NZZ, 24. April 2011 - Neue Zürcher Zeitung

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NZZ, 24. April 2011 - Neue Zürcher Zeitung
Nr. 4 | 24. April 2011
Bascha Mika Die Feigheit der Frauen | Gerhard Roth Orkus | Jan Karski
Mein Bericht an die Welt | Christoph Blocher über «Der Schweizerkönig» |
Hannelore Schlaffer Interview über die intellektuelle Ehe | Neue Bücher
zum Thema Die Welt nach 9/11 | Weitere Rezensionen zu Jonathan Littell,
Milan Kundera, Eleonore Frey und anderen | Charles Lewinsky Zitatenlese
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Inhalt
Wer kennt heute
noch Mary
Lavater-Sloman?
«Um der Langeweile zu entgehen», hatte Mary Lavater-Sloman (1891–
1980) begonnen, Bücher zu schreiben. Die Hamburger Reederstochter,
die mit Sulzer-Ingenieur Emil Lavater verheiratet und Mutter von vier
Kindern war, wurde nach Aufenthalten in Moskau, Athen und Ascona
zur preisgekrönten Schweizer Meisterin der Romanbiografie. Einer
literarisch umstrittenen, aber äusserst erfolgreichen Gattung zwischen
Sachbuch und Belletristik. Lavater-Sloman verfasste 30 Werke über
Berühmtheiten wie Jeanne d’Arc, Lucrezia Borgia, Pestalozzi, Katharina
die Grosse und Richard Löwenherz. Hinreissend erzählte, detailreiche
Lebensgeschichten. Heute, wo sich die Schweiz wieder mal mit ihren
Nachbarn arrangieren muss, gibt der Römerhof Verlag Slomans Porträt
des legendären Basler Bürgermeisters Johann Rudolf Wettstein (1594–
1666) neu heraus. Christoph Blocher hat für uns die Vita des Politikers
gelesen und kommentiert, der die Unabhängigkeit der Schweiz im
Westfälischen Frieden geschickt verteidigt hat (Seite 23).
Zu einem heftigen Streit in der Frauenbewegung hat das Buch von
Bascha Mika, Ex-Chefredaktorin der «taz», geführt. Mit ihren Thesen
zur «Feigheit der Frauen» setzt sich die feministische Linguistin Luise
F. Pusch auseinander (S. 18). Und Komiker Mike Müller, der sich als
Thriller-Fan outet, setzt zu einem Lob auf den Krimi «Clockers» von
Richard Price an (S. 6). Wir wünschen viel Vergnügen. Urs Rauber
Nr. 4 | 24. April 2011
Bascha Mika Die Feigheit der Frauen | Gerhard Roth Orkus | Jan Karski
Mein Bericht an die Welt | Mary Lavater-Sloman Der Schweizerkönig |
Hannelore Schlaffer Interview über die intellektuelle Ehe | Neue Bücher
zum Thema Die Welt nach 9/11 | Weitere Rezensionen zu Jonathan Littell,
Milan Kundera, Eleonore Frey und anderen | Charles Lewinsky Zitatenlese
BaschaMika
(Seite18).
Illustrationvon
AndréCarrilho
ErichSchmid:InSpaniengekämpft,in
Russlandgescheitert
18 BaschaMika:DieFeigheitderFrauen
Von Luise F. Pusch
R.JamesBreiding,GerhardSchwarz:
WirtschaftswunderSchweiz
Von Beat Kappeler
19FransdeWaal:DasPrinzipEmpathie
DanielaSchwegler,SusannBosshard-Kälin:
UnterderHaube
20 FritzStern,JürgenOsterhammel:Moderne
Historiker
AllanGuggenbühl:WasistmitunserenJungs
los?
21 YanickLahens:Undplötzlichtutsichder
Bodenauf
Von Urs Rauber
22 RüdigerSchaper:DieOdysseedesFälschers
Belletristik
KurzkritikenSachbuch
4 GerhardRoth:Orkus
Von Angelika Overath
6 RichardPrice:Clockers
15LuiseF.Pusch:DeutschaufVorderfrau
Von Mike Müller
7 JonathanLittell:Berichtübernichts
Von David Signer
WolfgangScheppe:Sight-Seeing
8 EleonoreFrey:AusderLuftgegriffen
Von Gerhard Mack
Von Sandra Leis
MilanKundera:EineBegegnung
Von Stefana Sabin
9 JanKarski:MeinBerichtandieWelt
YannickHaenel:DasSchweigendesJ.Karski
DerKarski-Bericht
Von Sieglinde Geisel
10 MichailSchischkin:Venushaar
Von Ralph Dutli
11 EmmanuellePagano:BübischeHände
Von Geneviève Lüscher
Von Urs Rauber
Von Thomas Köster
Von Kathrin Meier-Rust
Von Urs Bitterli
Von Kathrin Meier-Rust
Sachbuch
16 BerndGreiner:9/11
MichaelButteru.a.:9/11–KeinTag,derdie
Weltveränderte
Von Dieter Ruloff
Von Fritz Trümpi
ClaudiaWeiss:DasReichderZaren.Aufstieg
undUntergang
Von Geneviève Lüscher
23 MaryLavater-Sloman:DerSchweizerkönig
JohannRudolfWettstein
Von Christoph Blocher
24 PhilippBlom:BösePhilosophen
Von Monika Burri
Von Kirsten Voigt
KurzkritikenBelletristik
11 LindaStift:KeineinzigerTag
25 GeorgeG.Szpiro:DieKeplerscheVermutung
GeorgeG.Szpiro:DieverflixteMathematik
derDemokratie
Von Regula Freuler
PeggyMädler:LegendevomGlück
Von Regula Freuler
Von André Behr
FranzHessel:SpaziereninBerlin
26 MichaelZick:DierätselhaftenVorfahrender
Inka
Von Manfred Papst
CarminaBurana
Von Manfred Papst
Interview
TIM BRAKEMAIER / EPA
12 HanneloreSchlaffer,Germanistin
«Die Frau ist immer das, was jammert»
Von Regula Freuler
Kolumne
15 CharlesLewinsky
Das Zitat von Ludwig Marcuse
MarcelHänggi:Ausgepowert
Von Patrick Imhasly
MitseinerneuenErzählung«Berichtübernichts»führt
JonathanLittellwiederumineinMinenfeld.
Von Geneviève Lüscher
DasamerikanischeBuch
RebeccaSkloot:TheLifeofHenriettaLacks
Von Andreas Mink
Agenda
27 JerryHall:MeinLebeninBildern
Von Manfred Papst
BestsellerApril2011
Belletristik und Sachbuch
AgendaMai2011
Veranstaltungshinweise
Chefredaktion Felix E. Müller (fem.) RedaktionUrs Rauber (ura.) (Leitung), Regula Freuler (ruf.), Geneviève Lüscher (glü.), Kathrin Meier-Rust (kmr.), Manfred Papst (pap.)
StändigeMitarbeitUrs Altermatt, Urs Bitterli, Andreas Isenschmid, Manfred Koch, Gunhild Kübler, Charles Lewinsky, Beatrix Mesmer, Andreas Mink, Klara Obermüller, Angelika Overath,
Stefan ZweifelProduktionEveline Roth, Hans Peter Hösli (Art-Director), Urs Schilliger (Bildredaktion), Felix Eberlein (Layout), Korrektorat St. Galler Tagblatt AG
AdresseNZZ am Sonntag, «Bücher am Sonntag», Postfach, 8021 Zürich. Telefon 044 258 11 11, Fax 044 261 70 70, E-Mail: [email protected]
24. April 2011 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 3
Belletristik
Roman Der österreichische Erzähler Gerhard Roth vollendet seinen zweiten
grossen Romanzyklus
«Im Unglück sehe
ich das
eigentliche Leben»
Gerhard Roth: Orkus. Reise zu den Toten.
S. Fischer, Frankfurt a. M. 2011.
668 Seiten, Fr. 37.90.
Von Angelika Overath
Am Anfang war der Verlust des Leids:
«Ich war dreissig Jahre alt, als ich entdeckte, dass mein Leben eintönig und
flach geworden war. Es wies nicht mehr
die Dichte, den Schrecken, die Verzweiflung auf wie in meinen früheren Jahren,
die ich fast vergessen hatte.» Geblieben
waren einzig Erinnerungen aus «trüben
Wolkenbildern», Wörtern, die im Dunst
ihrer Höfe nach ihren wahren Geschichten suchten: «Blutflecken auf zerfleddertem Verbandsmull, aus Mauern, von
denen Verputz abbröckelt, Fischschuppen, Kanälen voll Scheisse, Hühnerfedern, Tintenklecksen, gelben Bleistiften,
entzündetem Zahnfleisch, Stille nach
der Angst, erfundenen Ameisen, rostiger Luft, blühenden Briefmarken, aus
bleichen Spermien, Erbrochenem, den
Träumen von Embryos, gehäkelten Hakenkreuzen (. . .).» Gerhard Roth kündigte die bürgerliche Existenz auf und
Gerhard Roth
Geboren 1942 in Graz, Sohn eines Arztes
und einer Krankenschwester, studierte
Gerhard Roth Medizin mit dem Wunsch,
Psychiater zu werden. Nach Abbruch
des Studiums arbeitete er zehn Jahre
als Programmierer in einem Grazer
Rechenzentrum. Seit 1976 ist er freier
Schriftsteller. Gerhard Roth hat Romane,
Erzählungen, Dramen, Essays, Hörspiele
und Drehbücher (zum Teil nach eigener
Prosa) geschrieben. Er war Mitglied der
Grazer Autorenversammlung und lebt
heute abwechselnd in Wien und in
der Steiermark.
4 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 24. April 2011
wurde freier Schriftsteller. Heute sieht
er auf ein gigantisches Werk zurück. Im
Kern stehen zwei monumentale Wahrnehmungs- und Schreibzyklen. Nach
«Die Archive des Schweigens» (sieben
Bücher, veröffentlicht zwischen 1980
und 1991) ist nun mit «Orkus» der
Schlussstein eines gleichnamigen zweiten Zyklus (acht Bücher, erschienen zwischen 1995 und 2011) herausgekommen.
An der Grenze der Realität
«Orkus» ist das Existenz-Credo eines
schreib- und lesebesessenen Autors. Die
stoffüppige, barocke Auseinandersetzung mit einem Schriftstellerleben in
Österreich folgt einem alten Kinderinstinkt, der «Neugierde auf das Unglück».
Denn: «Im Unglück sehe ich das eigentliche Leben. Ich durchforschte schon in
meiner Jugend die Biografien von Malern und Dichtern, Komponisten und
Philosophen nach Unglücksfällen, las
später bereits aus Gewohnheit zuerst
die Abschnitte über deren Krankheiten
und Tod, und je mehr sie gelitten hatten,
desto wahrhaftiger erschienen mir
nachträglich ihre Existenz und ihre
Kunst.» Die früh gelesenen Lebensbeschreibungen seien ihm so etwas wie
seine «Identitätsausweise» geworden;
sein Ich, das er damals war, sei «hingegen verschwunden».
Lesen (und Schreiben vom Lesen) ist
Urbarmachung von Lebenswelt. Roth
arbeitet haarscharf an der Grenze von
Realität und Fiktion, diesem Koordinatensystem der Kunst, das wiederum in
die Realität zurückkippen kann. Oder
anders gesagt: Seine Texte atmen die
Durchlässigkeit von Wahn (Traum, Erfindung, Anarchie, Obsession) und
Wirklichkeit (Normalität, Oberfläche,
Ordnung). Solches Fluktuieren zwischen realen und irrealen Wahrnehmungsmöglichkeiten
gibt
seinem
Schreiben einen existenziellen Sog.
Kunst ist konkurrierende Parallelwelt.
Einer seiner Zentralbegriffe ist das Unbewusste. Es öffnet Paradies und Hölle
zugleich. Es manifestiert sich in entgrenzenden Akten des Verbrechens, in Geisteskrankheit und Kunst. Wo aber, wenn
nicht im freudgetränkten Wien, wäre
das Unbewusste zu Hause? Und wann,
wenn nicht in der Erfahrungsgegenwart
des bis in die Jetztzeit hineinwirkenden
Nationalsozialismus, wäre diese Höllenfahrt in die verdrängte Historie notwendig? Die «Reise zu den Toten» ist ein von
Dante inspirierter Abstieg in die eigene
Schreibexistenz auf der Folie österreichischer Zeitgeschichte zwischen Psychoanalyse und KZ Mauthausen.
Was ist der Mensch? Wozu ist er
fähig? Wie leicht kann Normalität unter
dem Seidenpapiergeraschel der Konvention aufbrechen in tiefes Grauen?
Roth wagt die Expedition zu denen, die
gelebt haben. Als könnten Spuren vergangenen Daseins das Rätsel des widersprüchlich Humanen lösen.
Warum schlagen und stechen zwei
stellenlose Jugendliche auf eine Klavierlehrerin ein? Sie haben ihr, damit sie
endlich aufhört zu röcheln, noch die
Kehle durchgeschnitten, nun rauchen
sie neben der bluttropfenden toten Frau
auf dem Sofa. Glaubt man den Akten,
wissen die Buben selber nicht, was in sie
gefahren ist.
Roths Ton bleibt kühl, gerade da, wo
das Erzählte brutal ist. Oft schickt er
Freunde vor (Juristen, Museumsführer,
Journalisten, Ärzte, Kranke), die für ihn
die Geschichten erzählen, die er vermitteln möchte. Und am Ende sind all diese
Vertrauten Facetten des einen AutorenIchs, das über fremde Stimmen professionellen Abstand gewinnt («Ich bin
Ascher, ich bin Jenner, ich bin Lindner.
Ich bin der Schriftsteller»).
Roth streift die abseitigen Orte, Krankenhäuser, Seziersäle, ein Kriminalmuseum, Gerichtssäle. Es gibt einen wunderbaren Besuch im Wiener Fundbüro
ten.) Anrührend ein Besuch bei Kenzaburo Oe, dem japanischen Schriftstellerkollegen, der über Dante und sein eigenes, hochbegabtes geistig behindertes
Kind Hikari spricht. Und dann sitzt Hikari kurz am Computerklavier, versteckt
sich «Schutz suchend halb hinter seiner
Mutter, von wo aus er uns stumm und
neugierig beobachtete».
PHILIPP HORAK / ANZENBERGER
Ins Epizentrum des Ich
mit Helmut Qualtinger oder ein belauschtes Gespräch zwischen dem FAZKorrespondenten Andreas Graf Razumovsky (der sich heimlich Insulin
spritzt, bevor er Grünen Veltliner bestellt) und einem über die Wiener Häme
wutschäumenden Thomas Bernhard im
Café Bräunerhof.
Faszinierende Porträts
Formal ist in diesem grossen romanhaften Essay Unterschiedlichstes möglich:
ein Traum aus dem Uterus, Schreibspiele mit Anklängen an verstorbene Kollegen («Im Innern ist es März. Die Uhren
ticken ‹Anna Blume›») sind ebenso
plausibel wie lakonische Referate aus
Kriminalakten, Hinweise auf Lieblings-
filme oder Bücher oder reportagehafte
Alltagsszenen. Der Zusammenhang der
einzelnen Passagen ist locker, Assoziationen folgend. Immer wieder sind wunderbare Porträtstudien eingeflochten.
So etwa ein Besuch beim jugendlichgreisen Simon Wiesenthal, der, dem Tod
in verschiedenen KZs entkommen, nach
dem Krieg als Überlebender das «Dokumentationszentrum Jüdischer Verfolgter des Nazi-Regimes» gegründet hat.
Ihm ist die Aufspürung von Adolf Eichmann zu verdanken und ebenfalls die
Verhaftung von Karl Silberbauer, der
1944 die damals vierzehnjährige Anne
Frank festgenommen hatte. (Bis 1963
konnte Silberbauer als Kriminalrayonsinspektor bei der Wiener Polizei arbei-
Schreiben über
Grenzerfahrungen:
Gerhard Roth vor dem
«Haus der Künstler»
in der psychiatrischen
Klinik Gugging
(Österreich), im Juni
2004.
Roth referiert Expeditionsberichte und
psychoanalytische Literatur. Zu Grenzerfahrungen gehört auch ein Kapitel der
grossen Alkohol-Fahrt ins Epizentrum
des Ich, jenem Fegefeuer der Waghalsigen: «Das bürgerliche Graz ist ein sogenanntes hartes Pflaster für Künstler. Es
starben Gunter Falk mit 41 Jahren an
einer
Lungenentzündung,
Werner
Schwab mit 36 Jahren an einem Herzstillstand und Franz Innerhofer mit 58
Jahren durch Selbstmord. Die wahre Todesursache aber war bei allen der Alkoholismus.» In rauschhaft-irren Aufzeichnungen von Sonnenberg (dem ehemaligen Schulfreund, späteren Untersuchungsrichter, der am Leben wahnsinnig wird, bevor er durch einen Autounfall stirbt) endet die Reise zu den Toten
im Florenz der Bilder: «Ich bin Sprache,
ich bin Wörter, ich bin die nächste Seite.
Ich bin nicht wirklich im Palazzo Vecchio, sondern ich befinde mich in einem
Buch, als Name, als Wörter, als Sätze, als
Sprechen. Ich werde gelesen.»
«Orkus» schliesst mit der Kadenz:
«Der Stille Ozean». Das ist zum einen
der Name für das tiefste Meer der Erde,
zum andern eine Bezeichnung für das
von Leo Navratil initiierte «Haus der
Künstler» im psychiatrischen «Landessonderkrankenhaus» Gugging. Und es
ist der Titel des ersten Kapitels, mit
dem «Die Archive des Schweigens» begannen. Ein rückhaltloser Erinnerungskreis der Seelenarbeit von über zwanzig
Jahren schliesst sich. l
24. April 2011 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 5
Belletristik
Krimi Nach dem Erfolg von «Cash» liegt nun der 16 Jahre ältere Roman des Erzählers Richard Price
auf Deutsch vor
Mord im Schnellimbiss
Richard Price: Clockers. Aus dem
Amerikanischen von Peter Torberg.
S. Fischer, Frankfurt am Main 2011.
800 Seiten, Fr. 24.90.
Ein einziger Vorbehalt sei erlaubt, bevor
hier zum Loblied angesetzt wird: Prices
grosser New-York-Roman, der letzten
Sommer unter dem Titel «Cash» auf
Deutsch erschien, ist vielschichtiger,
moderner, nervöser und verstörender
als «Clockers». Man merkt den beiden
Büchern die sechzehn Jahre Unterschied an. Doch wahrscheinlich ist es
einerlei, welches Buch man zuerst liest,
man erliegt dem Autor sowieso.
1992 erschien «Clockers» erstmals
unter dem Titel «Söhne der Nacht» auf
Deutsch. Warum haben wir im deutschsprachigen Raum so tolle Übersetzer,
wenn deren Arbeit von Verlagszuchthäuslern mit einer billigen Titelübersetzung zunichte gemacht wird? Der S. Fischer Verlag jedenfalls hat es nun glücklicherweise beim Original «Clockers»
belassen. Clockers sind Strassenhändler
für kleine Kokainportionen.
«Clockers» gilt als Vorlage für die
Kultserie «The Wire», und dass das
Buch erst jetzt erneut auf Deutsch erschienen ist, dürfte auch am gleichnamigen Film von Spike Lee liegen. Das
Drehbuch wurde zwar für den Oscar nominiert, der Film aber bleibt ein unentschiedenes Werk. Er ist so verunglückt,
dass er den durch die Lektüre entstandenen Bildern im Kopf nichts anhaben
kann. Der Roman ist zu gross für einen
Kinofilm und beansprucht den Rahmen
einer aufwendig produzierten Serie.
Ungeklärter Mord
Wo es um Kriminalfälle geht, gibt es
zwei Pole: Strafverfolgung und Gesetzlosigkeit, Cop und Dealer, Gut und Böse.
Das ist in «Clockers» nicht anders, doch
Price bewegt sich meist am Äquator und
lässt dann noch die Magnetfelder wandern. Er erklärt einem die Welt, am
Schluss glaubt man alle und alles zu verstehen, bloss jenes Phänomen nicht, um
welches sich das Buch dreht: den Mord
an einem Schichtleiter in einem Schnellimbiss. Das schiere Nicht-verstehenKönnen der Gewalt lässt einem 45-jährigen Cop keine Ruhe, obwohl dieser kurz
vor der Pensionierung steht und sich
mit junger Frau, kleinem Kind und Loft
in Manhattan ein wenig Gelassenheit
leisten könnte. Das ist natürlich die
Gelassenheit des Lesers, auf den der
schlaue Hund von Schriftsteller die Mission des Cops überträgt.
Price ist gewissermassen selber ein
Kilodealer, denn wer das 950 Gramm
schwere Buch zu lesen beginnt, wird
süchtig und bedauert die Ankunft auf
Seite 799. Das Motiv des Nicht-verste6 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 24. April 2011
CINETEXT
Von Mike Müller
«Clockers» von
Richard Price wurde
1995 von Spike Lee
verfilmt; Szene mit
Harvey Keitel (links)
und Mekhi Phifer.
hen-Könnens, weil es eben nichts zu
verstehen gibt, kennt man schon aus
«Cash», und Price lässt nicht locker. Er
liefert für den Gipfel der Gewalt weder
einen soziologischen, ökonomischen
oder psychologischen Verständnisrahmen. Für die vier tödlichen Schüsse gibt
es keine schlüssige Erklärung.
«Clockers» spielt beinahe in New
York City. Dempsy ist nicht die gentrifizierte Lower East Side in Manhattan,
nicht Brooklyn, nicht Queens, sondern
das als spiessig verschriene ganz andere
Ufer der grossen Stadt, da, wo man als
Tourist eigentlich nicht hinkommt, ausser man muss zum Flughafen Newark.
Dempsy liegt in New Jersey und ist lower
als die Lower East Side. Es ist eine Welt
der Süssigkeiten-Shops, Bars, Ladentheken, Schnellimbisse, Autofahrten, Parkbänke, Polizeibüros und Countygefängnisse. Es ist die Welt der Ampullendealer,
Unzendealer, Kilodealer, der Polizeiabteilungen Mord, Betäubungsmittel und
Quartierstreife. Man blickt in die Wohnungen von Rentnern, Behinderten, fleissigen Müttern und verwahrlosten Jungmüttern, der Strassenbuben, die zu bösen
Buben werden oder zu hoffnungslosen,
fleissigen Mehrfachjobbern, die aber
auch nicht aus dem Schneider kommen.
Der Tremor um das Gelingen der eigenen Biografie versetzt alle Beteiligten
in Unrast, Gemütlichkeit findet sich hier
nirgends. Selbst den übelsten Grossdealer, jenen, der verschiedene Crews am
Laufen hat, jenen, der junge Clockers
nachzieht, lässt Price als «motivational
speaker» aufglühen, wenn der Inbegriff
des Bad Guy seinem schwarzen Nach-
wuchs die Notwendigkeit eines Sparbüchleins einpaukt, damit sie frisches
Drogengeld nicht gleich in Goldketten
und Sneakers verpulvern. Vom Stoff
selber halten sich ohnehin alle fern, da
ist nichts mit szeniger Verklärung einer
rauschhaften Bohème.
Einzig gesoffen wird in «Clockers»,
aber nur bei den Cops. Sie saufen zum
Teil bis zum Umfallen, und das machen
sie gegen Ende einer Schicht oder bevor
sie an einem Tatort mit Toten erscheinen. Sie saufen auch mit einem Schauspieler, der sie zu Recherchezwecken bei
der Arbeit begleitet. Das ist vielleicht die
einzig lächerliche Figur in diesem Buch,
jene also, die mit Fiktion zu tun hat.
Recherchieren vor Ort
Möglich ist auch, dass Price sich da selber auf die Schippe nimmt, weil es zum
amerikanischen Selbstverständnis des
Schriftstellers gehört, vor Ort zu recherchieren. Price soll viele Nächte bei den
New Yorker Cops zugebracht haben,
was ihm den Ruf eines realitätsnahen
Dialogschreibers eingebracht hat. Doch
wie überprüft man das, zumal als
deutschsprachiger Leser, mit schweizerischem Hintergrund und relativ wenig
Kontakt mit der hiesigen Polizei? Wie
verzwackt die Aufgabe eines Fahnders
der Mordkommission sein kann (Homicide Cop klingt knackiger, aber lassen
wir das), lässt sich wohl nur in der Fiktion realisieren. Als Schauspieler jedenfalls ist man damit besser bedient. ●
Mike Müller ist Schauspieler und tritt in
der Late Night Show «Giacobbo/Müller»
am Schweizer Fernsehen auf.
Erzählung Auch in Jonathan Littells neuem Werk geht ein Mann gleichgültig durchs Leben
Neugierig auf alles, aber interesselos
seiner Spiegelung findet er sich in jedem
dunklen Fenster, sogar in den Augen seines Gegenübers wieder. Die Unterscheidung zwischen Vorstellungen und Realität ist nur schwach ausgebildet. Es gibt
einen «Freund», aber einen Namen oder
irgendwelche individuellen Züge trägt
er nicht.
Littell hat Bataille, Blanchot und de
Sade übersetzt; diese Autoren geistern
auch durch den «Bericht». Zu echten,
realen Grenzüberschreitungen kommt
es allerdings nicht. Alles bleibt diffus;
Blut fliesst lediglich bei einer Corrida.
Aber auch dort ist der Zuschauer vor
allem fasziniert von der Gleichgültigkeit
des Matadors seiner eigenen Verletzung
gegenüber. Und als der Stier schliesslich
zusammenbricht, stolziert der Mann
davon, ohne sich umzudrehen. Vielleicht ist Littells neuer Protagonist die
Jonathan Littell: Bericht über nichts. Aus
dem Französischen von Hainer Kober.
Matthes & Seitz, Berlin 2011. 112 Seiten,
Fr. 19.90.
Von David Signer
Tirol Tourismus und Heimatgefühl
MONIKA HÖFLER
Vor fünf Jahren publizierte Jonathan Littell «Die Wohlgesinnten», Erinnerungen an den Zweiten Weltkrieg aus der
Sicht des fiktiven SS-Offiziers Maximilian Aue. Das Werk polarisierte. Einerseits erhielt es in Frankreich die höchsten Preise, andererseits war von Kitsch
und Trivialität die Rede. «Die Zeit»
brachte die Vorbehalte auf den Punkt,
indem sie fragte: «Wozu, bitte schön,
brauchen wir einen nationalsozialistischen Helden?»
Dann erschienen Erzählungen, die
Littell schon vor den «Wohlgesinnten»
geschrieben hatte, als er für die humanitäre Organisation «Aktion gegen den
Hunger» in Krisengebieten unterwegs
gewesen war, ein Essay über Faschismus
und zwei grosse Reportagen über
Tschetschenien beziehungsweise Georgien. Nun meldet sich Littell zum ersten
Mal mit einem neuen literarischen Text
zurück, «Bericht über nichts». Das Buch
unterscheidet sich fundamental von seinem Vorgänger; in gewisser – beunruhigender – Weise jedoch nicht.
«Die Wohlgesinnten» umfasste 1400
Seiten; «Bericht über nichts» rund 100.
Während ersteres geografisch und historisch genau verortet war, bleibt im
neuen Text alles schwebend. Er spielt in
einem vage südeuropäischen Ambiente;
der Ich-Erzähler liegt auf einer Matte,
schaut sich einen Pornofilm an, flirtet an
einer Party mit einer koksenden Russin,
besucht einen Stierkampf und ein Freibad. Die Atmosphäre ist flirrend, deliriös, unfassbar. Sie hat definitiv nichts
Soldatisches, und trotzdem werden wir
immer wieder an den unsäglichen Maximilian Aue mit seinen kalten Obsessionen erinnert. Nicht nur, wenn der neue,
namenlose Ich-Erzähler Frauenkleider
anprobiert, sondern generell durch
seine losgelöste, gleichgültige Art,
durchs Leben zu gehen wie durch einen
Film. So sei er eben, schreibt er einmal:
«Neugierig auf alles, aber an nichts interessiert.»
Das Schreckliche an «Die Wohlgesinnten» war ja, dass man sich durchaus
in den Protagonisten einfühlen, ja sich
sogar mit ihm identifizieren konnte.
Man konnte – sofern man sich darauf
einliess – etwas über den eigenen, potenziellen Faschismus lernen. Natürlich
fragte man sich gelegentlich, was eigentlich Littell selbst mit Aue verband, insbesondere da der Autor gelegentlich in
Interviews Ideen ausführte, die auch
von Aue selbst hätten stammen können.
In «Bericht über nichts» haben wir es
nun gewissermassen mit der BohémienVersion des Nihilisten im beginnenden
21. Jahrhundert zu tun. Fasziniert von
abschreckende Version des postmodernen, «flexiblen» Menschen, immer
dabei, aber nie ganz. Einmal ist von
«grossen Kerlen» die Rede: «Ich hatte
andere wie sie gekannt, früher, im Osten,
während blutiger Kriege, die Festen glichen, ich hatte mit ihnen gelacht und
getrunken, während sie sich gegenseitig
umbrachten, hatte mir aber immer meinen Freiraum bewahrt.» Das könnte
eine Reminiszenz an Aue im Zweiten
Weltkrieg sein wie auch an Jonathan Littell selbst während seiner humanitären
Einsätze in Tschetschenien. Der ganze
Abgrund liegt im Wort «Freiraum», das
im einen Falle Gleichgültigkeit, im anderen Fall Abgrenzung bedeuten kann.
«Bericht über nichts» ist voll solcher
versteckter Minen.
Aber Littell liebt bekanntlich das
Spiel mit dem Feuer. ●
Carina steht mit ihrer Schwester an einer Tankstelle.
Sie ist stolz auf ihre Tracht und wollte in ihr
porträtiert werden. Die Fotografin hatte dagegen
Angst, das könnte klischeehaft wirken. Kennengelernt haben sich die beiden Frauen bei einem
Schützenfest in Sankt Jakob in Osttirol. Monika
Höfler ist Reisefotografin für grosse Magazine in
Europa und den USA. «Ich mag das Ursprüngliche»,
sagt sie. In den Osttiroler Tälern faszinierte sie die
Spannung zwischen den vielen Bräuchen und unserer
traditionsfremden Gegenwart. «Ich mochte die Tracht
sehr gern, aber ich hatte Angst, dass es kitschig
werden könnte», erzählt sie. Die Tankstelle war eine
perfekte Umgebung: «gebrochen und doch ganz
natürlich». Die Bilder, die Wolfgang Scheppe in
seinem neuesten Band versammelt, zeigen Szenen
einer scheinbar heilen Lebenswelt, die wir aus mehr
oder weniger erholsamen Ferien kennen. Zusammen
mit der Tirol-Werbung lancierte der Bildtheoretiker
und Architekturhistoriker ein Projekt, in dem sieben
Reisefotografen die Bildwelt der Tourismus-Werbung
und die Bilder-Codes der zeitgenössischen Fotografie
reflektierten. Herausgekommen ist ein subtiles
Porträt einer angeblich sattsam bekannten Region.
Gerhard Mack
Wolfgang Scheppe (Hrsg.): Sight-Seeing.
Bildwürdigkeit und Sehenswürdigkeit. Hatje Cantz,
Ostfildern 2011. 192 Seiten, 188 Abb., Fr. 49.90.
24. April 2011 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 7
Belletristik
Roman Eleonore Frey legt einen Mix aus Märchen und Poetologie vor
Schlimmer als
ein Hundeleben
Droschl, Graz 2011. 168 Seiten, Fr. 30.50.
Von Sandra Leis
Nicht haftbar sind Autorinnen und Autoren für Gestaltung und Annoncierung
eines Buches. Das ist Aufgabe des Verlages. Droschl, Eleonore Freys publizistische Adresse in Graz, ist diesbezüglich
bislang nicht negativ aufgefallen. Jetzt
aber tut Droschl es, denn viel zu explizit
sind Buchumschlag und Werbetext: Ein
hellblauer, wolkenbehangener Himmel
kündet vom Herkunftsort der Hauptfigur; der Text auf dem Buchrücken
(«Eine vom Himmel gefallene Heldin –
in einem Roman mit doppeltem
Boden!») winkt mit dem Zaunpfahl und
ruft der Leserschaft zu: Schaut her, das
ist Literatur! Und wenn die Heldin zu
allem Übel auch noch Helen Schnee
heisst (das allerdings geht aufs Konto
der Autorin Eleonore Frey), so klingt
das mehr nach Wille zur Kunst als nach
literarischer Qualität.
Trotz diesen misslichen Voraussetzungen, die Grundidee des Romans
«Aus der Luft gegriffen» ist bestechend:
Was geschieht mit einem Engel, wenn er
plötzlich aus dem Himmel stürzt und
sich hienieden einleben muss? Der
Engel namens Helen Schnee landet am
17. November 2009 als vierzigjährige,
weisshaarige Frau auf einer grünen
Wiese. Helen Schnee sucht Arbeit und
kommt in einem dubiosen Büro für telefonische Seelsorge mit dem klingenden
Namen «Das offene Ohr» unter.
Sie braucht ein Dach über dem Kopf
und zieht schliesslich in einen Wohnwa-
gen auf einem Hof, wo der Bauer Albert
mit zwei Mägden einen Ménage à trois
führt und obendrein Ausschau hält nach
seiner neuen Mieterin. Die aber sucht
keinen Mann, sondern einen Lebenslauf,
ohne den ihr jegliche Existenzberechtigung fehlt.
Nach nur drei Tagen bricht Helen
Schnee das Experiment ab und kehrt zurück in ihre luftigen Gefilde. Ihr Fazit:
«Ein Hundeleben (. . .) oder noch schlimmer, wenn man bedenkt, dass es Alberts
Hund doch ganz gut geht, wo ihn weder
die Einwohnerkontrolle belästigt noch
die Polizei, und eine mehr oder weniger
kriminelle Chefin hat er auch nicht.»
Aussenseiter und Randständige bekommen dank Eleonore Frey immer
wieder eine literarische Stimme. Erinnert sei etwa an Hans und sein existenzielles Anderssein aus dem glasklaren,
an keiner Stelle verschwurbelten Buch
«Muster aus Hans. Ein Bericht» (2009),
mit dem die Autorin auf die Shortlist des
Schweizer Buchpreises gelangte.
Im Roman «Aus der Luft gegriffen»
will die 71-jährige Zürcher Schriftstellerin und Literaturwissenschafterin zweierlei: Zum einen erzählt sie ein modernes Märchen einer Luft-Frau, die während dreier Tage versucht, festen Boden
unter den Füssen zu gewinnen. Zum andern liefert die Autorin einen Einblick in
die eigene Werkstatt und zeigt, wie sie
ihre Figuren findet, woher ihre Einfälle
kommen und wie sie zu Literatur formt,
was sie inspiriert. Kurz: Sie versucht
sich an einer erzählten Poetologie, und
das geht gründlich schief. Denn das
meiste ist schlicht nicht von öffentlichem Interesse und obendrein enorm
betulich formuliert.
Die Zürcher
Erzählerin und
Literaturwissenschafterin Eleonore
Frey beschreibt die
Entstehung ihres
Romans.
LUKAS LEHMANN / KEYSTONE
Eleonore Frey: Aus der Luft gegriffen.
Die Autorin heftet sich ihren Figuren
an die Fersen und schreibt beispielsweise: «Ich frage mich, ob es nicht ergiebiger wäre, Harry Hotz [einem Bettler]
nachzugehen, als auf Helen Schnee zu
beharren. Da sich aber Letzteres noch
im Sitzen erledigen lässt und somit weniger Anstrengung kostet, bleibe ich bei
Helen Schnee.»
Auch der Schnee wird Frey sprachlich zum Verhängnis: Sie mag auf kein
noch so abgegriffenes Bild oder Mätzchen verzichten – Helen Schnee ist «in
die Welt geschneit», die Chefin hilft sich
mit einer Prise Kokain über die Runden,
denn gemäss homöopathischem Prinzip
gibt es gegen Helen Schnee kein besseres Mittel als den Schnee, den man
schnupft.
Und natürlich ist Helen Schnee bereits an ihrem zweiten Tag auf Erden
«Schnee von gestern».
Am Ende vermögen weder Luftmensch-Märchen noch Poetologie zu
überzeugen. Zu stark kommen sich die
Schriftstellerin und die Literaturwissenschafterin in die Quere. Schade, denn
dass Eleonore Frey auch anders kann,
steht ausser Frage. ●
Roman Milan Kundera sinniert über grosse Meister von Literatur, Kunst und Musik
Reflexionen über die Rolle des Schriftstellers
Milan Kundera: Eine Begegnung. Aus dem
Französischen von Uli Aumüller.
Hanser, München 2011. 205 S., Fr. 28.90.
Von Stefana Sabin
Nach der «Kunst des Romans» (1986, dt.
2007), nach den «Verratenen Vermächtnissen» (1993, dt. 1994) und nach dem
«Vorhang» (2005) stellt Milan Kundera
Aufsätze aus den vergangenen Jahrzehnten zusammen. Es handele sich, wie er in
einer mottoartigen Notiz erklärt, um
eine «Begegnung alter (existentieller
und ästhetischer) Themen mit alten Lieben (Rabelais, Janácek, Fellini, Malaparte . . .)». So reichert Kundera Erinnerungen an Begegnungen mit Dichtern und
8 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 24. April 2011
mit Büchern, die sein Leben und sein
Schaffen begleitet haben, mit Reflexionen über die aufklärerischen Möglichkeiten der Literatur, über die gesellschaftliche Rolle des Schriftstellers in
Zeiten politischer Unterdrückung und
über seine Bindung zu Heimat und Heimatsprache an.
Hinter allen Betrachtungen scheint
immer wieder die grundlegende Frage
nach der emotionalen und sprachlichen
Verankerung durch. Der Exilant Kundera, der von Prag nach Paris und aus dem
Tschechischen ins Französische übersiedelte, führt in diesen Aufsätzen auch
eine literarische Weltanschauung vor:
nicht die der kosmopolitischen goetheschen Weltliteratur, sondern ein literarisches Weltkulturerbe als engagierte, der
Moderne verpflichtete Literatur, die den
Menschen in den Mittelpunkt stellt und
das ganze Repertoire menschlichen und
gesellschaftlichen Verhaltens verständlich macht. Den modernen Roman stellt
sich Kundera als «Archiroman» vor, der
alle stilistischen und formalen Möglichkeiten aufwendet, um das essentiell
Menschliche zu beschreiben. Dass die
Rezeptionsgeschichte eines Werks nicht
zuletzt «das Ergebnis des Spiels historischer Zufälle» ist, zeigt er, indem er historische und ästhetische Verhältnisse
aufeinander bezieht. Aber jenseits aller
klugen Einsichten zeugen diese Aufsätze
von jener «existentiellen Versessenheit», die Kunderas literarisches Denken
– wie sein Schreiben – zu einem Teil des
literarischen Weltkulturerbes macht. ●
Fiktion und Dokumentation Ein Film und zwei Bücher erinnern an den polnischen Juden Jan Karski:
ein erschütternder, authentischer Lebensbericht und ein fragwürdiger Roman
Shoah erträgt keine Fiktion
Geschichte eines Staates im Untergrund.
Aus dem Englischen von Franka
Reinhart, Ursel Schäfer. Antje Kunstmann, München 2011. 618 S., Fr. 40.50.
Yannick Haenel: Das Schweigen des Jan
Karski. Aus dem Französischen von
Claudia Steinitz. Rowohlt, Reinbek 2011.
187 Seiten, Fr. 28.90.
Der Karski-Bericht. Ein Film von Claude
Lanzmann. DVD, 49 Min. Absolut
Medien, Berlin 2010. Fr. 151.90.
Von Sieglinde Geisel
Man ist hypnotisiert von der Erzählung
des aufgewühlten, vornehmen alten
Mannes, der von der Verzweiflung der
beiden Juden berichtet, die ihn bitten,
das Gewissen der Welt aufzurütteln
über den Massenmord an ihrem Volk.
Der von seinem Besuch im Warschauer
Ghetto berichtet, vom Unfassbaren. Mit
dieser Filmszene in Claude Lanzmanns
«Shoah» trat Jan Karski (1914–2000) ins
Bewusstsein der Öffentlichkeit. Der Augenzeuge hatte eigentlich nach dem
Krieg beschlossen zu schweigen. Er geriet in Vergessenheit, wie auch sein
Buch «Story of a Secret State», das 1944
in den USA erschienen war.
Erschütternder Bericht
Erst jetzt ist dieses Buch unter dem Titel
«Mein Bericht an die Welt» erstmals auf
Deutsch erschienen, dafür in einer mustergültigen Edition. Da er enttarnt worden war, konnte Karski 1943 nicht nach
Polen zurückkehren, und nun war dieses
Buch Teil seiner Mission, die Weltöffentlichkeit auf den Kampf des polnischen Widerstands und das Leid der
Juden aufmerksam zu machen. In einem
Vorwort macht die Herausgeberin Céline Gervais-Francelle die Entstehungsbedingungen des Buchs deutlich, etwa
die Einflussnahme des amerikanischen
Literaturagenten oder Karskis Verschleierung von Namen und Orten, um
die polnischen Widerstandskämpfer
nicht zu gefährden.
Das Buch ist ein packendes Dokument: Jan Karski schildert den Alltag im
Untergrund, die Methoden der Geheimhaltung, die enormen Opfer. Er selbst
wurde von der Gestapo verhaftet und
unternahm nach der Folter einen Selbstmordversuch; aus dem Krankenhaus
wurde er von einem Widerstandskommando befreit, das den Auftrag hatte,
alles zu tun, um ihn zu retten – und ihn
zu erschiessen, falls es schiefging. Man
erfährt, wie komplex der polnische Staat
im Untergrund organisiert und wie raffiniert das Verbindungssystem eingerichtet war, dem Karski in leitender Position angehörte. Von der Vernichtung
der Juden berichten nur zwei der 33 Kapitel, doch die Schilderungen des Warschauer Ghettos und vor allem des La-
gers Izbica Lubelska gehören zu den erschütterndsten Augenzeugenberichten,
die überliefert sind.
Zeitgleich mit Karskis «Mein Bericht
an die Welt» ist nun auch Yannick
Haenels «Das Schweigen des Jan Karski» auf Deutsch erschienen. In Frankreich führte das Buch zu heftigen Kontroversen: Über eine Figur wie Karski
könne man keinen Roman schreiben,
meinte Claude Lanzmann damals.
Haenels Buch ist eine Mischform. Die
erste Hälfte hat dokumentarischen Charakter: Sie besteht aus einer Exegese von
Karskis Auftritt in «Shoah» sowie einer
Zusammenfassung von Karskis eigenem
Buch. Erst die zweite Hälfte hat dem
Band die (irreführende) Bezeichnung
«Roman» eingebracht: In einem fiktiven
Ich-Monolog lässt Yannick Haenel einen
etwa 80-jährigen Karski Rückschau auf
sein Leben halten. Man begegnet einem
Schmerzensmann, dem die Schlaflosigkeit «zur Gefährtin» wird, der klagt und
zürnt. Hohles Pathos («um mich in diesem Grab einzuschliessen, wo sich Gott
und die Vernichtung Auge in Auge begegnen»), missglückte Poesie («Nur die
Einsamkeit ist der Liebe würdig») und
barer Unsinn (die Juden seien «vom
Verlassen selbst verlassen worden») finden sich in dieser Rede. Gelegentlich
aber auch Sätze, welche die Situation
Karskis erhellen: «Wenn ich von den
Juden sprach, bemitleideten sie absurderweise mich», so der frustrierte Zeuge
nach einem seiner vielen Vorträge in
den USA. Erst gegen Ende finden sich
Reflexionen über die Bedeutung der
Shoah: Sie sei kein Verbrechen gegen
die Menschheit, sondern ein von der
Menschheit begangenes Verbrechen.
Karskis Besuch im Weissen Haus im
Sommer 1943 musste Haenel erfinden,
da ihm keine Informationen zugänglich
waren. Sein Ich-Erzähler Karski zeichnet von Roosevelt eine billige Karikatur.
Er lecke sich nach dem Essen den Mund,
gähne und schaue der Sekretärin auf die
Beine – «er ist schon dabei, die Vernichtung der europäischen Juden zu verdauen», so der fiktive Karski bitter.
Geschmacklosigkeiten
Rekrutierung von
Zwangsarbeitern im
Warschauer Ghetto
1941.
Doch inzwischen hat Claude Lanzmann
den zweiten Teil seines Interviews mit
Jan Karski auf «arte» gezeigt und als
DVD veröffentlicht. Man versteht,
warum er ihn nicht in den Film aufgenommen hat. Am zweiten Tag des Interviews, wo es um die Vergeblichkeit seiner Bemühungen geht, sitzt ein anderer
Karski vor der Kamera, sehr von sich
eingenommen, souverän bis zur Theatralik. Mit Hochachtung berichtet er von
einem konzentrierten Roosevelt, einem
«Weltenführer». Auf die Bemerkung,
dass die Juden ohne Hilfe von aussen
dem Untergang geweiht seien, sei Roosevelt zwar nicht eingegangen, doch
habe er ihm eine Liste mit Kontaktpersonen gegeben, die Karski aufsuchte.
Wo endet die Erfindung, und wo beginnt die Fälschung? Mit dem Satz, man
dürfe die Shoah nicht fiktionalisieren,
ist die Literaturkritik rasch zur Hand,
doch damit begibt sie sich auf die falsche Fährte. Der Tabubruch besteht
nicht in der Fiktion, sondern in deren
Geschmacklosigkeiten, die schwerer
wiegen als historische Unstimmigkeiten. Die Shoah erträgt keinen schlechten
Stil: Sie macht ästhetische Ausrutscher
zu einem ethischen Versagen. ●
BPK
Jan Karski: Mein Bericht an die Welt.
24. April 2011 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 9
Belletristik
Roman Der in der Schweiz lebende russische Autor Michail Schischkin webt in «Venushaar» einen
grandiosen Erzählteppich aus tausendundeiner Geschichte
Göttin der Liebe im Exil
Michail Schischkin: Venushaar. Aus dem
Russischen von Andreas Tretner.
DVA, München 2011. 556 Seiten, Fr. 38.90.
Zahlreiche Asylsuchende wollen Zugang zum heissbegehrten Schweizer
Paradies, das vor Wohlstand und Verschontheit glänzt. Sie werden bürokratisch kalt als «GS» (Gesuchsteller) etikettiert. Der Hauptakteur in Michail
Schischkins Roman «Venushaar» ist
Russischdolmetscher in Diensten der
Asylbehörde und bekommt schauerliche Erzählungen zu hören, denn nur die
haarsträubendsten Ungeheuerlichkeiten haben Aussicht auf Erfolg.
Am Paradiestor nämlich wacht argwöhnisch Peter alias Petrus, dem der
Stempel der beschleunigten Abweisung
bedrohlich locker in der Hand liegt. Für
ihn hat der namenlose «Dolmetsch»,
wie er im Roman genannt wird, die immergleiche Frage – «Warum haben Sie
Asyl beantragt?» – und den obligat folgenden Wortschwall zu übersetzen. Die
tragischen Kunden kommen aus Russland, haben Grauenhaftes in Tschetschenien, im Straflager oder Jugendknast durchlebt, Greuel und Misshandlungen erlitten. Und sie reden um ihr
Leben, überbieten sich in drastischen
Details, damit sich besagtes Paradiestor
nicht zu schnell wieder schliesst.
Leichtfüssiges Hüpfen
Sie kommen «mit einem Packen Bescheinigungen aus allen nur erdenklichen Klapsmühlen, Kittchen und Knochenflickereien» und wollen nur eines:
endlich ein besseres Leben. Aber wo
liegt die Wahrheit, und wo beginnt die
Flunkerei? Was ist authentisch erlebt
und was bloss geschickt erzählt? Die
wortgewandten Simulanten, die ihre
Lebenserzählung gut einstudiert haben,
sind anscheinend auch recht zahlreich.
«Wer ihr wirklich seid, kriegen wir sowieso nicht raus», meint der Dolmetscher desillusioniert.
Schon die Ausgangslage hat der Autor
genial gewählt. Denn worum geht es in
Romanen, wenn nicht um die Kraft des
Erzählens von abgrundtiefem Unglück
und der Hoffnung auf ein besseres
Leben? Erzählen, nichts als erzählen, um
Unglück und Tod zu überwinden – dieses Urmotiv der Weltliteratur liegt dem
Roman des 1961 in Moskau geborenen,
1995 in die Schweiz emigrierten Michail
Schischkin zugrunde. In Russland, wo er
längst die wichtigsten literarischen Auszeichnungen umgehängt bekommen
hat, wird er zu Recht als einer der bedeutendsten zeitgenössischen Schriftsteller gepriesen.
Eigentlich ist das auch in Rest-Europa
so, nur die deutschsprachige Rezeption
hatte bisher ein Hörproblem. Doch jetzt
10 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 24. April 2011
KARL MATHIS / KEYSTONE
Von Ralph Dutli
Michail Schischkin
ist selber ein Pendler
zwischen den
Welten. Hier nehmen
Grenzbeamte im
Tessin einen illegalen
Einwanderer fest.
muss alles anders werden, mit diesem
von Andreas Tretner vorzüglich übersetzten «Venushaar», das kein leicht
konsumierbares, linear erzähltes Romänchen ist, sondern ein grandioser
Erzählteppich aus tausendundeiner
Geschichte. Ob Agatha Christies «Zehn
kleine Negerlein», Xenophons Schilderung der Kämpfe im Perserreich, die
Geschicke einer Sängerin, deren Leben
das 20. Jahrhundert umspannt, oder die
reichbestückten Tresore der russischen
Literatur – Schischkin hüpft leichtfüssig,
aber anspruchsvoll und tiefschürfend
zwischen den Erzählwelten hin und her,
mischt Stimmen und Spuren, Epochen
und Räume auf atemberaubende Weise.
Erzähler mit Klassikerpotenz
Nur eins der sattsam bekannten postmodernen Spielchen? Nein, die Geschichten sind ernst und beklemmend.
Von der verstümmelten Frauenleiche im
Kamin bis zum tschetschenischen Foltervideo – Schischkin versammelt keine
Sirup-Episoden, das Erzählte offenbart
eine zutiefst heillose Welt. Der «Graue»
bei der Armee, der die «Frischlinge»
quält und demütigt, wird zur Parodie
Gottes. «Sag mal, Grauer, wie hast du
diese Welt nur so hinbekommen?»
Natürlich berühren all die Flüchtlingsschicksale den Dolmetscher, der
selber ein Pendler zwischen den Welten
ist. «Zu Hause gleich alles zu vergessen,
was tagsüber gewesen ist, das funktioniert nicht. Man trägt es bei sich. Diese
Menschen, diese Reden – man wird sie
nicht los.» Aus dem Frage-und-Antwort-
Schema wird ein Selbstverhör. Je enger
der Mann umzingelt ist von den wimmelnden Erzählstoffen, desto mehr eigene Erinnerungen tauchen auf an eine
verlorene Liebe, eine verlorene Familie.
Die Vergegenwärtigung einer RomReise mit der geliebten Frau, die den
mythischen Namen Isolde bekommt,
spricht von der Gefährdung eines Paares. Das Tristan-Phantom eines bei
einem Verkehrsunfall umgekommenen
früheren Geliebten legt sich wie ein
Schatten über alles. Misstrauen und zersetzende Eifersucht kommen auf. Hier
bebt jedes Wort vor Wehmut und dem
Bewusstsein entschwundenen Glücks,
hier liegt das Glutzentrum des Erzählens. Auf die Bedrohtheit einer zarten
Pflanze weist auch der nur vordergründig kokett anmutende Romantitel «Venushaar». Damit ist kein pikanter Auswuchs am Körper der Liebesgöttin gemeint, sondern eine Farnart, die zwar
auf römischen Ruinen als Unkraut
wächst, im eisigen russischen Heimatland aber nur bei Zimmerwärme und
Zuwendung gedeiht. Als Unkraut überlebt sie noch die schlimmsten Katastrophen, wächst beharrlich wieder nach.
Erst die letzten, von einem traumhaften Sog vorangetriebenen Seiten dieses
russischen Romans enthüllen, worum es
im Gewimmel der Geschichten geht: um
die Überwindung des Unglücks durch
das Wort. Michail Schischkin ist ein
mächtig ausgreifender Erzähler und
Wortgläubiger mit Klassikerpotenz, wie
man ihn schon lange nicht mehr sah in
der russischen Weltliteratur. ●
Roman Wortstark seziert die französische
Schriftstellerin Emmanuelle Pagano ein
Lügengeflecht
Missbrauch
im Dorf
Kurzkritiken Belletristik
Linda Stift: Kein einziger Tag.
Roman. Deuticke, Wien 2011.
172 Seiten, Fr. 25.90.
Peggy Mädler: Legende vom Glück des
Menschen. Roman. Galiani,
Berlin 2011. 213 Seiten, Fr. 25.90.
Wie nennt man ein solches Buch? Geschwisterroman? Einfach Horrorliteratur? Tatsächlich geht im dritten Roman
der 42-jährigen Österreicherin Linda
Stift, die 2009 ans Bachmannpreis-Wettlesen eingeladen war (mit einem anderen Text), so manches nicht mit rechten
Dingen zu. Die Hauptfiguren Paco und
Paul sind siamesische Zwillinge, wurden
jedoch als 5-Jährige getrennt – zum Leid
von Paco, zur Freude von Paul. Zu Beginn taucht Paco nach 20 Jahren Funkstille bei Paul auf, das heisst: Er hat ihn
ausfindig gemacht. Paul ist Inhaber
eines schlecht gehenden MalerzubehörLadens und Freund einer schlecht gelaunten Kreativen (höchst unglaubwürdig, dass man mit so etwas liiert sein
will). Und er hat «ein Tier» im Keller –
lässt hier Natascha Kampusch grüssen?
Auf jeden Fall wird er am Ende bestraft
– und zwar so, wie es zu einem echten
Horrorstreifen passen würde. Entweder
man mag das Genre – oder nicht.
Regula Freuler
Peggy Mädler frönt in ihrem Début
weder der Ostalgie, noch trompetet sie
eine Hasstirade gegen ihre alte Heimat,
die DDR, hinaus. Im Gegenteil, sie
schaut auf die Geschichte, die ungefähr
ihre eigene ist, beinahe wie eine Fremde.
Mädler, in Berlin freie Dramaturgin und
Regisseurin, hat als Ausgangspunkt
einen Bildband von 1968 genommen,
welcher der Ich-Erzählerin Ida bei der
Wohnungsauflösung der Grosseltern in
die Hand fällt. Er heisst: «Vom Glück
des Menschen.» Mädler ist 1976 in Dresden geboren, die alte DDR kennt sie nur
aus Berichten. Was hiess Glück damals?
Was ist das Glück von heute schon im
Vergleich zu jenem von damals? Ein Geringes, denkt man. Dann aber: Man kann
nichts für seinen Geburtstermin, darum
hat jeder das Glück, das in seiner Zeit
möglich ist. Früher mag das eine Banane
gewesen sein, heute ist es ein Sommerabend auf dem Balkon. Eine angenehm
nüchterne Vergangenheitsbewältigung.
Regula Freuler
Franz Hessel: Spazieren in Berlin.
Verlag für Berlin-Brandenburg, Berlin 2011.
235 Seiten, Fr. 30.50.
Carmina Burana. Hrsg. von Benedikt
Konrad Vollmann. Deutscher Klassiker
Verlag, Berlin 2011. 1415 Seiten, Fr. 30.50.
Wer an das Berlin der 1920er Jahre
denkt, der kommt nicht umhin, den Erzähler, Feuilletonisten und Übersetzer
Franz Hessel (1880–1941) zu würdigen.
Der kleine, elegante Mann war ein vollendeter Stilist. Der Sohn eines jüdischen
Bankiers, der von 1906 bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs in Paris
lebte, verkörperte den Typus des Flaneurs. In welcher Stadt er auch war:
Stets schlenderte er mit wachen Sinnen
durch die Strassen, und selten kehrte er
ohne luzide, atmosphärisch dichte Beobachtungen zurück. Vor der Katastrophe des Dritten Reichs arbeitete er für
den Rowohlt Verlag. Mit Walter Benjamin übersetzte er zwei Bände Proust.
«Spazieren in Berlin» bleibt eines seiner
schönsten Bücher. Es erschien erstmals
1929. Hier wird es mit erhellenden Essays von Moritz Reininghaus und Bernd
Witte präsentiert.
Manfred Papst
Es ist ein Segen, dass diese mustergültige Edition, die 1987 erstmals erschien,
endlich in wohlfeiler Broschur vorliegt.
Denn die «Carmina Burana», die in
einer einzigen Prachthandschrift aus
dem oberbayerischen Benediktbeuern
überliefert ist, wirken auf uns so frisch
wie am ersten Tag. Die Sammlung umfasst 254 meist mittellateinische, zum
Teil auch mittelhochdeutsche, altfranzösische und provenzalische Texte, die
zur Hauptsache im 11. und 12. Jahrhundert verfasst wurden. Liebeslieder stehen neben Spottgesängen, Trinkliedern
und zwei geistlichen Dramen. In dieser
Dichtung tritt uns die ganze Farbigkeit
der Stauferzeit entgegen. Carl Orff hat in
seinem 1937 uraufgeführten Chorwerk
die Sinnlichkeit dieser Verse gefeiert. In
dieser Edition, mit Originaltext, Übersetzungen und umfassendem Kommentar, entfalten sie ihren ganzen Zauber.
Manfred Papst
Emmanuelle Pagano: Bübische Hände.
Aus dem Französischen von Nathalie
Mälzer-Semlinger. Wagenbach,
Berlin 2011. 144 Seiten, Fr. 25.90.
SABINE BERLOGE
Von Monika Burri
Für Tabuthemen kennt die französische
Sprache den Begriff des «non-dit», des
nicht Gesagten. Um die Macht des Unausgesprochenen kreist der mehrfach
preisgekrönte, nun in deutscher Übersetzung erschienene Roman der Französin Emmanuelle Pagano. Es geht um
Gewalt, Feigheit und Lebenslügen. Das
Verbrechen liegt Jahrzehnte zurück, ein
zehnjähriges Mädchen wurde von seinen Schulkameraden über Monate missbraucht. Alle bis auf einen vergriffen
sich an ihr, niemand im Dorf hat je darüber gesprochen, selbst die Dorflehrerin
verdrängte die Hilferufe des Opfers.
Pagano überlässt drei Frauen und
einem Mädchen das Wort. Die Vertreterinnen unterschiedlicher Generationen
sind teils Komplizinnen, teils erneute
Opfer des untergründig schwelenden
Lügen- und Schuldkomplexes. Die impulsiven, von Alltagssorgen zermürbten
Selbstgespräche reiben sich an den
engen Grenzen der ländlichen Lebenswelt, die Konturen von Personen und
Handlungen erschliessen sich nur
bruchstückhaft. Alle Zeuginnen leiden
an Wahrnehmungs- und Erinnerungsstörungen, betäubenden Ohrenschmerzen, Schwindelgefühlen, übertriebener
Geräuschempfindlichkeit. Im Zentrum
des Romans gärt das Unausgesprochene, das sich einen unheilvollen Weg in
die Gegenwart frisst. Dreissig Jahre nach
der Tat hat sich das Vergewaltigungsopfer mitten in der Dorfgemeinschaft verdient gemacht. Als Putzfrau im Winzergut, als Pflegerin im Altenheim erscheint
sie als unheimlicher Racheengel, in
einer albtraumhaften Vergeltungsaktion
durchbricht sie das lastende Schweigen
und reisst neue Wunden auf.
Klug und subtil transportiert das
mehrstimmige Erzählgerüst das
generationenübergreifende Fortleben einer Missbrauchskonstellation. Pagano entwirft brutale Bilder
für das geschundene Ichgefühl,
ungerührt dringt sie in schambehaftete Intimzonen vor. Die Stimmen der Erzählerinnen finden in
der kargen Landschaft Südfrankreichs einen sinnstiftenden Echoraum. Wortund bildstark verknotet
Emmanuelle Pagano
die vom Stillhalten
vergifteten
Sprechweisen zu einer aufwühlenden écriture
féminine. ●
24. April 2011 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 11
Interview
Früher haben Menschen geheiratet, weil es passte. Heute tun sie es, weil
sie wollen. Hannelore Schlaffer hat ein erhellendes und ehrliches Buch
über moderne Beziehungen geschrieben. Interview: Regula Freuler
«Die Frau ist immer
das, was jammert»
Bücher am Sonntag: Frau Schlaffer, was ist eine
«intellektuelle Ehe»?
Hannelore Schlaffer: Gemeint ist damit nicht
etwa eine Verbindung zwischen Intellektuellen
– obwohl um 1900 tatsächlich Intellektuelle an
der Theorie zu einer «neuen» Ehe arbeiteten.
Sie entwarfen eine Beziehung, die heute für alle
brauchbar ist. Da nicht mehr Kirche oder Familie den Zusammenhalt eines Paares garantieren,
müssen nun die Bedingungen des Zusammenlebens unentwegt diskutiert und neu begründet
werden. Das ist ein intellektueller Akt, den
jedes Paar leisten muss, unabhängig von Beruf
und Stand.
Ist deshalb die Zahl der Eheschliessungen seit
den siebziger Jahren deutlich gesunken?
In gewissem Sinne schon. Der Begriff «intellektuelle Ehe» steht nicht zwangsläufig für eine
standesamtlich beglaubigte Ehe, sondern einfach für eine langjährige Partnerschaft, wie sie
etwa zwischen Simone de Beauvoir und JeanPaul Sartre bestand.
Hannelore Schlaffer
Alles in allem klingt das sehr anstrengend.
In meinem Buch zitiere ich darum auch den Soziologen Max Weber, der sich bei seiner Frau
Marianne über «diese ewige Diskutiererei über
die Sittengesetze» und die Funktion der Ehe beklagte. Es ist ja tatsächlich so: Solche Gespräche sind anstrengend. Aber wenn man bedenkt,
wie viel in Fernsehen und Rundfunk über Paarbeziehungen diskutiert wird, dann kann es gar
nicht anders gehen, als dass ein Paar auch in
den eigenen vier Wänden sein Paar-Sein reflektiert. Die intellektuelle Ehe ist also die moderne
Form der Partnerschaft.
Zeigen dieses exzessive Diskutieren und die unzähligen Beziehungsratgeber, dass die Institution
Ehe in ihrer tiefsten Krise steckt?
Ja. Ich schildere die «intellektuelle Ehe» ja
nicht als den Himmel auf Erden, sondern zeige,
wo das Konzept scheitert. Der beste Beweis für
die intellektuelle Ehe in ihrem Glück so gut wie
in ihrem Unglück sind gerade die vielen Scheidungen.
Na ja, man könnte auch sagen, dass Frauen heute
ihren Lebensunterhalt selbst verdienen und sich
darum scheiden lassen können.
Ja natürlich, die Emanzipation ist Voraussetzung für die intellektuelle Ehe.
PETER-ANDREAS HASSIEPEN
Und wer waren ihre Vorreiter?
Das reicht weit zurück. Ich habe da wohl noch
ein Stück Revolutionsgeschichte des Bürgertums verfasst. Denn was sich im Privaten als
Folge der Französischen Revolution ergeben
hat, wird oft nicht beschrieben, vor allem nicht
als historischer Prozess. Und einer der wichtigsten Prozesse ist gerade jener der Ablösung
von traditionellen Sicherungsinstanzen wie
Kirche und Familie.
Die 1939 geborene Germanistin lehrte bis 2001
an der Universität München. Seit 1980 schreibt
sie als freie Publizistin («FAZ», «Süddeutsche
Zeitung», «Zeit», NZZ). Sie ist Autorin mehrerer
Bücher, u. a. «Mode. Schule der Frauen» (2007),
«Das Alter» (2003), «Schönheit» (1996).
Hannelore Schlaffers neustes Buch «Die intel­
lektuelle Ehe» (Hanser, Fr. 28.90) untersucht
das Beziehungsleben seit Beginn des 20. Jahr­
hunderts anhand von Paaren wie Marianne und
Max Weber, Simone de Beauvoir und Jean­Paul
Sartre, Bertolt Brecht und Helene Weigel.
Hannelore Schlaffer ist mit dem Germanisten
Heinz Schlaffer verheiratet und lebt in Stuttgart.
12 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 24. April 2011
Wann beginnt dieser Prozess?
Um 1800. Ein Kapitel meines Buches handelt
von der Gelehrten-Tochter Caroline Schelling
und den Brüdern August Wilhelm und Friedrich
Schlegel. Mit August Wilhelm war Caroline von
1796 bis 1803 verheiratet, im Jahr der Scheidung
ehelichte sie den 12 Jahre jüngeren Friedrich
Schelling, mit dem sie seit 1799 eine Liebesbeziehung hatte. Caroline Schelling brach aus dem
bürgerlichen Muster aus, und Friedrich Schlegel
hat das in «Lucinde» literarisch verarbeitet.
Die Belletristik des 19. Jahrhunderts hat mit einer
ganzen Reihe von Ehebrecherinnen-Romanen wie
«Anna Karenina», «Madame Bovary» und «Effi
Briest» die Entwicklung im 20. Jahrhundert vorgespurt.
Ja, in diesen Büchern fanden Frauen Beispiele
dafür, dass man den Mann auch verlassen kann
– wenngleich das damals gesellschaftlich bestraft und durch den tragischen Ausgang der
Romane bestätigt wurde.
Gibt es auch positive Beispiele?
Das Referenz-Buch ist immer wieder «Lucinde», obwohl es am Ende nicht wirklich in eine
Ehe führt. Es gab auch die feministische Schriftstellerin Hedwig Dohm. Ihre Tochter war die
spätere Schwiegermutter von Thomas Mann.
Hedwig Dohms Schriften wurden um 1900 von
Frauen gerne gelesen, ebenso August Bebels
Buch «Die Frau und der Sozialismus».
«Es kann doch nicht schön
sein für einen Mann,
unentwegt Frauen
beschlafen zu müssen!»
Welches Buch hatte den grössten Einfluss auf die
Entstehung der «intellektuellen Ehe»?
Der Roman «Was tun?» des russischen Autors
Nikolai Tschernyschewski von 1863.
Und weshalb?
Er ist programmatisch, weil man darin erfährt,
wie ein Ehepaar, das allein aus Liebe geheiratet
hat, gemeinsam arbeitet und jeden Winkel seines Daseins und seiner Wohnung dementsprechend einrichtet. Das ist nicht gerade unterhaltsam zu lesen, aber interessant aus soziologischer Sicht.
Wann wurde die Ehe-Reform gesellschaftlich virulent?
Ab 1900 bis ungefähr 1930. Ich widme zwei Paaren je ein grösseres Kapitel: Einerseits der 1870
geborenen Marianne Weber und dem Heidelberger Soziologie-Professor Max Weber, mit
dem sie seit 1893 verheiratet war. Andererseits
dem Philosophen-Paar Simone de Beauvoir
und Jean-Paul Sartre in Paris.
Marianne und Max Weber diskutierten unentwegt
das Modell Ehe. Haben sie ihre Beziehung zerredet?
Nein. Sie unterscheiden sich insofern von
Beauvoir/Sartre, als der Angriff auf die tradi-
GUY LE QUERREC / MAGNUM PHOTOS
Teilten die Obsession, ihr Paar-Sein zu demonstrieren: Jean-Paul Sartre und Simone de Beauvoir (Paris 1973).
24. April 2011 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 13
Interview
Leistung der Frauen war, sondern dass sie nur
beide Geschlechter gemeinsam schaffen konnten – und die Männer haben mitgemacht.
HENSCHEL THEATER ARCHIV / CINETEXT
Gilt das auch für die Ehe-Reform?
Ja, durchwegs. Die Männer traten für die Reform ein, weil sie sie wollten – und natürlich,
weil sie sie leichter befördern konnten: Sie
waren bevorzugt durch Bildung und durch die
erotische Freiheit, die ihnen traditionell schon
immer zugestanden war.
Bertolt Brecht (2. v. l.) und Helene Weigel (r.) bei Proben im Theater (Berlin, 1949).
Was hat das für die Ehe der Webers bedeutet?
Die romantische Liebe, die völlige Verschmelzung der Partner, die der Bürgerstochter Marianne Weber vorschwebte, ist eine Vorform der
intellektuellen Ehe, da sie der Frau die Wahl
lässt, den Mann selbst auszusuchen. Gegenseitige Verehrung stützte die Ehe der Webers,
auch noch als Max Weber eine Geliebte hatte.
Marianne Weber hatte zwar schon Vorstellungen von Emanzipation, sie besuchte als Gasthörerin Vorlesungen ihres Mannes. Ihre Vorstellung von einer «Gefährtenehe» sah schon die
Gleichwertigkeit der Partner vor – die mehr ist
als Gleichberechtigung –, und die strebt jede
intellektuelle Ehe an.
Und dann kam Otto Gross.
Gross, der aus einer namhaften Juristenfamilien aus der Steiermark stammte, drogensüchtig
war und ein Bohème-Leben führte, drang mit
seinen Theorien in die Ruhe dieser Bürgerlichkeit ein.
War er der erste Ehe-Revolutionär?
Ja, denn er kam als erster mit einem Programm:
Die Ehe muss zerstört werden. Deshalb tat er
das systematisch. Er behauptete, er schlafe die
Frauen frei, was für ihn manchmal eine geradezu schwere Last sei.
Wir können – nach 68 – darin wohl auch gewisse
eigennützige Motive ausmachen.
Ich erinnere mich an Arnhelm Neusüss, Mitglied des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes (SDS), der Ende der sechziger Jahre
sagte, er müsse die Frauen nach links schlafen.
Das hat man ihm geglaubt! Die Emanzipation
der Sexualität galt den Studenten als ein weltbefreiendes Programm.
Otto Gross starb obdachlos an einer Strassenecke
in Berlin. War er zu früh mit seinen Theorien?
Alle, die eine Revolution beginnen, sind zu früh
und riskieren, zu scheitern. Gross hat sich bewusst aus der bürgerlichen Gesellschaft heraus
begeben. Doch er war kein Bonvivant, sondern
ein Theoretiker. Max Weber hat sich zwar ins
Fäustchen gelacht, als Marianne ihm erzählte,
Otto Gross tue es nur aus missionarischer Berufung. Aber ich glaube Gross. Es kann doch nicht
schön sein für einen Mann, unentwegt Frauen
beschlafen zu müssen!
14 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 24. April 2011
Kommt wohl auf den Mann an.
Nehmen wir den Dramatiker und Lyriker Bertolt
Brecht. Er hat keine Ehe-Theorie entwickelt, hat
aber die Ehe als das Fundament des Bürgertums
schnöde behandelt. Darum musste die Beziehung aus einer Überzeugung der beiden Partner
kommen. Und das strebte der junge Brecht an,
auch wenn er eine Frau nach der anderen an sich
band.
«Ich schreibe immer gegen
Frauen. Warum, weiss ich
nicht. Jetzt können Sie mir
eine psychoanalytische
Behandlung empfehlen.»
Brecht und Helene Weigel nennen Sie weniger ein
Ehepaar als ein Team. Ist das der Preis: Man bekommt öffentliche Anerkennung für das gemeinsam Erarbeitete, aber auf der Gefühlsebene bleibt’s
dürftig?
Sie formulieren das so negativ! Die intellektuelle Ehe schliesst in keiner Art und Weise Gefühle
aus. Ich würde sagen, öffentliche Anerkennung
ist gerade das Glück der intellektuellen Ehe.
Sprechen Sie da auch von sich? Sie sind Germanistin und mit einem Germanisten verheiratet, beide
waren Sie Universitätsprofessoren. Führen Sie eine
intellektuelle Ehe?
Über die rede ich zwar nicht gerne, aber wenn
ich die These vertrete, dass es nichts mehr anderes gibt als die intellektuelle Ehe, dann: Ja.
Und weshalb schreiben Sie immer gegen die Frauen?
Das weiss ich nicht. Jetzt können Sie mir eine
psychoanalytische Behandlung empfehlen.
Aber ich finde halt, dass oft nicht stimmt, was
Feministinnen schreiben. Ich habe vielleicht
grosses Glück gehabt, dass ich nie einem Mann
begegnet bin, der mich unterdrückt hätte. Der
Feminismus ist eine Partei, auch wenn es keine
eingeschriebene ist. Und Parteilichkeit führt
naturgemäss zu Übertreibungen.
Dabei haben wir dem radikalen Feminismus auch
einiges zu verdanken. Manchmal muss man vorpreschen, um wenigstens einen Bruchteil seiner
Forderungen durchsetzen zu können.
Ich unterscheide zwischen Emanzipation und
Feminismus. Zur Zeit der Studentenbewegungen
war das Bestreben der Frauen, zu werden wie die
Männer. Weil sie sich sagten: Das ist meine einzige Chance in dieser Gesellschaft. Diese emanzipierten Frauen waren oft Einzelkämpferinnen.
Erst in den späten siebziger Jahren entwickelte
sich allmählich eine Bewegung, die sich gegen
diese Frauen wandte, weil sie sich der männlichen Kultur anpassten. Man suchte nach dem
spezifisch Weiblichen. Ein solches habe ich aber
nicht gefunden, es sei denn, die Frau ist immer
das, was jammert – und diese falsche Einstellung
möchte ich ein wenig korrigieren.
Wie sind Sie – als Literaturwissenschaftlerin – eigentlich auf dieses Thema gekommen?
Ich las Briefe des deutschen Schriftstellers Rudolf Borchardt und seiner Frau Karoline Ehmann, in denen er sie ermunterte, künstlerisch
zu arbeiten. Da habe ich mich daran erinnert,
dass es viele Männer gab in der Bohème, die das
auch taten – zum Beispiel Max Weber.
Davon liest und hört man wenig.
Ach, ich hatte immer eine Abneigung gegen den
klagenden Feminismus, dieses Gejaule, dass es
den Frauen nur schlecht geht und die Männer
nur das Böse für sie wollen. Dabei haben die
Männer viel geleistet für die Gesellschaft,
indem sie zum Beispiel für den Unterhalt der
Familie sorgen mussten. Deshalb wollte ich zeigen, dass die Emanzipation nicht allein eine
BPK
tionelle Ehe, die sie geführt haben, von aussen
kam, nämlich in der Person des österreichischen Psychoanalytikers Otto Gross.
Sie haben Bücher unter anderem über Schönheit,
Mode und das Alter geschrieben, alles typische
Frauenthemen. Ging es Ihnen wie Marianne
Weber, die nach einer Publikation über Fichtes Sozialismus – dem Fachgebiet ihres Mannes – auf
Fragen der Ehe und der weiblichen Moral ausgewichen ist?
Ich schreibe ja immer gegen die Frauen. Die
amerikanische Feministin Naomi Wolf hat die
Schönheitsdiktatur, der sich die Frauen unterwerfen, diffamiert. Aber ich wollte in «Schönheit. Schule der Frauen» zeigen, dass Mode
eine Chance für die Frauen war. Im 19. Jahrhundert hatten sie keine Sprache. Wie konnten sie
sich also ausdrücken? Durch die Mode. So lernten sie, in der Öffentlichkeit einen eigenen Stil
und eine Individualität darzustellen. Das war
mein Beitrag zur Korrektur der feministischen
Klagen.
Soziologen-Ehepaar Marianne und Max Weber (1893).
Kolumne
Charles Lewinskys Zitatenlese
GAËTAN BALLY / KEYSTONE
Brillanz verdeckt nicht
selten die Abwesenheit
einer Erkenntnis.
Charles Lewinsky ist
Schriftsteller und
arbeitet in den
verschiedensten
Sparten. Sein neuer
Roman «Gerron»
erscheint in diesem
Sommer bei
Nagel & Kimche.
Kurzkritiken Sachbuch
Luise F. Pusch: Deutsch auf Vorderfrau.
Sprachkritische Glossen. Wallstein,
Göttingen 2011. 140 Seiten, Fr. 15.90.
Erich Schmid: In Spanien gekämpft, in
Russland gescheitert. Männy Alt. Orell
Füssli, Zürich 2011. 191 Seiten, Fr. 39.90.
Die nicht nur in feministischen Kreisen
bekannte Linguistin Luise F. Pusch betreibt auf Fembio.org einen Weblog namens «Laut und Luise». Einige der dort
erschienenen Glossen zu Sprachproblemen hat sie nun in einem Büchlein
zusammengefasst. Nicht immer sind die
humorvollen Feminisierungsvorschläge
ernst gemeint, aber immer steckt ein
wahrer Kern dahinter. Pusch macht
etwa darauf aufmerksam, dass eine
«Frauenfussballmannschaft» etwa so
absurd ist wie ein «Frauenmännerklo».
Sprache verändert sich, und Pusch ermuntert uns Frauen, auf eine sprachliche Präsenz zu bestehen und Änderungen einzufordern. Der Tod des «Fräuleins» oder die Erfindung des «Hausmanns» zeigen, dass frau – Beharrlichkeit vorausgesetzt – etwas bewirken
kann: «Hausmann» wie «frau» haben
sich durchgesetzt und stehen mittlerweile sogar im Duden.
Geneviève Lüscher
Der Dokumentarfilmer Erich Schmid
(«Max Bill», «Meier 19», «Er nannte
sich Surava») lernte 1987 den Baselbieter Kommunisten Hermann Alt (1910–
2000) kennen und besuchte ihn «an einigen Nachmittagen mit einem Tonband». 23 Jahre später verarbeitet er das
Oral-History-Dokument zu einem Buch,
interviewt auch Schwester und Kinder
des inzwischen verstorbenen «Männy».
Entstanden ist das Porträt eines linken
Politaktivisten, der 1937/38 in den Internationalen Brigaden in Spanien kämpfte,
in der Schweiz dafür verurteilt wurde,
sich in der Gewerkschaft engagierte und
1956 mit Frau und Kindern in die Sowjetunion auswanderte, um in einem Stahlwerk Arbeit zu finden. Desillusioniert
kehrte die Familie 1960 wieder in die
Schweiz zurück. Ein bewegtes Leben,
empathisch geschildert, mit zahlreichen
Schwarzweissfotos illustriert – ein Stück
Geschichte von unten.
Urs Rauber
Daniela Schwegler, Susann BosshardKälin: Unter der Haube. Huber,
Frauenfeld 2011. 235 Seiten, Fr. 29.90.
Allan Guggenbühl: Was ist mit unseren
Jungs los? Kreuz, Freiburg 2011.
200 Seiten, Fr. 28.90.
Gehorsam, Armut, Ehelosigkeit versprachen diese Frauen, als sie ins Diakoniewerk Bethanien der methodistischen
Kirche eintraten. Wie von einem fernen
Stern scheint in unserer statusbesessenen Gegenwart die Leichtigkeit, mit der
sie es taten: «Eine Familie wollte ich sowieso nicht. Arm war ich bereits. Und
gehorchen konnte ich auch», so sagt es
die 93-jährige Emmi Egloff. Zwanzig
heute pensionierte Diakonissen erzählen von ihrem Leben, von Armut und
Arbeit auf dem Land. Bis sie die Haube
wählten, und damit die Ausbildung zur
Krankenpflege. Sie lernten und arbeiteten rastlos, in verschiedensten Berufen,
oft in verantwortungsvoller Stellung.
Alles wurde anders, geblieben ist nur
die Bescheidenheit. Diese Lebensbilder
sind nicht nur anrührend, sie sind ein
sozialhistorisches Dokument einer Lebensform, die heute am Ende ist.
Kathrin Meier-Rust
In seinem neuen Buch fasst der Psychologe, Gewalt- und Jugendexperte Allan
Guggenbühl die Botschaft zusammen,
die er in vielen publizistischen Beiträgen unentwegt zu verbreiten sucht: Jugendgewalt ist ein komplexes Phänomen, das weder mit Friedens- und Empathie-Training in Schulen noch mit
hochtrabenden Leitbildern und Bekenntnissen zur Gewaltlosigkeit bekämpft werden kann. Eindrücklich der
kleine historische Exkurs, der vor Augen
führt, wie jung die Männer waren, die
einst Europas Schlachten vom Zaun brachen. Guggenbühls Buch erreicht seinen
Höhepunkt mit der Schilderung des
Anti-Aggressivitäts-Trainings, das die
üblichen Konzepte der Psychotherapie
in ihr Gegenteil verkehrt, jugendliche
Täter geradezu provoziert und bei ihrer
eigenen Ehre nimmt. Es hat, sagt der
Autor, in 7 von 10 Fällen Erfolg.
Kathrin Meier-Rust
Ludwig Marcuse
Es gibt Bücher, die sind wie Feuerwerk.
Seenachtsfeste mit Fadenheftung. Kein
Satz, in dem der Autor nicht seinen
Geist aufblitzen liesse, auf dass der
bunte Widerschein der sprachlichen
Glanzlichter sein Genie auch gebührend beleuchte.
Da steigen ganze Batterien von Metaphern in den Himmel, Periphrasen
knattern, Antonomasien explodieren,
und immer mal wieder schiesst ein
Aphorismus als Rakete in den Himmel.
Jedes Wort ein Knaller.
Wie es sich für ein Feuerwerk gehört, soll der Betrachter «Ah!» und
«Oh!» rufen, wenn die bunten Farben
in immer neuen Schattierungen aufleuchten, Ringbomben und Zylinderbomben und immer noch eine Bombe
mehr.
Als Leser tut man das auch gern. Bereitwillig lässt man sich überwältigen,
applaudiert und staunt, wenn wieder
eine erlesene Formulierung aufleuchtet
und noch eine und noch eine.
Und noch eine und noch eine und
noch eine.
Solche Bücher können grossen Spass
machen. Wenn sie kurz genug bleiben.
Denn allzu lang hält man das permanente Geböllere und Geballere nicht
aus. Brillanz ermüdet, wenn sie zum
Selbstzweck wird.
Da erleuchtet immer noch ein römisches Licht den Himmel, immer noch
ein bengalisches Feuer flackert am Horizont, und man schaut gar nicht mehr
hin. Denn irgendwann taucht im Hinterkopf unweigerlich die Frage auf, die
einem die Freude am prächtigsten
Feuerwerk verderben kann: «Wozu
eigentlich das Ganze?» Man blättert
dann vielleicht im Klappentext nach
oder in der Rezension, aber dort erfährt man auch nicht mehr, als was man
schon selber gemerkt hat: Dieses Buch
ist brillant. Aber sonst nicht viel.
Wenn man das einmal gedacht hat,
verpufft der Zauber wie die künstlichen
Sterne am Himmel.
Die geheimnisvollen Düfte, die einen
eben noch verzaubert haben, sind
plötzlich nur noch Schwefel und
Kaliumnitrat, die immer gleichen altbekannten Ingredienzien, die nur
wieder einmal neu gemischt und
zusammengerührt wurden.
Das ist schade, denn Feuerwerke
sind eigentlich etwas Schönes. Sie
dürfen nur nicht so lang dauern, dass
einem der Nacken weh tut, weil man
die ganze Zeit in Demutshaltung nach
oben schauen musste.
Wenn dann die Kanonenschläge endlich verklingen und sich der Rauch verzieht, realisiert man
allzu oft, dass ihr
Schöpfer das Schwarzpulver auch nicht erfunden hat.
24. April 2011 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 15
Sachbuch
Terrorismus Zehn Jahre nach den Anschlägen der al-Kaida in den USA
stellt sich die Frage, ob sich die westliche Gesellschaft dadurch
verändert hat. Zwei neue Bücher geben unterschiedliche Antworten
9/11 und die
Welt danach
Bernd Greiner: 9/11. Der Tag, die Angst,
die Folgen. C. H. Beck, München 2011.
280 Seiten, Fr. 30.50.
Michael Butter, Birte Christ, Patrick Keller
(Hrsg.): 9/11 – Kein Tag, der die Welt
veränderte. Ferdinand Schöningh,
Paderborn 2011. 169 Seiten, Fr. 25.90.
Von Dieter Ruloff
Im Herbst dieses Jahres jähren sich die
Anschläge vom 11. September zum zehnten Mal.
Runde Jahrestage stimulieren den Bedarf an Rückblicken und Bewertungen,
Autoren und Verlage bedienen diese
Nachfrage gerne. Ein Handicap hat jedes
neue Buch über 9/11 allerdings: Es gibt
bereits Massen davon, und zwar etwa
sechstausend. Tatsächlich wissen wir
über kaum ein Ereignis der jüngeren
Zeitgeschichte bereits jetzt so viel wie
über die Anschläge vom 11. September
2001. Allerdings gehen die Meinungen
auch hierbei weit auseinander, sowohl
was den Ablauf selbst als auch was dessen Bewertung betrifft.
Wer sich in die Materie auf eigene
Faust einarbeiten möchte, kann beim
9/11 Commission Report des amerikanischen Kongresses beginnen, das als
Buch («The 9/11 Commission Report:
Final Report of the National Commission on Terrorist Attacks Upon the
United States», New York 2004) oder
E-Book erhältlich ist und auch als PDFDatei (7 MB) von der Webseite des amerikanischen Parlamentes heruntergeladen werden kann. Aber da beginnt
schon das Problem, denn der Bericht
wurde ediert und gekürzt, was sofort
den Verdacht der Manipulation auf den
Plan rief: Was wurde weggelassen und
warum?
Wer weder die Zeit noch den Nerv
besitzt, gegen den Berg von Material
über 9/11 anzulesen, der ist für eine au16 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 24. April 2011
toritative Darstellung der Ereignisse
und Folgen des 11. September dankbar.
Und eine solche bietet das gerade erschienene Werk des Hamburger Historikers und Politologen Bernd Greiner mit
dem Titel «9/11. Der Tag, die Angst die
Folgen». Keine umfassende Geschichte
des letzten «nervösen Jahrzehnts» soll
geboten werden, so der Autor in der Einleitung. Vielmehr sollen einige weisse
Flecken auf der Road Map der Entwicklungen beseitigt und etliche der Legenden über 9/11 entkräftet werden.
Die Schilderung der Anschläge im
Stile eines atemlosen Reporters zu
Beginn des Buches ist vielleicht nicht
jedermanns Sache. Glücklicherweise
stellt sich aber rasch ein ruhiger, besonnener Ton ein. In dichter Sprache werden die Entwicklungen nachgezeichnet:
Bin Ladens Mutierung vom Sohn reicher Eltern zum Topterroristen; die Entstehung der Idee vom «Regimewechsel»; die Illusionen der Neokonservativen vom «Imperium» Amerika, das
nicht auf die Welt hören müsse, weil
man die Welt selbst gestalte, und zwar
nach dem eigenen Vorbild. Selbst bei
der Beschreibung haarsträubender Fehlleistungen der Regierung Bush erspart
sich Greiner jeden Sarkasmus.
Verschwörungstheorien
Ob das Buch einige jener zahlreichen Legenden um 9/11 wirklich «entkräftet»,
wie es im Klappentext heisst, sei einmal
dahingestellt. Wer bislang der Meinung
war, die Anschläge seien nicht ein Werk
der al-Kaida und Osama bin Ladens, sondern eine Verschwörung der US-Regierung, um einen Vorwand für den Krieg
gegen den Irak zu fabrizieren, der wird
sich durch die Lektüre dieses Buches
kaum eines Besseren belehren lassen.
Der Glaube der Verschwörungstheoretiker ist gegenüber Fakten bekanntlich
immun. Tragisch nur, dass jene, die Verschwörungsgeschichten in die Welt set-
zen, weit grössere Aufmerksamkeit erregen als jene, die sich dann daran machen,
die Dinge wieder geradezurücken. Was
die Folgen der Anschläge vom
11. September betrifft, beschränkt sich
Greiner auf jene für Amerika selbst,
nämlich den Wandel der USA vom
Rechtsstaat zum «Machtstaat» beim
Krieg gegen den Terrorismus: den Aufbau der gewaltigen Heimatschutzbehörde, der der Bürger hilflos ausgeliefert ist,
Weltkrieg oder dem Ende des Kalten
Kriegs sicher nicht. Vielmehr haben die
monströsen Anschläge auf das World
Trade Center und das Pentagon jene
Säkulartrends verstärkt, über die man
schon seit Jahren, Jahrzehnten und länger sprach: die Probleme von Machtverlust und «imperialer Überdehnung» der
USA, die Paul Kennedy 1987 mit seinem
Buch über den Aufstieg und Niedergang
grosser Mächte vorhersagte («The Rise
and Fall of the Great Powers: Economic
Change and Military Conflict From 1500
to 2000», New York 1987).
Oder die fortschreitende Globalisierung, die auch global agierenden Kriminellen und Terroristen das Terrain ebnete; auch für sie ist die Welt nun
«flach», wie Thomas Friedman es in seinem Bestseller formulierte («The World
Is Flat: A Brief History of the Twentyfirst Century», New York 2005).
MARTY LEDERHANDLER / AP
Kaum bleibende Spuren
sollte er unter Verdacht geraten; die Stärkung der Exekutive zu Lasten der Legislative; und schliesslich die Doktrin der
militärischen Prävention, die den Angriffskrieg gegen jede potenzielle Bedrohung rechtfertigt, entgegen den sehr eindeutigen Regeln des Völkerrechts. Alle
drei Trends konnte (und wollte) auch der
neue Präsident Obama nicht umkehren.
Nicht thematisiert wird bei Greiner
die Frage der weiter reichenden histori-
schen Wirkungen der Anschläge vom
11. September 2001. Haben diese die
Welt, wie wir sie kannten, verändert,
also strukturellen Wandel bewirkt?
Das gerade erschienene Buch «9/11 –
Kein Tag, der die Welt veränderte» von
Michael Butter, Birte Christ und Patrick
Keller bestreitet dies, und zwar mit
gutem Grund. Eine weltgeschichtliche
Zäsur war 9/11 im Vergleich mit Meilensteinen wie dem Ersten und Zweiten
Brennende Türme des
World Trade Center
in New York. Der
11. September 2001
war keine weltgeschichtliche Zäsur,
hat aber den Machtverlust der USA
beschleunigt.
Selbst Amerikas Neigung zu Alleingängen ist keine Erfindung von George W.
Bush. Diese Form der unilateralen
Machtpolitik zum Zwecke der Förderung eng definierter US-Interessen wird
bezeichnenderweise Jacksonianism genannt, trägt also den Namen des 7. Präsidenten der USA (1829 bis 1837 im
Amte). Auch in Kunst, Religion und
Wirtschaft hat 9/11 keine bleibenden
Spuren hinterlassen. «Wall Street» war
weniger als eine Woche nach den Anschlägen wieder online. Und Ursache
der Finanzkrise der Jahre 2008/09 waren
weniger die durch zwei Kriege aufgelaufenen Staatsschulden der USA, sondern
die Immobilienblase, die wiederum auf
staatliche Eigenheimförderung und private Spekulation zurückzuführen ist.
Ähnlich ist der Befund bei anderen
Themen: Verschwörungstheorien? Die
gab es auch nach der Ermordung John F.
Kennedys. Antiamerikanismus? Lyndon
Johnson war in Europa in den späten
1960er Jahren mindestens so unbeliebt
wie George W. Bush am Ende seiner
Amtszeit zu Beginn 2010. Führende
amerikanische
Politologen
haben
George W. Bush bereits zu seiner Amtszeit zum fünftschlechtesten Präsidenten
aller Zeiten erklärt, zum schlechtesten
seit Beginn des 20. Jahrhunderts.
Es ist das Pech dieses insgesamt
lesenswerten und anregenden Buches,
dass es zu spät kommt. Wer jetzt noch
auf Bush herumhackt, steht ganz hinten
in der Schlange; die Sache selbst ist so
gut wie erledigt. Und wer heute die bleibende weltpolitische Wirkung von 9/11
bestreitet, hätte vor fünf oder sechs Jahren wenn nicht Aufsehen erregt, so doch
für Diskussion in Politologenzirkeln gesorgt. So ist die Karawane weitergewandert, und man ängstigt sich über Aktuelleres.
Wird Fukushima die Welt verändern?
Auch hier muss man wohl skeptisch sein
und antworten: die Welt wohl nicht,
aber vielleicht die europäische Energiepolitik. l
Dieter Ruloff ist Professor für
Internationale Beziehungen an der
Universität Zürich.
24. April 2011 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 17
Sachbuch
Feminismus Streitschrift der «taz»-Chefredaktorin Bascha Mika
Reden wir über uns,
nicht über die Männer
Bascha Mika: Die Feigheit der Frauen.
Rollenfallen und Geiselmentalität – Eine
Streitschrift wider den Selbstbetrug.
C. Bertelsmann, München 2011.
255 Seiten, Fr. 24.90.
«Geben wir es zu: Wir Frauen haben es
vermasselt. (. . .) Rhetorisch sind wir
emanzipiert, doch in der Praxis versagen wir jämmerlich. Wir ordnen uns
unter. Freiwillig. Weil es bequem ist,
weil wir Konflikte scheuen, weil wir
davon profitieren. Frauen sind zu feige.»
So redet Bascha Mika im Klappentext
den Frauen ins Gewissen. Auf die Frage,
weshalb sie die Frauen als feige beschimpfe, sagte sie während einer Buchvorstellung in Hannover, das sei ein
Mutmachbuch.
Ob uns das wirklich hilft?
Ermutigen wollten uns schon viele vor
ihr, z.B. Olympe de Gouges, Mary Wollstonecraft, Hedwig Dohm, Simone de
Beauvoir, Iris von Roten, Betty Friedan,
Alice Schwarzer. Sie versuchten dies,
indem sie die Männer als Urheber und
Nutzniesser des Patriarchats angriffen.
Das tut Bascha Mika kaum mal. Gewalt
erwähnt sie nur mit Bezug auf – Verbrecherinnen! Bei ihr sind die Frauen selbst
schuld an ihrer Misere, weil sie den falschen Mann gewählt haben und/oder
sich die Gemeinheiten der Männer bie-
MARCO URBAN / SÜDDEUTSCHE ZEITUNG
Von Luise F. Pusch
Bascha Mika, 1999–2009 Chefredaktorin der linken «tageszeitung» (taz).
ten lassen. Ob ihre Methode des «blaming the victim» (dem Opfer die Schuld
geben) wirklich hilft? Oder ob sie nur
hilft, das Buch zu verkaufen? Immerhin
entscheiden meist Männer darüber, ob
Bücher rezensiert werden. Die Rechnung ist anscheinend aufgegangen:
Mikas Buch ist ein Renner. In Hannover
sagte Bascha Mika, sie wende sich an die
Frauen, weil nur die etwas ändern könnten. Die Männer wären zwar an vielem
schuld, sähen aber gar keinen Grund zur
Änderung.
Das leuchtet ein. Aber selbst wenn
ganz viele Frauen Mikas Appell individuell folgen und sich mutig in die
«Fröste der Freiheit» und todesmutig in
«Konflikte» mit dem tyrannischen und/
oder mit dem faulen Partner stürzen,
überleben die patriarchalen Strukturen
völlig unbeschadet. Es bedarf weiterhin
des gezielten kollektiven Kampfes gegen
diese Strukturen, deren Fortbestand
Mika ausgerechnet den Frauen zur Last
legt: «Die Strukturen sind katastrophal,
und Frauen leiden darunter. Aber warum
sind sie so zählebig? Warum schaffen es
Frauen nicht, sie in die Luft zu jagen?
Weil wir es gar nicht wollen. Weil wir
nicht nur leiden, sondern auch geniessen.»
Mit Verlaub, das ist Blödsinn. Strukturen lassen sich nicht «in die Luft
jagen». Als feministische Linguistin und
Theoretikerin kann ich ein Lied davon
singen. Wie gerne würde ich mal ein
paar grammatische Strukturen, frauenfeindliche Gesetze und patriarchale
Denkmuster in die Luft jagen. Was not
tut, sind geeignete Gegenstrukturen.
Appelle, das eigene Verhalten zu ändern, können sicher mithelfen. Aber private Verhaltensänderung reicht in der
Regel nicht, weil da erstens immer noch
«die patriarchalen Strukturen» sind und
zweitens die Mitmenschen, die ihr Verhalten nicht ändern.
Frau wüsste auch gerne, wer denn mit
diesem «wir» eigentlich gemeint ist.
Quote und Verbote
Gesellschaftlicher Wandel funktioniert
nicht so, wie Bascha Mika sich das vorstellt. Nehmen wir mal die erfolgreiche
Nichtrauchbewegung als Lehrbeispiel,
auch wegen der Parallele des «nicht nur
leiden, sondern auch geniessen». Da
waren die einen, die genossen (das Rauchen) und litten (ihre Gesundheit nahm
Schaden). Und da waren die anderen, die
litten bloss (sie rauchten nicht und litten
unter der Luftverpestung). Die beiden
Gruppen als «wir» zusammenzufassen,
wäre wohl ein kapitaler Denkfehler. In
Bascha Mikas Eintopf namens «wir» fehlen vor allem die Widerständigen: Feministinnen, Lesben, alte Frauen, die das
Spiel durchschaut haben. Auf sie, die vermutlich genauso viele sind wie die, die
Unternehmensgeschichte Ein Branchenüberblick zeigt, wie die Schweizer Wirtschaft gross geworden ist
Viele schämen sich für den Erfolg, weshalb
R. James Breiding, Gerhard Schwarz:
Wirtschaftswunder Schweiz. Ursprung
und Zukunft eines Erfolgsmodells.
NZZ Libro, Zürich 2011. 429 S., Fr. 58.–.
Von Beat Kappeler
Niemand ist dankbar, kaum jemand
weiss es so richtig: Wie auf einer Insel
der Seligen durchschifft die Schweizer
Wirtschaft heute die Krisen des Westens – Finanzkrise, Eurokrise, Rohstoffteuerung. Das ist aber nicht neu, das
Niveau der Einkommen, die Zahl der internationalen Firmen, die annähernde
Vollbeschäftigung übertreffen seit Menschengedenken das nähere und fernere
Ausland.
Das Buch über das «Wirtschaftswunder Schweiz» von R. James Breiding und
18 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 24. April 2011
Gerhard Schwarz spürt deshalb den Ursachen nach. Dazu führt es explizit eine
43 Jahre alte Analyse fort, nämlich Lorenz Stuckis «Das heimliche Imperium»
(1968). Die Hauptthese der Autoren ist
klar wie bei Stucki: Die Schweizer Wirtschaft ist «imperial» gross, aber gleichzeitig sind zu viele Fakten unbekannt,
heimlich fast. Und sie ziehen den Schluss
gegen den Zeitgeist der letzten dreissig
Jahre Schweizer Gewissensbisse: «Man
sollte sich für Erfolg nicht schämen.»
Die Methode folgt dem von Stucki
seinerzeit eingeschlagenen Weg. Exemplarische Geschichten der grossen und
mittleren Unternehmen werden nachgezeichnet. Da wundert sich der Leser,
Fachmann wie Laie, wie oft Beharrlichkeit, Spürsinn und schierer Zufall zusammenspielen. Heutige grosse Uhrenmarken entstanden vor hundert und
mehr Jahren oft nur, weil sich zwei Fachleute – ein Techniker und ein gewiefter
Geschäftsmann – trafen. Oder die
Durchbrüche zur Kondensmilch, zur
Milchschokolade resultierten mehr aus
Pröbelei als systematischer Forschung.
Aber selbstverständlich werden auch
die ganz grossen Firmen und ihre planvollen globalen Strategien vorgezeigt.
Breiding und Schwarz bieten sodann
eine breite Branchenschau der neuesten
und innovativen Firmen. Die Medizinalfirmen Synthes, Tecan, Ypsomed, Zimmer, Nobel Biocare, Phonak werden
vorgestellt, oder die verschlungenen
Restrukturierungen und Aufkäufe von
Teilen der grossen Maschinenindustrie.
Man sieht, wie die wendigen neuen, oft
unbekannten Maschinenfabriken entstanden – die Ferag für Zeitungsbeförderung, Piepers Küchen für McDonald’s,
konzerne mühelos Nachwuchs erzeugen
konnten, der sie dann durch süchtigen
Konsum am Leben erhielt. Genau wie
unsere patriarchalen Massenmedien
und Institutionen systematisch ihren
Nachwuchs an Mädchen und Frauen heranbilden, die die Interessen des Patriarchats in einem noch wehrlosen Alter als
ihre eigenen internalisieren und es so
am Leben erhalten. Meine Empfehlung:
Quote und Verbote!
Kommen wir von der erfolgreichen
Nichtrauchbewegung zu unserer tapfer
kämpfenden Frauenbewegung. Sie hat
mit ihrer Aufklärungsarbeit, ihren Organisationen, Institutionen und Aktionen
in der Gesellschaft Fuss gefasst und
wird schliesslich das Patriarchat zu Fall
bringen. Aber vielleicht gelingt das ein
bisschen schneller, wenn auch die «feigen Frauen» durch Mikas Appell aufwachen und mithelfen. ●
Luise F. Pusch ist Linguistin und Frauenbiografie-Forscherin in Hannover.
HULTON ARCHIVE / GETTY IMAGES
Mika im Visier hat und «wir» nennt, trifft
ihre Analyse nicht zu.
Trotz der Appelle, das Rauchen aufzugeben, rauchten die meisten weiter,
und «die Strukturen» blieben ein stabiles Hindernis: die mächtigen Tabakkonzerne, ihre raffinierte Werbung, das
süchtig machende Nikotin, nicht zuletzt
der Staat, der an der Tabaksteuer mitverdient.
Was diese Strukturen schliesslich zerstört hat, sind nicht die bekehrten ExRaucher und -Raucherinnen. Es waren
vielmehr die Gegenstrukturen: Gewiefte und entschlossene Organisationen,
die die Tabakkonzerne durch Musterprozesse in die Knie zwangen, und
immer mehr Rauchverbote.
Sicher haben Raucherinnen die «katastrophalen Strukturen» mit aufrechterhalten. Aber ihre Beteiligung war im
Vergleich zu dem Anteil der wirklich
Schuldigen minimal. Persönlicher Verzicht nützte wenig, solange die Tabak-
Frauen kämpfen für ihre Rechte – heute ebenso wie vor 40 Jahren in New York.
bloss?
Thermoplans Anlagen für Starbucks.
Neueste Dramatik fehlt nicht, so bei der
Analyse des Finanzplatzes nach der Finanzkrise und unter dem eingeschränkten Bankgeheimnis. Die «Swiss Value
Chain» mit dem ihr eigenen Vierklang
aus elektronischem Handel, zentraler
Käufer- und Verkäuferstelle, Effektenabwicklung und Zahlungssystem wird auf
die Zukunftsfähigkeit abgeklopft.
Der Schluss aus all dem lautet zuerst
bescheiden, dass der Erfolg keine Garantie für die Zukunft sei und dass es
keinen «Masterplan Schweiz» gegeben
habe. Die vielen lebensnahen Unternehmerporträts des Buches unterstreichen
die individuellen Voraussetzungen. Offenheit (auch für geniale Zuzüger), Professionalität, Berufsbildung, vernünftige
Beziehungen zwischen Arbeitnehmern
und Arbeitgebern sowie der mutige Zug
in die Welt hinaus zählen dazu. Obwohl
die Autoren nicht in grosser Gesellschaftstheorie machen wollen, sichten
sie die überindividuellen Voraussetzungen. Dazu gehören der unternehmerische Freiraum im Lande, eine nüchterne
Bodenhaftung in Verbindung mit der
direkten Demokratie, welche illusionäre
Visionen herunterholt, die Verschiedenheit auf kleinem Raum, wodurch jeder
einmal in Minderheit ist und sich anpassen muss.
Die Zukunft bietet aber auch Klippen.
Die globale Regulierungsmaschine
senkt nationale und unternehmerische
Spielräume, die «demografische Dividende» (ein boomender Nachwuchs) ist
bezogen, die stete Zuwanderung macht
den Raum knapp. Für andere Länder
hingegen sei die Schweiz «nicht Vorbild,
sondern eine Alternative». ●
Evolution Primatenforscher Frans de Waal
über die uralte Fähigkeit des Menschen
zur Empathie
Lob der Einfühlung
Frans de Waal: Das Prinzip Empathie.
Was wir von der Natur für eine bessere
Gesellschaft lernen können. Hanser,
München 2011. 352 Seiten, Fr. 37.90.
Von Thomas Köster
Wenn er Gott wäre, so wurde Frans de
Waal von einer religiösen Zeitschrift
einmal gefragt, was würde er an der
Menschheit ändern? Der niederländische Primatenforscher musste lange
überlegen, aber dann fiel ihm eine Antwort ein. «Wäre ich Gott», resümiert er
im letzten Kapitel seines Buches,
«würde ich an der Reichweite der Empathie arbeiten». Den Grund für diese
weise Einsicht hat sein Buch zuvor anhand von zahllosen Beispielen aus der
Welt der Affen, Katzen, Mäuse, Elefanten und Delfine illustriert.
Man muss de Waal dankbar dafür
sein, dass er – anders als etwa Stefan
Klein in «Der Sinn des Gebens» (2010)
– nicht dem Trugschluss verfällt, evolutionär gewachsenes Einfühlungsvermögen mit selbstloser Nächstenliebe zu
verwechseln. Stattdessen gelingt es ihm,
Empathie in sozial orientierten Gattungen schlüssig und anschaulich zwischen
der «egoistischen» Überlebensstrategie
einer Spezies und nicht erklärbaren,
oft gattungsübergreifenden «altruistischen» Elementen zu verorten. «Ich
glaube, dass alles menschliche (und tierische) Verhalten letztlich den Akteuren
dienen muss», heisst es dementsprechend im Buch. Und: «Bei Empathie hat
die Evolution einen Mechanismus geschaffen, der unabhängig davon funktioniert, ob es um unser unmittelbares Interesse geht oder nicht.»
Natürlich gibt es auch hier beim
Übersetzungsversuch in die Sphäre des
modernen Homo sapiens Übertragungsfehler. So lässt de Waal fast völlig die
geschichtlich gewachsene Komponente
menschlichen Einfühlungsvermögens
ausser acht: eines Einfühlungsvermögens, dessen Grenzen sich nicht zuletzt
dort offenbaren, wo es Vertretern einer
kulturellen Gruppe schwerfällt, sich in
die Bräuche und Verhaltensweisen einer
anderen Gruppe einzufühlen: Die europaweite Irritation angesichts der Empörung über dänische Mohammed-Karikaturen in der islamischen Welt wäre hierfür vielleicht ein Beispiel. Aber das tut
der Klugheit von de Waals Ausführungen kaum einen Abbruch.
«Empathie ist Teil unserer Evolution
und nicht bloss ein jüngerer Teil, sondern eine uralte, angeborene Fähigkeit»,
lautet de Waals gut belegtes Credo.
«Sich auf diese angeborene Fähigkeit zu
besinnen, kann jeder Gesellschaft nur
zum Vorteil gereichen.» Nach der
Lektüre des Buches will man das – mit
besagten Einschränkungen – nur allzu
gerne glauben. ●
24. April 2011 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 19
Sachbuch
Geisteswissenschaft Fritz Stern und Jürgen Osterhammel versammeln die wichtigsten Texte zum
Selbstverständnis ihres Fachs – von Voltaire bis Fernand Braudel
Historiker und Geschichte
Fritz Stern, Jürgen Osterhammel (Hrsg.):
Moderne Historiker. Klassische Texte von
Voltaire bis zur Gegenwart. C. H. Beck,
München 2011. 558 Seiten, Fr. 43.50.
Es macht den Reiz, aber auch die
Fragwürdigkeit der Geschichtswissenschaft aus, dass ihre Einsichten nicht unanfechtbar
sind und die Wahrheit ihrer
Erkenntnisse nicht absolut
ist. Zwar ist es ein Grundbedürfnis des Menschen, sich
von der Vergangenheit Rechenschaft zu geben; aber
jedes Individuum und jede
Epoche tut dies auf eine eigene Weise.
Dies war dem deutschamerikanischen Historiker
Fritz Stern, Professor an
der Columbia University in
New York, bewusst, als er
vor einem halben Jahrhundert seine Sammlung wichtiger Texte zum Selbstverständnis des Fachs unter dem
Titel «The Varieties of History from Voltaire to the Present» herausgab. Nun, im hohen
Alter von 85 Jahren, hat sich
Stern mit dem fast dreissig Jahre
jüngeren Kollegen Jürgen Osterhammel von der Universität Konstanz zusammengetan, und beide haben
diese Anthologie erweitert und bis in
die Gegenwart fortgeführt.
Am Anfang stehen damals wie heute
Texte von Voltaire, der im Geist der Aufklärung den kritischen Zugang zu den
Geschichtsquellen suchte und die Idee
einer Universalgeschichte entwarf. Im
19. Jahrhundert fehlt es nicht an aufschlussreichen Aussagen der Historiker
zu ihrem Geschichtsbild. Von den Autoren, welche die Herausgeber zu Wort
kommen lassen, seien hier Leopold von
Ranke, Jules Michelet, Thomas Carlyle
und Henry Thomas Buckle hervorgehoben. Ranke, oft zitiert und wenig gelesen, wird mit einer kritischen Stellungnahme zur Geschichtsphilosophie und
zur Fortschrittsgläubigkeit vorgestellt.
Michelet präsentiert sich in einem temperamentvollen Brief an einen Fachkollegen als Entdecker der französischen
Volksseele, während Carlyle ein beredtes Plädoyer für die grosse Persönlichkeit in der Geschichte hält.
Für Methodenvielfalt
Von Henry Thomas Buckle wird ein Bekenntnis zum Positivismus wiedergegeben, das die Geschichte in die Nähe der
Naturwissenschaften zu rücken sucht.
Einer der schärfsten Kritiker Buckles
war Johann Gustav Droysen, der in seiner «Historik» dem Glauben an histori20 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 24. April 2011
BPK
Von Urs Bitterli
Leopold von Ranke
(1795–1886):
deutscher Historiker
und königlich
preussischer
Wirklicher Geheimer
Rat.
sche Gesetzmässigkeiten widersprach
und für Vielfalt und Verfeinerung der
Methoden eintrat.
Der historische Materialismus wird
in der vorliegenden Anthologie relativ
knapp, aber mit eindrücklichen Textpassagen von Karl Marx, Friedrich Engels
und Jean Jaurès dargestellt. Das Zeitalter der bürgerlichen Geschichtsschreibung wird abgeschlossen mit zwei umfangreichen Texten von Friedrich Meinecke und Johan Huizinga. Meinecke
sucht die Tradition von Rankes Historismus fortzusetzen, und der Holländer
Huizinga warnt mit einem Text aus den
dreissiger Jahren des letzten Jahrhunderts eindringlich vor den Gefahren
einer Mystifizierung und Ideologisierung der Geschichte.
Wie sich dann die Diktaturen Stalins
und Hitlers der Verführbarkeit der Historiker zu bedienen wussten, wird an
Texten des sowjetischen Historikers
Michail N. Pokrovskij und des Nazi-Historikers Karl Alexander von Müller auf
beklemmende Weise deutlich.
Die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg
ist im Wesentlichen durch eine Öffnung
der Geschichtswissenschaft gegenüber
den Sozialwissenschaften gekennzeichnet. In Frankreich ging die Historikerschule der «Annales» neue Wege; sie
ist in diesem Sammelband mit wichtigen Texten von Marc Bloch und
Fernand Braudel vertreten. Im
Gefolge der «Annales» erweiterte sich das Themenfeld der
Geschichte zur Alltags- und
Mentalitätsgeschichte
hin,
und das Fach nahm Anregungen aus benachbarten Disziplinen wie der Ethnologie
und Volkskunde auf.
Die Grenzen der nationalen und kontinentalen
Geschichte wurden aufgebrochen, wie die Texte
der Inderin Romila Thapar und des Chinesen Ma
Keyao zeigen. Selbst das
Erscheinungsbild des Historikers scheint sich verändert zu haben, wie man
einem aufschlussreichen
autobiografischen Bericht
einer Vertreterin der Historischen Anthropologie, der
Amerikanerin Natalia Zemon
Davis, entnehmen kann. Der
Professor, der ein dickes Buch
schreibt und den Rest seines Lebens darauf verwendet, das so erlangte Wissensmonopol einfach nur
zu verteidigen, scheint endgültig verschwunden.
Lesenswerte Texte
Der moderne Historiker ist neugierig,
aufgeschlossen und weiterbildungswillig, bewegt sich gewandt in weltweiten
Beziehungsnetzen, schreibt vornehmlich wissenschaftliche Artikel und Buchbeiträge und erweist sich nebenher
noch als Meister der Projektplanung
und der Drittmittelbeschaffung. Kein
Zweifel: Es atmet sich freier in den historischen Kompetenzzentren heutiger
Universitäten als in den Seminarien von
einst, wo eine einzige ungeschickte Antwort den Gunstentzug des Professors
bewirken konnte. Bleibt nur zu hoffen,
dass die Historiker in der babylonischen
Verwirrung der Methodenvielfalt und
im L’art pour l’art ihrer scharfsinnigen
Kontroversen nicht ganz die politische
Wirklichkeit und die staatsbürgerliche
Funktion ihres Fachs aus den Augen verlieren.
Die Sammlung historischer Texte von
Stern und Osterhammel ist mit ihren
nützlichen Literaturhinweisen ein lesenswertes Buch, auch wenn man sich
natürlich Textsammlungen vorzustellen
vermag, welche die Akzente ganz anders setzen. ●
Urs Bitterli ist emeritierter Professor für
neuere Geschichte an der Uni Zürich.
Erdbeben Grossartiger Augenzeugenbericht aus Haiti
Yanick Lahens: Und plötzlich tut sich der
Boden auf. Ein Journal. Rotpunkt,
Zürich 2011. 155 Seiten, Fr. 27.–.
Von Urs Rauber
Am 12. Januar 2010 um 16.53 Uhr bebt in
Port-au-Prince die Erde. 40 Sekunden
lang. Haitis Hauptstadt ist besessen
«von einem jener Götter, die Fleisch
essen und Blut trinken». Yanick Lahens
steht in ihrem Wohnzimmer und hält
sich am Türrahmen fest. Erlebt Schübe
von links nach rechts, von unten nach
oben. «Ich schaue nach draussen, sehe
mein Auto auf- und abhüpfen und warte
darauf, dass es jeden Moment den Hang
hinterm Haus hinabrollt.»
Die 58-jährige Schriftstellerin Yanick
Lahens, eine der wichtigsten intellektuellen Stimmen ihres Landes, hat die
Erschütterung Haitis in einem Journal
festgehalten, das 2010 in Paris in der
französischen Originalausgabe erschienen ist. Der 150 Seiten starke Essay ist
zugleich Augenzeugenbericht wie politische Analyse: kraftvoll, poetisch,
eindringlich. Wie der ausdrucksstarke
Blick dieser haitianischen Autorin auf
der Innenseite des Buchumschlages.
Kann ein Katastrophen-Buch schön
sein? Es kann – wie Lahens beweist. Die
Publizistin und Dozentin für Literatur in
Port-au-Prince schildert nicht nur die
dramatischen Ereignisse am 12. Januar
und danach. Erzählt, wie Menschen per
Handy mit Nachbarn in Kontakt treten,
die unter Trümmern begraben liegen.
Sie erlebt den Schrei eines Mädchens,
dem im Hof eines Spitals ohne Narkose
beide Beine amputiert werden. Aber sie
beschreibt auch, wie in ihr das «beschützende Muttertier» erwacht, wie sie
in ihrem nur teilweise zerstörten Haus
eine Kaffeepause einlegt und wie sie –
wie immer am Sonntag – ihre intellektuellen Freunde zum Gedankenaustausch,
zur geistigen Ernährung trifft.
Hier greift der Erlebnisbericht weit
über die Erdbeben-Reportage hinaus,
wird zur Reflexion über die tektonischen
Veränderungen der ersten schwarzen
Republik und ihrer 200-jährigen Geschichte. Mit analytischer Schärfe seziert die Autorin die verhängnisvolle
Zweiteilung der haitianischen Gesellschaft in «Bossales» (von franz. «peau
sale», dunkelhäutige, afrikanischstämmige Arme) und «Creoles» (hellhäutige
Mulatten, Wohlhabende). Beide Gruppen liefern sich seit einem halben Jahrhundert ein Katz-und-Maus-Spiel, wenn
es um die Besetzung des öffentlichen
Raumes geht. Die Rede ist von den Wun-
den der Stadt, von Elend und Desillusionierung ebenso wie von den immer wieder keimenden Hoffnungen.
Mit kritischem Blick verfolgt Lahens
das Wirken der ausländischen Medien,
die «laut und undifferenziert» von Inkompetenz und Korruption berichteten
und so die Beschäftigten der öffentlichen Verwaltung ein zweites Mal sterben liessen. Und zwiespältig beurteilt
sie das Wirken der zahlreichen internationalen NGOs, die nach Ausbruch der
Katastrophe das Land richtiggehend besetzt und sich «neunzig Prozent der bereitgestellten Gelder gesichert» hätten.
Diese künstliche «Mund-zu-Mund-Beatmung» funktioniere hier nicht, eine un-
RAMON ESPINOSA / AP
Vierzig Sekunden
verändern
eine Gesellschaft
Das Erdbeben vom
12. Januar 2010 stürzt
Haiti erneut ins Elend.
terentwickelte Gesellschaft wie Haiti
könne durch solche Hilfe nicht wiederbelebt werden.
Schliesslich verzahnt die Literatin
ihren Augenzeugenbericht und die politische Analyse mit zwei Figuren aus dem
von ihr begonnenen Liebesroman, an
dem sie bei Ausbruch des Erdbebens am
12. Januar 2010 gesessen hat. Sie begleitet
fiktiv die beiden Protagonisten Nathalie
und Guillaume an den Schauplatz ihrer
ersten Begegnung in Port-au-Prince, der
inzwischen verschwunden ist. Noch
weiss sie nicht, wie die Geschichte weitergeht. Ein grossartiges Buch, das dem
gebeutelten Haiti ein Stück Stolz und
Würde zurückgibt. ●
Eckhardt Köhn
Rolf Tietgens –
Poet mit der Kamera
Fotografien 1934 -1964
Hamburg, Berlin und seit 1939 New York
sind die Lebensstationen von Rolf Tietgens
(1911-1984), einem der talentiertesten
Fotografen seiner Generation. Neben zwei
außergewöhnlichen Fotobüchern kennzeichnen Arbeiten zur Landschafts-, Reise-,
Werbe- und Porträtfotografie sowie
surrealistische Bildstudien sein Werk,
das hier erstmals in einer umfassenden
Monographie vorgelegt wird, zugleich ein
Beitrag zur deutschen Fotografie im Exil.
382 Seiten, deutsch/englisch, 210 Abbildungen,
Format 21,5 x 23,5 cm, Leinen, F 48.–
ISBN 978-3-906336-57-2
(28)
24. April 2011 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 21
Sachbuch
Porträt Das abenteuerliche Leben eines schwererziehbaren griechischen Jugendlichen, der zum
Jahrhundertfälscher wurde
Die Welt um den Finger gewickelt
Rüdiger Schaper: Die Odyssee des
Fälschers. Die abenteuerliche
Geschichte des Konstantin Simonides,
der Europa zum Narren hielt und
nebenbei die Antike erfand. Siedler,
München 2011. 205 Seiten, Fr. 26.90.
Von Fritz Trümpi
Es gibt ein richtiges Leben im Fälschen!
Der deutsche Publizist Rüdiger Schaper
widmet der Wirklichkeitsflunkerei ein
hübsches Büchlein und begab sich dazu
auf die Spuren des Jahrhundertfälschers
Konstantin Simonides. Vom biografischen Aspekt her betrachtet ist dies kein
leichtes Unterfangen, denn Simonides
verstand sich nicht nur bestens darauf,
Schriften aus der Antike zu fälschen –
genauer gesagt: zu erfinden –, sondern
er wandte seine erfinderische Fälschungskunst nur allzu gerne auch auf
sein eigenes Leben an. So wurde er an
mindestens zwei Orten zu unterschiedlichen Zeitpunkten geboren (1820 in
Symi und 1824 in Hydra) und starb einmal 1867 in Alexandrien an der Lepra,
ein zweites Mal hingegen 1890 in Albanien. Dazwischen – und dies ist vielleicht die einzige biografische Gewissheit – lag ein abenteuerliches Leben, das
einem äusserst kunst- und fantasievollen Umgang mit Wahrheit und Wirklichkeit verschrieben war.
Simonides wurde – so viel steht fest
– ins von einer Amour fou fürs Alte getragene 19. Jahrhundert hineingeboren.
SERGEJ PRODUKIN-GORSKIJ
Russland Glanz und Untergang des Zarenreiches
Kaum war in Moskau Iwan IV. 1546 zum ersten Zaren
von Russland gekrönt worden, begann das Reich sich
auszudehnen und wurde zum Vielvölkerstaat.
Tataren, Wotjaken, Jakuten, Tungusen, Korjaken
Baschkiren, Kalmücken und viele andere mehr
wurden dem Riesenimperium einverleibt. Deren
rechtliche Ordnung, Wertesysteme und Religionen
blieben jedoch oft unangetastet, viele der neuen
Untertanen waren Moslems. So auch Alim Chan, der
letzte Emir von Buchara (siehe Foto), dessen
Herrschaftsgebiet lediglich als russisches Protektorat
eingegliedert wurde. Der Fotograf Sergej ProkudinGorskij hat das Bild 1911 aufgenommen. Er hatte auf
Geheiss von Nikolaus II. eine mehrjährige Reise durch
das russische Reich unternommen; der letzte Zar
wünschte ein Farbporträt seines ihm weitgehend
22 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 24. April 2011
unbekannten Imperiums. Sieben Jahre später wurden
der Zar und seine Familie hingerichtet, die Leichen im
Wald verscharrt – das unrühmliche Ende einer
glanzvollen Ära. Der reich bebilderte Band der
Historikerin Claudia Weiss führt uns durch die 370
Jahre Zarenherrschaft. Wir begegnen dem Reformer
Peter I., der Russland nach westlichem Vorbild
umformen wollte, der Deutschen Katharina der
Grossen, dem autokratischen Restaurator Nikolaus I.,
der Russland politisch ins Abseits führte. Eingestreut
sind Porträts von bedeutenden Russen, wie dem
Ikonenmaler Andrej Rublev, dem Universalgelehrten
Michail Lomonossov, dem Dichter Aleksander
Puschkin. Geneviève Lüscher
Claudia Weiss: Das Reich der Zaren. Aufstieg und
Untergang. Theiss, Stuttgart 2011. 176 S., Fr. 56.90.
«Es ist die Energie des technisch-industriellen Fortschritts, der ohne Rückgriff
auf die verschütteten Zeiten anscheinend nicht auszuhalten ist», erläutert
Schaper die Antiken-Vernarrtheit dieser
Epoche. Zum Dreh- und Angelpunkt der
Beschäftigung mit der Antike wurden
alsbald die Klöster, jene des Balkans und
der Levante etwa, in denen unermessliche Schätze schlummerten, welche
deutsche oder britische Forscher nicht
nur studierten, sondern gern auch kurzerhand mit nach Hause nahmen. Diese
Gier nach antiken Artefakten rief zahlreiche Fälscher auf den Plan, die spektakuläre «Funde» erfanden, um westliche
Jäger und Sammler auf lukrative Weise
um den Finger zu wickeln.
Einer der berüchtigtsten war der
Grieche Konstantin Simonides, der früh
mit dem Kloster Bekanntschaft schloss.
Nach dem (gescheiterten) Versuch,
seine Eltern zu vergiften, wanderte er
als schwererziehbarer Jugendlicher auf
den Athos. Von Mönchen unterrichtet,
eignete er sich im Laufe der Jahre antike
Sprachen und Schriften an und entfaltete daraufhin eine stupende Produktivität: Schaper schätzt, dass Simonides bis
zu 3000 Manuskripte erfunden und gefälscht haben dürfte – und dies dank seiner hohen kalligrafischen Kunstfertigkeit auf höchstem Niveau. Dass zeitgenössische Quellen sogar von mindestens
5000 Schriftstücken berichten, die er in
seinem Besitz gehabt haben soll, zeigt
den hohen Respekt, den Simonides genoss – «als Wissenschaftler und als
Schurke», so Schaper, der Simonides
und dem Fälscherwesen insgesamt mit
grosser Sympathie begegnet.
Denn gerade in solchen Fälscher-Gestalten stecken nach Schaper starke geschichtsprägende Kräfte: «Simonides
steht für die andere Seite der Geschichtsschreibung, für das nicht in
Stein Gemeisselte. Aus seinem Leben
und seinem Werk lernt man, wie das
gemacht wird – Geschichte. Denn Geschichte ist immer etwas Gemachtes,
Gewolltes, Unterdrücktes, Herausgehobenes, Hin- und Her-Gedrehtes. Es liegt
viel Wahres in Fälschungen.»
Dass Simonides zu letztlich verhängnisvollen Übertreibungen neigte, steht
auf einem anderen Blatt. Seine vielleicht
spektakulärste Fälschung ist ein Matthäus-Evangelium, das angeblich 15 Jahre
nach Christi Himmelfahrt von einem
Diakon Nikolaos geschrieben worden
sein soll: Obschon im Handwerklichen
von überragender Qualität, waren seine
Fälschungen oft allzu aufsehenerregend,
um nicht Verdacht auf sich zu ziehen.
Simonides war denn auch immer wieder
Verfolgungen ausgesetzt und einmal
wurde er sogar verhaftet. Um sich definitiv aus dem Spiel zu nehmen, blieb
ihm über kurz oder lang offenbar nur
der vorgezogene Lepratod – mit Sicherheit die perfekteste Fälschung des Konstantin Simonides. ●
Geschichte Mary Lavaters Biografie des Basler Bürgermeisters Joh. Rudolf Wettstein neu aufgelegt
Schweizerkönig auf
bescheidenem Thron
Mary Lavater-Sloman: Der
Schweizerkönig Johann Rudolf Wettstein.
Römerhof, Zürich 2011. 239 S., Fr. 36.–.
Von Christoph Blocher
PHOTOPRESS / KEYSTONE
«Es ist reichs- und weltkündig, dass die
Eidgenossenschaft ein freier Stand ist,
so nebst Gott einzig von sich selbst abhängt.» Mit dieser selbstbewussten, der
Wirklichkeit entsprechenden Aussage
begründete anlässlich der Westfälischen
Friedensgespräche von 1646 bis 1648 der
Schweizer Abgesandte seine unerschütterliche Absicht, für die Schweiz volle
Souveränität zu erreichen. In die Reihe
ungewöhnlicher Biografien nimmt der
Römerhof Verlag in verdienstvoller
Weise auch den Basler Bürgermeister
Johann Rudolf Wettstein (1594–1666)
auf. Dies geschieht nicht in einer modernen, sogenannt «kritischen» Studie,
sondern in einer Neuauflage des 1935 erschienenen Romans «Der Schweizerkönig» von Mary Lavater-Sloman.
Verteidiger der Souveränität
Es dürfte manchen Zeitgenossen missfallen, dass neuerdings mit Johann Rudolf Wettstein eine Persönlichkeit gewürdigt wird, die der später so erfolgreichen schweizerischen Unabhängigkeit
und Neutralität zum Durchbruch verhalf. Vielleicht darum empfanden es die
Herausgeber für nötig, mit Georg Kohler einem Professor das Nachwort erteilen zu müssen, der die Souveränität unseres Landes gerne kleinschreibt und
selbstverständlich auch hier als «Mythos» entlarvt.
Etwas naserümpfend wird an die 1935
bereits herrschende Geistige Landesverteidigung erinnert, in deren Dienst
sich die Autorin gestellt hat. Tatsächlich
waren ihre reichs- und diktaturkritischen Ansichten für das damalige
Schweizer Publikum unüberlesbar.
Wenn Kohler – wohl in Begeisterung
über den heutigen Kongresstourismus –
lobend bemerkt, schon früher seien unsere Politiker an jene Orte gereist, wo
die europäischen Entscheide gefallen
seien, so wäre ihm nach der Lektüre von
«Der Schweizerkönig» zu entgegnen,
dass wir unsere Bundesräte durchaus
gerne dorthin reisen liessen – sofern sie
wie weiland Bürgermeister Wettstein so
zäh und hartnäckig die schweizerische
Souveränität verteidigten und mit einem
entsprechend besiegelten Dokument
zurückkehrten.
Ausgangspunkt von Johann Rudolf
Wettsteins diplomatischer Mission bildete ein relativ geringer Anlass, nämlich
die Zitierung eines Basler Bürgers vor
das Reichskammergericht in Speyer. Mit
dem weitsichtigen Auge des Staats-
Basel, die Heimat
von Johann Rudolf
Wettstein (1594 bis
1666). Kupferstich aus
dem 17. Jahrhundert.
manns erkannte der Basler Bürgermeister, dass anlässlich des Westfälischen
Friedenschlusses nach dem Dreissigjährigen Krieg die einmalige Chance bestand, für die Eidgenossenschaft nach
der faktischen auch noch die formelle
Trennung vom Reich deutscher Nationen zu vollziehen. Zu seinem grossen
Kummer erhielt er das Verhandlungsmandat nur von den reformierten Orten,
doch kämpfte Wettstein in Münster und
Osnabrück für die Unabhängigkeit der
gesamten Schweiz.
In ihrer packend zu lesenden, romanhaften Schilderung verlässt Mary Lavater-Sloman zuweilen die exakte Chronologie und schiebt auch eine frei erdachte
Liebesbeziehung dazwischen. Dennoch
hält sie sich im Wesentlichen an Briefe,
Tagebücher und offizielle Berichte. Diesen ist zu entnehmen, wie bescheiden
der Basler Bürgermeister residierte; anlässlich eines Besuchs des schwedischen
Bevollmächtigten konnte Wettstein diesem lediglich einen Stuhl anbieten, an
dem eine Armlehne fehlte: «Ich bin
übereilt worden», schrieb er nach
Hause, «hätte sonsten die andere zur Erhaltung der schweizerischen Reputation
auch noch abgebrochen.» Mit Überlegenheit und feinem Gespür für das
Machbare behielt er die Distanz zu den
ihm wohlgesinnten Franzosen, gewann
die Gunst der Kaiserlichen und vermochte die anfangs abweisenden
Schweden umzustimmen. Dies alles gelang ihm bei schwersten körperlichen
Leiden, die ihn nicht selten hinderten,
seine armselige Herberge zu verlassen.
Wettsteins Auftreten war schlicht und
sicher, seine Kenntnisse der politischen
Verhältnisse waren so umfassend, dass
es ihm schliesslich gelang, die wichtigsten Abgeordneten des Friedenskongresses von der eidgenössischen Sache zu
überzeugen. Er bewegte sich zwischen
den Abgesandten europäischer Monarchien so selbstverständlich und wenig
unterwürfig, dass Wettstein bei ihnen
bald den Namen «Schweizerkönig»
trug. Nach fast einjähriger Abwesenheit
kehrte er in seine Heimat Basel zurück.
Lebendiges Stück Geschichte
So bescheiden sich sein Gefolge im Vergleich zur Prachtentfaltung der Fürstenhöfe ausnahm, so unermesslich wertvoll
war der Vertrag, den er mit sich führte:
Die Eidgenossenschaft und deren Gerichte waren fortan in «Besitz und Gewähr völliger Freiheit und Ausgliederung vom Reiche». Wie würde Wettstein heute urteilen, wenn er zusehen
müsste, wie die Abgeordneten der
Schweiz an Kongresse reisen, um dabei
die schweizerische Freiheit zu verspielen und fremde Richter zu akzeptieren?
Unseren Regierungsleuten, Politikern
und Diplomaten wäre Mary LavaterSlomans neu aufgelegter Roman «Der
Schweizerkönig» besonders zu empfehlen. Aber auch alle anderen Leserinnen
und Leser erhalten mit der leicht überarbeiteten Fassung einen lebendigen
Einblick in ein entscheidendes Stück
Schweizer Geschichte. ●
Christoph Blocher ist Unternehmer und
alt Bundesrat.
24. April 2011 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 23
Sachbuch
Aufklärung Philipp Blom erinnert an berühmte
und weniger berühmte Denker im Schatten
Voltaires und Rousseaus
Philipp Blom: Böse Philosophen. Ein
Salon in Paris und das vergessene Erbe
der Aufklärung. Hanser, München 2011.
400 Seiten, Fr. 37.90.
Von Kirsten Voigt
Jenseits von Gut und Böse, den Normen
einer religiös fundierten Ethik, sahen sie
sich dem logischen Denken, der Empirie, dem Zweifel, der Gerechtigkeit, dem
Streben nach wissenschaftlicher Erkenntnis und individuellem Glück für
alle verpflichtet. Die wahren, die radikalen Aufklärer: Baron Paul-Henri Thiry
d’Holbach, Denis Diderot und einige der
klügsten Köpfe Europas. Die kühnsten
Gedanken der Epoche wurden in der
Rue Royale Saint-Roch gedacht, in Holbachs Salon. Das Essen war exquisit. Der
Wein floss reichlich, vielleicht nicht zuletzt, weil Holbach 1723 als Sohn eines
Winzers zur Welt gekommen war. Der
Zirkel mutiger Frei- und Selbstdenker
diskutierte hier Glaubensdinge und Politisches, die menschliche Natur und Fragen der Moral, Willensfreiheit, Sexualität, Todesstrafe und Tyrannenmord.
Philipp Blom verhilft diesem Kreis, zu
dem auch der Mathematiker d’Alembert,
der Zoologe Buffon, der Ökonom Galiani, der Publizist Friedrich Melchior
Grimm, David Hume und Adam Smith
gehörten, mit seinem Buch zu neuen
Ehren. Völlig neu sind diese freilich
nicht, weil Blom selbst mit «Das vernünftige Ungeheuer» im Jahr 2005 die
Geschichte der Enzyklopädie schrieb und damit Vorarbeiten leistete. Die Neuerscheinung legt nun den Akzent auf eine Umwertung und
sucht, die weniger bekannten
Denker aus dem Schatten Voltaires und Rousseaus treten zu lassen.
Mit kühnen und aktuellen Argumenten schliesst Blom dabei ethisch ambitioniert an Forderungen dieser Materialisten an. Dass das Projekt der Aufklärung längst nicht erledigt, sondern noch
nicht einmal in seinen differenzierteren
philosophiehistorischen Verästelungen
begriffen ist, wird dabei klar. Diese kartographiert der Historiker eingehend,
aber er erzählt damit geschickt verwoben auch, unter welchen persönlichen,
psychischen und sozialen Bedingungen
diese Männer ihre Überzeugungen entwickelten. In Versailles verschwendete
der Hof Unsummen, auf den Strassen
von Paris häuften sich die Exkremente,
für den Besitz blasphemischer Schriften
konnte man hingerichtet werden. Und
während «amüsante» öffentliche Elektroschock-Experimente an königlichen
Leibwächtern und Kartäusermönchen
gemacht wurden, kursierten im Salon
erstaunlich treffende, prädarwinistische
Thesen.
Mit Texten, die unter falschen Namen
gedruckt, in Heringsfässern über die
Grenzen geschmuggelt wurden, gelang
es Holbach und seinen Freunden, ihre
Ideen zu lancieren. Diderot, der vielleicht nicht ganz so unterbewertet ist,
ROGER VIOLLET / ULLSTEIN BILD
Der Baron gab
Gedankenfreiheit
Das Pariser Café
Procope, wo sich im
18. Jahrhundert die
führenden Köpfe der
Aufklärung trafen.
wie Blom behauptet, hatte sich 1749
nach seiner Inhaftierung verpflichten
müssen, keine philosophischen Traktate
mehr zu verfassen. Seine Überzeugungen gingen von da an kryptisch in seine
Romane und die Enzyklopädie ein, das
subversivste publizistische Projekt des
18. Jahrhunderts.
Holbach machte seine Überzeugungen in «Das entschleierte Christentum»
oder «Le système de la nature» klar: Der
Mensch sei unglücklich, weil er die
Natur verkenne und bislang nicht in der
Lage gewesen sei, eine Moral ohne Gott,
das einzige Fundament einer wirklich
friedlichen Gesellschaft, zu entwickeln.
Laurence Sterne notierte 1764 nach dem
Besuch von Holbachs Salon, hier verkehrten die Philosophen ohne «Beissen
und Kratzen». Das galt für alle ausser
Rousseau, den Blom als den perfiden
und paranoiden Psychopathen der Aufklärung vorführt.
Dass die Gebeine Holbachs und Diderots in der Eglise Saint-Roch ruhen, will
bis heute nicht einmal der Pfarrer dieser
Kirche wissen. Für manch einen sind die
Thesen des Holbach-Kreises immer
noch zukunftsweisend und bedenkenswert, für andere bleiben sie bedenklich,
ja erschreckend. ●
Zukunft Rezepte für eine bessere Welt, die weniger Energie braucht
Siesta machen statt kühlen
Marcel Hänggi: Ausgepowert. Das Ende
des Ölzeitalters als Chance. Rotpunkt,
Zürich 2011. 364 Seiten, Fr. 38.–.
Von Patrick Imhasly
Manchmal kommt es vor, dass das
Thema eines Sachbuchs über Nacht
brandaktuell und der Autor zum Troubleshooter wird. Dem Wissenschaftsjournalisten Marcel Hänggi ist es mit
seinem neuen Buch «Ausgepowert» so
ergangen. In dem Werk setzt sich der
Zürcher Historiker mit der zentralen
Frage auseinander, wie wir unseren
Energiebedarf decken können, wenn das
Zeitalter des Erdöls einmal vorbei ist.
Wäre der Text nicht vor der Atomkatastrophe in Japan abgeschlossen gewesen,
24 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 24. April 2011
würde Hänggi im Untertitel wohl vom
«Ende des Atomzeitalters» sprechen.
Hänggi ist kein Freund der halben
Sachen. Und so redet er nicht etwa den
erneuerbaren Energien oder der effizienteren Nutzung von Energie das Wort.
Nein, er fordert geradezu eine neue Gesellschaft, die massiv weniger Energie
braucht. «Den Energieverbrauch auf ein
Drittel zu reduzieren, indem man die
Energie dreimal so effizient nutzt, hiesse, an unserer Hochenergiegesellschaft
festzuhalten und das menschliche Mass
weiterhin zu überschreiten. (...) Das
wäre etwa so revolutionär, als hätte man
1789 in Frankreich gefordert, der Adel
solle das Volk effizienter ausbeuten.»
Das Buch ist erhellend, wenn der
Autor analytisch vorgeht. Das Potenzial
verschiedener Energieträger – vom
Erdöl bis zum Wind – ist akribisch recherchiert und wird facettenreich beschrieben. Und die Darstellung des bisweilen grotesk hohen Energiebedarfs in
der Landwirtschaft regt zum Denken an.
Hänggis Rezepte für eine Gesellschaft, in der die Menschen gemächlicher ticken, bei Hitze Siesta machen
statt ihre Büros mit Klimaanlagen zu
kühlen oder verschwitzte Kleider in
Kauf nehmen statt diese jeden Tag zu
waschen, sind manchmal sympathisch
öfter Geschmackssache, letztlich aber
weltfremd.
Ärgerlich wird es dann, wenn der
Autor allzu tief in die ideologische Mottenkiste greift und zum Beispiel die Begeisterung für das Autofahren mit einem
faschistoiden Hang zur Ausübung von
Macht vergleicht. ●
Mathematik NZZ-Korrespondent George Szpiro legt zwei historische Untersuchungen vor
Von Orangen und Schneeflocken
George G. Szpiro: Die Keplersche
Vermutung. Wie Mathematiker ein 400
Jahre altes Rätsel lösen. Springer,
Heidelberg 2011. 323 Seiten, Fr. 43.50.
George G. Szpiro: Die verflixte
Mathematik der Demokratie. NZZ Libro,
Zürich 2011. 212 Seiten, Fr. 43.50.
Von André Behr
Wenn Mathematiker populäre Bücher
schreiben, wählen sie oft die Form der
gut konsumierbaren Stückchen. Auch
George G. Szpiro hat auf Deutsch bereits
drei solche Sammlungen veröffentlicht.
Nun sind vom 60-jährigen, in Jerusalem
lebenden NZZ-Nahostkorrespondenten
Übersetzungen zweier 2010 in US-Verlagen publizierter Arbeiten erschienen,
die sich einem Einzelthema widmen.
Das eine Buch handelt von der «Kepler Vermutung», einem alten Problem.
Ende des 16. Jahrhunderts hatte der englische Seefahrer Sir Walter Raleigh seinem Assistenten Thomas Harriot die
Aufgabe gestellt, die Anzahl von gestapelten Kanonenkugeln allein aus der
Stapelform zu ermitteln. Harriot lieferte
seinem Meister die Formel, erweiterte
das Problem aber um die Frage, wie man
die Kugeln am effizientesten lagern
muss, damit möglichst viele in den
Schiffsladeraum passen. Da er die Antwort nicht gleich fand, schrieb er an
Johannes Kepler, den damals führenden
Mathematiker und Astronomen.
Kepler erkannte, dass die Natur für
dieses Problem bereits Lösungen gefunden hat, und begann, verschiedenste
Formen wie Bienenwaben oder auch
Schnee zu untersuchen, was im Jahr 1611
zur Veröffentlichung seiner Schrift
«Über die sechseckige Schneeflocke»
führte. In Bezug auf die Ursprungsfrage
konnte jedoch selbst er nur eine Vermutung äussern: Die dichteste Packungsform sieht man etwa auf dem Markt,
wenn Händler auf ihren Tischen Orangen stapeln.
Einige der besten Köpfe versuchten
über die Jahrhunderte einen Beweis für
Keplers Vermutung zu finden. Bewiesen
hat sie erst Thomas Hales 1998, dank
dem Einsatz komplexer Computerberechnungen. Hätte er geahnt, dass das
Clay Mathematics Institute im Jahr 2000
sechs berühmte Probleme auswählt, für
deren Lösung man eine Million Dollar
verdienen kann, hätte er mit einer Ver-
öffentlichung wohl etwas zugewartet.
Die meisten Mathematiker akzeptieren
den computergestützten Beweis von
Hales, obwohl er einem puristischen
Anspruch nicht genügen kann. Szpiro
schildert diese moderne Problematik
genauso gründlich, wie er den verschlungenen historischen Wegen bis zu
Hales nachspürt.
Dasselbe gilt für Szpiros Buch über
mathematische Probleme in der Demokratie. In den Nachrichten hören wir
jeden Tag von den Schwierigkeiten, demokratische Strukturen zu implementieren. Zu welch paradoxen Resultaten
die Umsetzung dieser hoch gelobten
Staatsform jedoch allein aus mathematischen Gründen führt, wird erst bei der
Lektüre klar. Etwa wenn es darum geht,
eine der Parteienstärke gerechte Sitzverteilung in einem Parlament zu finden. Szpiro beschreibt die Lösungssuche wieder im Kontext der historischen
Entwicklung und muss uns am Ende mit
einer «traurigen Schlussfolgerung» zurücklassen: Alle Wahl- oder Zuteilungsverfahren haben ihre Unzulänglichkeiten. Warum das englische Vorwort nicht
mit übersetzt worden ist, bleibt leider
auch ein Rätsel. ●
www.rowohlt-berlin.de
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© Frank Zauritz
Auch als
E-Book
So weit ist Wolfgang Büscher noch nie gegangen
Zu Fuß durch Amerika: «Hartland», das neue Reiseabenteuer
304 Seiten. Gebunden
€ 19,95 (D) / € 20,60 (A) / sFr. 30,50 (UVP)
24. April 2011 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 25
Sachbuch
Südamerika Schon lange vor den sagenhaften Inkas gab es in den Anden hochzivilisierte Völker
Fünftausend Jahre Kultur in Peru
5000 Jahre alten Entwicklung. Schon
rund 1000 Jahre vor den ägyptischen Pyramiden bauten die Bewohner in Sechin
Bajo im Casma-Tal die älteste monumentale Kultanlage Amerikas.
Im Tal des Rio Casma, einer Verbindung zwischen der peruanischen Hochebene und der Pazifikküste, liegen über
fünfzig sakrale Grossanlagen aus einer
mehrtausendjährigen Geschichte. Zick
hat die Ausgrabungsstätten besucht, mit
Archäologen und Archäologinnen gesprochen. Er präsentiert uns gut lesbar
und reich bebildert die neuesten Forschungsergebnisse einer in Peru noch
sehr jungen Wissenschaft. Vorerst bleibt
aber vieles rätselhaft, lässt sich nicht einordnen, kaum datieren. Erste Mosaiksteinchen lassen jedoch auf eine überraschend reiche Vergangenheit schliessen.
Im Casma-Tal lebten schon vor den
Monumentalarchitekten Menschen. Von
ihnen stammen einfache Hütten. Wie
Michael Zick: Die rätselhaften Vorfahren
der Inka. Theiss, Stuttgart 2011.
160 Seiten, Fr. 49.90.
Von Geneviève Lüscher
Schon vor ein paar Jahren hat der deutsche Wissenschaftsjournalist Michael
Zick eine Reise aus Raum und Zeit unternommen. Damals ging es in die Türkei, wo er uns mit der Wiege der westlichen Zivilisation vertraut gemacht hat.
Nun zeigt er eindrücklich, dass der Westen nicht der Nabel der Welt ist: In Peru
warten alte, faszinierende Kulturen nur
darauf, entdeckt zu werden.
Wer ans präkolumbische Peru denkt,
denkt an die Inkas und vielleicht noch
an Machu Picchu, dann hört das Wissen
bald einmal auf. Das Reich der Inka aber
war nur kurz; es dauerte von 1438 bis
1534 und war der Schlusspunkt einer
und wo sich die Architektur der komplexen Kultbauten entwickelt hat, ist
nicht bekannt; noch fehlen die Zwischenstufen. Ebenso plötzlich sind auch
bildliche Darstellungen da; die ältesten
Steinreliefs Amerikas befinden sich im
Casma-Tal. Aber wo sind die Menschen
geblieben? Bis anhin konnten keine Gräber gefunden werden. Auf die Sakralbauten im Casma-Tal folgen verschiedene Kulturausprägungen, die erst in
den letzten zwanzig Jahren in den Fokus
der archäologischen Forschung geraten
sind: Nazca mit den berühmten Bodenzeichnungen in Südperu, Sipàn mit den
reichen Königsgräbern in Nordperu und
verschiedene regionale Kulturen.
Als im 16. Jahrhundert der Spanier
Francisco Pizarro entlang der Pazifikküste von Norden nach Süden vordringt,
stösst er 1531 auf die berühmten Inka.
Nur drei Jahre braucht er, um ihr Imperium zu zerstören. ●
Das amerikanische Buch Die Geschichte der unsterblichen Henrietta Lacks
«Dieses Buch hat Herz, Hirn und
Tempo – obendrein hält es den Leser
fest wie nur wenige andere Titel.» Mit
dieser Empfehlung schloss die BuchBeilage der «New York Times» vor
über einem Jahr eine begeisterte
Rezension von The Immortal Life of
Henrietta Lacks (Crown Publishers, 369
Seiten). Das Erstlingswerk der Wissenschaftsjournalistin Rebecca Skloot
schildert die Geschichte der schwarzen
Tabakbäuerin Henrietta Lacks aus Virginia, die 1951 einem aggressiven Gebärmutterhalskrebs erlegen ist. Kurz
vor ihrem Tod haben Ärzte am Spital
der Johns Hopkins University in
Baltimore dem Geschwür eine Probe
entnommen, aus der sie erstmals
menschliche Zellen in der Retorte
züchten konnten. Diese «HeLa»-Kulturen sind bis heute eine unverzichtbare
Grundlage für die Genforschung, sowie
die Entwicklung zahlloser Medikamente etwa gegen Krebs und HIV-Aids.
Wie damals speziell bei schwarzen
Patienten üblich, haben die Ärzte in
Baltimore die Todkranke nicht um
Erlaubnis gebeten, mit ihren Zellen zu
experimentieren. Die Nachkommen
von Lacks haben erst Mitte der
1970er-Jahre davon erfahren und
trotz etlicher Klagen nicht an den
Gewinnen der Pharmaindustrie aus
den «HeLa»-Zellen partizipiert.
26 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 24. April 2011
MANDA TOWNSEND
«The Immortal Life» hat sich zu einem
«absoluten Phänomen im amerikanischen Buchhandel entwickelt», so die
Kritikerin Sukey Howard vom Branchendienst «Bookpage»: «Dass sich ein
Titel derart gut verkauft, der recht
schwierige wissenschaftliche Themen
mit einer herzzerreissenden Familienchronik kombiniert, hat auch beim
Die US-Amerikanerin
Henrietta Lacks starb
1951; ihre Zellen
leben noch heute.
Autorin Rebecca
Skloot (unten).
Verlag kein Mensch erwartet.» Der Internet-Buchhändler Amazon und zahlreiche Kritiker erklärten das Buch zum
Titel des Jahres 2010. Es rangiert zudem
bis heute an der Spitze der Bestsellerlisten und hat laut dem Marktbeobachter Nielsen Bookscan bislang über
600 000 Käufer gefunden. Der Verlag
teilte auf Anfrage mit, dass die jüngst
publizierte Taschenbuchausgabe binnen
vier Wochen sieben Auflagen mit insgesamt 350 000 Exemplaren erreicht hat.
Mit diesen Zahlen kommt der Titel zwar
nicht an Stieg Larsson-Thriller heran,
aber als «Dauerseller» kann sich
«The Immortal Life» durchaus mit den
Erfolgstiteln von Malcolm Gladwell
(«Überflieger») messen. Die Produktionsfirma von Oprah Winfrey hat sich
die Filmrechte an dem Buch jedenfalls
schon frühzeitig gesichert.
Während etwa die deutsche Ausgabe
(«Die Unsterblichkeit der Henrietta
Lacks», 512 Seiten, Irisiana, September
2010) kaum Resonanz gefunden hat,
trifft die US-Ausgabe ganz offensichtlich einen spezifisch amerikanischen
Nerv. Unsentimental und doch mitreissend erzählt Skloot in kurzen, schnörkellosen Sätzen eine erschütternde
Geschichte, die einerseits laut Howard
dem klassischen Muster vom «Underdog, der in die Mühlen mächtiger Institutionen gerät», entspricht. Anderseits
rechnet die Kritikerin «The Immortal
Life» dem erfolgreichen Genre von
Sachbüchern etwa über den Kabeljau
zu, die anhand einzelner Gegenstände
die komplexen Zusammenhänge unserer Welt beleuchten wollen. Darüber
hinaus gelang Skloot das seltene Kunststück, selbst als eine Stellvertreterin
der Leserschaft in ihre Geschichte
einzutreten, ohne die Aufmerksamkeit
auf ihre eigene Person zu lenken.
So berichtet Skloot über ihre Erlebnisse
mit der verbitterten Lacks-Sippe,
deren Biografien repräsentativ für die
brutalen Lebensumstände vieler Afroamerikaner in den Südstaaten sind.
Die Geschichte geht vielen Amerikanern so sehr unter die Haut, dass sie
Rebecca Skloot fragen, wie sie der
Familie von Henrietta Lacks helfen
können. Die Autorin hat daher aus
ihren Bucheinnahmen eine Stiftung
für die medizinische Versorgung der
Nachkommen von Henrietta Lacks
und anderer bedürftiger Schwarzer
gegründet. So dürfte auch die Nachgeschichte von «The Immortal Life
of Henrietta Lacks» noch längst nicht
abgeschlossen sein. ●
Von Andreas Mink
Agenda
Agenda Mai 2011
Basel
Mittwoch, 4. Mai, 20 Uhr
Allan Guggenbühl: Was ist mit
unseren Jungs los? Lesung, Fr.
15.–. Thalia, Freie Strasse 32,
Tel. 061 264 26 55.
GAËTAN BALLY / KEYSTONE
Jerry Hall Unter begehrlichen Blicken
Mittwoch, 11. Mai, 18.30 Uhr
Hansjörg Schneider: Hunkeler und die
Goldene Hand. Lesung in der KonradWitz-Ausstellung, Fr. 30.– inkl. Eintritt.
Kunstmuseum, St. Alban-Graben 16,
Tel. 061 206 63 00.
Donnerstag, 26. Mai, 19 Uhr
Chalid al-Chamissi: Im Taxi. Unterwegs
in Kairo. Lesung, Fr. 17.–. Literaturhaus,
Barfüssergasse 3, Tel. o61 261 29 50.
Bern
Mittwoch, 4. Mai, 20 Uhr
GRAHAM HUGHES
Markus Kavka: Rottenegg. Lesung,
Fr. 15.–. Stauffacher Buchhandlung,
Neuengasse 25/37, Tel. 031 313 63 63.
Dienstag, 10. Mai, 20.30 Uhr
dem Sänger von Roxy Music. Mit Krönchen im Haar
und blauen Fingernägeln posierte sie 1975 für das
Album «Siren» des britischen Kultmusikers. Ihr
Lebensbericht ist munter, unterhaltsam, nicht ohne
Humor. Aber selbstverständlich nimmt man ihn vor
allem wegen der über 300 Farb- und DuotonAbbildungen zur Hand.
Manfred Papst
Jerry Hall: Mein Leben in Bildern. Schirmel/Mosel,
München 2011. 256 Seiten, Fr. 43.50.
Bestseller April 2011
Eric Pfeil: Komm, wir werfen ein Schlagzeug in den Schnee. Lesung und Sound,
Fr. 15.–. ONO, Kramgasse 6, Vorverkauf:
www.onobern.ch.
Donnerstag, 19. Mai, 20 Uhr
Yanick Lahens: Und plötzlich tut sich der Boden
auf. Lesung und Gespräch, Fr. 15.–. artlink
Literatur, Zentralbibliothek, Münstergasse 61,
Tel. 031 311 62 60.
DAVID IGNASZEWSKI / KOBOY
Jerry Hall stammt aus Texas. Dort wurde sie 1956
geboren. Gerade einmal 16 Jahre alt war sie, als sie
in St. Tropez als Model entdeckt wurde. Von da an
stand sie im Scheinwerferlicht. Helmut Newton,
Richard Avedon, Irving Penn und viele andere
fotografierten sie. Von Andy Warhol und Lucian Freud
wurde sie gemalt. Bevor sie sich mit dem Rolling
Stone Mick Jagger vermählte, von dem sie vier
Kinder bekam und bei dem sie zwei Jahrzehnte
ausharrte, hatte sie eine Romanze mit Bryan Ferry,
Zürich
Dienstag, 3. Mai, 20 Uhr
Belletristik
Sachbuch
1 Diogenes. 208 Seiten, Fr. 29.90.
2 Wunderlich. 448 Seiten, Fr. 25.90.
3 Hanser. 192 Seiten, Fr. 24.90.
4 Hanser. 320 Seiten, Fr. 26.40.
5 Fischer. 192 Seiten, Fr. 28.90.
6 Diogenes. 208 Seiten, Fr. 25.90.
7 Bastei Lübbe. 848 Seiten, Fr. 22.40.
8
Hanser. 80 Seiten, Fr. 21.90.
9 Jung und Jung. 320 Seiten, Fr. 30.70.
10 Rowohlt. 304 Seiten, Fr. 29.90.
1
Giger. 300 Seiten, Fr. 43.90.
2 Orell Füssli. 192 Seiten, Fr. 34.90.
3
NZZ Libro. 144 S., Fr. 39.-.
4 Langenscheidt. 128 Seiten, Fr. 16.90.
5
Ansata. 256 S., Fr. 26.90.
6 Edition Körber. 190 Seiten, Fr. 21.90.
7 Dromer/Knaur. 304 Seiten, Fr. 25.90.
8 Herder. 366 Seiten, Fr. 33.50.
9 Riva. 200 Seiten, Fr. 15.90.
10
DVA. 192 Seiten, Fr. 72.90.
Paulo Coelho: Schutzengel.
Simon Beckett: Verwesung.
Arno Geiger: Der alte König in seinem Exil.
Alex Capus: Léon und Louise.
Peter Stamm: Seerücken.
Martin Suter: Allmen und die Libellen.
Sarah Lark: Im Schatten des Kauribaums.
Elke Heidenreich: Nero Corleone kehrt
zurück.
Melinda Nadj Abonji : Tauben fliegen auf.
Siri Hustvedt: Der Sommer ohne Männer.
Brigitte Balzarini-Voss: Mein Leben mit
Steve.
Martin Betschart: Ich weiss, wie du tickst.
Benjamin Steffen, Christof Gertsch: Fabian
Cancellaras Welt.
Nina Puri: Langenscheidt Katze-Deutsch.
Pascal Voggenhuber: Botschafter der
unsichtbaren Welt.
Nina Maria Marewski: Die Moldau im
Schrank. Buchpremiere, Buchhandlung
Lüthy+Stocker, Filiale Sihlcity, Kalanderplatz 1, Reservation: www.buchhaus.ch.
Sonntag , 8. Mai, 17 Uhr
Meir Shalev: Meine russische Grossmutter. Lesung. Kulturhaus Helferei Grossmünster, Kirchgasse 15, Tel. 044 261 33 59.
Dienstag, 10. Mai, 20 Uhr
Kim Kwang-Kyu, Lee Hye-Kyung:
Lesung, Gespräch mit Übersetzung,
Fr. 18.–, inkl. Apéro. Literaturhaus,
Limmatquai 62, Tel. 044 254 50 00.
Mittwoch, 25. Mai, 20 Uhr
Remo H. Largo: Lernen geht anders.
Die Lyrikerin Elke Erb erhält den Preis
der Literaturhäuser 2011. Fr. 18.– inkl.
Apéro. Literaturhaus (s. oben).
Rhonda Byrne: The Power.
Freitag, 27. Mai, 20 Uhr
Benedikt XVI.: Jesus von Nazareth. Band 2.
Barney Stinson: Der Bro Code.
Andreas Honegger: Die geheimen Gärten von
Zürich.
Erhebung Media Control im Auftrag des SBVV; 12. 4. 2011. Preise laut Angaben von www.buch.ch.
Arno Geiger: Der alte König in seinem
Exil. Lesung, Fr. 25.–. Kaufleuten, Festsaal, Pelikanplatz 1, Tel. 044 225 33 77.
Bücher am Sonntag Nr. 5
erscheint am 29. 5. 2011
Weitere Exemplare der Literaturbeilage «Bücher am
Sonntag» können bestellt werden per Fax 044 258 13 60
oder E-Mail [email protected]. Oder sind – solange
Vorrat – beim Kundendienst der NZZ, Falkenstrasse 11,
8001 Zürich, erhältlich.
24. April 2011 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 27
Schillernd wie Dichtung, wahr wie das Leben.
Biografien.
Benjamin Steffen
Christof Gertsch
Fabian Cancellaras
Welt
Luc Hoffmann
Der Mitbegründer des
WWF im Gespräch mit
Jil Silberstein.
200 S., 30 Abb.,
Klappenbroschur.
Die Geschichte eines Radrennfahrers
Benjamin Steffen, Christof
Gertsch
Fabian Cancellaras Welt
167 S., 24 farb. Abb.,
Klappenbroschur.
räche
Gesp it
m
SEL
BICH
PETER O ROCCHI
IM
S
MAS R GEBAUER
E
GUNT
Verlag Neue Zürcher Zeitung
Cancellara gehört zu den populärsten Sportlern der Schweiz, obwohl kaum eine
Sportart öffentlich so in der Kritik steht wie seine. Zwei Journalisten sind dieser
Diskrepanz auf der Spur. In ausführlichen Gesprächen mit ihm, seinen Weggefährten und Familienangehörigen erschliessen sie «Fabian Cancellaras Welt».
Wenige Menschen werden sich rühmen können, so aktiv für die Erhaltung der
Natur gekämpft zu haben wie der 88-jährige Luc Hoffmann. In diesem Buch
erzählt der sonst eher wortkarge und zurückhaltende Mann dem Schriftsteller und
Publizisten Jil Silberstein sein reich erfülltes Leben.
Fr. 40.– / € 33.–
Ab 13. 4. 2011 erhältlich
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Fr. 39.– / € 33.–
<wm>10CEXKIQ6AMBBE0RPRzOx2W8pKUtcgCL6GoLm_gmIQP9-81twCvta6HXV3AtEmalJkt2JBcvJZJCBmR6QIyIWqOQqZ_NcdLO-1s5ND9qHAcJ_XA0QHxvpoAAAA</wm>
Claus Helmut Drese
Monsieur Simon Simon
276 S., zahlr. Abb.,
Klappenbroschur.
Gottfried Schatz
Feuersucher
229 S., 21 Zeichnungen,
gebunden.
Monsieur Simon Simons Leben war schillernder als es Fiktion jemals sein könnte.
Ein Lebemann und Weltbürger, ein Causeur und Charmeur. Sekretär Clemenceaus,
Geliebter Piafs. Sich selbst nannte er augenzwinkernd: Operettenbaron von Zürich.
Eine einmalige Mischung aus literarischem Vergnügen und wissenschaftlichem
Thriller. Die fesselnde Lebensgeschichte des weltweit renommierten Biochemikers
Gottfried Schatz.
Fr. 28.–
Fr. 34.–
www.nzz-libro.ch

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