T. C. Boyle: The Tortilla Curtain

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T. C. Boyle: The Tortilla Curtain
90 Textanalyse und Interpretation
Von der „offenen“ zur „geschlossenen“ Gesellschaft
Interpretation von Teil 1, Kapitel 3, S. 41– 47; Kapitel 7, S. 100 –
104; Teil 2, Kapitel 3, S. 184 –193; Kapitel 6, S. 218 – 220 und
Teil 2, Kapitel 8, S. 242 – 245
Jack Jardine, der Vorsitzende der Arroyo Blanco Eigentümergesellschaft, hat zu einer Versammlung in das Gemeindezentrum
eingeladen. Es ist der Tag der Abstimmung im Gemeindezentrum über das bewachte Tor, das den Haupteingang der Zufahrtsstraße zum Wohnpark Arroyo Blanco blockieren und Verbrecher und zwielichtiges Gesindel fernhalten soll. Delaney ist tief
enttäuscht von seinen Nachbarn, die, anstatt sich mit Natur und
Umwelt zu beschäftigen, nur noch an die Abstimmung denken.
Er hält das Tor für eine Absurdität, ausgrenzend und antidemokratisch, spürt aber gleichzeitig, dass das Ganze ein „fait accompli“ (S. 41), eine vollendete Tatsache, ist:
His neighbours were overwhelmingly for it, whipped into a
reactionary frenzy by the newspapers and the eyewitness news
[…] The gate was going up and there was nothing Delaney
could do about it. But he was here. Uncomfortably here. (S. 41)
Aufgrund der durch die Medien noch zusätzlich aufgeputschten reaktionären Stimmung der Versammlung – Boyle gebraucht
das Bild des Auf- und Einpeitschens, „whipped into“, und den
Ausdruck „frenzy“ im Sinne eines unkontrollierten Gefühlstaumels – sieht sich der liberale Demokrat, für den Zäune und Tore
die Freiheit zerstören, als frustrierter Vertreter einer machtlosen
Minorität:
For the rest of his days he’d have to feel like a criminal driving
in his own community, excusing himself to some jerk [Trottel]
in a crypto-fascist uniform, making special arrangements
every time a friend visited […]. (S. 41)
Das Attribut „crypto-fascist“, unterschwellig faschistisch [hier:
undemokratisch, auf rigider Kontrolle bestehend], weist auf die
Notwendigkeit hin, sich bei jeder Einfahrt in sein Wohngebiet
5 Interpretation von Schlüsselstellen 91
bei einem uniformierten bewaffneten Wächter auszuweisen
und kontrollieren lassen zu müssen und ist der erste Schritt zu
einer geschlossenen Gesellschaft. Als geschlossene Gesellschaft
im Kontext des Romans soll eine antidemokratische, sich nach
außen abschottende Gruppe von Menschen verstanden werden,
die kulturellen und ethnischen Pluralismus ablehnt. Sie steht im
Gegensatz zur offenen, pluralen, demokratisch verfassten Gesellschaft, in der Meinungs- und Versammlungsfreiheit herrscht
und alle Ethnien gleichberechtigt nebeneinander leben können.
Der immer weiter voranschreitende negative Wandlungsprozess
der Bewohner von Arroyo Blanco beruht z. T. allerdings auch auf
den bösen Erfahrungen der Einwohner des Nobelviertels. Wenn
sich, wie Jim Shirley berichtet, Einbrüche und der Diebstahl von
Autos und wertvollen Gegenstände häufen (vgl. S. 42, 43), dann
können einstmals liberale Ansichten offenbar keinen Bestand
haben. Jack Cherryton, der erfolgreiche Produzent von Filmtrailern in Hollywood, verkündet dies offen:
“I’m as liberal as anybody in this room […] but I say we’ve got
to put an end to this. […] I’d like to open my arms to everybody
in the world, no matter how poor they are or what country
they come from; I’d like to leave my back door open and the
screen door unlatched, […] but you know as well as I do that
those days are past.” He shook his head sadly. “L. A. stinks. The
world stinks. Why kid ourselves? […] I say that gate is as necessary, as vital, essential and un-do-withoutable [unverzichtbar,
unabdingbar notwendig] as the roofs over our heads […].”
(S. 44)
Freiheit kommt in dieser Rede nur noch als traurige Erinnerung
vor und hat keinen realen Stellenwert mehr, weder für die, die
sich „einmauern“, noch für die, die draußen bleiben müssen.
Tore sind angesichts des „stinkenden gefährlichen Molochs“ Los
Angeles – und Los Angeles steht in diesem Sinne exemplarisch
für die Welt – überlebensnotwendig.