwür eine Probe entnommen, aus der sie erstmals menschliche Zellen in der Retorte züchten konnten. Diese «HeLa»-Kulturen sind bis heute eine unverzichtbare Grundlage für die Genforschung, sowie die Entwicklung zahlloser Medikamente etwa gegen Krebs und HIV-Aids. Wie damals speziell bei schwarzen Patienten üblich, haben die Ärzte in Baltimore die Todkranke nicht um Erlaubnis gebeten, mit ihren Zellen zu experimentieren. Die Nachkommen von Lacks haben erst Mitte der 1970er-Jahre davon erfahren und trotz etlicher Klagen nicht an den Gewinnen der Pharmaindustrie aus den «HeLa»-Zellen partizipiert. 26 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 24. April 2011 MANDA TOWNSEND «The Immortal Life» hat sich zu einem «absoluten Phänomen im amerikanischen Buchhandel entwickelt», so die Kritikerin Sukey Howard vom Branchendienst «Bookpage»: «Dass sich ein Titel derart gut verkauft, der recht schwierige wissenschaftliche Themen mit einer herzzerreissenden Familienchronik kombiniert, hat auch beim Die US-Amerikanerin Henrietta Lacks starb 1951; ihre Zellen leben noch heute. Autorin Rebecca Skloot (unten). Verlag kein Mensch erwartet.» Der Internet-Buchhändler Amazon und zahlreiche Kritiker erklärten das Buch zum Titel des Jahres 2010. Es rangiert zudem bis heute an der Spitze der Bestsellerlisten und hat laut dem Marktbeobachter Nielsen Bookscan bislang über 600 000 Käufer gefunden. Der Verlag teilte auf Anfrage mit, dass die jüngst publizierte Taschenbuchausgabe binnen vier Wochen sieben Auflagen mit insgesamt 350 000 Exemplaren erreicht hat. Mit diesen Zahlen kommt der Titel zwar nicht an Stieg Larsson-Thriller heran, aber als «Dauerseller» kann sich «The Immortal Life» durchaus mit den Erfolgstiteln von Malcolm Gladwell («Überflieger») messen. Die Produktionsfirma von Oprah Winfrey hat sich die Filmrechte an dem Buch jedenfalls schon frühzeitig gesichert. Während etwa die deutsche Ausgabe («Die Unsterblichkeit der Henrietta Lacks», 512 Seiten, Irisiana, September 2010) kaum Resonanz gefunden hat, trifft die US-Ausgabe ganz offensichtlich einen spezifisch amerikanischen Nerv. Unsentimental und doch mitreissend erzählt Skloot in kurzen, schnörkellosen Sätzen eine erschütternde Geschichte, die einerseits laut Howard dem klassischen Muster vom «Underdog, der in die Mühlen mächtiger Institutionen gerät», entspricht. Anderseits rechnet die Kritikerin «The Immortal Life» dem erfolgreichen Genre von Sachbüchern etwa über den Kabeljau zu, die anhand einzelner Gegenstände die komplexen Zusammenhänge unserer Welt beleuchten wollen. Darüber hinaus gelang Skloot das seltene Kunststück, selbst als eine Stellvertreterin der Leserschaft in ihre Geschichte einzutreten, ohne die Aufmerksamkeit auf ihre eigene Person zu lenken. So berichtet Skloot über ihre Erlebnisse mit der verbitterten Lacks-Sippe, deren Biografien repräsentativ für die brutalen Lebensumstände vieler Afroamerikaner in den Südstaaten sind. Die Geschichte geht vielen Amerikanern so sehr unter die Haut, dass sie Rebecca Skloot fragen, wie sie der Familie von Henrietta Lacks helfen können. Die Autorin hat daher aus ihren Bucheinnahmen eine Stiftung für die medizinische Versorgung der Nachkommen von Henrietta Lacks und anderer bedürftiger Schwarzer gegründet. So dürfte auch die Nachgeschichte von «The Immortal Life of Henrietta Lacks» noch längst nicht abgeschlossen sein. ● Von Andreas Mink Agenda Agenda Mai 2011 Basel Mittwoch, 4. Mai, 20 Uhr Allan Guggenbühl: Was ist mit unseren Jungs los? Lesung, Fr. 15.–. Thalia, Freie Strasse 32, Tel. 061 264 26 55. GAËTAN BALLY / KEYSTONE Jerry Hall Unter begehrlichen Blicken Mittwoch, 11. Mai, 18.30 Uhr Hansjörg Schneider: Hunkeler und die Goldene Hand. Lesung in der KonradWitz-Ausstellung, Fr. 30.– inkl. Eintritt. Kunstmuseum, St. Alban-Graben 16, Tel. 061 206 63 00. Donnerstag, 26. Mai, 19 Uhr Chalid al-Chamissi: Im Taxi. Unterwegs in Kairo. Lesung, Fr. 17.–. Literaturhaus, Barfüssergasse 3, Tel. o61 261 29 50. Bern Mittwoch, 4. Mai, 20 Uhr GRAHAM HUGHES Markus Kavka: Rottenegg. Lesung, Fr. 15.–. Stauffacher Buchhandlung, Neuengasse 25/37, Tel. 031 313 63 63. Dienstag, 10. Mai, 20.30 Uhr dem Sänger von Roxy Music. Mit Krönchen im Haar und blauen Fingernägeln posierte sie 1975 für das Album «Siren» des britischen Kultmusikers. Ihr Lebensbericht ist munter, unterhaltsam, nicht ohne Humor. Aber selbstverständlich nimmt man ihn vor allem wegen der über 300 Farb- und DuotonAbbildungen zur Hand. Manfred Papst Jerry Hall: Mein Leben in Bildern. Schirmel/Mosel, München 2011. 256 Seiten, Fr. 43.50. Bestseller April 2011 Eric Pfeil: Komm, wir werfen ein Schlagzeug in den Schnee. Lesung und Sound, Fr. 15.–. ONO, Kramgasse 6, Vorverkauf: www.onobern.ch. Donnerstag, 19. Mai, 20 Uhr Yanick Lahens: Und plötzlich tut sich der Boden auf. Lesung und Gespräch, Fr. 15.–. artlink Literatur, Zentralbibliothek, Münstergasse 61, Tel. 031 311 62 60. DAVID IGNASZEWSKI / KOBOY Jerry Hall stammt aus Texas. Dort wurde sie 1956 geboren. Gerade einmal 16 Jahre alt war sie, als sie in St. Tropez als Model entdeckt wurde. Von da an stand sie im Scheinwerferlicht. Helmut Newton, Richard Avedon, Irving Penn und viele andere fotografierten sie. Von Andy Warhol und Lucian Freud wurde sie gemalt. Bevor sie sich mit dem Rolling Stone Mick Jagger vermählte, von dem sie vier Kinder bekam und bei dem sie zwei Jahrzehnte ausharrte, hatte sie eine Romanze mit Bryan Ferry, Zürich Dienstag, 3. Mai, 20 Uhr Belletristik Sachbuch 1 Diogenes. 208 Seiten, Fr. 29.90. 2 Wunderlich. 448 Seiten, Fr. 25.90. 3 Hanser. 192 Seiten, Fr. 24.90. 4 Hanser. 320 Seiten, Fr. 26.40. 5 Fischer. 192 Seiten, Fr. 28.90. 6 Diogenes. 208 Seiten, Fr. 25.90. 7 Bastei Lübbe. 848 Seiten, Fr. 22.40. 8 Hanser. 80 Seiten, Fr. 21.90. 9 Jung und Jung. 320 Seiten, Fr. 30.70. 10 Rowohlt. 304 Seiten, Fr. 29.90. 1 Giger. 300 Seiten, Fr. 43.90. 2 Orell Füssli. 192 Seiten, Fr. 34.90. 3 NZZ Libro. 144 S., Fr. 39.-. 4 Langenscheidt. 128 Seiten, Fr. 16.90. 5 Ansata. 256 S., Fr. 26.90. 6 Edition Körber. 190 Seiten, Fr. 21.90. 7 Dromer/Knaur. 304 Seiten, Fr. 25.90. 8 Herder. 366 Seiten, Fr. 33.50. 9 Riva. 200 Seiten, Fr. 15.90. 10 DVA. 192 Seiten, Fr. 72.90. Paulo Coelho: Schutzengel. Simon Beckett: Verwesung. Arno Geiger: Der alte König in seinem Exil. Alex Capus: Léon und Louise. Peter Stamm: Seerücken. Martin Suter: Allmen und die Libellen. Sarah Lark: Im Schatten des Kauribaums. Elke Heidenreich: Nero Corleone kehrt zurück. Melinda Nadj Abonji : Tauben fliegen auf. Siri Hustvedt: Der Sommer ohne Männer. Brigitte Balzarini-Voss: Mein Leben mit Steve. Martin Betschart: Ich weiss, wie du tickst. Benjamin Steffen, Christof Gertsch: Fabian Cancellaras Welt. Nina Puri: Langenscheidt Katze-Deutsch. Pascal Voggenhuber: Botschafter der unsichtbaren Welt. Nina Maria Marewski: Die Moldau im Schrank. Buchpremiere, Buchhandlung Lüthy+Stocker, Filiale Sihlcity, Kalanderplatz 1, Reservation: www.buchhaus.ch. Sonntag , 8. Mai, 17 Uhr Meir Shalev: Meine russische Grossmutter. Lesung. Kulturhaus Helferei Grossmünster, Kirchgasse 15, Tel. 044 261 33 59. Dienstag, 10. Mai, 20 Uhr Kim Kwang-Kyu, Lee Hye-Kyung: Lesung, Gespräch mit Übersetzung, Fr. 18.–, inkl. Apéro. Literaturhaus, Limmatquai 62, Tel. 044 254 50 00. Mittwoch, 25. Mai, 20 Uhr Remo H. Largo: Lernen geht anders. Die Lyrikerin Elke Erb erhält den Preis der Literaturhäuser 2011. Fr. 18.– inkl. Apéro. Literaturhaus (s. oben). Rhonda Byrne: The Power. Freitag, 27. Mai, 20 Uhr Benedikt XVI.: Jesus von Nazareth. Band 2. Barney Stinson: Der Bro Code. Andreas Honegger: Die geheimen Gärten von Zürich. Erhebung Media Control im Auftrag des SBVV; 12. 4. 2011. Preise laut Angaben von www.buch.ch. Arno Geiger: Der alte König in seinem Exil. Lesung, Fr. 25.–. Kaufleuten, Festsaal, Pelikanplatz 1, Tel. 044 225 33 77. Bücher am Sonntag Nr. 5 erscheint am 29. 5. 2011 Weitere Exemplare der Literaturbeilage «Bücher am Sonntag» können bestellt werden per Fax 044 258 13 60 oder E-Mail [email protected]. Oder sind – solange Vorrat – beim Kundendienst der NZZ, Falkenstrasse 11, 8001 Zürich, erhältlich. 24. April 2011 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 27 Schillernd wie Dichtung, wahr wie das Leben. Biografien. Benjamin Steffen Christof Gertsch Fabian Cancellaras Welt Luc Hoffmann Der Mitbegründer des WWF im Gespräch mit Jil Silberstein. 200 S., 30 Abb., Klappenbroschur. Die Geschichte eines Radrennfahrers Benjamin Steffen, Christof Gertsch Fabian Cancellaras Welt 167 S., 24 farb. Abb., Klappenbroschur. räche Gesp it m SEL BICH PETER O ROCCHI IM S MAS R GEBAUER E GUNT Verlag Neue Zürcher Zeitung Cancellara gehört zu den populärsten Sportlern der Schweiz, obwohl kaum eine Sportart öffentlich so in der Kritik steht wie seine. Zwei Journalisten sind dieser Diskrepanz auf der Spur. In ausführlichen Gesprächen mit ihm, seinen Weggefährten und Familienangehörigen erschliessen sie «Fabian Cancellaras Welt». Wenige Menschen werden sich rühmen können, so aktiv für die Erhaltung der Natur gekämpft zu haben wie der 88-jährige Luc Hoffmann. In diesem Buch erzählt der sonst eher wortkarge und zurückhaltende Mann dem Schriftsteller und Publizisten Jil Silberstein sein reich erfülltes Leben. Fr. 40.– / € 33.– Ab 13. 4. 2011 erhältlich <wm>10CAsNsjY0MDAx1TU0NjM2MAcAIFqmLg8AAAA=</wm> Fr. 39.– / € 33.– <wm>10CEXKIQ6AMBBE0RPRzOx2W8pKUtcgCL6GoLm_gmIQP9-81twCvta6HXV3AtEmalJkt2JBcvJZJCBmR6QIyIWqOQqZ_NcdLO-1s5ND9qHAcJ_XA0QHxvpoAAAA</wm> Claus Helmut Drese Monsieur Simon Simon 276 S., zahlr. Abb., Klappenbroschur. Gottfried Schatz Feuersucher 229 S., 21 Zeichnungen, gebunden. Monsieur Simon Simons Leben war schillernder als es Fiktion jemals sein könnte. Ein Lebemann und Weltbürger, ein Causeur und Charmeur. Sekretär Clemenceaus, Geliebter Piafs. Sich selbst nannte er augenzwinkernd: Operettenbaron von Zürich. Eine einmalige Mischung aus literarischem Vergnügen und wissenschaftlichem Thriller. Die fesselnde Lebensgeschichte des weltweit renommierten Biochemikers Gottfried Schatz. Fr. 28.– Fr. 34.– www.nzz-libro.ch