Ausstellungskatalog

Transcrição

Ausstellungskatalog
Schloss Trautenfels
Der schaffende Mensch Welten des Eigensinns
Der schaffende Mensch
Welten des Eigensinns
Der schaffende Mensch
Welten des Eigensinns
Pawel Althamer mit seiner Klasse für Objektbildhauerei
der Akademie der Bildenden Künste, Wien,
Franz Kapfer, L/B, Christian Philipp Müller,
Maria Papadimitriou, Kateřina Šedá
3. Juni bis 31. Oktober 2010
Eine Kooperation von
Inhalt
1 Peter Pakesch, Dietmar Seiler
Ein lebendes Labor
oder: Die Regionale im Schloss
Martin Prinzhorn
Codename Zement
138
Günther Marchner
Peripher idyllisch
Schnappschüsse einer
eigensinnigen Landschaft
150
Peter Gruber
Der Autor, seine realen und
fiktiven Protagonisten
Wegnotizen auf einem literarischen
Weitwanderweg
10 Adam Budak
Die Performance des einheimischen Lebens
oder: Die Herstellung der Welt in die
Landschaft der Selbstbedingtheit
32 L/B
Beautiful Steps #5
Christoph Doswald
Simply Beautiful
Über das Moment des Schönen
im Werk von Lang/Baumann
48
Kateřina Šedá
Es gibt kein Licht am Ende des Tunnels
190
Hannah Arendt
Das Herstellen
Tomáš Pospiszyl
Ein Glashügel und
beleuchtete Kreuzungen
220
Richard Sennett
Die Hand
64 Maria Papadimitriou
Alpine Altar
Jennifer Allen
Für immer Parken
80
162 Christof Huemer
Wenn Helene kommt
Christian Philipp Müller
Burning Love (Lodenfüßler)
246 Elke Murlasits
Think Global, Fabricate Local?
Auf den Spuren des „schaffenden
Menschen” in der Region Liezen
252 Gernot Rabl
Glaube oder Aberglaube?
258
Gernot Rabl
Historischer Aufriss zur Geschichte von
Schloss Trautenfels in Verbindung mit
klassischen Architektur- und Raumfragen
268
Gundi Jungmeier
Schöne Ferienwohnung in ruhiger Lage
Einblicke in die Gestaltung von Privaträumen
auf der Sonnenalm in Bad Mitterndorf
Andrè Rottmann
Der Stoff, aus dem die Kunst ist
Christian Philipp Müllers Eigensinn
98
120
Pawel Althamer mit seiner Klasse für
Objektbildhauerei der Akademie der
Bildenden Künste, Wien
Things You Can Walk Into
Franz Kapfer
Sieh-Dich-Für
Pierre Bourdieu
Ein Zeichen der Zeit
274 Gundi Jungmeier
Das schlechte Gewissen des Homo faber
Standpunkte zur Ausweisung von Natura
2000-Schutzgebieten im steirischen Ennstal
280
Günther Marchner
Wetterfest in die Globalisierung
Notizen zur unverwüstlichen
Karriere des Lodens
4 — 5
Vorwort
Ein lebendes Labor
oder: Die Regionale im Schloss
Peter Pakesch im Gespräch mit Dietmar Seiler
PP: Mit dieser Ausstellung befinden wir uns in einem Projekt mit einigen
ungewöhnlichen und neuen Ansätzen. Wir sind dabei, aus den Perspektiven von Gegenwartskunst und kulturwissenschaftlicher Recherche
einen Blick auf eine ganze Region zu werfen. Gerade die Ausstellung in
Schloss Trautenfels zeigt exemplarisch viel davon auf. Wie verhält sich
das für dich?
DS: Für mich ist wichtig, dass ein Festival wie die regionale von der
konkreten Realität einer Region und ihren echten Potenzialen ausgeht.
Es wäre das Schlimmste für ein Festival, das temporär in eine Region
kommt, diese Region mit mehr oder weniger beliebigen kulturellen
Aktivitäten überziehen, die dann wieder vorbei sind − sozusagen
ein „Festival aus der Retorte“. Das muss man dazusagen, weil das
mittlerweile dauernd passiert. Gerade Festivals sind zurzeit bevorzugte
Instrumente einer etwas missverstandenen Regionalentwicklung: Wenn
der Tourismus nicht so gut funktioniert, wie man es gerne hätte, und
die Industrie, die Wirtschaft im Umbruch sind, dann macht man Kultur,
und schon hat man ein neues Standbein. Es wird bald klar sein, dass das
so nicht funktioniert. Deswegen ist es für mich ganz wesentlich, dass
die regionale10 dort anschließt, wo es bereits eine auffällige kulturelle
Lebendigkeit gibt, und da ist das Schloss Trautenfels ein eminent wichtiger Ankerpunkt in der Region.
PP: Da trifft sich natürlich etwas in unserem Interesse, denn wenn
wir als Universalmuseum Joanneum gefordert sind, mit unseren verschiedenen Standorten adäquat umzugehen, ist Schloss Trautenfels
natürlich etwas besonderes und spezielles. Es liegt in einer Region, die
weit von den anderen Museumsstandorten entfernt und sehr spezifisch
gewachsen ist. Schloss Trautenfels ist ein sehr spannendes Museum,
das quasi wie eine Insel anmutet, wir bezeichnen es auch manchmal als
„das Joanneum in Klein“ − es hat den selben Anspruch der Universalität
innerhalb seiner eigenen Sammlung, die naturwissenschaftliche Aspekte
ebenso umfasst wie Volkskunde, Archäologie oder Kunst. Dieses breite
Spektrum wird in regelmäßigen Ausstellungen immer wieder neu
präsentiert, aber gleichzeitig stellt sich für uns die große Frage: Wie
verhalten wir uns als einer der großen kulturellen Faktoren da oben?
Ich sage bewusst „da oben“, weil damit klar wird, wie weit weg es von
unseren anderen Standorten großteils urbaner Kultur ist. So reflektiert
Schloss Trautenfels schon rein kulturell sehr viel von den Problemstellungen seiner Region und dessen Einzugsgebiet, das vielleicht mehr
nach Salzburg reicht als nach Graz. Damit will ich sagen, dass sich
Region hier anders definiert. Diesen Ort als Museum nutzen zu können,
ist einerseits spektakulär, erschwert aber auch den Zugang, weil dieser
abgehobene Ort an der Wegkreuzung in erster Linie als Burg gesehen
wird. Hier finden wir schon sehr viel symbolisches Potenzial, das wir
auch nicht so einfach für uns knacken können. Schloss Trautenfels ist
ein starker regionaler Faktor, aber wir können nicht davon ausgehen,
dass es alle Bewohnerinnen und Bewohner der Region in- und auswendig kennen, obwohl es dort sonst nicht viel anderes gibt, in diesem
Gewicht bzw. in vergleichbarer Ausrichtung. Gleichzeitig merken wir
an den Besucherzahlen im Sommer, welche starke Rolle der Tourismus
dort spielt. Es trifft eine außergewöhnliche Museumssituation auf eine
diverse, aber auch starke und motivierte Community, was eben für das
Joanneum spannend ist, und für dieses konkrete Ausstellungsprojekt
als Motor wirkt bzw. Beteiligung einfordert.
DS: Die Community ist für dich...
PP: …der stärkste Verein, den wir haben! Die Community sind die vielen
Menschen, die sich im Verein Schloss Trautenfels engagieren und die
teilweise auch in der REX-Initiative mitarbeiten. Das große Interesse
bzw. der Wille, in einer kulturellen Entwicklung vor Ort dabei zu sein, ist
dort für mich geradezu verblüffend ausgeprägt.
DS: In diesen beiden Punkten, die du ansprichst, befinden sich die regionale und das Schloss Trautenfels in einer ähnlichen Ausgangsposition.
Das Schloss liegt auf einem Hügel, und man stellt sich die Frage: Wer
kommt denn da rauf? Das gilt auch für ein Festival, das in eine Region
hineingeht und dabei Dinge passieren lässt, die womöglich nicht unbedingt selbstverständlich sind. Ebenfalls nicht ganz unwesentlich finde
ich den universellen Anspruch des Museums, der trotzdem irgendwie
begrenzt werden muss. Wir haben dabei dieselbe geografische Begrenzung, den Bezirk Liezen. Aber beides − der universellt Anspruch und die
notwendige Abgrenzung – muss auch permament hinterfragt werden.
Was heißt es eigentlich, wenn eine im Grunde nur administrative Einheit
6 — 7
Vorwort
sagt: Wir sind jetzt eine Region, die ein Festival macht. Und wenn genau
diese Einheit nichts ist, womit sich Menschen tatsächlich identifizieren,
weil der Bezirk dafür einfach zu groß ist. Identifikation findet innerhalb
sehr viel kleinerer Räume statt. Also muss man sich schon fragen, was
es eigentlich bedeutet, diese Grenze zu behaupten. Und das führt dann
schon zum nächsten Schritt, bei dem die Ausstellung inhaltlich beginnt,
nämlich überhaupt die Frage zu stellen: Was ist eigentlich „das Regionale“? Es gilt, einerseits ganz abstrakt zu betrachten, warum bestimmte
Vorstellungen, Ideen und Ansichten zu dem gehören, was wir für
„regional“ halten, aber andererseits auch ganz konkret zu hinterfragen,
was eine Region denn von anderen Gebieten unterscheidet? Ich glaube,
dass die Projekte im Rahmen dieser Ausstellung einiges dazu beitragen
können.
PP: Ich fand es spannend, wie unterschiedlich die Künstlerinnen und
Künstler auf diese Fragen zugegangen sind. Was mich allgemein verblüfft hat – und das ist etwas, womit die Kunst heute sehr spezifisch
umgehen kann – ist die Möglichkeit, die wichtigen Elemente, die eine solche Gegend auszeichnen, aufzunehmen und damit arbeiten zu können,
und zwar im Kontext einer Haltung, die quasi allerorts geschehen kann.
Mit diesem Spannungsfeld bewusst so umzugehen, darin sehe ich schon
eine große Kraft, die weder regional noch global ist. Es sind Elemente
von Narrativen, von Geschichten, die eben in nicht eindeutiger und nicht
eindeutig zu trennender Art und Weise miteinander verbunden sind, und
die natürlich dem Alltag an so einem Ort viel mehr entsprechen. Es gibt
dort natürlich genauso eine landwirtschaftliche Produktion, die aufgrund
der Produkte nur dort sein kann, aber ein paar Kilometer weiter findet
man auch Einkaufszentren, die auf der ganzen Welt in haargenau derselben Form existieren können. Auch das Leitmotiv der regionale10, „In der
Mitte am Rand“, greift diese Dialektik eines Ortes auf, der verkehrsmäßig
enorm durchfahren ist – die nahe gelegene Phyrnautobahn zählt zu den
Hauptverkehrssträngen zwischen Nord- und Südosteuropa −, in dem sich
aber auch die Entlegenheit manifestiert. Ich bin froh, dass dort etwas in
dieser Schärfe stattfindet, und auch darüber, dass dies von sehr unterschiedlichen Akteuren aufgezeigt wird − sowohl von jenen, die vor Ort
leben, wie auch von Künstlerinnen und Künstlern. Gerade hier möchte ich
zum Beispiel Papadimitriou und Althamer erwähnen, die ja beide immer
sehr stark insistiert haben, eine lokale Praxis mit einem großen, global
vertretbaren Anspruch zu machen. Das ist durchaus ein Spezifikum, das
auch bei allen anderen deutlich wird.
DS: Das heißt, du siehst hier auch eine mögliche Stoß- und Zielrichtung,
um einen Gegensatz, dem man ja permanent begegnet − zwischen einem
unangenehm gewendeten Regionalismus und einem alles gleichmachenden Globalismus −, vielleicht auflösen zu können?
Schloss Trautenfels um 1800
PP: Ja sicher, ich würde da gar nicht in der Möglichkeitsform sprechen.
Ich denke, dass dies sinnvolle Strategien sind, um eine kulturelle
Geschichte der nächsten Jahre zu schreiben. Ich denke, dass wir mitten
in diesem Prozess stehen, wobei sich manche stärker und manche
weniger stark daran beteiligen, mit diesen Diversitäten besser umzugehen und Lokalitäten umfassend verstehen zu wollen. Wir leben heute
nicht mehr in einer einheitlich geformten Welt. Ich meine, in Zeiten
einer bipolaren Welt gab es Orientierungspunkte, die sehr hierarchisch
aufgebaut waren. Wir nehmen heute mehr und mehr wahr, dass sich
geografische Hierarchien in andere Richtungen entwickeln. Es ist natürlich nicht so, dass die Welt enthierarchisiert wurde, aber wir erleben die
Wirklichkeit einer multipolaren Welt, eines sehr heterogenes Europas,
die wir auch begreifen lernen müssen. Es ist ja nicht so, dass wir uns
im Zusammenhang mit einer globalen Position thematisieren, sondern
zunächst gilt es, unsere europäische Identität zu entwickeln. Das sind
Prozesse, die Hand in Hand gehen. Diese zu buchstabieren, würde ich
fast sagen, diese Sprache, dieses Konstrukt, zu lernen, zu formulieren,
zu definieren, führt zu interessanten Ansätzen. Gleichzeitig suchen wir
eine andere Reflexion, die wir im Zusammenhang der Ausstellung als
eine kulturwissenschaftliche betrachten. So kann bewusst betrachtet
werden, wie sich diese Kunst, die sich mit dem Alltag beschäftigt, zum
Alltag der Menschen verhält, die damit umgehen.
DS: Ich finde es sehr wichtig, dass es ergänzend zu den künstlerischen
Positionen diese zusätzliche Ebene, diese begleitenden Projekte gibt,
an denen sich die Menschen aus der Region beteiligen – das ergibt ein
8 — 9
Vorwort
schönes Bild, auch für das Museum. Ich denke, uns beide interessiert an
dieser Ausstellung auch die Frage, wie ein regionales Museum sich in
Zukunft formulieren kann, wenn es vor allem weg will von der Zuschreibung „Das ist die ‚Burg‘, die definiert und erzählt euch eure eigene
Geschichte“, wenn es ein Haus sein will für die Menschen der Region.
In diesem Prozess vermittelt die Vorstellung, dass Künstlerinnen
und Künstler von außen gemeinsam mit Menschen aus der Region an
Erzählungen und Geschichten aus der Region arbeiten, ein sehr schönes
Bild von einem lebendigen Laboratorium, das dieses Museum in Zukunft
vielleicht sein kann.
PP: Ein wichtiges Thema und eine große Herausforderung: Wie funktionieren solche Museen, was sind ihre Aufgaben, was ist geschichtliche
Repräsentation, was ist reine Information, die vorliegt und notwendig
ist? Aber es stellt sich heute auch mehr und mehr die Frage nach
Prozessen − danach, wie man mit Wissen umgeht, wie man dadurch
Identitäten schafft, wie man mit der Verfügbarkeit von Bildern umgeht,
wie sich das alles manifestiert, sowohl für innen wie für außen. Ich
meine, das Spannende gerade an einem Museum wie Schloss Trautenfels ist, dass wir hier ein Haus haben, das für Touristinnen und Touristen
genauso interessant ist wie für Menschen aus der Region. Die Bedeutung des vermittelten Wissens ist hier eine ganz andere, vor allem,
wenn es sich um lokal konnotiertes Wissen handelt – der schöne Name
des Museums ist ja Landschaftsmuseum, es wird also etwas bewahrt,
an Geschichte, an Landeskunde für die lokale Bevölkerung zum einen,
zum anderen werden aber auch Besucher/innen von auswärts darüber
informiert, was das Ortsspezifische ausmacht. In einer Welt, die wie
gesagt dabei ist, sich extrem umzugestalten, ist es spannend, inwieweit
Prozesse auch so ablaufen können, dass sie nicht in einer Musealisierung im schlechten Sinn münden, die also das Klischee des verstaubten
„Museums von früher“ bedienen, sondern sich dynamisch entwickeln,
ohne dabei die zu vermittelnden Inhalte über Bord zu werfen. Wenn ich
mir zum Beispiel das Projekt von Christian Philipp Müller anschaue, der
bewusst auf Textilfertigung mit Loden − also auf eine sehr starke lokale
Tradition − eingeht und dabei gleichzeitig eine Strategie der Avantgarde
im Umgehen damit verwendet, finde ich das einen sehr wichtigen
Ansatz, um etwas klassisch Landeskundliches aufzubrechen. In diesem
Zusammenhang wird es interessant sein, inwieweit das Museum und
auch sein Publikum in der Folge mit solchen Projekten umgehen, und
wie sich das Narrativ des Museums in dieser Region und in den nächsten
Jahren weiterentwickelt.
A.H. Payne nach L. Mayer
Der Grimming, um 1840 (Detail)
10 — 11
Die Performance des einheimischen Lebens
oder: Die Herstellung der Welt in der
Landschaft der Selbstbedingtheit
an unserer Unwissenheit und seiner Unsichtbarkeit leidet und nachdrücklich nach Aufmerksamkeit heischt.
Adam Budak
Trautenfels, 1681, aus
dem Steirischen Schlösserbuch von G.M. Vischer
(Kupferstich)
Detail aus dem
Freskenraum, Schloss
Trautenfels
1
Gilles Deleuze: Logik des
Sinns. Frankfurt a. M.:
Suhrkamp 1993, S. 100.
Was gibt es Bürokratisches in diesen phantastischen Maschinen, die die
Völker und Gedichte sind? Es reicht, daß wir uns ein wenig zerstreuen,
damit wir uns auf der Oberfläche wissen, daß wir unsere Haut wie eine
Trommel spannen, damit die „große Politik“ beginnt. Ein leeres Feld, weder
für den Menschen, noch für Gott; Singularitäten; die weder allgemein noch
individuell, weder persönliche noch universelle sind, all dies durchquert
von Zirkulationen, Echos, Ereignissen, die mehr Sinn und mehr Freiheit verschaffen, mehr Wirksamkeiten, als der Mensch je erträumt und Gott sich je
vorgestellt hatte. Das leere Feld zirkulieren zu lassen und die prä-individuellen und unpersönlichen Singularitäten zum Sprechen zu bringen, kurz,
den Sinn zu produzieren: Darin besteht heute die Aufgabe.1
Stiegentür in Schloss
Trautenfels, Manfred
Wolff-Plottegg
Buchstaben-Ornament
zum Gedenken an Franz
Hillebrand, um 1804
Im Herzen des Eigensinns
Anmutig, doch asketisch und streng dient die im Jahr 1261 wohl im wahren
Geiste des „Eigensinns“ erbaute vormalige Burg Neuhaus an der Kreuzung
zwischen der Salzstraße und der Straße durch das Ennstal und vor einem
herrlichen Alpenpanorama am Fuße des Grimmings − 1664 von den Grafen Trautmannsdorff unter dem Namen Schloss Trautenfels in Form eines
Barockschlosses wiederaufgebaut − wohl als Beispiel für ein ganz besonderes Bauwerk: Einst Bewacher der Brücken über die Enns und der steirischen Grenze, dient dieses großartige rechteckige Gebäude mit überdachten Innenhöfen und einem mächtigen Turm, mit erlesenen Innenräumen,
Fresken mit Darstellungen u. a. von Menschen bei der Arbeit, Gemälden mit
mythologischen Anspielungen in der Galerie und in vielen Räumlichkeiten
der Beletage, heute dem Universalmuseum Joanneum, Österreichs ältestem und zweitgrößtem museologischem Schatz, als Landschaftsmuseum
und fungiert als Hommage an die einheimische Bevölkerung, die regionale
Geschichte und Erinnerung. Fern jeder schlössertypischen Extravaganz,
bedeckt und gar nicht so reizvoll, im Herzen bescheiden und anonym, stellt
es ein kaltes Denkmal für (architektonischen) Anticharme dar, das zu Recht
2
Manfred Wolff-Plottegg:
Hybrid Architektur & Hyper
Funktionen. Wien:
Passagen Verlag 2006;
ders.: Architektur-Algorithmen. Wien: Passagen
Verlag 1996.
Offensichtlich befinden wir uns hier genau im Herzen jenes Eigensinns,
im zerkratzten Spiegel der Mentalität und des Alltags dieser Region und
ihrer Bewohner, in einer (ursprünglichen) physischen wie psychischen Verteidigungslinie. Das Schloss fungiert als kritischer Apparat, als Matrix
eklektischen Denkens, als Metapher und Allegorie, Ausdruck einer mühevollen Bautradition, die aufgepeppt wurde durch eine hübsche Fin-de-millenium-artige Revitalisierung (1990-92) durch den steirischen Architekten
Manfred Wolff-Plottegg, Verfasser von Hybrid Architektur und Hyper Funktionen und leidenschaftlicher Verfechter von „Architekturalgorithmen“2,
deren Prinzipien das Aussehen (und oft auch die Bedeutung) von bekannten architektonischen Elementen verändern. Plotteggs teils futuristische,
teils märchenhafte Intervention mit gleichsam nostalgischen Untertönen
ist ein verblüffendes und höchst verspieltes Beispiel für moderne Handwerkskunst im historischen Kostüm. Ein Tor ist eine Treppe, Pflastersteine
sind Lampenschirme und Elemente des Burggrabens bilden Mauern in dieser algorithmischen Architektur, die das Schloss als Rätsel aus realen wie
fiktiven Geschichten betrachtet. Ein solcher räumlicher Plot scheint gut zu
dem ornamentalen Relief zu passen, das in eine Wand beim Schlosseingang
gemeißelt ist – datiert mit 1790 und im Gedenken an Franz Hillebrand,
einen einheimischen Handwerker aus der nahen Stadt Rottenmann. Das
geheimnisvolle Tableau ist ein einzigartiges, beinah borgesianisches Rätsel und Diagrammgedicht aus Buchstaben, die, wenn man sie vom Zentrum
aus in Richtung der Ränder liest, den Namen der bedeutendsten Familie
der Region ergeben, die sich der Eisenverarbeitung widmete, welche neben
dem Eisenabbau und der Verarbeitung anderer Bodenschätze der Gebirgsregion wie Kupfer, Silber und Salz die wirtschaftliche Entwicklung der Region
wie auch ihr kulturelles Erscheinungsbild in bedeutendem Maße prägte.
Er ist aber auch ein kosmologisches Porträt des Homo faber von Trautenfels, einem der wichtigsten „Lokalmatadore“ der Region; genauso wie die
Trautenfels’sche Metapher des Eigensinnigen eine Vielzahl der Lesarten
des Einen zu erlauben scheint, die in ihrer labyrinthischen Struktur eine
oder aber viele Möglichkeiten eröffnen, etwa auch das Wortspiel mit Denkmal (Monument) und „Denk mal!“ (im Sinne von Denkanstoß), und auf diese
Weise symbolisch den Rahmen für ein Kunstprojekt bilden, das sowohl Tribut an einen Mikrokosmos als auch Dokument einer lokalen Gemeinschaft
sein will.
Annäherung an den Homo faber
Inszeniert in den Räumlichkeiten des Schlosses Trautenfels ist die Ausstellung Der schaffende Mensch. Welten des Eigensinns eine Baustelle des
Selbstseins und der Subjektivität. „Vita activa”, einer der grundlegenden
12 — 13
Adam Budak
3
Hannah Arendt: Vita activa
oder Vom tätigen Leben, 8.
Aufl., München: Piper 2010.
4
Ebda, S. 14.
5
Margaret Canovan: Einleitung. In: Hannah Arendt:
Human Condition. 2. Aufl.,
mit einer Einleitung von
Margaret Canovan. Chicago:
The University of Chicago
Press 1998, S. XVI.
6
Vgl. Hannah Arendt: Vita
activa, S. 23.
7
Ebda., S. 16.
8
Ebda., S. 18.
Begriffe aus Hannah Arendts bahnbrechendem Werk Vita activa oder Vom
tätigen Leben (1960)3, steckt das Wirkungsfeld für sechs Kunstprojekte ab,
in denen die Eigenheiten der historischen wie der zeitgenössischen Gegebenheiten der Region Liezen, die − wie im Slogan („In der Mitte am Rand“)
des ausrichtenden Festivals, der regionale10, betont wird − im geografischen Zentrum Österreichs liegt doch gleichzeitig an der (steirisch-regionalen) Peripherie, im Transitdenken, am Knotenpunkt dreier wichtiger nationaler Fernstraßen.
„Was wir tun, wenn wir tätig sind“4 ist Arendts elementarer Vorschlag
zu einer Neubetrachtung der Condition humaine in ihrem Buch, das, wie
Margaret Canovan anmerkt, während der Studentenbewegung der 1960erJahre begeistert als Lehrbuch der partizipatorischen Demokratie5 aufgenommen wurde und das nach wie vor eine Quelle der Inspiration und der
Kontroverse darstellt. In der Tat bilden „das Schaffen“ – die Aktivität, die
sie „Herstellen“ nennt – und „das Soziale” den Rahmen für ihre Analyse
einer menschlichen Welt, die von Dauer sein kann. Vita activa tritt als
Arendts Version des aristotelischen bios politicos auf, das ein dem Bereich
des im eigentlichen Sinne Politischen gewidmetes Leben meinte6. „Mit
dem Begriff Vita activa“, – schreibt Hannah Arendt – „sollen im folgenden
drei menschliche Grundtätigkeiten zusammengefasst werden: Arbeiten,
Herstellen und Handeln. Sie sind Grundtätigkeiten, weil jede von ihnen
einer der Grundbedingungen entspricht, unter denen dem Geschlecht der
Menschen das Leben auf der Erde gegeben ist.“7 Die Tätigkeit der Arbeit
entspricht dem biologischen Prozess des menschlichen Körpers und die
Grundbedingung, unter der die Tätigkeit des Arbeitens steht, ist das Leben
selbst. Die Grundbedingung, die dem Handeln entspricht, ist das Faktum
der Pluralität, nämlich die Tatsache, dass nicht ein Mensch, sondern viele
Menschen auf der Erde leben. Und im Herstellen letztendlich „manifestiert
sich das Widernatürliche eines von der Natur abhängigen Wesens, das sich
der immerwährenden Wiederkehr des Gattungslebens nicht fügen kann und
für seine individuelle Vergänglichkeit keinen Ausgleich findet in der potentiellen Unvergänglichkeit des Geschlechts. Das Herstellen produziert eine
künstliche Welt von Dingen (…) In dieser Dingwelt ist menschliches Leben
zu Hause, (…) und die Welt bietet Menschen eine Heimat in dem Maße,
indem sie menschliches Leben überdauert, ihm widersteht und als objektivgegenständlich gegenübertritt. Die Grundbedingung, unter der die Tätigkeit
des Herstellens steht, ist Weltlichkeit“. Arendt weiter: „(…) das Herstellen
errichtet eine künstliche Welt, die von der Sterblichkeit der sie Bewohnenden in gewissem Maße unabhängig ist und so ihrem flüchtigen Dasein so
etwas wie Bestand und Dauer entgegenhält.“8 Im Bereich der Arbeit tritt
der Mensch als Homo faber auf, als der schaffende Mensch, manchmal auch
Weltbildner, Werkzeugmacher oder Schöpfer aller Dinge genannt. Arendt
übernahm diesen Begriff von Henri Bergson, der in seinem Buch Schöpferische Entwicklung (1921; im frz. Original 1907 erschienen) auf den Homo
9
Henri Bergson: The Creative
Evolution. Übers. v. Arthur
Mitchell. New York, Dover:
1998, S. 139.
10
Hannah Arendt: Vita activa,
S. 451.
11
Danette diMarco: Paradise
Lost, Paradise Regained.
Homo faber and the Makings of a New Beginning
in „Oryx and Crake“. Zit.
nach: http://findarticles.
com/p/articles/mi_qa3708/
is_200504/ai_n13641438/
(letzter Zugriff: 12.5.2010).
12
Sophie Loidolt: Conditio
humana. So lebt der
Mensch. Unveröffentlichtes
Manuskript, in Auftrag
gegeben vom Universalmuseum Joanneum. Wien/
Graz: 2010, S. 2.
13
Richard Sennett: The
Craftsman. New Haven: Yale
University Press 2008.
faber verwies, indem er Intelligenz in ihrem ursprünglichen Sinne definierte,
als „die Fähigkeit zur Herstellung von künstlichen Gegenständen, besonders von Werkzeugen zur Herstellung von Werkzeugen und zur unendlichen
Variation der Herstellung“9. Arendt entwickelt diese Definition, indem sie
behauptet: „Das lateinische Word faber, das vermutlich mit facere im Sinne
des hervorbringenden Machens zusammenhängt, bezeichnet den Künstler
oder Handwerker, der hartes Material bearbeitet – Holz, Stein oder Metall”10
Nach Arendt hängt die Herrschaft des Homo faber von einer Konstante ab:
Er betrachtet sich selbst als das Maß aller Dinge. Obwohl er zur Vollendung seines Werkes zweifellos auf natürliche Ressourcen angewiesen ist,
entgeht ihm diese Tatsache, und folglich markiert er die Ressourcen in seinem von ihm hergestellten Werk als unsichtbar. Arendt behauptet, indem
sie eine populäre marxistische Behauptung wiederholt, dass der Prozess
im Produkt verloren geht, dass mit der Herstellung und der letztendlichen
Vergegenständlichung des Produkts der Homo faber selbst die verschiedenen für menschliche Kreativität und Geschicklichkeit bei ihrer Veränderung
des innersten Wesens der Natur unabdingbaren Komponenten aus den
Augen verliert. Für Arendt ist die wirkliche Tragödie des Homo faber seine
Selbstbefangenheit in seiner eigenen Aktivität. Er hat die vergegenständlichte Produktion eingeführt und sich vom Animal laborans das Verlangen
nach Überfluss angeeignet – und somit das Ziel der Ernährung und Grundversorgung der Gemeinschaft durch natürliche Ressourcen ersetzt durch
jenes der persönlichen (oft finanziellen) Erfüllung durch die Nutzung der
natürlichen Ressourcen zur Schaffung eines Mehrwerts.11 Der Homo faber
baut sich selbst eine Welt. Er erschafft Werke. Als „artifex“ wie als Schöpfer
ist er Meister seines Werkes/Objekts – bis hin zur Möglichkeit, es wieder
zu zerstören. Die Welten, die er erzeugt, sind, wie Sophie Loidolt anmerkt,
„Welten des Eigensinns. Doch dieser Eigensinn ist immer ein weltlicher
Wille. Er ist ein Streben nach einem Sein, das für seine individuelle Vergänglichkeit keinen Ausgleich findet in der potenziellen Unvergänglichkeit
des Geschlechts. Weil dieses Sein eine Identität und eine Erzählung in sich
birgt, die in den Werken, die es stets neu herstellt, von Trinkgefäßen bis
hin zu Landschaftsgestaltung, immer manifest ist. Auch wenn das Herstellen von den natürlichen Ressourcen abhängig ist und auf sie vertraut, ist
das dann selbst nicht mehr Natur, weil es den ewigen Kreislauf von Genese
und Verfall durchbricht und auf einer neuen linearen Zeitebene endet. Die
Tätigkeit des Herstellens hat seine eigene zeitliche Abfolge – einen Anfang
und ein Ende. Doch als eine Tätigkeit ist es natürlich ein Prozess, aber keiner, der sich einfach erschöpft und erneuert. Ein Werk entsteht daraus, das
in die Welt entlassen werden kann und selbst „‚die Welt’ ist, die bewusst
geformt wurde“.12 Richard Sennett betont die Rolle des Homo faber in
Arendts conditione humana teatrum und hebt dabei neue Eigenschaften
im Gegensatz zum Animal laborans hervor.13 Während das Animal laborans das Herstellen als Selbstzweck betrachtet, ist der Homo faber damit
beschäftigt, „gemeinsam ein Leben zu schaffen.“ Laut Sennett ist „der
14 — 15
Adam Budak
Homo faber der Richter über materielle Arbeit und Praxis, kein Kollege des
Animal laborans sondern sein Vorgesetzter. Deshalb leben wir Menschen
(nach Arendts Ansicht) in zwei Dimensionen. In einer stellen wir Dinge her;
in diesem Zustand handeln wir amoralisch, ganz in Anspruch genommen
von der jeweiligen Aufgabe. Doch bergen wir auch eine andere, höhere
Lebensart in uns, in der wir in der Produktion innehalten und gemeinsam
zu diskutieren und zu bewerten beginnen. Wogegen das Animal laborans auf die Frage ‚Wie?’ fixiert ist, fragt der Homo faber ‚Warum?’“14
Mehrdeutigkeiten: Eigensinn
14
Ebda., S. 7.
15
Julia Kristeva: Hannah
Arendt. New York: Columbia
University Press 2001,
S. 223.
16
G. W. F. Hegel: Phenomenology of Mind. Mineola:
Dover Publications: 2003.
17
H. S. Harris: Hegel’s Ladder.
Bd. 1. Indianapolis (u.a.):
Hackett 1997, S. 385.
18
Alexander Kluge, Oskar
Negt: Geschichte und
Eigensinn. Frankfurt a. M.:
Suhrkamp 1993.
Aufgabe dieser Ausstellung ist die Untersuchung der möglichen Beziehung
zwischen dem Homo faber und der Welt des Eigensinns. Wie schon eingangs erwähnt, sind seine Selbstbefangenheit und seine Selbstwahrnehmung als das Maß aller Dinge möglicherweise ein Beweis für das eigensinnige Wesen des Homo faber. Der Eigensinn als „logischer Eigensinn”
(Egoismus) wurde von Hannah Arendt als Privatsinn und im Gegensatz
zum Gemeinsinn verwendet.15 Der Begriff Eigensinn selbst hat eine lange
Rezeptionsgeschichte. Durch seine Verbindung zu einem Begriff moderner
Individualität, der unbedingt auch Selbsttäuschung und ironische Inszenierung beinhaltet, artikuliert er die hegelianische Haltung einer „Gewissheit seiner selbst“. In Die Phänomenologie des Geistes (1807) definiert
Hegel Eigensinn als Selbstbewusstsein, das sogar in Knechtschaft bestehen bleibt.16 Der Eigensinn bezeichnet ein starrsinniges Festhalten an
einer einzigen flüchtigen Art und Weise, wie die Dinge sind. Hegel betont
sowohl die Ambiguität des Eigensinns (in aktiver Souveränität genauso
wie im Leid und in der Abhängigkeit, als auch die „Freiheit des Eigensinns“, die das „leere Ich“ charakterisiert.17 Der Eigensinn, so wie auf ihn
in der Phänomenologie des Geistes ausdrücklich verwiesen wird, wird als
die primitive Entschlossenheit des unreifen menschlichen Tieres wahrgenommen, „seinen Willen durchzusetzen“. Oskar Negt und Alexander Kluge
untersuchen in Geschichte und Eigensinn (1993)18 die gesellschaftskritischen Implikationen von Hegels Konzept. Ihre Verwendung des Begriffes
Eigensinn untersucht ein Wortspiel mit ihm: „eigen-Sinn“, „jemandes eigner
Sinn“ – d. h. „Sturheit“, „Halsstarrigkeit“ oder „das Eigentum betreffender
Sinn“. Kluge folgert, diese Form der Eigenwahrnehmung, die für menschliche Wesen unerlässlich ist, wenn Sie die Autoren ihres eigenen Lebens sein
wollen, kann nur durch ein Miteinander entstehen. Eigensinn bezeichnet
ein Ringen nach Anerkennung und Selbstgewissheit. Für Andreas W. Daum
bezeichnet der Eigensinn als analytisches Konzept „eine ganz bestimmte
Logik, die von Einzelpersonen und Gruppen in deren sozialer Interaktion
verfolgt wird. Es ist nicht bloß eine Sturheit oder Weigerung, sich an die
Regeln zu halten; der Begriff bezeichnet nicht unbedingt den Widerstand
des Volkes gegen die Autorität. Er bezeichnet vielmehr die Sehnsucht,
unabhängig von den Forderungen oder Ansprüchen der anderen zu handeln
19
Andreas W. Daum: Kennedy
in Berlin. Paderborn (u.a.):
Schöningh 2003, S. 129.
20
Alf Lüdtke (Hrsg.): The
History of Everyday Life.
Reconstructing Historical
Experiences and Ways of
Life. Princeton: Princeton
University Press 1995.
21
Kathleen Canning: Feminist
History after the Linguistic Turn: Historicizing
Discourse and Experience.
Signs 19/1994.
22
Charles Bright: The Powers
that Punish: Prison and
Politics in the Era of the
„Big House“. Ann Arbor:
University of Michigan
Press 1996.
23
Ebda, S. 231.
und Handlungsmacht einzufordern, wenn auch nur vorübergehend oder in
einem begrenzten Rahmen.“19 Der Arbeitshisto-riker Alf Lüdtke versteht
unter Eigensinn die wieder in Besitz genommenen Räume der Selbsttätigkeit. Hier wird – gewissermaßen – der Ungehorsam des Eigensinns oder
von jemandes eignem Sinn semantisch mit „sich aneignen” verknüpft.20
Kathleen Cannings Untersuchung des Eigensinns greift auf Lüdkes Arbeit
zurück, doch ebenso auf Joan W. Scott, und er definiert Erfahrung als „den
Ereignissen in dem Augenblick in dem sie passieren Sinn geben (…) sowie
als ein ‚eigensinniges Distanzieren‘, das eine ‚Neurahmung‘, eine ‚Neuorganisation‘ ermöglicht, oder eine ‚kreative Neuaneignung der Bedingungen
des täglichen Lebens‘“.21 Die Betonung auf „Zustimmung, Neurahmung und
Neuaneignung“ in dieser Definition „impliziert, dass Subjekte über eine Art
Handlungsmacht verfügen“, und zwar dahingehend, wie sie die Welt auf
Basis der ihnen in ihrem soziohistorischen Kontext zur Verfügung stehenden Diskurse interpretieren. Lüdkes Eigensinn als Selbsttätigkeit impliziert
eine Reihe von Mehrdeutigkeiten und eine Ambivalenz der Übereinstimmung, die in Lüdkes Augen grundlegend war für das Flickwerk der Aneignung und Reaktion, Annahme und Distanz, das die „Räume der Arbeiter“
als die ihren definierte: bei sich selbst sein oder bei seinen Freunden, doch
in jedem Fall „‚Distanz gewinnend‘ von den Anweisungen oder Normen
von oben und von ‚außen‘“. Eigensinn ist die Praxis der Zusammenarbeit,
während man dagegenhält, klarzukommen ohne überzulaufen, das Spiel
mitzuspielen ohne daran zu glauben – auf der Suche nach einem Raum,
in dem man wirklich sein kann, aber weder im Widerstand noch in Komplizenschaft.22 Eigensinn erweist sich als Element, das dem Arbeiter bleibt.
Man sagt, er sei „die Freiheit, die in der Knechtschaft bleibt“, aber auch
ein Geschick, das nur über Macht über irgendetwas verfügt“. Heute ist er
die Freiheit, die sich an einer Eigentümlichkeit festmacht. Im vorgesetzlichen Kontext der Lehensherrschaft und Leibeigenschaft war der Eigensinn
bereits eine wichtige Fähigkeit; doch nun in der kultivierten Welt des Stoizismus ist er das rechtsgültig anerkannte freie Bewusstsein.23
Die Suche nach einem modernen Hephaistos
Das Leben und das Herstellen, sowie die Leidenschaft, die dahintersteht,
stehen im Mittelpunkt der Ausstellung Der schaffende Mensch. Welten des
Eigensinns. Wie durch die Linse eines Vergrößerungsglases wird hier die
Condition humaine porträtiert und sie findet ihren Ausdruck in der Performance eines emanzipierten und autonomen Ichs. Der Eigensinn erscheint
als geistiger und körperlicher Mechanismus, der die Identität eines gesellschaftlichen und kulturellen Mikrokosmos formt und bedingt: die Konstruktion einer „eigensinnigen“ Weltanschauung als Raum zwischen den Augen,
eine Landschaft der Selbstbedingtheit … Wir befinden uns im vagen Territorium eines Zwischenbereichs, in dem das Kleine und Intime, das Persönliche und Exklusive, das unvermeidliche Globale und Kosmopolitische der
heutigen Gesellschaft herausfordern. Der Eigensinn ist ein problematisches
16 — 17
Adam Budak
Terrain, in dem Zusammengehörigkeit und Zugehörigkeitsgefühl mit der
Sturheit und der egozentrischen Welt der Eigentümlichkeit ringen, wo das
Verlangen nach Gemeinschaft auf die Manifestation ganz individueller
Glaubensgrundsätze und Wahrheiten trifft. Wie lässt sich die Matrix eines
solchen Glaubens darstellen? Wie lässt sich eine solche Haltung umreißen?
Was sind die historischen Perspektiven und die zeitgenössischen Bedingungen einer solchen Örtlichkeit? Wie wird lokales Wissen produziert?
Diese Ausstellung ist aber auch eine Fallstudie von lokaler Widerständigkeit, von Stolz, Emanzipation und Selbstermächtigung. Wir sind die schaffenden Menschen, Schmiede der Wirklichkeiten, Produzenten des Alltags,
Kinder der Tradition, Schöpfer noch kommender Zukunften und Bildhauer
von Orten. Als Studie performativer Zugehörigkeit geht diese Ausstellung
der Frage nach, ob der Homo faber in der Welt des Eigensinns überhaupt
möglich ist; ihre Anatomie einer (lokalen) Vita activa ist gleichzeitig eine
Anatomie des Eigensinns, der Schauplätze seiner Aktivität, seiner auf
lokale Sehnsüchte und Ambitionen zugeschnittenen Utopien im kleinen
Maßstab. Wie lassen sich Dinge, Köpfe und Denkweisen formen? Die Ausstellung stellt sich der Herausforderung, in die Organisation des Privatlebens des „Lokalmatadors“ und seinem Sinn für die Gemeinschaft, deren
teil er ist, hereinzuzoomen. Wie kann man an der Welt des Eigensinns teilnehmen? Was lässt sich über traurige Versuche des gezwungenen Engagements für die sogenannten – fremden – allgemeinen Belange hinaus tun?
Eigensinn ist ein Flickwerk aus heroischen Taten und konservativen Ansichten, ein Land der Enge, des Stolzes und der Selbstbehauptung, wo lokaler
Gemeinschaftsgeist, das Streben nach Autonomie und Emanzipation und
die Vorstellungskraft des schöpferischen Geistes, der nach Senett24 von
Widerständigkeit, Ambiguität und Intuition geprägt ist, mit Sturheit und
einem Willen zur Distanz und zum Ausdruck seiner eigenen Andersheit im
Wettstreit liegen.
Im Rahmen der künstlerischen Freiheit des Eigensinn-Syndroms reist der
Prototyp des Homo faber, Odysseus mit verbundenen Augen durch dieses Land des Sturheit, in der Hoffnung, die ihm Pandoras Büchse gegeben
hat, der Hoffnung, die Welt neu zu erbauen und Kultur und Zivilisation zu
erneuern, im Mitgefühl mit der tragischen Figur Hephaistos, dem lahmen
Gott der Handwerker, „berühmt für Erfindungen“, Erbauer aller Gebäude auf
dem Olymp, Friedensbringer und Zivilisationsschaffer.
24
Richard Sennett: The
Craftsman, S. 213.
Diese Ausstellung ist eine von sechs partizipatorischen und gemeinschaftsbasierten Kunstprojekten, eine fast wie in einem Kriminalstück
von Pirandello orchestrierte Fallstudie, Erzählung der Region und Bestimmung ihrer einheimischen Protagonisten. Sie ist Probe, Untersuchung und
Mise-en-scène von Geschichte, Tradition und Kontemporanität, ein Tableau
vivant einer widerständigen Identität. Die an Sechs Personen suchen einen
Maria Papadimitriou
Untitled (T.A.M.A.), 2000
Dreaming the New
House, 2004
Autor (1921) erinnernden eingeladenen Künstler machen sich auf die Suche
nach einem modernen Hephaistos, indem sie der Eigentümlichkeit einer
Region nachspüren, die schon immer als besonders eigensinnig galt. Die
Projekte sind in der Tat Beispiele für kritischen Regionalismus – und sind
ebenso dynamische Belege für einheimisches Leben, das sich seiner selbst
bewusst ist. Die Psychogeografie dieser Ausstellung navigiert zwischen den
verschiedensten Aspekten des Lebens der Region: Landschaftsarchitektur und die Organisation des Privatraumes (Franz Kapfer), das sprühende
Leben ganz gewöhnlicher Bewohner dieser Region als soziale Skulptur
(Pawel Althamer und seine Studierenden), die Bildung einer eigensinnigen Mentalität anhand der Fallstudie zu baulicher Neugestaltung in der
Region (Kateřina Šedá), das Phänomen des Genius loci mit einem Verweis
auf Natur und Brauchtum der Region (Maria Papadimitriou), Schlossarchitektur als Phantasmagorie (L/B) und die Produktion von realem und symbolischem Wert, wie sie sich in der Tradition eines einheimischen Gewerbes
findet (Christian Philipp Müller).
Maria Papadimitriou
„Alpine Altar“ oder: Rituale des Alltags
Maria Papadimitrious Feldforschungen folgen einer Methode, die von der
Intensität von bestehenden oder neu begründeten menschlichen Beziehungen und Verbindungen befeuert wird. In ihrer Erforschung der zerbrechlichen Bereiche einer „emotionalen Topografie” legt die griechische
Künstlerin ihr Augenmerk auf die Randexistenzen und Unterprivilegierten
innerhalb einer gegebenen Gesellschaftsstruktur. Die Politik des sozialen
Raumes, die suburbane Landschaft und der Bereich des häuslichen Lebens
stehen im Mittelpunkt ihrer interdisziplinären und gemeinschaftsbasierten Projekte und bilden in erster Linie den thematischen Rahmen für ihr
kollektives Langzeitprojekt T.A.M.A. – Temporary Autonomous Museum for
All – eine flexible Quasi-Struktur, die in Menidi, einem heruntergekommenen Viertel im Westen von Athen, spontan ins Leben gerufen wurde und
von Wanderpopulationen wie den Roma und den Vlach-Rumänen aus Veria
praktisch als Zweitwohnsitz genutzt wird. Als mobile postindustrielle Stadt
ist T.A.M.A., (das im Griechischen so viel wie feierliches Versprechen, eine
Geste der Gabe, der Dankbarkeit oder des Versprechens bedeutet), ein weiterer künstlerischer Versuch der Aufstellung eines Wertesystems bei der
Auseinandersetzung mit Themen von bestimmter gesellschaftlicher und
politischer Dringlichkeit wie Einwanderung, Armut und Menschenrechte im
Allgemeinen. Beinahe unter Anwendung von Camouflage-Strategien tritt
Maria Papadimitriou in Gemeinschaften und Gesellschaftschichten ein,
nimmt allmählich deren Alltagsgewohnheiten an, dringt ganz tief in deren
Lebensbedingungen ein und diagnostiziert auf der Basis ihrer Erfahrung
den Status quo dessen, was tunlichst ausgelassen wird oder was allen
Strategien oder Ökonomien der offiziellen gesellschaftlichen Zugehörigkeit
18 — 19
Adam Budak
Maria Papadimitriou
Alpine Altar, 2010
(Fotomontage)
25
Maria Papadimitriou:
T.A.M.A., 25. Biennale de
Sao Paulo, Futura 2002,
S. 13.
und Legitimität entgeht. Ihre Kunst ist die Kunst, sich in den Anderen zu
verwandeln, seine Identität anzunehmen, in eine Kommunion einzutreten.
T.A.M.A. ist der Versuch der Schaffung eines „besseren“, „tragfähigen“ sozialen Raums als Möglichkeit zu gemeinsamem Handeln und einem offenen
Beitrag aller. In ihren Worten „brachten mich die nomadische Lebensweise
und die Eigenheiten dieser Gemeinde auf die Idee, zwischen Bewohnern,
der Künstlerin, den Kunst- und Kulturschaffenden und der breiten Öffentlichkeit ein System der Kommunikation und des Austauschs zu schaffen.
Innerhalb sehr kurzer Zeit realisierte ich, dass alle meine Freunde und Partner an dieser Geschichte mitwirken wollten, die ich ein temporäres autonomes Museum für alle nenne.“25 Das lebende Museum der Künstlerin ist
eine Maschine der gesellschaftlichen Möglichkeiten, die innerhalb und
außerhalb des institutionellen Rahmens individuelle wie kollektive Gesten
erzeugt und vollständig auf die Teilnahme der Menschen angewiesen ist.
Als Konstruktion einer gemeinsamen Stimme in der Öffentlichkeit ist ihre
Arbeit eine Hommage an das Lokale, das Minoritäre, das Andere.
Das Phänomen des Genius loci (des Geistes eines Ortes) war schon der
Protagonist zahlreicher bisheriger Installationen von Maria Papadimitriou,
die allesamt von der Energie eines ganz besonderen Ortes befeuert waren,
seiner realen wie symbolischen Rolle bei der Formung des Lebens der
Menschen dort, ihrer Biografien, ihrer Wahrheiten und ihrer Glaubens- und
Wertesysteme. Ihre Werke packten in der Tat die Ontologie eines Genius
loci an, indem das Dazwischen, das Ephemere, das Intime und das Spirituelle in einer harmonischen Mischung aus Oral History und materieller
Kultur erforscht wurde. Eigens geschaffen für die Ausstellung Der schaffende Mensch. Welten des Eigensinns feiert Maria Papadimitrious Projekt
Alpine Altar die lokale Natur und Bevölkerung. Geschichte, Tradition, Bräuche und andere Formen des kulturellen Ausdrucks (Volksmärchen, Sagen
und Lieder) tragen zu einer komplexen Ausarbeitung der Landschaft, des
Lebens in der Region und regionalen Glaubens. In einem faszinierenden
Vergleich zwischen dem nahe Trautenfels aufragenden, die Umgebung
dominierenden und oft auch als Mons Styriae altissimus beschriebenen
Grimming (etymologisch „Berg des Donners“) und dem Olymp, dem „Heim
der Götter“ – insbesondere des Donnergotts Zeus) verweist die griechische Künstlerin auf ihr Heimatland. Papadimitrious Projekt ist eine Tour de
force der Schauplätze, ihrer Geschichte, ihrer symbolischen Bedeutungen
und aktuellen Wahrnehmungen. Die Künstlerin konstruiert (ihr eigenes)
Museum der kollektiven Sehnsüchte: Alpine Altar, ein ganz besonderer
Akt der interkulturellen Übersetzung, Zusammenführung des klassischen
griechischen Altars mit dem lokalen Kontext des Ennstals. Gebaut aus
(Grimming-)Fels ist Papadimitrious Altar ein Schrein der Gelübde, die von
den Menschen gesammelt werden und sich auf die Tradition des SchafFestes beziehen, das jedes Jahr in Öblarn gefeiert wird. Der Altar fungiert
als Ausdruck des Glaubens der Menschen, als Projektion ihrer Träume
Maria Papadimitriou
Alpine Altar, 2010
(Recherchematerial)
und Fantasien, als Lautsprecher ihrer intimsten gewagten Gedanken und
Zukunftshoffnungen. Er ist Erlösungsort und Hort der Hoffnung, Spiegel
menschlicher Sehnsüchte, Treffpunkt des Unausgesprochenen und Verborgenen – ein zeitgenössischer Beichtstuhl der Gemeinde und ein utopischer
Ort der Katharsis und Kommunion. Der eklektische und heroische Altar der
Künstlerin ist äußerster – kollektiver – Ausdruck des Genius loci. In ihrem
Brückenschlag zwischen heidnischen und christlichen, fetischistischen und
religiösen, natürlichen und übernatürlichen Kräften fordert Maria Papadimitriou die eigensinnige Mentalität der Bevölkerung des Ennstals heraus.
Ihr Altar ist ein Denkmal für viele Mythologien und feiert von Göttern sowie
von Menschen geschaffene Reliquien und Talismane. Von Menschenhand
geschaffene und auf der geheiligten Fläche eines alten Altars dargebotene Miniatur-Spielzeugschafe leisten ihren Beitrag zu Papadimitrious
selbstgefertigtem Ritual: Sie sind Gelübde, Opfersymbole und aufrichtiger Ausdruck eines tiefempfundenen Glaubens, eines Bedürfnisses, das
Leben symbolisch als Geschenk Gottes/der Götter und der Natur zu feiern sowie vor unbekannten Kräften zu beschützen. Das literarische Werk
von Paula Grogger (1892-1984), einer hochgefeierten Schriftstellerin aus
dieser Region, dient Maria Papadimitriou als weiterer Verweis auf Struktur
und Geschichte der Region. Paula Groggers umfassendes Werk, und hier vor
allem der Roman Das Grimmingtor (1926), ist in seiner Zusammenstellung
von - in einer einzigartigen Mischung aus Hochdeutsch, lokalen Dialekten
und dem seltsamen Idiom einer Chronik des 17. Jahrhunderts erzählten Mythen und Legenden ein Tableau vivant ihrer Heimat. Als charismatische
Schriftstellerin wurde Paula Grogger als eine der „populärsten Erzählerinnen von sentimentalen Volkserzählungen betrachtet, die viel zu deutschnationalem Gedankengut beitrug.“ Während ihr Werk ohne Zweifel eine
wenn auch nicht unumstrittene Hymne an die Werte der Region ist, zielt
Maria Papadimitriou darauf ab, dem Translokalen (oder zumindest dessen
Möglichkeit) Achtung zu bezeugen, sich von dessen Eigensinn zu befreien
und Raum für ein breiteres vielstimmiges Verständnis von Kultur und Tradition zu schaffen.
L/B
„Beautiful Steps“ oder: Im Turm des befestigten Ichs
Irgendwo zwischen Installationskunst, Plastik und erweiterter Malerei, und
an der Schwelle zwischen Architektur, bildender Kunst und Design angesiedelt, lässt das höchst verführerische und spielerische Werk des Schweizer Kollektivs L/B (Sabina Lang, Daniel Baumann) die Grenzen der Wahrnehmung verschwimmen und entzieht sich jeder eindeutigen Zuordnung.
Es handelt sich um ein wahrhaft traumartiges Schaffen voller Nostalgie,
es verweist ganz offensichtlich auf das Unterbewusste des Betrachters,
während es gleichzeitig tief ins Alltägliche, Profane und Banale eintaucht.
Die architektonischen und quasi designten Interventionen von L/B sind
20 — 21
Adam Budak
Beautiful Lounge #1,
2003
Joburg Bar in Long
Street, Cape Town
bisweilen sanftere und dann wieder gewaltsamere Versuche des Zusammenlebens, mal in Freundschaft, mal in Feindschaft, parasitär und willkommen geheißen, doch fast immer angenehm, sympathisch und idyllisch:
schön, „einfach schön“.26 Quasi nomadisch lassen sie an Mobilität denken,
sind eher Tagträume mit einem futuristischen Flair, Anti-Utopien vielleicht,
doch performative Schauplätze potenzieller Erzählungen. L/B sind Meister
des visuellen Raumes, meisterhafte Errichter von paradiesischen Welten.
Ihre verzauberten (planen) Landschaften und die ephemeren Architekturen ihrer aufgeblasenen Röhren sind Einladungen zu einer halluzinogenen
Reise durch die verwunschenen Länder der Fantasie mit einer Explosion aus
leuchtenden Farben, psychedelischen Mustern und komplexen Geometrien.
Ihre Lounges, Bars und Diskussionsplattformen sind verblüffende Beispiele für sinnliche haptische Räume von überraschender Vieldimensionalität. Industrial Design, Mode, Lifestyle, Tourismus sowie die ästhetischen
Ansprüche einer nomadischen Freizeitgesellschaft leisten ihren Beitrag
zur ganz besonderen Poetik des Raumes von L/B, einer Union von Neo-Pop
Art, Op Art und möglicherweise Post-Minimal und Post-Land Art. Darüber
hinaus wird die Funktion des architektonischen Elements hinterfragt und
letztendlich annulliert; als Zeugen der Herstellung sind wir in dieser Tour
de Force der Perfektion und erhabenen Schönheit mit der Simulation von
handwerklicher Tätigkeit konfrontiert. Obwohl sie die plane Oberfläche in
starkem Maße fetischisieren, erweisen sich die Tableaus von L/B als ein
Ringen zwischen Ebene und räumlicher Tiefe, ein Wettkampf zwischen Perspektive und zweiter Ebene. Doch sind sie eher der Schauplatz der ersten
Ebene, eines Bildes im klaren Rahmen einer subvertierten Wirklichkeit,
einer lebenden Installation, einer bewohnbaren Umgebung mit partizipatorischem Charakter.
26
Christoph Doswald: Simply
Beautiful, in diesem Band.
Die im Rahmen der Ausstellung Der schaffende Mensch. Welten des
Eigensinns präsentierten Projekte von L/B stellen weitere Schritte im
ihrem Prozess der Meisterung (kritischer) Schönheit dar: Beautiful Steps
#3 und Beautiful Steps #5. Die (räumlichen) Prinzipien des Eigensinns als
natürliche Eigenschaft einer konservativen Weltsicht sind wie es scheint
ein gerader, schmaler und strikt horizontaler Pfad, ästhetische Strenge der
Architektur und eine schmerzhafte Logik der Dinge. Installiert im prächtigen und glanzvollen Marmorsaal des Schlosses Trautenfels provoziert
die riesige, überlebensgroße Skulptur Beautiful Steps mit ihrer vielleicht
zu offensichtlichen metaphorischen Aufladung. Plötzlich und offenbar
ohne unser Zutun finden wir uns im Reich der Allegorie wieder. Über dem
Boden schwebend schlängelt sich eine geschwungene weiße Stiege durch
dieses großzügige und monumentale Interieur, umgarnt es wie ein Band,
das man um ein kostbares Geschenk gewickelt hat, und erreicht den Himmel – die von Carpoforo Tencalla im 17. Jahrhundert mit beeindruckenden
Fresken - meisterlichen Variationen auf mythologische Heldenmotive
- geschmückte Decke des Marmorsaals. Solcherart in die Höhe gehoben
L/B
Beautiful Corner #1,
1999
migros museum für
gegenwartskunst, Zürich
L/B
Beautiful Steps #3,
2009
Beautiful Steps #5,
2010 (Rendering)
27
Julia Kristeva: Hannah
Arendt, S. 156.
ist ihre luftige Gegenwart erhaben und magisch. Eine moderne asketische
Struktur korrespondiert mit dem Barock und reicher Aristokratie. Doch
diese auf den ersten Blick höchst unpassende Mischung erweist sich sehr
bald als durchaus kompatibel und sinnvoll. Die Beautiful Steps #3 necken
mit ihrer formalen Reinheit und der Illusion ihrer Benützbarkeit, fordern
die Wahrnehmungsfähigkeiten des Betrachters heraus und versetzen ihn
in eine recht surreale räumliche Umgebung. L/B steht für Phantasmagorien des Alltäglichen, Schwebezustände der Wahrnehmung und Überarbeitungen jeder konventionellen Semantik des Raumes. Wir befinden uns
an der Schwelle zum Absurden; wir erleben die Sensation, das, was sich
Logik und Menschenverstand entzogen hat; hier befinden wir uns an der
Schwelle zwischen Realität und Fiktion, an der Pforte zur Fantasie. Mit
Beautiful Steps #5 setzen L/B ihre Untersuchung von Grenzbereichen fort.
In diesem Fall fungiert auch die Architektur des Schlosses als ein Hauptdarsteller in der unheimlichen Vision der Künstler: Zwei schmale Stiegen
führen auf rätselhafte Art und Weise auf die diagonalen Schlossfenster
zu, überqueren die Fenstersimse und schleichen sich ins Freie davon, setzen ihre Bahn fort und umschließen letztendlich den Turm des Schlosses
mit einer bescheidenen ringförmigen Plattform. Eine solche ortsspezifische Intervention gehört dem Genre der psychologischen Architektur an.
Teils wie ein Fluchtplan aussehend, teils wie Raumakrobatik à la Alice im
Wunderland fungiert sie als Medium einer Vorstellungskraft ohne Grenzen. Ihre elegante neutrale Struktur belebt die eher eintönige Fassade,
indem sie eine mögliche zweite Haut enthüllt, in einem für den Historiker
interessanten Sinne Spannung erzeugt und einen Verfremdungseffekt, der
eine kritische Haltung evoziert. Beautiful Steps #5 lässt sich vielleicht als
gebrochene endlosschleifenartige Gedankenlinie wahrnehmen, oder als
unmögliche Brücke ohne Zugang als Metapher für Eigensinn in einem als
Symbol für das bewehrte Ich zu sehenden Schloss. L/B durchdringen das
Verhältnis zwischen dem Drinnen und dem Draußen, dem Öffentlichen und
dem Privaten, dem Realen und dem Imaginären. Was entkommt dem Lauf
der Geschichte? Wie können wir die Zeit bewahren, die im Flug vergeht?
Was ist persönliche und kollektive Erinnerung? Das Projekt von L/B verweist auf die Bedeutung der Oberfläche – der Oberfläche, die zählt, der
Oberfläche der Bedeutung, einer Plattform des Sinns. Wir sind Erzeuger
der Ansichten der Welt, der Vielzahl der Ansichten. Die Brücke als Umarmung agiert als ein Ausdruck von Arendts Glauben an „gemeinsame
Interessen“ oder, wie Cicero gesagt hätte „gemeinsamen ‚Konsens‘“: esse
kann zu inter-esse, oder Interesse, werden. Inter-esse ist ein „ZwischenMenschen” und Grundlage und Ziel zugleich, sowie nicht nur Antithese
aller totalitären Systeme, sondern aller Formen von solipsistischer Isolation und transzendentalem Utilitarismus“.27 Doch, so wie das auch für
Wolff-Plotteggs algorithmische Architektur gilt, sind die Stiegen von L/B
nur Instrumente der Sinnlichkeit; sie sind nur ein Verlangen, ein Phantom
eines notwendigen Architekturgegenstandes – eines fehlenden…
22 — 23
Adam Budak
Pawel Althamer
Bródno, 2000, 2000
Common Task, 2009
28
Sarah Cosulich Canarutto:
Phenomenology of the
Invisible. In: New! Experience Clear and Perfect
Vision. Discover a New
Reality. Non-addictive/Nondeforming. Pawel Althamer,
19/10/02 – 03/12/02,
Comotato Trieste Contemporanea 2002, S. 13.
29
Pawel Althamer im Gespräch mit Maurizio Cattelan. In: Sarah Cosulich
Canarutto: Phenomenology
of the Invisible, S. 51.
Pawel Althamer und seine Klasse für Objektbildhauerei der Akademie
der Bildenden Künste, Wien
„Things You Can Walk Into“ oder: Zwischen Herstellen und Handeln
Die Bedingungen des Andersseins und Zustände der Fremdheit bilden den
Kern von Pawel Althamers Realitätswahrnehmung und seiner Auffassung
von der Kunst als therapeutische Aktivität. „Jeden Tag, wohin auch immer
ich gehe, fühle ich mich wie ein Außerirdischer, der gerade auf der Erde
gelandet ist. Sogar die Dinge, die ich wieder und wieder sehe, ziehen meine
Aufmerksamkeit auf sich, weil sie mir jedes Mal neu erscheinen. Und wenn
ich mein eigenes Schlafzimmer betrete, habe ich den Eindruck, dass ich es
jedes Mal durch eine andere Türe betrete.“28 Seine Kunst ist insgesamt,
ganz egal in welchem Medium, eine Art Kostümierung und nimmt die Form
einer Übung des erweiterten Selbstporträts an und den reinen Ausdruck
der Identität eines Außenseiters, der durch seine Verkörperung des archetypischen Schamanen einen privilegierten Zugang zur Realität innehat. Bei
seiner Ausübung zeitgenössischer gesellschaftlicher und privater Alltagsrituale fetischisiert Althamer sich selbst und seine Rolle als Kommunikator
mit dem „Außerhalb“ des normalen (Geistes-)Zustands und der herkömmlichen (soziopolitischen) Ordnung. Sein Werk – der Bau einer sozialen Skulptur – strahlt die gleichsam außerirdische Magie ritualistischer Überschreitung aus. „Ich bin ein Mitgefangener – das ist meine Rolle in der
Gesellschaft“29, bekennt der Künstler anlässlich einer seiner Interventionen. Außerhalb des Mythos, im Zwischenraum eines Rituals, werden die
Wirklichkeit und die Welt im Allgemeinen als Spielfilm wahrgenommen und
es ist die Rolle des Künstlers, die Bühne einzurichten und sanft einzugreifen, also Regieanweisungen zu geben und die Ereignisse und deren (lokale)
Protagonisten aufzuzeichnen – doch ohne auch nur eine einzige Filmrolle
zu verwenden. Dies ist die konzeptuelle Konstruktion der Mehrzahl der Projekte von Pawel Althamer, gemeinschaftsbasierten Projekten im öffentlichen Raum mit Protagonisten wie Obdachlosen, Häftlingen, Kindern, Passanten oder aber den Nachbarn des Künstlers wie im Falle der
monumentalen Performance/Aktion/sozialen Skulptur Bródno, 2000, die
zu einer eindrucksvollen Manifestation kommunalen Geistes wurde.
Ursprünglich geplant zur Feier des neuen Jahrtausends war Bródno, 2000
eine spektakuläre Lichtinstallation, die auf der Fassade eines Häuserblocks
im Warschauer Bezirk Bródno, also dem Wohnviertel des Künstlers, „performt“ wurde. Als Ergebnis der gelungenen, äußerst präzisen Zusammenarbeit der vielen, vielen Bewohner des Blocks ergaben die beleuchteten Fenster über die Länge des Blocks die Zahl 2000 in riesigen Ziffern. Als
perfektes Beispiel für die Kreuzung des Unmöglichen mit vermeintlich utopischer Kollektivität war Althamers Projekt ein Fest des Engagements und
ein Spektakel der Zugehörigkeit, das mithalf, viele Bedeutungen und
Bedürfnisse weit über den reinen Kunstkontext hinaus zum Ausdruck zu
bringen, indem soziale Anonymität aufgehoben und für gewöhnlich
Pawel Althamer und seine
Klasse für Objektbildhauerei der Akademie der
Bildenden Künste, Wien
Things You Can Walk Into,
2010 (Detail)
30
Sarah Cosulich Canarutto:
Phenomenology of the
Invisible, S. 13-23.
31
Susanne Cotter: Common
Task, Broschüre, Modern
Art Oxford, England, December 2009.
einander entfremdete Gesellschaftsgruppen aktiviert wurden. Der Künstler
verfolgt durch Assimilation und Eintauchen in die vorgegebenen Strukturen
die Taktik der sozialen Camouflage als künstlerische Strategie im Umgang
mit der Wirklichkeit und deren vorwiegend ökonomischer, politischer und
sozialer Konstruktion. „Phänomenologie des Unsichtbaren“ – mit diesen
Worten beschreibt Sarah Cosulich Canarutto Althamers quasi naiven und
bisweilen recht ephemeren Gesten, die jedoch auf überraschend starken
Widerhall stoßen und beinah kathartische Wirkungen zeitigen.30 Die Grenzen des Körpers überschreitend und sich frei in Raum und Zeit bewegend,
vermischt der Künstler auf beinah alchemistische Art und Weise Spirituelles mit Irrationalem, Reales mit Fiktivem und Materielles mit Immateriellem. Wir betreten eine metaphysische Erfahrungszone; wir sind im Begriff,
an einem geistigen Flug in Parallelwelten von seltsamer Vertrautheit teilzunehmen. Immer befeuert durch Spontanität und einen Sinn für das
Unvorhersehbare, verweist Althamers künstlerische Praxis auf Oskar Hansens „offene Form“, die dem Prozess den Vorzug gibt gegenüber dem singulären Objekt, einen Prozess, in dem der Betrachter durch aktive Teilnahme zum Ko-Autor des Kunstwerks wird. Wie Susanne Cotter anlässlich
von Althamers jüngstem Projekt Common Task (2009) bemerkt hat, „wird
das Leben um uns herum als Ort des erhöhten Bewusstseins und der Entdeckungen offenbart. In jeder Begegnung liegt Potenzial und die Möglichkeiten sind optimistisch gesprochen unendlich.“31 Pawel Althamers Beitrag
zur Ausstellung Der schaffende Mensch. Welten des Eigensinns ist eine
weitere Übung in der Kartierung eines solchen Felds der unendlichen Möglichkeiten. Realisiert in Zusammenarbeit mit Studierenden der Akademie
der bildenden Künste Wien (den Studierenden des erst unlängst an die
Akademie berufenen Professor Althamer) ist sein Projekt mit „offenem Konzept“ und dem Titel Things You Can Walk Into (Dinge, in die man hineinlaufen kann) eine wahrlich auf echter Erfahrung beruhende partizipatorische
Aktion/Performance/soziale Skulptur, ausgeführt in Form einer ziemlich
altmodischen Aktivität en plein air (d.h. einer Tätigkeit unter freien Himmel), womit im Frankreich des 19. Jahrhunderts der Akt des Malens im
Freien beschrieben wurde und heutzutage eine Form des kollaborativen
Schaffens außerhalb jeden institutionellen Kontexts, ausgeführt in einem
Eintauchen in das Leben einer Community. Das Campieren von Althamer
und seinen Studierenden auf Schloss Trautenfels verwandelt diesen Ort in
einen Schauplatz eines gemeinschaftlichen Rituals und das radikale und
dauerhafte Eintauchen in die Örtlichkeit der Region ermöglicht die Kommunion mit der einheimischen Bevölkerung und die Konstruktion einer sozialen Skulptur aus dem pulsierenden Stoff einer lokalen Community.
Althamer orchestriert soziale Situationen, manchmal offene, bisweilen
intime, in denen die Grenzen zwischen öffentlich und privat verschwimmen,
indem er sich selbst spielt und der reale Akt seiner eigenen Hochzeit in der
hiesigen romanischen Johanneskappelle eines der grundlegenden Elemente
der Dramaturgie des Projekts darstellt. Wir sind bereits Zeugen
24 — 25
Adam Budak
Christian Philipp Müller
Green Border, 1993
Performance anlässlich
der Venedig Biennale
eines weiteren Films im Kopf unter der Regie von Pawel Althamer, oder wir
berühren das authentische Gewebe des ganz gewöhnlichen Lebens, oder
aber wir erleben beides gleichzeitig, da wir offenbar bereits IN DIE DINGE
HINEINGELAUFEN SIND… In seiner Transzendierung der Grenzen des Vertrauten und Hinterfragung des Status des Aliens ist das Projekt Things You
Can Walk Into eine weitere Kritik an der Mentalität des Eigensinnigen. Der
Ruf nach Zusammengehörigkeit und ein Sinn für Zugehörigkeit und
Gemeinschaft, der so typisch für Althamers Künstlerethos ist, ist der Weltsicht des Homo faber ähnlich und erlaubt die Wahrnehmung des Künstlers
als reine Verkörperung der Vita activa: „Die Vita activa, menschliches
Leben, sofern es sich auf Tätigsein eingelassen hat, bewegt sich in einer
Menschen- und Dingwelt, aus der es sich niemals entfernt und die es nirgends transzendiert. (…) Es gibt kein menschliches Leben, auch nicht das
Leben des Einsiedlers in der Wüste, das nicht, sofern es überhaupt etwas
tut, in einer Welt lebt, die direkt oder indirekt von der Anwesenheit anderer
Menschen zeugt. Alle menschlichen Tätigkeiten sind bedingt durch die Tatsache, dass Menschen zusammenleben, aber nur das Handeln ist nicht einmal vorstellbar außerhalb der Menschengesellschaft.”32 Genau dort sollte
man Althamers Praxis ansiedeln – im Zwischenbereich zwischen Herstellen
und Handeln: „Dieser besondere Bezug, der das Handeln an das menschliche Zusammen bindet, scheint es vollkommen zu rechtfertigen, dass schon
sehr früh (bei Seneca) die aristotelische Bestimmung des Menschen als
eines zoon politikon, eines politischen Lebewesens, im Lateinischen durch
das animal socialis wiedergegeben wird, bis schließlich Thomas [von Aquin]
ausdrücklich sagt: ‚homo est naturaliter politicus, id est, socialis (Der
Mensch ist von Natur politisch, das heißt gesellschaftlich)’”.33 Das ist
genau die Gesamtdimension Pawel Althamers künstlerischer Praxis: Politik
und Gesellschaft.
Christian Philipp Müller
Space Rendez-Vouz,
2008
Manifesta 7, Rovereto
Strickmuster „Brennende
Liebe“
Christian Philipp Müller
„Burning Love“ oder: Das performative Porträt eines Lokalmatadors
32
Hannah Arendt: Vita activa,
S. 33.
33
Ebda., S. 34.
34
James Meyer, Christian
Philipp Müller: Ein Gespräch. In: Philipp Kaiser
(Hrsg.): Christian Philipp
Müller. Basel: Kunstmuseum Basel, Museum für
Gegenwartskunst 2007,
S. 41.
Christian Philipp Müllers kritische Kunstpraxis beschäftigt sich mit der
Kartierung der institutionellen und geopolitischen Parameter des Vernakulären. Sein Werk ist die Mise-en-scène verschiedenster Wissensdisziplinen, geschaffen von einem Künstler, der in die verschiedensten Rollen
schlüpft – Archivar, Forscher, Kommunikator und Performer. Dabei bleiben
die Themen nationale Identität und Konstruktion von Grenzen im Zentrum
von Müllers Untersuchungen der Ökonomien des jeweiligen Ortes und der
Politik der Zugehörigkeit. Für die Installation Grüne Grenze, die er 1993 für
den österreichischen Pavillon im Rahmen der Biennale von Venedig realisiert hat, überquerte der Künstler im Wanderer-Outfit acht Mal illegal Staatsgrenzen. „In meiner Anleitung zur Grenzüberquerung machte ich Vorschläge
für das beste Outfit, um mit der Landschaft zu verschmelzen. Heutzutage
ist der Tourist die unauffälligste Gestalt“34, bekennt der Künstler bei der
35
Ebda., S. 56.
36
James Meyer: The Functional Site. In: Platzwechsel.
Ursula Biemann, Tom Burr,
Mark Dion, Christian Philipp
Müller, Kunsthalle Zürich
1995, S. 25-29.
Beschreibung seines bahnbrechenden Projekts, das mittlerweile zu einem
Symbol für den künstlerischen Diskurs zur Politik nach 1989 und Themen
der nationalen Repräsentation geworden ist. Das gesamte Schaffen von
Christian Philipp Müller scheint ein Statement gegen den Eigensinn zu
sein. In einem Gespräch mit James Meyer räumt er ein: „Ich hasse starre
Identitäten. Ich glaube an multiple Identitäten (…) Wir werden alle auf Klischees reduziert. Wir werden typisiert, weil unsere Gesellschaft mit multiplen Identitäten nichts anfangen kann. Wenn ich über diesen Bach springe,
dann sehen Sie mich genau im Dazwischen, an der Grenze: Das ist es vor
allem, worum es in meiner Arbeit geht. Sie ist eine Hybride. Sie haben ein
Bild vor sich und eine Bildunterschrift, und sie versuchen dann im Kopf eine
Verbindung zwischen dem, was Sie sehen und dem was Sie lesen herzustellen. Was ich dabei erreichen möchte, ist die richtige Abstimmung. Ich
versuche das geeignete Medium, den Maßstab, den Raum und die Einbeziehung meines eigenen Körpers zu finden, um meine Botschaft rüberzubringen. Zum Beispiel zeigte ich in Venedig nicht das Werk von Christian Philipp
Müller. Ich präsentiere mich nicht selbst als das Produkt. Ich präsentiere
Umstände. Ich orientiere mich in der Arbeit an Themen, vorgegebenen und
selbst gewählten.“35 Seine für die Manifesta 7 (2008) konzipierte Feldarbeit/Installation/Performance Space Rendez-Vous ist ein komplexes ortsspezifisches Gebäude aus Querverweisen, in dem der Futurist Fortunato
Depero auf Weltraumeroberungsträume aus der Zeit des Kalten Krieges
trifft, die globale Industrie und folkloristische Allegorien. Müllers Carro
Largo-Parade, die bevölkert war mit in Trachten für Deperos festa dell’uva
im Jahr 1936 gekleideten Menschen war ein ehrgeiziger Versuch, unter Verwendung des kritischen Vokabulars einer globalisierten Welt die Dogmen
des Regionalismus neu zu schreiben. Christian Philipp Müllers Kunstpraxis
(zusammen mit dem Werk von u.a. Fred Wilson, Mark Dion, Andrea Fraser)
wurde von James Meyer als Erforschung des so genannten „funktionalen
Ortes“ beschrieben, einem erweiterten Ortsbegriff, der im Gegensatz zu
einem (physikalischen) festen Ort als „ein Prozess, ein sich zwischen Orten
vollziehender Vorgang, eine Kartierung institutioneller und diskursiver Verzweigungen und der sich dazwischen bewegenden Körper (vor allem dem
des Künstlers) verstanden wird. Es ist ein Ort der Informationen, Schauplatz des Ineinandergreifens von Texten, Fotografien und Videoaufzeichnungen, physikalischen Orten und Dingen: ein allegorischer Ort (…).“36 Nach
dieser Definition ist das Werk eine Bewegung, eine Bedeutungskette; eine
Funktion erscheint in der Passage zwischen Orten und Blickwinkeln. Meyer
unterstreicht die Bedeutung des Zusammentreffens zwischen dem Produzenten und dem Ort, an dem die grundlegenden Identitäten des Künstlers und einer Gemeinde zusammenfallen oder ernsthaft herausgefordert
werden. Eine solche Praxis weist Züge einer „diskursiven Performativität“
auf, einer bestimmten Form der sozialen Maskerade, die tiefergehende
Forschung, kritisches Engagement und Identifikation mit dem Thema bzw.
dem untersuchtem Subjekt erleichtert.
26 — 27
Adam Budak
Christian Philipp Müller
Burning Love
(Lodenfüßler), 2010
Müllers Burning Love (Lodenfüßler), das er für die Ausstellung Der schaffende Mensch. Welten des Eigensinns vorbereitet hat, ist eine vielschichtige, beinah monografische Erforschung der regionalen Identität durch die
ganz besondere Fallstudie einer für das Ennstal typischen Tradition – der
Herstellung von Loden, einem dicken Wollstoff, der von der Textilindustrie der Region zur Herstellung von einheimischer Mode verwendet wird.
Der sinnliche Projekttitel ergab sich aus der Aneignung des Namens eines
Musters – „Brennende Liebe“ – das von lokalen Sockenherstellern (Lodenfüßler) entwickelt wurde und dem der Künstler im Rahmen des Besuchs
eines in Schloss Trautenfels stattfindenden Handarbeitstreffen erstmals
begegnet ist. Müllers Burning Love (Lodenfüßler), das Einblicke in Herstellung und Gebrauch einer Tracht liefert, die für nationale Identität und
ein Gefühl von Zugehörigkeit steht, spürt nicht nur den Mechanismen
des Handwerksethos und der Konstruktion vom Nationalstolz und Emanzipation nach, sondern definiert auch Tradition als Synergie von Leben
und Gemeinschaftsgeist und artikuliert ein Bedürfnis nach (historischer
und ideologischer) Kontinuität und kultureller Vielfalt, wie es in einem im
Katalog von Loden Steiner 2009/2010 gefundenen Slogan zum Ausdruck
gebracht wird: „Zukunft braucht Herkunft, denn je globaler die Welt, desto
wichtiger die Wurzeln”. Müllers Projekt umfasst eine ganz besondere Performance: eine Prozession über 42 Kilometer mit 25 Einheimischen, die eine
Art kollektive Tracht aus einem 50 Meter langen Lodenstoff von Steiner als
spektakuläre mobile Skulptur durch das Ennstal hinauf zum Landschaftsmuseum Schloss Trautenfels tragen. In seiner Reise zwischen den Kontexten, die immer zu engen Grenzen nur eines kulturellen Ausdrucks hinter
sich lassend, bringt der Künstler hier eine Mise-en-scène auf die Bühne, die
gleichermaßen bodenständig wie weltgewandt ist, da sie, unter anderem,
an die Aktionen von James Lee Byars anklingt, der 1968 das größte Kleid
der Welt hergestellt hat, mit dem 500 Menschen um die Häuserblocks von
New York zogen, oder an die Arbeiten von Christo, Helio Oiticica oder Robert
Morris. Müllers unheimliche Verschmelzung von Modeschau und Ritual ist
ein einzigartiges und einmaliges performatives Porträt eines Lokalmatadors – die Feier einer Leidenschaft, die man oft „brennende Liebe“ nennt“…
Kateřina Šedá
„Es gibt kein Licht am Ende des Tunnels“ oder:
Die Möglichkeit von Katharsis
Kateřina Šedás künstlerische Praxis ließe sich vielleicht als Chronik der
kollektiven Erinnerung und Storyboard des sozialen wie individuellen
Imaginären beschreiben. Präziser formuliert sind es die Überschneidungen zwischen dem öffentlichen und dem privaten Bereich, die den Inhalt
wie den Umfang des beeindruckenden Werkkorpus der tschechischen Künstlerin ausmachen. Ihre Grafiken, Videos und Installationen sind Musterbeispiele für einen neokonzeptuellen Ansatz, bei dem der dokumentarische
Kateřina Šedá
It Doesn‘t Matter,
2005
Over and Over,
2008, Berlin Biennale
Modus der persönlichen Erfahrung der Realität gefiltert durch die Linse
künstlerischer Manipulation entspricht. Šedá manipuliert Wahrnehmung
wie Imagination von kommunalen Strukturen, aber auch ihrer eigenen Familie, und erzielt dabei unerwartete, beinah magische Ergebnisse, irgendwo
an der Schwelle zum Unbewussten. Weder interventionistisch noch aktivistisch birgt ihre Kunst mit ihrer Einfachheit und vorgeblichen Naivität eine
therapeutische Kraft in sich, fähig zu beinah revolutionären Veränderungen. Die Künstlerin kombiniert in ihrer Untersuchung der Bedingungen von
„Normalität“ und der Aufstellung ihres eigenen subjektiven moralischen
Werteindex Vertrautes mit Verdrängtem, die große Erzählung mit der
kleinen und gewöhnlichen. Auch das Gefühl für Wichtigkeit wird aus dem
Gleichgewicht gebracht: Kateřina Šedás Interesse gilt Neubewertungen von
Verhaltensmustern und Urteilssystemen. Für gewöhnlich ist die Alltagsroutine Ausgangspunkt ihrer gleichsam soziologisch motivierten und oft
psychologisch intensiven Untersuchungen des Alltäglichen. It Doesn’t Matter (2005), eine Grafikenserie und ein Video, ist ein repräsentatives Beispiel
für Kateřina Šedás Strategie: Hier erlegte die Künstlerin ihrer inzwischen
verstorbenen Großmutter die Aufgabe auf, aus dem Gedächtnis so viele
Produkte zu zeichnen, die sie in mehr als 30 Jahren im Haushaltswarenladen der Familie in ihrer Heimatstadt Brno verkauft hatte, und rettete die
alte Frau somit aus der tiefen Depression, in die sie in ihren letzten Lebensjahren gefallen war. It Doesn’t Matter als auferlegte Nachstellung der Vergangenheit ist ein Tableau des Gedächtnisses und des Akts des Erinnerns,
ein Leben in seiner aufrichtigsten und elementarsten Form. Berührend und
höchst intim, sorgt dieses Werk für eine Neubelebung der Kunst als soziale
Praxis und verringert ihre Losgelöstheit von der Banalität des Alltags. Šedá
betrachtet die Kunst als Instrument der Kommunikation und des Handelns
bzw. Agierens - oder vielmehr Reagierens - in Not- oder Konfliktsituationen.
Ihr prozess- und gemeinschaftsbasiertes Projekt Over and Over (2008) ist
ein Mikroporträt der heutigen Gesellschaft und die eingehendere Untersuchung der Künstlerin der Veränderungen der Mentalität der Menschen unter
dem Einfluss der politischen und gesellschaftlichen Umwälzungen, die sich
in Kateřina Šedás Heimatland, Tschechien, vollzogen haben. Ein architektonisches Element, das normalerweise kommunale Verbindungen trennt
oder eindämmt, ist hier der Protagonist: der Zaun einer privaten Umgebung
und das dazugehörige Gartentor. Šedás 40 Nachbarn aus einem Vorort von
Brno wurden darum gebeten, die Zäune zwischen ihren Eigenheimen zu
überqueren und wurden darauf nach Berlin eingeladen (da Over and Over
ein Auftragswerk der Berliner Biennale war), um auch dort ihre Zäune aufzubauen und erneut ein offenbar kathartisches Ritual des Zusammenseins
und der Trennung zur Aufführung zu bringen. Im Kern partizipatorisch, ist
dieses Projekt eine recht ironische Fallstudie einer ganz gewöhnlichen Aufgabe und eine Untersuchung dahingehend, was denn eigentlich die Menschen wirklich verbindet. Projekte aus jüngster Zeit wie What Can I Do?
und It Can’t Be Helped, die in kleinen Gemeinschaften in der Stadt bzw.
28 — 29
Adam Budak
Kateřina Šedá
Es gibt kein Licht am
Ende des Tunnels,
2010
auf dem Land durchgeführt wurden, wären noch weitere zwei Beispiele für
Šedás Kritik an Gentrifizierung, Landbesitz und globalen Ökonomien, die
die Ursache für Stadtsanierungen bilden und die Entscheidungen von multinationalen Konzernen beeinflussen. In beiden Fällen wird durch lächerliche Baumaßnahmen entweder die Landschaft vor Ort zerstört oder die
Bewegungsfreiheit und der Komfort der Anwohner ernstlich getrübt. Das
dunkle Metalltor eines neuen Eigentümers versperrt den Weg und nimmt
dem Bereich jedes Sonnenlicht; eine neu errichtete Industriezone mit einer
riesigen Autofabrik nimmt auch ihre Umgebung in Beschlag, indem sie sie
etwa mit einer aggressiven Flut künstlichen Lichts blendet. Das Gefühl von
Resignation und Hoffnungslosigkeit angesichts der Macht der politischen
Autorität überwiegt in Kateřina Šedás emotional aufgeladenen Untersuchungen des Scheiterns und der Absurdität. Die Unmöglichkeit von Kommunikation (einschließlich des Scheiterns des Zusammengehörigkeitsgefühls),
Ignoranz, Menschenrechtsverletzungen, Nichtachtung der Privatsphäre –
das sind die wichtigsten Themen von Kateřina Šedás Projekten, die quasi
als Lautsprecher fungieren, für vorwiegend marginale Gemeinschaften/
Gemeinden, die von Global Playern unter Druck gesetzt wurden.
Die Künstlerin beschreibt die Entstehungsgeschichte ihres neuen für die
Ausstellung Der schaffende Mensch. Welten des Eigensinns in Auftrag
gegebenen Projekts als in der Tat neue Erfahrung, die sich wirklich von
ihren bisherigen Projekten, die vorwiegend mit Tschechien zu tun hatten,
unterscheidet: Als sie die einheimische Bevölkerung des Ennstals darauf
ansprach, erfuhr sie, dass in dieser (geografisch und politisch) offenbar
idyllischen Landschaft keinerlei Wunsch oder Bedürfnis nach Veränderung
besteht. Darüber hinaus wird das alles beherrschende Naturschauspiel, der
Grimming, nicht als Barriere betrachtet, von der Landschaft und Menschen
voneinander getrennt werden, sondern vielmehr als zentrale Schnittstelle,
die alles auf den Punkt bringt: Von der Künstlerin aufgefordert, sich vorzustellen, was sich hinter dem Berg befindet und das, was sich genau hinter
dem Berg befindet, zu zeichnen, lieferten die Einheimischen der Künstlerin ein perfektes Bild von hoher Präzision. Der Berg schien durchsichtig zu
sein; der Sichtbarkeits- oder Wahrnehmungstest der Künstlerin scheiterte
… oder war letztendlich ganz unerwartet erfolgreich! Jedenfalls brachten
weitere Nachforschungen Kateřina Šedá auf den wahren Kern der entdeckten lokalen Kontroverse: der geplante Bau des größten Kreisverkehrs
Österreichs, und zwar mitten in einem Ortszentrum, mit dem zwar der Transitverkehr erleichtert und das Problem mit dem Durchzugsverkehr gelöst
sein, aber die bestehende Raumorganisation zerstört würde, das Dorf
praktisch durchschnitten und somit das Leben der Bewohner schwieriger
würde. Diese Entscheidung wurde nun schon seit beinahe drei Jahrzehnten heiß debattiert und konnte bislang von Interessensgruppen, Bürgerinitiativen wie LIEB, NETT und der Kampagne „Stop Transitschneise Ennstal“
erfolgreich verhindert werden. Mit ihrem Projekt Es gibt kein Licht am
Ende des Tunnels erweitert Kateřina Šedá ihr Interesse an Metaphern des
Lichts und der Blendung, der Sichtbarkeit und der Transparenz, als Instrumente einer aktiven Kritik an Modernisierung und Industrialisierung. „Der
geplante Kreisverkehr, genauso wie die Autofabrik mit ihrem Licht, blendet
die Anwohner und die Menschen können sich durch die Dunkelheit gar nicht
sehen“, meint die Künstlerin und stellt sich die Aufgabe „eine Möglichkeit
zu finden, wie die größtmögliche Personenanzahl durch das blendende
Licht (den Kreisverkehr) verbunden werden und auf diese Art und Weise ihr
Blick nur in eine Richtung gelenkt werden kann.“37 Šedá organisiert eine
ganz besondere performative Zeichensession von kollektiver Urheberschaft, indem sie die Einheimischen dazu auffordert, den Kreisverkehr mit
verbundenen Augen mit Buntstiften zu zeichnen. Diesem Konzept folgend,
zusammengefügt und geschichtet, bieten die überlappenden Zeichnungen
eine „einheitliche“ Sicht auf einen höchst problematischen Gegenstand –
einen metaphorischen, beinah halluzinatorischen Knoten aus den verschiedensten Vorstellungen und Erwartungen. Hier in diesem kritischen Akt der
Gruppentherapie betritt das Individuum die kommunale Ebene und erreicht
auf auf diese Art und Weise möglicherweise die Neuverhandlung oder
Erweiterung der Grenzen des Eigensinns.
Franz Kapfer
“Sieh-Dich-Für” oder: “My Home Is My Castle”, einmal umgekehrt
Franz Kapfer
Zentaur, 2004/05
37
Katerina Seda: Es gibt kein
Licht am Ende des Tunnels,
Projektbeschreibung.
38
Roger M. Buergel in: Franz
Kapfer/Emil Varga, Katalog.
Fotogalerie Wien, 2003.
Die Untersuchung von Klischeedarstellungen bildet die Grundlage für viele
Projekte des in der Steiermark geborenen Künstlers Franz Kapfer. In seinen bildhauerischen Interventionen und auf Video, inszenierter Fotografie
und Performance beruhenden Arbeiten werden in einem Akt der Herstellung
der ganz persönlichen Privatmythologie des Künstlers – einem subjektiven
Theater der männlichen Identität, da, in den Worten Roger M. Buergels,
Kapfer „mit der dynamisierten Pose, der Maskerade oder der Dramatisierung
seiner eigenen Erscheinung arbeitet“38 – antike und christliche Ikonografien
einer Neubetrachtung unterzogen. Seine Kunstpraxis beruht auf einer Performativität, die auf die Tradition der Performancekunst und der Body Art
der 1970er-Jahre verweist. Es finden sich auch Anklänge an die Poetik des
mittelalterlichen Theaters und sie erinnert auch an die Figuren der Commedia dell‘ arte mit ihrer für das Bachtinsche Karnevaleske typischen Körperlichkeit, Groteskheit und ihrem so genannten „Realismus auf einer niedrigeren Ebene“. (Männliche) Körperpolitik und Sexualität stehen im Zentrum
seiner kritischen Untersuchungen von Identitätsbildung (Gender-Diskurs),
Gesellschaftsstrukturen (Faschismus, Familie) und Religion (Katholizismus), die er in Form einer Reihe von performativen Travestie-Tableaus zur
Aufführung bringt. Indem er in Rollen aus der Mythologie oder der Weltgeschichte schlüpft, Rituale nachstellt und deren Symbolsprache hinterfragt,
untersucht Kapfer die Darstellungsmuster, von denen unsere Vorstellung
und Wahrnehmung der Welt geprägt ist. Mal als mythologischer Pan verkleidet, der seine Freundin verführen möchte, mal als Zentaur, der seiner
30 — 31
Adam Budak
Franz Kapfer
Rom 2003, 2004
Wunderwürdiges Kriegsund Siegs-Lager, 2008
Tochter näher kommen möchte, aber immer wieder an ikonische Figuren aus
der Welt der Mythen, Sagen und Legenden erinnernd, probt der Künstler
auf offenbar selbstironische Art und Weise seine Vater- und Liebhaberrolle.
Fruchtbarkeit, Sexualität, Liebe, Familie, Vaterschaft – dies sind die großen
Themen aus Kapfers Repertoire, in dem Scheitern, Impotenz und Illusion
quasi als Chor hinter der Bühne den Plot kommentieren. (Nicht nur) das
mythologische Kostüm hilft dem Künstler, die falsche Seite der Wirklichkeit
zu entlarven: indem er seiner Tochter im Video Zentaur (2004/5) „Höre, höre
Tochter, alles ist Lüge“ ins Ohr flüstert; indem er die Binsenweisheit „Die
Welt ist eine Bühne“ postuliert, während sein eigener Körper mit bildhauerischen Mittel neu gestaltet wird und in mimische Interaktion mit den Steinbildern des Brunnens auf dem Salzburger Kapitelplatz (1991) tritt, oder mit
dem Denkmal von Kaiserin Elisabeth (1991) und dem St. Sebastian Friedhof
(1991) in seiner Performance Festspiele; oder, indem er mit den Plastiken in
Rom 2003 (2004) aus seinen skulpturalen Objekten ein trügerisches Idyll
schafft, das - obwohl es auf Fruchtbarkeitssymbole der österreichischen Alpenwelt verweisen und italienische Glaskunst simulieren soll - zum Großteil
aus weggeworfenen Plastikflaschen besteht, die er in Rom als Müll eingesammelt hat.
Kapfers Theater ist ein Brecht’sches Theater. Gesellschaftskritik, Geschichte und Politik ergänzen das Themenspektrum, das auf der Bühne dieses
Künstlers zur Aufführung gelangt. Seine Installation und Architekturintervention Wunderwürdiges Kriegs- und Siegs-Lager des Prinzen Eugen
(2008/09), die er für das Obere Belvedere realisierte, vergrößert durch unterhalb aufgestellte große Spiegel einige der weniger gut sichtbaren Fragmente des Deckenfreskos im Marmorsaal, insbesondere jene, auf denen die
von vier türkischen Sklaven erlebte Unterdrückung und deren Wehklagen
dargestellt sind und welche neben den Allegorien der Tugenden des Prinzen die Zeit überdauert haben. Inmitten des herrlichen Interieurs errichtet,
umreißt die scheinbar abstrakte minimale Struktur sowohl das Siegeslager
des Prinzen als auch ein Türkenzelt. Kapfers Installation Trophäen (2010)
ist eine Sammlung von skulpturalen Silhouetten von klischeehaften türkischen Motiven, wie sie in der österreichischen Architektur zu finden sind.
Den Künstler interessieren die Überführungen von Ideen und die verborgenen Motive des Kulturapparates, wie sie etwa beim Status des Bildes in der
heutigen Gesellschaft sowie bei der Konstruktion einer Symbolsprache der
Repräsentation zum Ausdruck kommen.
In der für die Ausstellung Der schaffende Mensch. Welten des Eigensinns
realisierten Installation Sieh-Dich-Für untersucht Franz Kapfer die Eigenheiten der einheimischen Architektur des Ennstals. Auf Architektur wie
Geschichte von Schloss Trautenfels verweisend, sowie auf einen seiner Besitzer, General Trauttmansdorff („Am liebsten experimentierte er, General
Siegmund J. von Trauttmansdorff, ausgiebig in seinem militärischen ‚Labo-
Franz Kapfer
Trophäen , 2007
Sieh-Dich-Für, 2010
39
Franz Kapfer: Sieh-Dich-Für,
Projektbeschreibung.
ratorium’, das er sich auf der Bastei hatte einrichten lassen. Durch seine
spontanen Schießübungen und Probesprengungen erschreckte er die Bevölkerung, die zunächst mit einem anrückenden Feind rechnete, immer wieder”), und auch auf die so genannte Alpenfestung und deren historischen
und ideologischen Hintergrund (am Toplitzsee experimentierte ab 1943
das „Torpedolaboratorium” der Seemarine, gegen Ende des Krieges wurde
das Ausseerland angesichts der unmittelbar bevorstehenden militärischen
Niederlage als „Alpenfestung des Dritten Reiches“ propagiert39, führt der
Künstler eine vergleichende Studie zu privaten wie öffentlichen Mustern der
Raumorganisation durch und zeichnet Beziehungen nach zwischen auf der
einen Seite militärischem Design (V2-Raketen, Minen, Bomben usw.) und
Verteidigungsarchitektur (Burgbasteien und Befestigungen) und, auf der
anderen, der Art und Weise wie die einheimische Bevölkerung ihre intimste und privateste Wohnumgebung gestaltet, inklusive Gartengestaltung
und Landschaftsarchitektur der Umgebung. Die Wohnhäuser der Menschen
mit ihren massiven hohen Zäunen, die aus dichter Vegetation herausragen,
verwandeln sich hier in kleine Festungen und Tempel der Privatsphäre des
in höchstem Maße beschützten Lebens; die gesamte häusliche Umgebung
erinnert an eine Art „Gated Community“, eine gefängnisartige, eher aggressive und brutalistische, wenn auch sterile und elegante und von der
sie umgebenden Welt abgekapselte Kleinbürgerwohnsiedlung. Kapfers
theatralische Installation ist fürwahr eine Recherche der Bildung (einheimischer) Mentalität und Wahrnehmung, sowie des Wesens einer unterbewussten Referenz, von der die einheimische Wohnarchitektur beeinflusst
ist. Seine Skulpturen von mauerartigen Zäunen und raketenartigen Thujen
sind überzeugende Metaphern des Eigensinns – Monumente der Isolation,
der Engstirnigkeit und des antikommunalen Geistes. Aufgestellt im Freien,
auf einer der Terrassen des Schlosses, steht die monumentale Textskulptur
Sieh-Dich-Für, die auf den eigentlichen Namen der Bastei verweist, für Franz
Kapfers subjektive Definition von Eigensinn, und suggeriert die Unmöglichkeit von Kommunikation, Unzugänglichkeit und ein verzweifeltes Bedürfnis
nach Unabhängigkeit und Emanzipation. Kapfer setzt sich hier ironisch mit
„My home is my castle“ auseinander, einem an und für sich freundlichen,
guten alten englischen Sprichwort, das hier aber doch pejorativ besetzt ist,
als Sehnsucht nach Abtrennung und Entfremdung, nach Herstellung unsichtbarer abgeschlossener Welten, die weder Zugang noch Einblick bieten.
Darüber hinaus liefert er noch einen kritischen Kommentar auf das noch
immer präsente Erbe des Faschismus und dessen autoritären Denkmustern.
Eindrucksvoll und triumphierend überblickt Kapfers Skulptur Sieh-Dich-Für
die Landschaft und sieht der Bevölkerung ins Auge – als provokanter Ruf
nach einem notwendigen Wandel.
34 — 35
Simply Beautiful
Über das Moment des Schönen
im Werk von Lang/Baumann
1
Lang/Baumann:
Beautiful Book. Zürich:
JRP | Ringier 2008.
Christoph Doswald
In Marmorsaal von Schloss Trautenfels in der Nähe von Graz sollen nun
weitere Kapitel dieses L/B-Schönheitsdiskurses geschrieben werden:
Beautiful Steps #3, eine Skulptur in Form einer 12 Meter langen, leicht
gekrümmten weißen Treppe, die horizontal über den Köpfen der Betrachter im Barocksaal schwebt. Und wie fast immer, wenn L/B das Thema
Schönheit anpacken, geschieht dies mit einem architektonischen Echoraum - so auch bei den schönen Stufen, die sich im Milieu des feudalen
Herrensitzes breit machen, ihre behauptete minimalistische Schönheit
mit der herrschaftlichen Kulisse in Dialog bringen: ein Wort- und Formenwechsel zwischen barocken und modernistischen Ordnungssystemen.
Allzu gerne möchte man sie beschreiten, diese formreinen Treppenstufen,
die in den farbüberladenen, elysischen Himmel zu führen versprechen;
man möchte den Boden der Realität verlassen: schwebend, träumend,
lustwandelnd, sich der Verführungskraft hingebend, auf Augenhöhe mit
Göttern und Engeln.
Im ästhetischen Diskurs der Jetztzeit herrscht ein merkwürdiges Misstrauen gegenüber dem Schönen, das sich im Wesentlichen auf die Paradigmen der Moderne zurückführen lässt. Verkürzt gesagt geht es um
Fragen der Wirklichkeit, der Authentizität, der Wahrhaftigkeit und der
Glaubwürdigkeit. Schönheit steht immer im Verdacht, diese normativen, aufklärungsmodernistischen Kriterien nicht zu erfüllen. Die schöne
Oberfläche stellt zwar einen durchaus geschätzten gesellschaftlichen
Wert dar, doch steht sie immer im Verdacht, die möglicherweise dahinter
liegende wirkliche Wirklichkeit zu manipulieren, sie zu verfälschen und
zu camouflieren. Bei der Beurteilung von Kunstwerken ist dieser Widerspruch noch ausgeprägter anzutreffen.
L/B
Street Painting #1, 2003
Môtier, Schweiz
Das aus der Schweiz stammende Künstlerpaar Sabina Lang (*1972) und
Daniel Baumann (*1967), das unter dem Kürzel L/B firmiert, beschäftigt
sich in seinem Werk häufig mit diesem Paradoxon des Schönen. Es gibt
Beautiful Walls, Beautiful Windows, Beautiful Corners, Beautiful Entrances, den Beautiful Floor, die Beautiful Steps, das Beautiful Mezzanine,
den Beautiful Carpet und die Beautiful Lounge – und schließlich auch ein
Beautiful Book1, das diese seit 1991 andauernde Beschäftigung mit dem
Schönen dokumentiert. Man könnte mittlerweile fast ein ganzes Gebäude
mit den Versatzstücken dieser künstlerischen Tätigkeit errichten.
Marmorsaal um 1940
36 — 37
L/B
Dass bei solchen Verlockungen durch das Schöne immer irgendwo der
Absturz lauert, ist ein kulturgeschichtlicher Topos, der sich in unser tiefstes Unterbewusstsein eingebrannt hat. Besonders deutlich wird das bei
jener Skulptur, die L/B als Beautiful Steps #5 an die Außenwand eines
rund laufenden Eckturms von Schloss Trautenfels applizieren. Im Obergeschoss des Turms erschließen zwei Treppen, die durch bestehende Außenfenster geführt werden, einen um die Außenfassade laufenden Steg.
Die Treppenaufgänge sind begehbar, sodass für Besucher des Schlosses
der Eindruck entstehen muss, auch der Steg könne benutzt werden. Ein
Irrtum: Der umlaufende Steg hat kein Geländer und ist in Leichtbauweise
gefertigt, sodass die Konstruktion höchstens eine symbolische Tragfähigkeit aufweist. Simply beautiful. Schön, aber nicht benutzbar.
Eingangsbereich Schloss Trautenfels
mit architektornischen Elementen
von Manfred Wolff-Plottegg
Stiegentür in Schloss
Trautenfels, Manfred
Wolff-Plottegg
L/B
Beautiful Steps #5, 2010
(Rendering Innenansicht)
38 — 39
L/B
Doppelwendeltreppe in der Grazer Burg, um 1500
40 — 41
L/B
2
Vgl. hierzu das Projekt
Höhenrausch, das im
Rahmen des Kulturhauptstadtprogramms
über den Dächern von
Linz 2009 realisiert
wurde.
L/B
Beautiful Steps #3, 2010
(Fotomontage, Marmorsaal)
Beautiful Steps #3, 2009
Le Confort Moderne, Poitiers
Mit Gegenwartskunst vertraute Betrachter mögen sich dieser Frage der
Benutzbarkeit differenziert nähern. Denn es gab ja bereits komplette
Ausstellungen, die sich mit der Rekontextualisierung von Museen oder
Ausstellungsräumen beschäftigt haben, oder die mit einer PerspektivenVerschiebung nach oben dem White Cube aus luftiger Höhe einen neuen
Blickwinkel zu verleihen versuchten.2 Beautiful Steps #5 ist jedoch keine
begehbare Skulptur, die nach Benutzbarkeit verlangt, sondern eine
Intervention, die auf subtile und vielfältige Weise mit unserer Vorstellungskraft spielt: Theaterkulisse, Architekturdiskurs, Design-Tourismus,
Freizeitgesellschaft, Jugendkultur, Zukunftsgläubigkeit, Retrovision um diese Ambivalenz der Wahrnehmungen, um diese Ausdifferenzierung
im post-postmodernen Bewusstsein geht es bei den vordergründig so
spektakulären archiskulpturalen Interventionen, die L/B unter dem Deckmantel des Schönen in unsere Welt bringen.
42 — 43
L/B
L/B
Beautiful Steps #2, 2009
11. Schweizerische Plastikausstellung, Stadt BielBienne
L/B
Beautiful Steps #4, 2009
Le Confort Moderne, Poitiers
44 — 45
L/B
L/B
Comfort #3, 2005
KBB, Barcelona
L/B
Comfort #6, 2008
Madrid
46 — 47
L/B
Diving Platform, 2005; Marks Blond Project, Bern
L/B
Spielfeld #2, 2004; Zollkanal Speicherstadt, Hamburg
50 — 51
Ein Glashügel und beleuchtete Kreuzungen
Tomáš Pospiszyl
I
Einige von Kateřina Šedás Projekten verströmen ein besonders rustikales Flair: Sie behandeln nicht die aktuellsten globalen Themen, sondern
beziehen sich auf Individuen und Gemeinschaften, die wahrscheinlich
normal scheinen, alltäglich und marginal. Sie interagieren mit Orten, die
die dramatischste Periode ihrer Existenz schon hinter sich haben: das
kleine staubige Dorf Ponětovice, die nicht besonders beeindruckende
Gegend von Líšeň oder das vergessene ostdeutsche Loch Uhyst, aus dem
jeder, der etwas aus seinem Leben machen wollte, längst weggezogen
ist. Wenn es etwas gibt, das diese Orte verbindet, ist es ihre besondere
posttraumatische Situation. Es sind Orte, die jeweils in einer bestimmten
Situation aufgebaut wurden, die sich in der Zwischenzeit substanziell
verändert hat. Die politischen Regime haben sich dabei ebenso geändert
wie die Art des Lebensunterhalts und des beidseitigen Kommunizierens;
Zivilisationszyklen wurden ausgewechselt. Als Generatoren des europäischen Wohlstandes sind Dorf und Landwirtschaft seit Langem ersetzt
worden. Nicht sosehr durch die Industrie, sondern durch eine abstrakte
Dienstleistungsökonomie und die unklaren Regeln der Weltwirtschaft.
Das sozialistische Wohnungsprojekt, das Dorf und die Kleinstadt müssen
sich mit einer Zeit arrangieren, die sich von jener, in der sie geformt wurden, vollkommen unterscheidet.
Die Situation, dass Menschen noch immer mit einem Fuß in der Vergangenheit leben, mag für das postkommunistische Europa typisch erscheinen. In dieser Hinsicht ist der österreichische Ort Trautenfels keine
Ausnahme. In Osteuropa sind die neuen sozialen Konstellationen nach
Jahrzehnten der Stagnation nur umso sichtbarer. Sogar in einem österreichischen Tal wird das Leben seit Langem von der Tourismusindustrie,
und nicht von der Landwirtschaft diktiert.
II
Die Kunst ist ein Werkzeug, das die Veränderungen der Welt einfangen
kann. Es macht – manchmal unabsichtlich oder als Nebenprodukt – die
Beziehung zwischen Mensch und Natur und seiner Umgebung sichtbar.
Die Kunstgeschichte hat aufgezeigt, auf welche Art Künstler wie z.B.
Jean-François Millet, Gustave Courbet oder die Impressionisten des 19.
Jahrhunderts den Wandel in der menschlichen Naturwahrnehmung bildlich darstellten. Durch die moderne Art zu leben spielte die Landschaft
nicht nur für die Existenzgrundlage eine Rolle, sondern wurde auch zu
einem Ort der Kontemplation, zu einem Hilfsmittel der menschlichen
Subjektivität. Die zuvor genannten Künstler leisteten nicht mehr oder
weniger, als in der Landschaft zum ersten Mal das zu sehen, was ihre
Vorgänger immer noch nicht sehen konnten. Die Beziehung zur Natur
ist nicht länger das dominierende Element der menschlichen Existenz.
Wesentlich mehr Macht über sie hat etwas, das wir soziale Natur nennen
können. Dennoch widerspiegeln die von Menschen besiedelten Landschaften ihre Zivilisation akkurat. Vorstadtbauten, Industrieanlagen oder
sogar ein Blick auf Hochspannungsleitungen symbolisieren perfekt die
Beziehungen und Werte einer Gesellschaft, die diese verwendet. Diese
Gesellschaft ist von zentralisierten Energieressourcen und von Mobilität
abhängig. Die Landschaft wird von einer Geometrie der Straßen durchdrungen, die – im Gegensatz zu jenen der Vorzeit – von völlig neuen Gesetzen regiert werden. Autobahnen, Überführungen oder Kreisverkehre
haben klar definierte Transportfunktionen. Wir können sie aber als Metaphern der Funktionsweise der Gesellschaft wahrnehmen – als irrationale
Symbole bisher unbekannter moderner Religionen.
52 — 53
IV
Kateřina Šedá
III
Kateřina Šedá gibt zu, dass sie die Organisatoren von Ausstellungen
wohl manchmal zur Verzweiflung treibt. Man kann schwer abschätzen,
wie lange sie an dem neuen Projekt gearbeitet hat. Sie weiß nicht, wann
genau es ihr gelang, einen Weg zu finden, um auf diese neue Herausforderung zu reagieren. Dazu kommt, dass Trautenfels ein idyllischer Ort
ist. Die Einwohner selbst tun sich schwer, etwas zu benennen, das sie
gerne geändert hätten. Als ob das Ausmaß dessen, was in ihrem Leben
veränderbar ist, bereits vom großen Grimming ausgefüllt wird, der für
jeden Tag und jede Jahreszeit ein eigenes, besonders wandelbares Licht
aufweist.
Zuerst ließ Šedá die Einheimischen das zeichnen, was hinter dem Hügel
liegt, auf dem Schloss Trautenfels steht. Aufgrund der Erfahrungen in
ihrem Heimatland erwartete sie, dass der Hügel als ein Hindernis wahrgenommen würde und die Einheimischen nur eine dunkle Ahnung von der
Welt hinter ihm haben. Es zeigte sich aber, dass der Hügel ein natürlicher Teil des Lebens der Einwohner von Trautenfels ist. Er repräsentiert
keine physische Barriere, sondern einen Punkt, der Menschen aus den
umliegenden Gegenden verbindet. Es ist, als könnten sie ganz bis zum
Tal hinüber sehen. So als wäre der Hügel aus Glas. Aber was kann man
als Malerin mit einer Landschaft anfangen, die transparent wie Glas ist?
In ihr kann man nichts sehen.
Der Kreisverkehr, der im Zuge der Vorbereitungen für die Ski-Weltmeisterschaft in Schladming geplant ist, hat die Atmosphäre im Dorf radikal
verändert. Mit einer Breite von 60 Metern wird er die größte Konstruktion
dieser Art in Österreich sein – und wird die Stadt förmlich in mehrere Segmente zerteilen. Der geplante Kreisverkehr machte plötzlich das ganze
Dorf, seine Gemeinschaft und Lebensweise sichtbar.
Kateřina Šedá strebt nicht nach seichtem politischem Aktivismus, der
danach bewertet werden kann, wie sehr durch ihn die Welt korrigiert
wurde. Das ist das Ziel der Politik, die Šedá von der Kunst zu unterscheiden weiß. Ihr Ziel ist scheinbar simpler und doch in seiner Schwierigkeit
nahezu undurchführbar: Die Entstehung von Leben zu sehen und dann an
andere weiterzureichen. Diese Herangehensweise lässt an das mittelalterliche Konzept der Illumination denken, dem Zustand der Erleuchtung,
der Fähigkeit, plötzlich die Wahrheit zu erkennen. Die Offenbarung der
Welt ist an ihr Verständnis geknüpft. Die Einzigartigkeit der Kunst, im
Gegensatz zur Landläufigkeit der Politik, liegt in einer ähnlich kreativen
Epistemologie, in der Fähigkeit, Phänomene wahrzunehmen, die vorher
nicht sichtbar waren. Das ist die erste Voraussetzung, um die Welt bewerten und gegebenenfalls korrigieren zu können.
Der Kreisverkehr, der ohne große Warnung mitten in Trautenfels auftauchte, hat etwas gemeinsam mit der Schicksalshaftigkeit von Seuchen
oder Springfluten. Die moderne Zivilisation produziert hier so etwas wie
einen Berg aus Beton und Asphalt, einen Punkt, nach dem die Einwohner
von Trautenfels die Hand ausstrecken müssen. Ihre Zeichnungen des geplanten Kreisverkehrs lassen an die Berichte von Menschen erinnern, die
versuchen, ihre Begegnungen mit außerirdischen Unbekannten weiterzugeben, mit einer höheren Ordnung, deren Kraft der Monumentalität jener
der umliegenden Alpen ähnelt. Die Sammlung dieser Bilder ist nicht der
Versuch einer Art von Kunst-Petition zum Stopp eines unsensiblen Bauprojekts, sondern ein vergeblicher Versuch, das Problem schon vorher so
zu zeichnen, dass es gerade durch seine Darstellung gelöst wird.
1, Sonja Pichler
5, Gertrude Schwaiger
6, Sabine Geier
9, Selina Winterer
12, Stefanie Harreiter
15, Reinhold Schirl
17, Markus Maurer
18, Carmen Fladl-Schachner
21, Monika Kogler
22, Florian Kogler
32, Johanna Leyendecker
33, Silvia Fercher
44, Christiane Tasch
55, Alois Brettschuh
58, Annika Hofer
63, Anna-Lena Kanzler
82, Gerhard-Thomas Posch
65, Julian Schmied
73, Karl Bindlechner
89, Helene Kreutzer
93, Alois Perl
95, Manuela Zeiringer
100, Johann Karl
110, David Wieser
123, Dominik Gastel
130, Gerald Habeler
139, Maria Kreisel
141, Thomas Klingler
133, Silvia Kolb
148, Lena Gasteiner
152, Markus Mößlberger
155, Melanie Resch
157, Roswitha Kals
164, Helmut Krasa
172, Marigona Rexhaj
174, Patricia Kleewein
177, Daniela Auritsch
185, Nada Huber
186, Michaela Ulz-Schirl
200, Alexandra Danglmaier
203, Peter J. Gragabber
181, Julia Ritt
188, Stefanie Haigl
198, Patrick Schranz
Bild aus der Überlappung der Zeichnungen Nummer 9, 44, 46, 49, 51, 54, 55, 62, 65, 73, 74, 76, 135
66 — 67
Für immer Parken
Jennifer Allen
Was haben alle Reisenden gemeinsam? Sie müssen einen Schlafplatz
finden, sei es für eine Nacht, eine Woche oder ein Monat. Der zeitgenössische Reisende sieht sich mit einem weiteren Dilemma konfrontiert, das
durch das Finden eines Hotelzimmers nicht gelöst ist. Reisen ist heutzutage nicht nur häufiger, sondern auch standardisierter geworden. Dieser
Standardisierungsprozess, der mit der Einführung der Zeitzonen im letzten Jahrhundert seinen Anfang nahm, wurde durch den internationalen
Flughafen, der jede Flugerfahrung der anderen gleichen lässt, intensiviert. Anders als frühere Reisende, die unterwegs immer auf Abenteuer
eingestellt waren, erwarten wir, dass die Abenteuer erst beginnen, wenn
wir unsere Destination sicher erreicht haben. Am Besten sollte während
einer Reise gar nichts passieren, das über die Bewegung hinausgeht. Die
Taxis sollten pünktlich sein, der Flug ruhig, und das Gepäck sollte so wieder auftauchen, wie wir selbst es bei der Ankunft tun: von der Ortsveränderung unberührt. Doch wenn die Zeit zunimmt, die wir unterwegs und in
der Luft verbringen, führt unser Wunsch nach ereignislosem Reisen dazu,
Erfahrung und Erinnerung auszulöschen. Die Architektur und das Design
von Massenmobilität – Wartehallen, Gepäckrollbänder, Taxistände, Parkplätze, Hotelzimmer – widerstehen den Spuren jener Menschen, die sie
benutzt haben. Wir verbringen mehr Zeit im Übergangsstadium – das
bewohnend, was Marc Augé „Nicht-Orte“ nannte – und produzieren mehr
und mehr – sowohl kollektive als auch individuelle – „Nicht-Geschichte“.
Was viele Reisende heute teilen, ist fortwährende Bewegung ohne Erinnerung.
Für immer Parken
Maria Papadimitriou befasst sich mit diesem Dilemma auf zwei Arten.
Erstens zielen Papadimitrious Arbeiten auf den Reisenden ab, indem
sie die Architektur und das Design der Massenmobilität reproduzieren.
Maria Papadimitriou
Hotel Grande, 2005
Altstadt von Larissa, Griechenland
Das Hotel, das Auto, der Bahnhof – allzeit benutzbar – können in ihrem
interaktiven Oeuvre eine Rolle spielen. Zweitens fügt Papadimitriou
jedem Schauplatz tragbare Formen des Gedächtnisses hinzu. Diese
Formen des Gedächtnisses sind kein Touristenplunder, sondern eher
„Memoria-Kram“, den jeder so leicht mit sich führen kann wie ein Lied.
Songs, Träume, Geschichten und Bräuche werden als mnemotechnische
Praktiken in ihre Interventionen integriert: Hilfsmittel, die es Reisenden
ermöglichen, sich der Vergangenheit zu besinnen und die Gegenwart
zu erinnern. Im Jahr 2003 lud Papadimitriou am Bahnhof von Modena,
von dem aus Züge zum Arbeitervorort Sassuolo fahren, den Chor Coro
popolare di San Lazzaro ein, im Wartesaal kommunistische Revolutionslieder und erotische Stücke zu singen – Musik, die sowohl vergangene
als auch gegenwärtige Anstrengungen und Freuden der pendelnden
Arbeiter harmonisierte. In einem Athener Migrantenviertel verwandelte
Luv Car (Transbonanza Platform for Public Events) – ein mit Tanzboden
und einer Soundanlage ausgerüsteter Pick-up – im Jahr 2003 internationale Passanten in tanzende Passagiere und ließ Popsongs aus aller
Welt ertönen. Letztes Jahr errichtete die Künstlerin ein provisorisches
Kino an einer Tankstelle am aus Larissa hinausführenden Highway und
zeigte Alexis Damianos’ Filmklassiker über griechische Emigration, Until
the Ship Sails (1966); ein Stop an der Tankstelle konnte hier plötzlich
mit anderen kollektiven historischen Reisen verbunden werden. In einem
tropischen Garten der Villa Olimpica in Puerto Rico schuf Papadimitriou
2004 Hypothesis 2, The Soul Message Formula (Illumina tus sueños,
Amphiareion 04), ein Heilungszentrum, das vom griechischen Halbgott
Amphiaraos, der auch Orakel und Heiler war, inspiriert wurde. Menschen,
68 — 69
Maria Papadimitriou
die auf den provisorischen Betten unter freiem Himmel schliefen, konnten ihre Träume erhellen und gleichzeitig mythologische Praktiken des
alten Griechenlands wiederbeleben. In diesen Interventionen erschafft
Papadimitriou nicht nur einen Übergangsort für Menschen in Bewegung,
sie bietet ihnen auch die Gelegenheit, ihre Erfahrung des Ortes einer Erinnerung aus der Vergangenheit einzuschreiben. Der „Nicht-Ort“ – egal
ob Bahnhof oder Tankstelle – markiert eine außergewöhnliche Begegnung mit der Geschichte.
Homer als Architekt
Maria Papadimitriou
Temporary Office, 2004
Fondazione Adriano
Olivetti, Rom
T.A.M.A., 2005
Papadimitrious Antwort auf das Dilemma eines Lebens in ständiger
Bewegung – Strukturen für die Mobilität und die Erinnerung zu kreieren – beinhaltet das Schaffen eines neuen Gleichgewichts zwischen
Architektur und Eigentum. Um sicherzugehen, dass ihre Arbeiten von
allen benutzt werden können, bevorzugt Papadimitriou Schauplätze, die
dem Besessenwerden von nur einer Person widerstehen – Orte, die so
kollektiv bleiben wie Sinnsprüche, Legenden und Volkslieder. Tatsächlich
behandelt die Künstlerin Gebäude so, als wären sie Oral History: kollektiv besessen, immer verfügbar, durch Zirkulation überdauernd. Diese
Vorliebe, Architektur wie Mythologie funktionieren zu lassen, hat einen
direkten Einfluss auf Papadimitrious architektonische Designs. Während
Reisende ihre idealen Benutzer darstellen, heißen ihre Arbeiten nicht nur
Touristen und Geschäftsleute willkommen, sondern auch Pendler, Passanten, Wanderarbeiter und sowohl legale als auch illegale Migranten.
Ihr bisher ambitioniertestes Projekt T.A.M.A., das sie 1998 startete und
das noch immer läuft, verwandelt ein Zigeunerlager am westlichen Rand
Athens in ein Temporäres autonomes Museum für alle (Temporary Autonomous Museum for All), in dem rumänische Nomaden mit Nomaden
aus der Kunstwelt zusammenarbeiten können. Um universale Zugänglichkeit zu garantieren, bevorzugt die Künstlerin die öffentliche Sphäre
– nicht genutzte Parzellen im Verbund mit Parks, Straßen, Museen – ihre
Strukturen hingegen sind meist temporär, mobil und parasitisch, um der
Verwandlung in nicht exklusives privates Eigentum von Anfang an zu
widerstehen. Hotel Grande (2005) – ein Hotel, das in einem verlassenen
Geschäft installiert wurde und rund um die Uhr für Reisende, die in Larissa Halt machten, offen stand – ist ein gutes Beispiel. Ihre Baumaterialien – billig, gefunden, second-hand – sind Ready-mades, die nicht in
Gefahr kommen, abtransportiert zu werden, egal ob von Dieben, Vandalen oder der Müllabfuhr. Mit dieser Materialwahl erforscht Papadimitriou
die seltsame Kategorie des Mülls: Dinge, die in einer Spannungslage existieren, da sie nicht mehr wirklich benutzt werden, aber auch noch nicht
weggeworfen wurden. 2004 sammelte Papadimitriou den Müll, der im
Keller der Fondazione Adriano Olivetti in Rom herumstand – altes Bürozubehör, darunter Olivettis eigene altmodische, aber voll funktionsfähige
Maria Papadimitriou
Luv car (Transbonanza Platform for Public Events), 2003, Menidi, Athen
70 — 71
Maria Papadimitriou
Computermodelle, Schreibmaschinen, Faxgeräte – und schuf ein temporäres Büro im Ausstellungsraum der Fondazione. Papadimitriou belebte
die erloschene Geschichte von Olivetti und machte diese Vergangenheit
gleichzeitig zu einem öffentlichen Sekretariat, in dem Touristen auf ihrem
Weg von der oder zur nahen Piazza Navona sich ausruhen, reorganisieren oder vielleicht eine Postkarte auf einer originalen Schreibmaschine
schreiben konnten. Hier wird die Vergangenheit weder zu einem Objekt
noch zu einem Spektakel; die Reisenden nehmen die Erfahrung mit, wie
es denn ist, die Gegenwart mit den Mitteln der Vergangenheit zu schreiben. Ihnen gehört der architektonische Ort, nicht durch Verdienst oder
Titel, sondern durch die Praxis der Benutzung der Geschichte des Orts.
Bei What do we Really Remember? (2003) bestand der Müll aus einem
aufgegebenen Brunnen im Hof eines ehemaligen Dominikaner-Klosters,
das jetzt das Rathaus von Sternatia, Magna Graecia, ist. Menschen, die
den Hof betraten, lösten Bewegungssensoren aus, die eine Aufnahme
traditioneller griechischer Lieder – gesungen von einem örtlichen Jugendchor – einschaltete, die im ausgetrockneten Brunnen versteckt war.
Wenn die Besucher dann in den Brunnen blickten, lösten sie weitere Sensoren aus, die die Musik leiser werden ließ. Der leere Brunnen füllte sich
mit lokaler musikalischer Geschichte, die von den Körpern der Besucher
ein- und ausgeschalten wurde. In Papadimitrious Arbeiten – wo Müll auf
Mythos trifft – verschlechtert die öffentliche Benützung die Geschichte
nicht, noch tilgt sie sie, vielmehr bringt sie Erneuerung und Dauerhaftigkeit.
Zirkulierende Geschichten
Für die Ausstellung Less (2006) im Padiglione d’Arte Contemporanea
in Mailand schuf Papadimitriou ihre eigene Version eines mongolischen
Ger-Zelts, um Mobilität und Gedächtnis als eine Strategie für alternatives Leben neu zu überdenken. Das runde Zelt mit einem Loch im Dach
und einer Tür ist das tragbare Heim der mongolischen Hirten; dieselbe
Struktur – bekannt als Jurte – wird von nomadischen Hirten in ganz Zentralasien verwendet. Seine Stärken liegen in seinen gebogenen Scherengitterwänden, die auf Hängen stehen und starken Winden widerstehen
können. Seine Bedeutung wird in der Flagge Kirgistans demonstriert,
die den Dachring des Zelts zeigt; die Geschichte einer Familie kann an
den Rauchmalen, die sich rund um den Ring über die Jahre angesammelt
haben, gemessen werden. Der Ger und die Jurte – leicht zu transportieren
und schnell zu bauen – sind nicht nur ein Lebensstil, sondern für die Nomaden in Zentralasien auch eine Art gelebter Geschichte. Inspiriert von
der Tradition dieser Zelte, erlebte Papadimitriou ein Ger nahe bei sich zu
Hause in Athen während einer Reiki-Behandlung. Diese natürliche Heilmethode, bei der Energie mit den Händen des Heilers durch den Körper
des Patienten gechannelt wird, ist uralt und wurde im späten 19. Jahr-
Maria Papadimitriou
Hotel Grande, 2005
Maria Papadimitriou
My Yurt, 2006, PAC, Mailand
Maria Papadimitriou
Alpin Altar, 2010
(Recherchematerial)
hundert vom japanischen Minister Dr. Mikao Usui wiederentdeckt. Wie
auch die nomadische Kultur, lebt Reiki durch orale Tradition; seine Geschichte wurde mündlich überliefert, und alle, die es praktizieren, müssen von Meistern ausgebildet werden, die ihrerseits von alten Meistern
ausgebildet wurden. Papadimitrious eigene Heilungserfahrung ist Teil
einer menschlichen Kette, die bis zu Dr. Usui zurückreicht. Wenn auch
der Ger keine Rolle in dieser Geschichte spielt, wurde er doch Teil der
Gegenwart des Reikis, da viele Heiler die runde Form des Zelts, das keine
Ecken und keine Stützpfosten im Zentrum aufweist, schätzen. Um diese
nomadischen Geschichten zu kombinieren – der Ger als Heim von Hirten
und Reiki als Weg, die Körperenergie zu bewegen – hat Papadimitriou
ihren Ger mit Polstern und Teppichen ausgestattet, sodass Reisende sich
niederlegen, relaxen und Energie tanken können. Und um deren mündliche Erinnerungen zu erfrischen, hat die Künstlerin den Ger um Erzählungen sowie um Aufnahmen von traditionellen Geschichten auf Italienisch,
Englisch und Türkisch ergänzt. Dort zu liegen und zuzuhören ist eine
Einladung, mit Geschichte als eine Erfahrung zu leben, etwas, das weder
angefasst, noch besessen werden kann, aber durch Zirkulation gedeiht.
Alpiner Altar
In der Steiermark stellt der Grimming mit seiner eigensinnigen Immobilität eine neue Herausforderung für sich bewegende Erinnerungen dar.
Für die Ausstellung Der schaffende Mensch brachte Papadimitriou ihre
Heimat Griechenland und ihr Gastland Österreich zusammen und baute
aus Steinen vom Grimming einen traditionellen griechischen Altar. Weit
von einer einfachen Mischung entfernt – ein antiker griechischer Brauch,
der mit zeitgenössischer österreichischer Landschaft verschmolzen wird
– legt Papadimitrious Geste eine tiefere Verbundenheit zwischen den
beiden Ländern frei. Der Olymp – Heimstätte der zwölf olympischen Götter der Antike – ist der höchste Gipfel in Griechenland und der Grimming
einer der höchsten in der Steiermark. Doch das sind nicht die einzigen
Ähnlichkeiten zwischen Olymp und Grimming nicht. Jacob Grimm zeigt in
seiner Studie Deutsche Mythologie (1835), dass der Name Grimming auf
das slawische Wort germnik und das altslawische gr‘mnik zurückgeführt
werden kann, was in modernem Deutsch soviel heißt wie „Donnerberg“.
Natürlich war der Herrscher des Olymps kein Geringerer als Zeus, der
Gott des Donners und des Wetters, des Gesetzes, der Ordnung und des
Schicksals. Kurz gesagt: Der Grimming ist der Berg Zeus’.
Grimmingtor
Grimming/Olymp
Paula Grogger
Das Grimmingtor, 1926
Wie Sir James Frazer in The Golden Bough (1890-1915) bemerkt, wurde
Zeus am Olymp und anderswo unter dem Beinamen „Donnerkeil“ verehrt,
während einige Statuen den Gott einen Blitzstrahl haltend zeigen. Quer
durch die europäischen Mythologien – vom griechischen Zeus zum römischen Jupiter, vom nordischen Gott Thor zum litauischen Perkunas, vom
Maria Papadimitriou
Alpine Altar, 2010
(Recherchematerial)
keltischen Drynemetum zum germanischen Donar bzw. Thunar – wurde
der Gott des Donners immer mit der Eiche assoziiert. Tatsächlich war die
heilige Eiche, die der heilige Bonifaz im 8. Jahrhundert in Fritzlar fällte,
um Heiden zum Christentum zu bekehren, auf Latein als robur Jovis
(Jupiters Eiche) und im Altgermanischen als Donares eih (Donars Eiche)
bekannt gewesen. Während allerdings der heidnische Kult sein Ende
fand, als der Donnergott den heiligen Bonifaz für das Fällen des heiligen
Baumes nicht mit einem Blitz erschlug, lebt die Tradition der Verehrung
des Gottes im Namen des Wochentages Donnerstag weiter. Der Name
Grimming widerhallt schon durch das Fortschreiten der Zeit. Über diese
philologischen und mythologischen Verbindungen zwischen Olymp und
Grimming hinaus, belebt Papadimitrious Altar ritualistische Praktiken in
Griechenland und Österreich wieder. Wie sich Sir Frazer erinnert, verehrten die alten Griechen Zeus nicht nur in Orakel-Eichen, sondern auch an
Orten, an denen der Blitz eingeschlagen hatte, da man von Zeus wusste,
dass er blitzartig von den Himmeln auf die Erde herabstieg. Diese Orte
– von Hohepriestern abgeschlossen und geweiht – wurden mit Altären
für Opfer ausgestattet, die dann womöglich Zeus’ Zornesausbrüche samt
Donner und Blitz besänftigt und gleichzeitig die befruchtende Kraft des
Regens angelockt haben. Der Grimming als einer der höchsten Gipfel der
Steiermark wäre wiederum ein Ort, der bei einem Gewitter am leichtesten
vom Blitz getroffen würde, genau wie sein Korrelat, der Olymp. Sir Frazer
bemerkt, wie alte germanische Mythen dem Donnergott ähnliche Fruchbarkeitskräfte zuschrieben, aber es findet sich keine Erwähnung von
Altären oder Opfern. Und doch taucht der Grimming in österreichischen
Legenden als heiliger Berg auf, in dem ein Goldschatz und kostbare Juwelen versteckt sind: Symbole für Wohlstand. Solche Legenden könnten
die narrativen Überreste von Oper- und Fruchtbarkeitsritualen aus vorchristlicher Zeit sein: als Praktiken tot, aber in Geschichten lebendig.
76 — 77
Maria Papadimitriou
Maria Papadimitrious Aufruf an die Bevölkerung
anlässlich des Ennstaler Schafbauerntags in Öblarn, 19./20. März 2010
Rituale sind mit Bewegung verbunden. Die alten Griechen konnten zu
Altären reisen und Zeus ein Opfer darbringen, zum Beispiel ein Schaf
töten, in der Hoffnung auf weniger heftige Stürme und mehr sanfte
Regenschauer. Die Steirer haben die alte Verehrung ihres Donnergottes
und seines Berges womöglich in ihre Wanderungen überführt. Gesundheitsfördernde Wanderungen sind vielleicht die lebende Erinnerung an
alte Pilgerreisen zum Berg: zuerst des Opfers und dann der Schatzsuche
wegen. Wie Papadimitriou beobachtet hat, gibt es viele Einheimische
rund um den Grimming, die Miniatur-Puppenschafe vor ihren Häusern
zur Schau stellen – vielleicht Mementos von lebendigen Opfertieren, die
einst geschlachtet wurden, um den Gott des Donners gnädig zu stimmen.
In vielen Legenden, die sich um den Grimming ranken, heißt es von vielen, die nie mehr von ihren Wanderungen zurückkehrten, sie hätten den
magischen Eingang gefunden, wären aber nun im Berg gefangen, weil sie
mehr Gold und Juwelen mitnehmen wollten, als sie tragen konnten. Bitte
einen Gott nie um zu viele Gefallen. Im Lichte dieser Erinnerungen erscheint der Grimming als riesiger Altar zu Ehren des Donnergottes – ein
Altar, der nicht nur von wandernden Pilgern besucht wird, sondern auch
immer wieder einige von ihnen als menschliche Opfergaben verschluckt,
die wiederum eine Spur an Legenden zurücklassen. Papadimitrious Altar,
wie griechisch er auch immer sein mag, scheint die Steirer an das zu erinnern, was sie schon immer getan haben.
Maria Papadimitriou
Alpine Altar, 2010, (Recherchematerial)
79 — 9
82 — 83
Der Stoff, aus dem die Kunst ist
Christian Philipp Müllers Eigensinn
André Rottmann
1
Georges Didi-Huberman:
Ninfa moderna. Berlin,
Zürich: Diaphanes 2006,
S. 15f.
2
Ebda., S. 23.
3
Ebda., S. 27, sowie
Gilles Deleuze: Die Falte.
Leibniz und der Barock.
Frankfurt am Main:
Suhrkamp 1995, S. 199.
In seinem Essay zum anachronistischen Nachleben des faltenwerfenden
Gewands, das in der Antike einst die Nymphe trug, bevor es in den Allegorien der Liebe in der Renaissance als bloßes Tuch, aus dem die menschliche Form sich verflüchtigt hat, vom Körper der schönen Venus an den
Rand des Bildes abfiel, aber „figurale Autonomie“ gewann, um Jahrhunderte später als Lumpen in den Straßen von Paris in den fotografischen
Blick des Neuen Sehens zu geraten und schließlich Ende der 1960erJahre in den verschlungenen Filz-Skulpturen von Robert Morris wiederzukehren, hat der französische Kunsthistoriker und Philosoph Georges
Didi-Huberman den Versuch unternommen, die Aktualität der „paradoxen,
[...] unzerstörbaren Dinge“ zu denken, „die von sehr weit herkommen und
unfähig sind, endgültig zu vergehen.“1
Mit vergleichbarem Sinn für unerwartbare Konstellationen von auf den
ersten Blick disparaten Kontexten und wiederkehrenden Motiven sowie
einer in akribischen Recherchen gewonnenen Aufmerksamkeit für das
widersprüchliche „Eigenleben“2 und die historischen Wechselfälle – und
Faltenwürfe, zugleich verhüllend und umhüllend, stets an der Grenze zum
Anthropomorphismus3 – eines textilen Materials, das lange schon am
Körper getragen wird, über Fragen der Funktionalität hinaus aber auch
den metaphorischen und metonymischen Stoff des kulturellen Gedächtnisses und traditionsbehafteten aktuellen Alltags- und vergangenen Arbeitslebens einer Region bildet, hat Christian Philipp Müller sein Projekt
Burning Love (Lodenfüßler) (2010) in der Umgebung und den Räumen des
Schlosses Trautenfels in der Steiermark realisiert.
Es ist der hier produzierte, verarbeitete, vermarktete, getragene und
lokale Identität ebenso stiftende wie repräsentierende Stoff Loden, den
Müller ins Zentrum seines jüngsten Werks stellt, das aus einem Ausstellungsdisplay (in Form eines an der Wand installierten Bildtableaus), einer
Performance und einer raumgreifenden Skulptur besteht, die den Betrachter durch zwei Säle im Obergeschoss des Schlosses führt, das als Teil des
4
Siehe hierzu den grundlegenden, mit Blick auf
die Arbeiten von Müller
argumentierenden Text
von James Meyer: Der
funktionale Ort. In:
Platzwechsel. Ursula
Biemann, Tom Burr,
Mark Dion, Christian
Philipp Müller. Ausstellungskatalog Kunsthalle
Zürich, Zürich1995, S.
24-39, sowie in historischer Perspektive Miwon
Kwon: One Place After
Another. Site-Specific
Art and Locational Identity. Cambridge/Mass.,
London: MIT-Press
2002.
5
Didi-Huberman, a.a.O.,
S. 55.
6
Vgl. Miwon Kwon:
Fluktuierende Werte. In:
Philipp Kaiser (Hrsg.):
Christian Philipp Müller.
Ausstellungskatalog
Museum für Gegenwartskunst Basel. Ostfildern: Hatje Cantz 2007,
S. 15-27, S. 27.
Universalmuseums Joanneum auch eine Schausammlung zur Natur- und
Kulturgeschichte des benachbarten Ennstals und Ausseerlands beherbergt. Der in Berlin und New York lebende, immer aber in situ arbeitende
Künstler etabliert indes keine Hierarchie zwischen der Geschichte der
postminimalistischen Skulptur und der „Land Art“ sowie einem im Rekurs
auf soziologische und historiografische Formen der Recherche erweiterten
Verständnis von Ortsspezifik4 verpflichteten künstlerischen Methode und
jenen handwerklichen Artefakten und ethnografisch sowie zunehmend
kommerziell konnotierten Bildern, die sich der am Ausstellungsort ansässigen Lodenfabrikation und den mit ihr verbundenen Kodierungen der in
diesem Landstrich typischen, alpenländischen Trachtenmode verdanken
– finden sich doch, wie auch Didi-Huberman in seinen Ausführungen zur
„Mode und ihren Hüllen“ betont, die „Überbleibsel, die Formen des Nachlebens [...] überall: Sie schleichen sich in jeden Winkel der Geschichte
ein – in den der Kunst zum Beispiel.“5 Dementsprechend ist Burning Love
(Lodenfüßler) auch nicht der erste Fall, in dem in Christian Philipp Müllers
Œuvre der letzten 25 Jahre der Zusammenhang zwischen Identität und
Tradition im Gewand einheimischer Trachten in einem kontextreflexiven
Projekt zum Thema wird, das die in der (nach)modernen Kunst angeblich
inkompatiblen Register des Sozialen und Ästhetischen – oder vermeintlich unüberbrückbaren Antinomien zwischen Gehalt und Form – dialektisch aufeinander bezieht. Umso mehr aber gilt es, über diese Kohärenz
innerhalb einer kritisch-reflexiven künstlerischen Praxis hinaus, für diese
konkrete Arbeit zu klären, welche Aspekte und Formen des Nachlebens
eines Materials und seiner Bedeutungsschichten Müller an diesem
Schauplatz ins Werk setzt. Anlässlich seiner Retrospektive im Basler Museum für Gegenwartskunst hat der Künstler 2007 zu Protokoll gegeben,
ortsspezifisch zu arbeiten bedeute für ihn, sich präzise außerhalb eines
Kontextes zu positionieren.6 Burning Love (Lodenfüßler) bildet keine
Ausnahme von diesem zunächst paradox wirkenden, für Müllers Methode
ebenso grundlegendem wie produktivem Prinzip, das sich insbesondere
in diesem Projekt der programmatischen Verknüpfung von lokalem wie
künstlerischem Eigensinn mit der Eigenlogik ästhetischer Produktion und
Erfahrung verdankt.
Wie seit mehr als 500 Jahren üblich, wird vor der Lodenwalke Steiner in
Rössing bei Ramsau am Dachstein der nasse Loden (vom althochdeutschen lodo, grober Wollstoff) in circa 1,50 x 50 Meter messenden, bunt
gefärbten oder wie am Ausgang von Müllers Burning Love (Lodenfüßler)
im naturbelassenen Zustand wollweißen Bahnen an einem überdachten
Holzgestell an der Bergluft getrocknet, bevor er zu „Wetterflecken“,
„Schladmingern“, „Walkjankern“ oder anderen traditionsreichen Modellen
der regionalen Trachtenmode weiterverarbeitet wird. Wie ein abstraktes
Band scheint das Bild dieser monochromen Fläche sich durch die alpine
Landschaft der Steiermark zu ziehen; verstärkt durch den Ausschnitt
84 — 85
Christian Philipp Müller
Christian Philipp Müller
Burning Love
(Lodenfüßler), 2010
7
Didi-Huberman, a.a.O.,
S. 25
einer Fotografie vom mit Loden behängten Trockenstand der Walke, die
Müller in seine kulturhistorisch anmutende, aus eigenen Aufnahmen, Archivalien und im Umkreis des Schlosses vorgefundenen Ölbildern bestehenden „Ausstellung in der Ausstellung“ integriert hat, stellt sich für das
kunsthistorisch geschulte Auge unwillkürlich eine formale Verbindung zu
den skulpturalen Interventionen der „Land Art“ in angeblich unberührten,
von den Zentren der Gegenwartskunst weit entfernten Naturszenerien
her – etwa dem im Wind flatternden Stoff des nördlich von San Francisco
errichteten Running Fence (1972-1976) von Christo und Jeanne-Claude.
Zugleich ist damit von Müller aber nicht nur eine assoziative Engführung
zwischen der regionalen Textilfabrikation und der kanonischen Kunst
des Postminimalismus vorgenommen, sondern gleichermaßen wird auf
die entscheidende Veränderung in der Wahrnehmung und Bestimmung
dieser pittoresken Landschaft in der Nachkriegszeit angespielt, wie sie
auch das unvergängliche Nachleben des Lodens als Material, stoffliche
Form und kultureller Bedeutungsträger betrifft, dem er in diesem Werk
gleichsam Schritt für Schritt folgt: vom Schauplatz handwerklicher und
landwirtschaftlicher Arbeit zur Kulisse der Freizeit- und Tourismusindustrie. Entsprechend stellt Müllers Sammlung von Bildern und Dokumenten
aus der lokalen Geschichte dieses traditionsbehafteten Stoffs, aus dem
sein ortsspezifisches Projekt für die Ausstellung Der schaffende Mensch.
Welten des Eigensinns in der Hauptsache gemacht ist, vor Augen, welche
widersprüchlichen Kodierungen dieser im Laufe der Zeit durchlaufen hat.
Heute gilt Loden- bzw. Trachtenmode, sobald sie ihren angestammten
Platz im sozialen Gefüge einer regional verankerten Gemeinschaft und
ihren Gebräuchen verlässt und in Städten wie Graz, München, Münster
oder gar Hamburg in Fußgängerzonen auf den Plan tritt, als Ausweis
wertkonservativer Gesinnung, ökonomischer Prosperität und bürgerlichen
Selbstverständnisses. Hinter diesem vermeintlich einfach zu deutenden
Gewand aus Schafwolle verbirgt sich indes, wie Müller zu betonen scheint,
eine paradoxe Geschichte „dynamischer Umkehrungen“7: Es war Erzherzog
Johann, Namensgeber des steirischen Universalmuseums, zu dem das vorübergehend auch als Jugendherberge genutzte Schloss Trautenfels heute
gehört, der die aus Loden gefertigte Tracht als Ausdruck lokaler Verbundenheit und Patriotismus im frühen 19. Jahrhundert buchstäblich hoffähig
machte und eine Transformation des durch dieses Material signalisierten
sozialen Status und Habitus einleitete. War Lodenbekleidung einst jenen
vorbehalten, die sich bei der Arbeit in den Bergen effektiv gegen Wind und
Wetter zu schützen hatten, so fuhren ab den 1860er-Jahren wohlhabende
jüdische Familien aus Wien und später Intellektuelle wie Sigmund Freud
und Stefan Zweig nach Bad Aussee in die Sommerfrische und trugen im
Urlaub vor Ort selbstverständlich Tracht, deren Charakter als „Volksgut“
schließlich Konrad Mautner in einer Sammlung zu bewahren suchte, auf
der das dortige Kammerhofmuseum noch heute aufbaut. Neben Einheimischen sind es damals wie heute Touristen, die sich zwischen Überzeugung
Christian Philipp Müller
The Family of Austrians,
1993 (Einladungskarte
der Galerie Metropol,
Wien)
Having Fun in Slovakia,
Ringier VOYAGE, 2000
8
Im traditionellen Prozess
des Walkens wird ein
Wolltuch in handwarmem Wasser (30-40°C)
unter Zugabe von Kernseife durch Druck und
Reibung verfilzt, sodass
ein Stoff mit einer höheren Dichte und einem um
etwa 40 % reduzierten
Volumen entsteht.
und Travestie schwankend vor Ort in Loden hüllen, aber auch der zum
konservativen Politiker avancierte Schauspieler Arnold Schwarzenegger
und der verstorbene rechtspopulistische Politikerdarsteller und Landeshauptmann Kärntens Jörg Haider wurden bereits öffentlichkeitswirksam
in Loden abgelichtet; entgegen dem Ruf mangelnder Raffinesse und einer
gewissen Robustheit, die diesem Stoff gemeinhin vorauseilt, zählt der andere Zweig der in der Region um Schloss Trautenfels Loden fabrizierenden
Familie Steiner exklusive Modehäuser wie Yves Saint Laurent und Dolce
& Gabbana zu seinen Kunden und setzt ganz im Sinne des Werbeslogans
„Keine Zukunft ohne Herkunft“ auf eine gewinnträchtige Kombination
von Heimatverbundenheit und stilbewusster Weltoffenheit. So spannt
Müllers Tableau einen weiten Bogen von der gegenwärtigen, in ihrer Widersprüchlichkeit kaum auflösbaren Polysemie eines Stoffs zu seinen rein
funktionalen Anfängen als gegen die Witterung schützender Wetterfleck,
wie er heute in abgewandelter Form und grüner Färbung als ärmelloser
Überwurf noch Jäger kleidet, aber, wie einige Aufnahmen zeigen, auch
den Künstler auf Ortsterminen in der Region ziert.
Dieses archaische Modell aus dem Sortiment steirischer Trachtenmode
macht Christian Philipp Müller in Burning Love (Lodenfüßler) zur Grundlage seiner ortspezifischen Auseinandersetzung mit der historischem
Wandel unterworfenen Repräsentation regionaler Identität und bezieht
es auf die „figurale Autonomie“ der Faltenwürfe textiler Materialien in der
postminimalistischen Kunst und ihre anthropomorphen wie performativen Implikationen: Müller verwandelt eine komplette, mehr als 50 Meter
lange Bahn wollweißen Lodens aus der Steiner’schen Walke in Rössing in
einen überdimensionierten Wetterfleck, der nicht weniger als 20 Personen
Platz und Schutz bietet. Zu diesem Zwecke hat der Künstler eine entsprechende Anzahl von kreisrunden Aussparungen in den lose gewebten Stoff
geschnitten, bevor dieser gewalkt wurde; durch das Walken8 erhalten die
Kopföffnungen dieses kollektiven Kleidungsstücks individuelle organische Konturen und weiche Kanten. Noch vor Eröffnung der Ausstellung
schickt Müller seinen Loden zu Himmelfahrt am 13. Mai auf den ungefähr
25 Kilometer langen Weg vom Ort seiner Produktion zu den Ausstellungsräumen im Schloss Trautenfels. Diese zwischen Performance, Parade und
Prozession angesiedelte Wanderung durch die obersteirische Landschaft
schafft einerseits das bewegte Bild einer monochromen abstrakten
Fläche, die gänzlich unerwartet an Dynamik, wenn nicht Eigenleben,
gewonnen hat und darin die anthropomorphe Dimension, die dem Stoff
und dessen die Figur des menschlichen Körpers evozierenden Faltenwurf
immer schon inhärent ist, realisiert, noch bevor der Loden durch Schnitte,
Nähte, Einfärbung und Applikationen seiner Bestimmung zum alpenländischen Gewand zugeführt werden konnte. In diesem Sinne macht Müller,
indem er diese noch nicht weiter verarbeitete Bahn Loden auf den Weg
bringt, die in ihrer basalen Stofflichkeit noch fern aller Assoziationen mit
86 — 87
Christian Philipp Müller
9
Ebda., S. 137.
10
Zu denken ist ebenso
an Arbeiten von Franz
Erhard Walther aus den
Sechzigerjahren und die
Parangolés von Hélio
Oiticica; zu letzterem
siehe Sabeth Bucchmann:
Denken gegen das
Denken. Produktion,
Technologie, Subjektivität
bei Sol LeWitt, Yvonne
Rainer und Hélio Oiticica.
Berlin: b_books 2007, S.
228ff.
11
Siehe dazu George Baker,
Christian Philipp Müller:
A Balancing Act. In:
October 82, Herbst 1997,
S. 95-118, S. 110f, 115. In
diesem Text reflektieren
Baker und Müller anlässlich des gleichnamigen
Projekts des Künstlers für
die Documenta X in Kassel 1997 die Geschichte
der öffentlichen Skulptur
auf dem Friedrichplatz in
Kassel in der Spannung
zwischen Formalismus
(Walter de Maria, Vertical
Earth Kilometer, 1977)
und Engagement (Joseph
Beuys, 7000 Eichen,
1982). Burning Love (Lodenfüßler) kann in dieser
Hinsicht als Fortführung
dieser Auseinandersetzung mit den historischen
Voraussetzungen ortsspezifischen Arbeitens
gelten.
12
Vgl. Didi Huberman,
a.a.O., S. 42.
13
Siehe dazu Christian
Philipp Müller, a.a.O., S.
72-79.
Trachtenmode scheint und so offen für alternative Besetzungen ist, jenen
„morphologische[n] und bedeutsame[n] Reichtum“ buchstäblich, „auf
welchen ein einfaches Tuch“ in der ästhetischen Erfahrung „unsere Augen
lenken kann“9.
Andererseits stiftet Müller anders als die Arbeiten der „Land Art“, die hier
unter anderem10 kunsthistorisch Pate standen, und jenseits der nominalistischen Behauptung, Alltagsmaterial in Kunst verwandeln zu können,
unter diesem einfachen Deckmantel eine soziale Gemeinschaft im öffentlichen Raum, die durch die Stoffbahn aus Loden gleichermaßen konstituiert und zusammengehalten wird. So überbrückt er wie schon in früheren
seiner Arbeiten zumindest auf Zeit die Kluft, die sich in der Geschichte
und Theorie der (nach)modernen Kunst zwischen den Bereichen des Ästhetischen und Sozialen vermeintlich unüberwindlich aufgetan hat.11 Das
Rechteck aus Stoff, das als abstrakte Bodenplastik oder farbenfroher
Bildersatz beispielsweise auch in Ausstellungen von Cosima von Bonin
oder Falke Pisano anzutreffen ist, wird in Gebrauch genommen, am Körper
getragen und durch Berg und Tal gesandt. Freiwillig vereint unter einem
kollektiven Wetterfleck, der keiner mehr oder noch keiner ist, aber auch
durch die Fäden des Stoffes auf der gemeinsam zu bewältigenden Strecke
zwischen dem Handwerksbetrieb und dem Museum im Schloss sind die
Teilnehmer der Performance temporär aneinander gebunden bzw. aufeinander angewiesen. So findet Müller ein bewegtes, dialektisches Bild für
den Umstand, dass der schaffende Mensch dieser Region in seiner Identität – anders als es Tourismusmanager und Kulturfunktionäre nahezulegen
suchen – nicht in einheimischen Trachten zu repräsentieren und fixieren
ist. Der Faltenwurf des Lodens lässt diesen charakteristischen Stoff, in
dem sich lokaler Eigensinn manifestieren soll, zwischen formlosem Haufen und drapierter, solider, dauerhafter Form12 changieren.
Müllers Burning Love (Lodenfüßler) wirft einen retrospektiven Blick auch
auf eine Reihe thematisch verwandter Arbeiten des Künstlers zu Fragen
von regionaler oder nationaler Identität und deren Repräsentation: Auf
der Rückseite des Katalogs und dem Plakat zum Österreichischen Pavillon der Biennale von Venedig 1993, auf der Müller seine heute schon klassische Arbeit Grüne Grenze13 präsentierte und als Schweizer neben der
Amerikanerin Andrea Fraser und dem Österreicher Gerwald Rockenschaub
auf Einladung des damaligen Kommissärs Peter Weibel – in den Augen
einiger unstandesgemäß – die Alpenrepublik repräsentierte, sind alle drei
Künstler in einem urigen Wirtshaus (österreichisch: „Beisl“) versammelt
und in Trachtenmode gekleidet zu sehen,14 wie um den auch damals
längst schon obsoleten Anspruch der Großausstellung auf einen nationalstaatlichen Wettstreit in der globalisierten Gegenwartskunst vollends
ad absurdum zu führen. Selbst- und Fremdverständnis traten in diesem
Bild rigoros auseinander und der Mythos einer österreichischen Identität, die eine geschlossene Gesellschaft von angestammten Privilegien
14
Solche Porträtaufnahmen waren darüber
hinaus Teil der Arbeit
almost adjusted to the
new background,1993,
die in Colin de Lands
New Yorker Galerie
American Fine Arts,
Co. im Rahmen der von
James Meyer kuratierten
Ausstellung Whatever
Happened to Institutional Critique? zu sehen
war.
15
Siehe dazu auch Alexander Alberro: Unraveling
the Seamless Totality:
Christian Philipp Müller
and the Reevaluation of
Established Equations.
In: Grey Room 06, Winter
2002, S. 5-25, S. 20.
16
Siehe dazu ausführlicher
André Rottmann:
Faksimile: Kalkül und
Anschauung in Serie.
Überlegungen zu den
Ringier Jahresberichten
1997 – 2008. In: Wladimir Velminski (Hrsg.):
Bildwelten des Wissens.
Kunsthistorisches Jahrbuch für Bildkritik, hrsg.
von Horst Bredekamp,
Matthias Bruhn, Gabriele
Werner, Bd. 7.2. Berlin
2009 [im Druck].
17
Siehe dazu Christian
Philipp Müller, a.a.O., S.
136-139, sowie Christian
Meyer: Christian Philipp
Müller und die Familie
der Österreicher. In:
Camera Austria, Heft 49,
1994, S. 15-23.
18
Vgl. Didi-Huberman,
a.a.O., S. 27.
19
Siehe zu der Bedeutung
dieses Konzepts für
die Arbeit Müllers Ein
Gespräch zwischen
James Meyer und Christian Philipp Müller. In:
Christian Philipp Müller,
a.a.O., S. 44-57, S. 57.
signalisieren soll, wird als Teil plakativen Marketings lesbar.15 Auch die
Rückseite des Jahresberichtes, den Müller 1999 für Ringier realisierte und
für den er alle ausländischen Niederlassungen des Schweizer Medienkonzerns bereiste,16 ziert eine Christian Philipp Müller having fun in Slovakia
betitelte Fotografie, die auf humorvolle Weise die Gleichzeitigkeit der
realiter effektiven Globalisierung mit archaischen Selbstbildern ins Bild
setzt: Der Künstler ist mit Baseball-Mütze und Jeans-Jacke bekleidet
auf einer Bank neben drei farbenfrohe Trachten tragenden Frauen im
Liptauer Heimatmuseum zu sehen. Die ambivalente kulturelle Kodierung
von Trachtenkleidung war ebenfalls Gegenstand von Müllers Ausstellung
im Herbst 1993 in der Wiener Galerie Metropol The Family of Austrians,
in der er auf die Darstellung des österreichischen Landlebens in Edward
Steichens berühmter ethnografischer Erfassung der Welt im fotografischen Atlas einer Family of Man rekurrierte. Auf der Einladungskarte war
Müller in einem Bild aus dem Kontext von „Grüne Grenze“ als Wanderer zu
sehen, der sich wie noch heute für seine Arbeit im Schloss Trautenfels der
Frage österreichischer Selbstdarstellung gleichsam von außen nähert. In
Vitrinen waren Bregenzerwälder Trachten ausgestellt, flankiert von Verkaufsbroschüren und didaktischen Filmen aus den Beständen des Wiener
Instituts für Kostümkunde, die auf volkstümliche Authentizität als Ware
zielten und in dieser folkloristischen Überformung nationaler Identität
eine Entsprechung in Steichens als Bildpaneele in der Galerie verteilten,
in der US-amerikanischen Perspektive der Nachkriegszeit geradezu exotische Rückständigkeit suggerierenden Darstellungen des Landlebens in
Österreich anno 1955 fanden.17 Demgegenüber betont Müllers neue Arbeit auch ihrem Titel nach die Konnotationen regionaler Trachten, die sich
Kalkül und Kontrolle zu entziehen vermögen. Für die Männer der Region
gehört es sich, zur landestypischen Lederhose kniehohe Socken, sogenannte Lodenfüßler, mit aufwendigem Strickmustern zu tragen: Eines,
das unbedingt symmetrisch auf dem Schienbein platziert werden muss,
heißt „Brennende Liebe“. Auch in diesem traditionellen, für manchen
heute befremdlich konservativen Wollstoff und seiner Verarbeitung zur
Tracht bleibt menschliches Begehren mithin als untilgbarer Rest in jeder
Form gegenwärtig.18
In seiner Performance im Außenraum mobilisiert Müller die anthropomorphe und Gemeinschaft stiftende, ein multiples statt rigides Verständnis
von Identität19 erlaubende Dimension seiner Bahn wollweißen Lodens. Als
eine Referenz für Burning Love (Lodenfüßler) dient ihm ein Happening,
das James Lee Byars 1969 in der von Anny de Decker in Antwerpen betriebenen Galerie „Wide White Space“ veranstaltete. Unter dem Titel Pink Silk
Airplane brachte Byars ein 30 x 30 Meter messendes Stück Stoff in den
Ausstellungsraum mit 100 kreisrunden Öffnungen für 100 Personen, die
auf dem Boden gemeinsam eine imaginäre Flugreise antreten konnten:
„So sassen nach einer Weile alle auf dem Boden, eingehüllt in eine rosa
88 — 89
Christian Philipp Müller
20
Johannes Gachnang
(Hrsg.): James Lee Byars.
Ausstellungskatalog
Kunsthalle Bern. Bern
1978, s.p.
21
Siehe unter anderem
mit Bezug auf die
kritischen Arbeiten
Müllers dazu George
Baker: Beziehungen und
Gegenbeziehungen: Ein
offener Brief an Nicolas
Bourriaud. In: Yilmaz
Dziewior (Hrsg.): Zusammenhänge herstellen.
Ausstellungskatalog
Kunstverein in Hamburg.
Köln: DuMont 2003, S.
126-133.
22
James Lee Byars, a.a.O,
s.p.
23
Siehe zur Ausstellung A
Sense of Friendliness,
Mellowness, and Permanence, die Ende 1992
in der Galerie American
Fine Arts, Co. in New
York stattfand: Baker,
a.a.O., S. 127f., sowie
Christian Philipp Müller,
a.a.O., S. 132-135.
24
James Lee Byars, a.a.O.,
s.p.
25
Didi-Huberman, a.a.O,
S. 27.
Seidenwolke und schwebten in einer Atmosphäre festlicher Verwunderung. Wer das Ganze lächerlich fand und sich nicht in eine derart verrückte
Situation begeben wollte, sah zu, dass er fortkam. Wer jedoch mitspielte
tauchte etwas verlegen in den rosa Traum und schaute verwundert nach
den schmunzelnden oder versonnenen Gesichtern um sich herum, in
denen er dann Freunde [...] erkannte.“20 Aber auch 1969 war Byars genau
wie vier Jahrzehnte später Müller nicht daran gelegen, die Freude eines
gemeinschaftlichen Erlebens zu ermöglichen, wie sie in der „relationalen
Ästhetik“ der Neunzigerjahre fröhliche Urständ‘ feiern sollte;21 vielmehr
sind die damals wie heute durch ein Stück Stoff hergestellten Zusammenhänge mitunter von Momenten der ungewollten Zugehörigkeit geprägt.
So wiederholte Byars Pink Silk Airplane einen Monat später anlässlich
eines Besuchs bei Joseph Beuys an der Kunstakademie Düsseldorf, an
der in den Achtzigerjahren auch Müller studieren sollte, zerschnitt aber,
wie de Decker sich erinnert, „nachdem etwas hundert Leute [...] Platz genommen hatten, [...] den Stoff mit einer Schere und das Flugzeug zerfiel
in luftige rosa Engel, wobei immer zwei oder drei miteinander verbunden
waren, je nachdem wie sie Byars ausgeschnitten hatte.“22 Der Seidenstoff
ist mithin genau wie Müllers Loden kein Garant für ein Gefühl von Freundlichkeit, Heiterkeit und Beständigkeit, um den Titel eines Projekts des
Schweizer Künstlers aus dem Jahr 1992 zu zitieren.23 Was als „formloses
zusammengeknülltes Bündel“24 begann, ist bei Byars kein Nachleben als
faltenwerfender Stoff vergönnt, aus dem die „menschliche Form [...] sich
tatsächlich verflüchtigt [hat]“, aber als „Suspense“25 gegenwärtig bleibt.
Müller schneidet die Bahn, die zwanzig Personen vorübergehend als
Bekleidung auf einer realen Tagesreise per pedes gedient hat, hingegen
nicht in Stücke, sondern überführt sie in eine Skulptur, die sich nach dem
Auftakt seines Tableaus zur Geschichte und Gegenwart des Lodens durch
zwei Säle des Schlosses Trautenfels zieht, um am Ende dieses Parcours
auf einen Film zu treffen, das den langen, kollektiv zurückgelegten Weg
dieser Stoffmasse von der Walke ins Museum festhält. In der Formlosigkeit einer der Ästhetik des Postminimalismus folgenden Plastik tritt
der Loden den Betrachtern nun haptisch entgegen; wo ihm einst die
Köpfe und Rümpfe von zwanzig Personen Halt und Form gaben, sorgen
nun einfache Böcke – ungefähr so breit wie ein paar Schultern und wie
die Bodendielen des Schlosses aus Lärchenholz gefertigt – dafür, dass
er über dem Boden der Ausstellungsräume schwebt. Die Präsenz der
menschlichen Figur bleibt bestehen: Müllers Minimalismus begnügt sich
nicht, wie oft von dieser Formation in der nachmodernen Kunst behauptet wird, mit der Tautologie angeblich elementarer Formen und neutraler
Materialien, die nur das zu sehen geben, was man tatsächlich sieht. Das
dialektische Bild dieser Arbeit schlägt im Wissen um den nachhaltigen
Anthropomorphismus der skulpturalen Form und eingedenk der von Müller ausgestellten Geschichte der dynamischen Umkehrungen des Stoffes,
aus dem sie gemacht ist, vielmehr eine Brücke zwischen dem „Seh- und
James Lee Byars
Pink Silk Airplane, 1969
Wide White Space,
Antwerpen
Christian Philipp Müller
Rückseite des Kataloges
der Venedig Biennale,
österreichischer Pavillon,
1993
v.l.n.r.: Andrea Fraser,
Gerwald Rockenschaub,
Christian Philipp Müller
26
Georges Didi-Huberman:
Was wir sehen blickt uns
an. Zur Metapsychologie
des Bildes. München:
Fink 1999, S. 159.
27
Didi-Huberman, a.a.O.,
S. 137.
28
Vgl. Juliane Rebentisch:
Ästhetik der Installation. Frankfurt am Main:
Suhrkamp 2003, S. 264.
In diesem Sinne betont
Rebentisch zurecht,
dass die „Stärke ortsspezifischer Kunst noch
nie in der Prätention
[lag], den Produktionsbedingungen tatsächlich
entkommen zu können,
sondern darin, das
Bewusstsein für diese
und die mit ihnen verbundenen Konfliktlinien
zu schärfen. Ebda., S.
266.
29
Ebda., S. 263.
30
Ebda., S. 278.
Tastsinn“ und den „semiotischen Sinne[n] oder Bedeutungen mit ihren
Mehrdeutigkeiten.“26 So wie die allgemeine Kraft des Nachlebens sich in
den späten Sechzigerjahren Didi-Huberman zufolge in den „Fällen“ aus
Filz von Robert Morris äußerte, erscheint sie auch in dieser Skulptur Müllers als „ewige Gegenwart der Metamorphosen“27, in diesem Falle jener
des Lodens als Textil und Bedeutungsträger, aus dem spezifischen Kontext stammend, in dem wie so oft in den kritisch-reflexiven Werken des
Schweizer Künstlers die Her- und Ausstellung von zeitgenössischer Kunst
programmatisch in eins fallen.
Wie Burning Love (Lodenfüßler) in der Konstellation eines idiosynkratisch
anmutenden Bildtableaus mit der performativen Aktivierung eines überdimensionierten Wetterflecks in der Landschaft und einer das regional
codierte Textil mit der Geschichte der Kunst nach dem Minimalismus
verknüpfenden raumgreifenden Skulptur deutlich macht, wäre es indes
ein Missverständnis, die Arbeitsmethode Müllers dahingehend zu deuten,
dass ihr kritisches Potential daraus resultiere, sich mit einem Kontext gemein zu machen. Wie auch das eingangs angeführte, paradox wirkende
Statement Müllers zu seinem Verständnis einer ortsspezifischen Praxis
betont, geht es, wie die Philosophin und Kunstkritikerin Juliane Rebentisch herausgestellt hat, in solchen Werken immer darum, den „doppelten
Ort der Kunst“, d.h. die etablierten Konventionen der Ausstellung und
Produktion im Verhältnis zu ihrer gesellschaftlichen Funktion insgesamt zu reflektieren.28 Dies hat zur Folge, dass eine Arbeit wie Müllers
Projekt in der Steiermark „dem jeweilig lebensweltlich bestimmten Raum
gewissermaßen einen virtuellen Raum [überschiebt], der durch das Spiel
der Bedeutungen bestimmt ist, das durch das Werk in bezug auf seinen
sichtbaren ebenso wie in Bezug auf seine unsichtbaren Kontexte in Gang
gesetzt wird.29 Soziale Relevanz entsteht deshalb auch im Falle von im
Hinblick auf einen konkreten Ort entwickelten Werken wie Burning Love
(Lodenfüßler) nicht dann, wenn Ästhetik nivelliert wird, sondern im Gegenteil dann, wenn die „Spannung zwischen Darstellung und Dargestelltem alle Gehalte reflexiv so unter Strom setzt, daß deren vermeintliche
Selbstevidenz von der prozessualen Logik der ästhetisch erfahrenden
Werke noch dort aufgezehrt wird, wo sie ihren Produzenten als Wesentliche erscheinen.“30 Die Beziehung zwischen einem Material und seiner
Bedeutung steht in solchen Werken niemals still, sondern ist, wie Müller in seiner bewusst eingeschränkten Perspektive auf die wechselhafte
Geschichte und widersprüchliche Aktualität des Lodens vor Augen führt,
strukturell bedeutungsoffen, der Intention des Künstlers entzogen und
an keinen Ort unauflöslich gebunden. Das Nachleben eines Stoffes und
seiner ortsspezifischen Gehalte in dieser selbstreflexiven Eigenlogik der
ästhetischen Erfahrung zu brechen, ohne das Soziale gegen eine Kunst
auszuspielen, die sich ihrer konstitutiven Ortslosigkeit vollends bewusst
ist, darin liegt Christian Philipp Müllers Eigensinn.
122 — 123
Ein Zeichen der Zeit1
Pierre Bourdieu
1
Wiederabdruck aus: Pierre
Bourdieu: Ein Zeichen der
Zeit. In: Pierre Bourdieu
(u.a.): Der Einzige und sein
Eigenheim. Erweiterte
Neuausgabe der Schriften
zu Politik & Kultur 3, hrsg.
von Margareta Steinrücke.
Hamburg: VSA 2002.
Übersetzung des Textauszugs: Jürgen Bolder.
2
Der sich selbst Quälende,
Titel eines Gedichtes
von Baudelaire aus der
Sammlung Die Blumen
des Bösen, ursprünglich
Titel einer Komödie des
römischen Dichters Terentius Afer (195-159 v. Chr.);
Anm. d. Hrsg.
3
Verträge, aus denen eine
Partei allein allen Nutzen
zieht; Anm. d. Hrsg.
4
Die v.a. von Linken vorgenommene Idealisierung
des Volkes bzw. der
Volksklassen als kollektiv
orientiert und klassenbewusst; Anm. d. Hrsg.
Das, was im Verlauf dieser Arbeit immer wieder zur Sprache kommen wird,
bildet eine der Hauptquellen des kleinbürgerlichen Elends oder genauer,
all der kleinen Nöte, all dessen, was die Freiheit, die Hoffnungen und die
Wünsche beeinträchtigt und dazu führt, dass das Dasein von Sorgen und
Enttäuschungen, von Einschränkungen und Fehlschlägen und nahezu
unvermeidlich von Melancholie und Ressentiment erfüllt ist. Freilich ruft
dieses Elend, anders als die großen Härten der proletarischen oder subproletarischen Lebenssituation, nicht spontan Sympathie, Mitleid oder
Empörung hervor. Und das wohl deshalb nicht, weil die Bestrebungen,
die die Unzufriedenheit, die Desillusionierung und das Leiden des Kleinbürgers nach sich ziehen, stets auch etwas der Komplizenschaft desjenigen, der diese Bedrückungen erfährt, geschuldet zu sein scheinen,
seinen irregeleiteten, entpressten, entfremdeten Wünschen, durch die
er, diese moderne Inkarnation des Heautontimoroumenos,2 untergründig
an seinem eigenen Unglück mitwirkt. Dadurch, dass er sich häufig auf für
ihn zu groß angelegte, weil eher auf seine Ansprüche als auf seine Möglichkeiten zugeschnittene Projekte einlässt, bringt er sich selbst in eine
von übermächtigen Zwängen beherrschte Lage. In dieser bleibt ihm als
Ausweg nur, sich um den Preis einer enormen Anspannung den Folgen
seiner Entscheidung zu stellen und sich zugleich darum zu bemühen, sich
mit dem, womit die Realität seine Erwartungen sanktioniert hat, zufriedenzugeben, wie man so sagt, indem er alle Anstrengungen macht, die
Fehlkäufe, die erfolglosen Unternehmungen, die leoninischen3 Verträge
in seinen eigenen wie in den Augen seiner Angehörigen zu rechtfertigen.
Dieses gleichermaßen kleinliche wie triumphierende „Volk“ hat nichts,
woran die populistische Illusion4 Gefallen fände. Zu nah und zu fern zugleich, zieht es die Missbilligung und die Sarkasmen der Intellektuellen
auf sich. Sie beklagen seine „Verbürgerlichung“ und machen ihm seine
irregeleiteten Bestrebungen wie seine Unfähigkeit zum Vorwurf, diesen
eine andere als eine ebenso irregeleitete und lächerliche Befriedigung zu
124 — 125
Franz Kapfer
verschaffen; kurz, all das, worauf die gängige Denunzierung des Traums
vom eigenen Heim sich bezieht. Und weil es sich dazu verleiten ließ, über
seine Verhältnisse, auf Kredit zu leben, stößt es doch, über kurz oder
lang, namentlich in Form der Sanktionen der Bank, von der es sich wahre
Wunder erhofft hatte, fast ebenso schmerzlich auf die Härten der ökonomischen Notwendigkeit wie zu anderen Zeiten die Industriearbeiter.
Dieser Umstand erklärt wohl, warum dieses „Volk“, das zum Teil auch
Produkt einer auf seine Bindung an die bestehende Ordnung durch die
Bande des Eigentums angelegten Politik des sozialen Liberalismus ist,
in seinem Wahlverhalten gleichwohl den Parteien die Treue gehalten hat,
die sich auf den Sozialismus berufen. Scheinbar der besondere Nutznießer des allgemeinen „Verbürgerlichungs“-Prozesses, ist es durch den
Kredit an ein Haus gefesselt, das oft unverkäuflich geworden ist. Wenn
es nicht gar außerstande ist, die vor allem mit dem Lebensstil zusammenhängenden Belastungen und Verpflichtungen auf sich zu nehmen,
welche die oftmals ihm selbst nicht transparente Ausgangsentscheidung
stillschweigend implizierte. „Nicht alles am Vertrag ist vertragsmäßig“,
hat Durkheim gesagt. Nirgends trifft diese Formel so zu wie bei dem
Kauf eines Hauses, in dem unausgesprochen ein ganzer Lebensplan und
Lebensstil einbegriffen sind. Das ist es, was so viele Aussagen auf so
bewegende Weise zum Ausdruck bringen.
132 — 133
Codename Zement
Martin Prinzhorn
In seinem neuen Projekt Sieh-Dich-Für verbindet Franz Kapfer zwei vordergründig entgegengesetzte Stränge: Auf der einen Seite stehen Konzepte wie Befestigung, Autarkie, Abschottung nach Außen etc., auf der
anderen Seite geht es um die V2, jene deutsche Wunderwaffe, die für
die Aggression der Politik der Nazis steht, für Eroberung, Unterdrückung
und Terror. Rückzug trifft hier gewissermaßen auf Eroberung. Historisch
gesehen hat dieses Zusammentreffen von konzeptuellen Gegensätzen
vor mehr als sechzig Jahren in der Umgegend des Veranstaltungsortes
tatsächlich stattgefunden, als die den Krieg verlierenden Nazis – also
Deutschland und das mit diesem fusionierte Österreich – unter dem
Codenamen Zement das Konzept der „Alpenfestung“ als eine Art letzten
Ausweg entwickelten, um das Terrorregime doch noch über den Krieg
hinaus zu retten. Die Idee dabei war sozusagen, sich hinter beziehungsweise in die Berge zurückzuziehen und hoffnungsvoll abzuwarten, bis
sich Westmächte und Sowjetunion über kurz oder lang bekriegen würden und man als Dritter diesen Konflikt mehr oder weniger unbeschadet
durchstehen könnte. Vor allem die Kriegsindustrie sollte unterirdisch
im Schutz der Alpen weiterbestehen, um militärische Macht hinüberzuretten. Die Produktion der Wunderwaffe V2 wurde von Peenemünde
ins oberösterreichische Ebensee verlagert, ihr Treibstoff sollte statt
Bier in den Kellern der Brauerei Zipf hergestellt werden. Inwieweit das
Verstecken oder Versenken von Schätzen dem Sagenhaften zugeordnet
werden muss, ist bis heute Gegenstand von Spekulationen. Aber da die
ganze Aktion so viele unwirkliche oder fantastische Elemente enthält,
eignete sie sich in den Jahrzehnten nach 1945 und in rechten Kreisen
wohl bis heute vorzüglich als eine Art mythischer Nachlass des Dritten
Reiches, der gerne anstelle von Zerstörung, Kriegsopfern und Millionen
Ermordeter thematisiert wurde. Diese Phantasien, die dann auch reichlich Stoff für Agentengeschichten abgaben, lenken von der Katastrophe
in ihrer Gesamtheit ab und führen von einer politischen Reflexion des
134 — 135
Franz Kapfer
Faschismus weg, hin zur Räuberpistole und zur Vorstellung, man sei
irgendwie doch noch überlegen gewesen, obwohl es dann letztendlich
nicht geklappt hat. Es sind also auch Phantasien, wie sie für Kleinbürger
typisch sind, die so den tristen Gegebenheiten ihres alltäglichen Lebens
entkommen wollen.
Dies führt schon in die zentrale Thematik von Franz Kapfers Kunst. In
seiner künstlerischen Praxis geht es immer um eine Analyse politischer
Kultur, in der die Verhältnisse von den kleinen und sehr konkreten Strukturen her aufgerollt werden und deren Abbildbarkeit auf die großen
Themen wie Autorität und Unterdrückung in politischen und religiösen
Systemen überprüft wird. Es sind die Symptome im Mikrobereich, die den
Künstler interessieren, von denen aus er zu einer Gesamtheit gelangen
will. In früheren Arbeiten war es vor allem der Austrofaschismus und das
mit diesem im Zusammenhang stehende verwaschene Verhältnis zwischen Kirche und Staat, das den Kapfer interessiert hat. Aber hier hat er
eben keine Analyse von oben her versucht, sondern den alltagskulturellen Zeichen nachgespürt, mit denen Politik und Kultur hier repräsentiert
wird, bzw. wie ihrer gedacht wird. Hier gelingt es dem Künstler, durch das
Aufspüren formaler Details oder weitgehend unbekannter inhaltlicher
Querverbindungen Netzwerke freizulegen, die politischen Ideen in ihrer
Gesamtheit – und das heißt vor allem auf allen unterschiedlichen Ebenen
– erfassbar zu machen. Ganz in diesem Sinne erinnern auf einer formalen
Ebene Kapfers künstlerische Produktionen an Bühnenbilder: Im Raum
der Kunst werden sozusagen die einzelnen Requisiten in einer großen
Installation zusammengetragen, und so verweist dieser Raum wiederum
auf Bühne und Inszenierung, genau jene beiden Begriffe, die Kapfer in
seiner Analyse der politischen Verhältnisse als konstituierende Elemente
begreift. Absolute Lächerlichkeit und bitterer Ernst können an keinem
besseren Ort aufeinandertreffen als auf der Bühne.
Ausgangspunkt für die hier gezeigte Arbeit ist wie gesagt die Alpenfestung mit all ihren historischen und ideologischen Hintergründen. Von
diesem Punkt aus unternimmt Kapfer seine Recherche zum Thema Faschismus. Er bewegt sich allerdings nicht wie ein Historiker nur in der
Zeit zurück, sondern versucht, Anknüpfungspunkte in der Kultur der
Gegenwart zu finden und so wiederum eine Mikroebene in das Gesamtbild einzufügen. Dabei geht es ihm wohl auch darum, den Charakter zu
erforschen, der ein autoritäres System überhaupt erst ermöglicht. Diesen
Charakter haben schon früher Denker wie Fromm oder Adorno im Zusammenhang mit dem Kleinbürger und seinen Phantasien gesehen. Kapfer
kommt hier zu einem ähnlichen Ergebnis, aber nicht aufgrund sozialpsychologischer Recherche, sondern aufgrund der ihm eigenen Methode einer
formal-inhaltlichen Assoziation. Der Alpenfestung werden jene kleinen
Festungen gegenübergestellt, die beim Bau von Eigenheimen entstehen:
136 — 137
Franz Kapfer
Um das Einfamilienhaus wird eine Gartenanlage befestigt, umzäunt von
Betonwällen oder Pflanzenhecken, sozusagen die natürliche Befestigung
durch die Berge nochmals duplizierend. Daraus nimmt sich Kapfer ein
Detail, das schon zu einer Art Wahrzeichen für kleinbürgerliche Gartengestaltung geworden ist: Die Thuje, der „Lebensbaum“. In seiner Kunst
wird sie in zweifacher Weise übersetzt. Einmal in ihrer einzelnen Form,
in der sie auf die Form der V2-Rakete verweist, die wie ein riesenhafter
Phallus für Eroberung und Aggression steht, und einmal in der Formation
einer Hecke, die für Schutz und Rückzug steht. Damit wird das Bild der
Alpenfestung auf jenen autoritären Charakter übertragen, der in seiner
Spießigkeit zwischen Abschottung und Schutzbedürfnis einerseits und
Allmachtsfantasien und Eroberung andererseits hin und her schwankt.
Sehr souverän verbindet Franz Kapfer hier sowohl Geschichte und Gegenwart des Ausstellungsortes als auch die ideologische Formation in
einer großen Perspektive mit ihren individuellen Voraussetzungen.
140 — 141
Peripher idyllisch
Schnappschüsse einer
eigensinnigen Landschaft
Günther Marchner
Skipioniere am Hochmühleck 1909
(Quelle: Familie Loitzl, Foto: Sepp Kain)
Ausdrücke wie „handwerkliche Fertigkeiten“ oder „handwerkliche
Orientierung“… verweisen auf ein dauerhaftes menschliches
Grundbestreben: den Wunsch, eine Arbeit um ihrer selbst willen gut
zu machen. Und sie beschränken sich keineswegs auf den Bereich
qualifizierter manueller Tätigkeiten. Fertigkeiten und Orientierungen
dieser Art finden sich auch bei Programmierern, Ärzten und Künstlern.
Richard Sennett: Handwerk, Berlin 2008, S. 19
In der europäischen Kulturgeschichte wird der „schaffende Mensch“
(Homo faber) als Hersteller von Dingen und Leistungen für die Gemeinschaft idealisiert. Ihm wird der Mensch als Last tragendes und
von Routine geplagtes Arbeitstier (Animal laborans) gegenübergestellt. Diese Unterscheidung unterstellt eine Hierarchie zwischen
Gestaltern und Entscheidungsträgern einerseits und den quasi untergebenen „Ausführenden“ andererseits. Sie erinnert an die Trennung
zwischen Kopf und Hand, zwischen geistiger und manueller Tätigkeit – und irgendwie auch zwischen Städten als Orte von Macht und
Geist und ländlichen Regionen als Zonen der untergebenen Zuarbeit.
Vor rund zehn Jahren noch konnte es geschehen, dass sich während
eines Gespräches im Eisenbahnzug ein Bauer beklagte, seine Kinder
seien zu intelligent. Was soll aus uns werden, fragte er, sie wollen
studieren, und wenn sie studiert haben, greifen sie kein Werkzeug
mehr an. Heute wissen auch die Bauern bereits, dass Intelligenz
nützlich sein kann. Nicht nur für die Herrschaften in den fernen
Städten, sondern an Orte und Stelle. Im Dorf.
Herbert Zand: Einsame Freiheit oder Landleben und Zivilisation. In:
Kerne des paradiesischen Apfels. Aufzeichnungen, Wien 1971, S. 42
Die Freude an der Arbeit lässt das Werk trefflich geraten.
Eröffnungsworte zum Öblarner Schafbauerntag am 19. März 2010
1
Richard Sennett:
Handwerk. Berlin 2008,
bzw. Richard Sennett:
Der flexible Mensch. Die
Kultur des neuen Kapitalismus. Berlin 1998.
Inmitten der Flexibilisierung und Prekarisierung der Arbeitswelt und
des Rationalisierungs- und Wettbewerbsdrucks auf die Realwirtschaft
spricht Richard Sennett, ein bekannter Interpret des flexiblen Menschen,
von „handwerklicher Orientierung“ als menschliches Grundbedürfnis,
gute Arbeit um ihrer selbst Willen zu leisten.1 Unsere Welt sei von handwerklich gut gemachten Dingen und Leistungen abhängig. Sennett meint
damit nicht nur das vertraute Bild des klassischen Handwerkers in seiner Werkstatt, sondern viele Professionelle wie zum Beispiel Künstler,
Wissenschafterinnen, Ärzte, Komponisten, Designerinnen, Köche oder
Hebammen, die hochmotiviert und qualitätsorientiert Dinge herstellen
oder Leistungen erbringen, für die sie Kopf und Hand (= Fertigkeit durch
Übung) brauchen. Und er widerspricht der Unterscheidung zwischen Homo
faber und Animal laborans. Denn bei allen arbeitenden Menschen – seien
es Bäuerinnen, Handwerker, Köche, Facharbeiterinnen oder Frisöre – sind
für eine gute Arbeit Motivation, Fertigkeit, Verantwortung und Qualitätsorientierung wesentlich, müssen Kopf und Hand „im Dialog“ stehen.
142 — 143
Günther Marchner
Pioniere, Visionäre, Innovatoren
Ein Vorurteil lautet, dass Neuerungen immer von den wirtschaftlichen und
politischen Machtzentren ihrer jeweiligen Zeit ausgingen und dass der ländliche Raum in der Regel diese zu erleiden, zu erdulden oder nachzuahmen
hatte. Aber die Geschichte von Regionen ist nicht allein eine Geschichte
des passiven Erlebens äußerer Veränderungen, seien es Krisen, rasante
Umwälzungen oder – positiv gewendet – die Umverteilung von Wohlstand
und Wachstum. Die „schaffenden Menschen“ waren an Veränderungen in
ihrer Region immer auch aktiv beteiligt. Und sie nutzten veränderte Rahmenbedingungen und Gelegenheiten für die Einführung von Neuerungen.
Sägewerk Loitzl in den 1920er-Jahren
(Quelle: Familie Loitzl, Fotograph unbekannt)
In wohl keinem Bereich wird das Wunschbild einer motivierenden, sinnerfüllenden und naturnahen Tätigkeit so „hinein idealisiert“ wie in die bäuerliche Landwirtschaft oder in das Handwerk in ländlichen Regionen. Auch
wenn die vielen kleinen Landwirtschafts-, Handwerks- und Gewerbebetriebe auch in den Gegenden des Bezirks Liezen einem enormen Druck,
oft bei abnehmenden Erträgen, entwerteter Arbeit und der lähmenden
Erfahrung der Konkurrenz durch Massenprodukte und Großstrukturen
ausgesetzt sind, verbunden mit Perspektivlosigkeit für Betriebsnachfolger/innen. Auch wenn in dieser agrarisch anmutenden, von MontanTraditionen durchzogenen Region die meisten Menschen nicht in diesen
Bereichen tätig sind. In einer Region, die nur in wenigen Fällen „Austragungsort“ einer großen Dienstleistungsindustrie – Seilbahngesellschaften, touristische Leitbetriebe, Eventmacher – sowie einer Immobilienund Finanzwirtschaft mit entsprechenden Erträgen ist. In einer Region, in
der die klassische Trennung zwischen manueller und geistiger Tätigkeit
spürbar wird: durch die Abwanderung von Menschen mit „höheren“ technischen und anderen Qualifikationen in die Ballungsgebiete. Oder durch
die Minderwertschätzung von vorrangig manuell tätigen Lehrberufen
und damit auch jenen Menschen, die in der Regel in der Region bleiben.
Ob Pionier und Erneuerer, Gestalter und Zerstörer seiner Umwelt und
Landschaft, bedauertes Arbeitstier oder romantisiertes Wesen in der
alpinen Idylle: Der „schaffende Mensch“ kommt in den Gegenden des Bezirks Liezen – wie in einer Bildergalerie – in vielerlei Gestalten daher. Und
das oft in eigensinniger Form.
2
Siehe dazu: Richard
Lamer: Das Ausseer Land:
Geschichte und Kultur
einer Landschaft. Graz:
Styria 1998, S. 63-66.
3
Siehe dazu: Siegfried
Ellmauer: Ohne Holz kein
Salz. Maximilian Edler von
Wunderbaldinger. Wegbereiter der neuzeitlichen
Forsteinrichtung. In:
Thomas Hellmuth u.a.
(Hg.): Visionäre bewegen
die Welt. Ein Lesebuch
durch das Salzkammergut. Salzburg: Pustet
2005, S. 150-161.
4
Vgl. dazu: Gerhard Longin:
Landwirtschaft aus dem
Lehrbuch. Paul Adler und
sein Leben für den bäuerlichen Fortschritt. In:
Thomas Hellmuth u.a.
(Hg.): Visionäre bewegen
die Welt. Ein Lesebuch
durch das Salzkammergut.
Salzburg: Pustet 2005,
S. 143-149; Hermann
Baltl: Paul Adler – Ein
Leben für den bäuerlichen
Fortschritt. Graz: Leykam
1984.
5
Siehe dazu: Landgenossenschaft Ennstal (Hg.):
Ein Wal im Wandel der
Zeit, Stainach 1983.
So ist auch diese Region nie nur „Objekt“ der von außen angestoßenen
Veränderungen gewesen, wie zum Beispiel der erzherzoglichen Organisation des Bergwerkswesens und damit verbundener Nebengewerbe über
mehrere Jahrhunderte. Oder der Angliederung an die überregionale Industriegesellschaft durch den Eisenbahnbau Ende des 19. Jahrhunderts.
Der Integration in überregionale Tourismus- oder landwirtschaftliche
Absatzmärkte im 20. Jahrhundert. Oder der Etablierung staatlicher Industrien im Dritten Reich und in der Zweiten Republik auf der Grundlage vorhandener montaner Traditionen. Neuerungen waren zumeist mit
Pionieren und innovativen Persönlichkeiten aus der Region verbunden.
Sei es zum Beispiel Christoph von Praunfalk, der in der frühen Neuzeit
die Grundlage für die Modernisierung der Ausseer Salinen und für eine
ökonomische Nutzung der Waldbestände legte.2 Oder ein Pionier der
modernen Forstwirtschaft, wie der im Salzkammergut tätige Max von
Wunderbaldinger.3 Dazu zählen auch der Hinterberger Bauer Paul Adler,
der sich als Freund der steirischen Leitfigur Erzherzog Johann für eine
Verbesserung und Modernisierung der Landwirtschaft seiner Region einsetzte.4 Der Gröbminger Bauer Franz Haiger, der die Initiative zur Gründung der Käsereigenossenschaft Gröbming im Jahr 1900 ergriff und somit
den Grundstein für die spätere Landgenossenschaft Ennstal und für die
Schaffung gemeinschaftlicher Verarbeitungs- und Absatzmöglichkeiten
legte.5 Der ehemalige Ausseer Salzfuhrmann Johann Loitzl, der sein Kontaktnetz und sein kaufmännisches Talent nutzte, um als Hinterberger
Sägewerksbesitzer auf das neue Eisenbahnnetz für den Holzexport zu
setzen. Oder jene Skipioniere, die noch in der Zeit der k.k. Monarchie die
Möglichkeiten ihrer Landschaft wie auf der Tauplitzalm, im Hinterbergertal oder anderen Gegenden der Region mit den Bedürfnissen städtischer
Skiverrückter aus Wien, Graz und München verknüpften. Oder Bergsteigerpioniere wie die Steinerbrüder in der Ramsau, die mit ihrer Route durch
die Dachsteinsüdwand Aufsehen erregten. Oder ein Schneider wie Robert
Kanzler, der im Dialog mit dem Skisportler Leo Gasperl in den 1930erJahren die „Keilhose“ entwickelte, Jahrzehnte bevor der sicherlich dafür
passende Ausdruck „Creative Industries“ überhaupt in Verwendung
144 — 145
Günther Marchner
kam. Oder unternehmerische Persönlichkeiten wie der Bad Mitterndorfer
Langzeitbürgermeister Siegfried Saf, der in den 1960er-Jahren die Rahmenbedingungen des deutschen Wirtschaftswunders für den Aufbau des
Massentourismus ebenso nutzte wie die Schladminger und Ramsauer,
deren Sprung zur Massentourismus in Seilbahnprojekten auf den Dachstein, in Sportstadien und spektakulären Wintersport-Events mündete.6
Stets war es die Schaffenskraft von regionalen Pionieren, Visionären und
Innovatoren in dieser ländlich-patriarchalen Welt, die allgemeine Bedingungen und darin liegende Chancen erkannten und für Neuerungen nutzten, neue Existenz- und Erwerbsmöglichkeiten schufen, zur Bewältigung
von Krisen beitrugen – gelegentlich aber auch zur Schaffung nachfolgender Krisen. Es war ihre Schaffenskraft, die mit der Einführung von Neuem
in einer traditionsreichen Gegend damit immer auch „Gewachsenes“ wie
„Gewohntes“ zerstörte.
6
Vgl. dazu: Rudolf
Raimund Gross: Bad
Mitterndorf, Liezen 1972;
Dokumentationsarchiv
„Kultur in der Natur“
zur Gemeinde Bad
Mitterndorf (noch
unveröffentlicht); Günter
Cerwinka und Walter
Stippberger (Hg.): Schladming. Geschichte und
Gegenwart, Schladming
1996; Herbert Thaller:
Ramsau am Dachstein.
„Land und Leut`“. Eine
zeitgeschichtliche
Photodokumentation,
Schladming, o.J.; Günther
Cerwinka: Bauern. Bibel.
Berge. Ramsau am Dachstein, Ramsau 1999.
7
Vgl. dazu: Ernst Hanisch:
Der lange Schatten des
Staates. Österreichische
Gesellschaftsgeschichte
im 20. Jahrhundert. Wien
1994.
8
Herbert Zand: Einsame
Freiheit oder Landleben
und Zivilisation. In:
Kerne des paradiesischen
Apfels. Aufzeichnungen.,
Wien: Europaverlag, 1971,
S. 42. Der aus Knoppen
(Gemeinde Pichl-Kainisch)
stammende Herbert
Zand erhielt Anfang der
1950er-Jahre den Österreichischen Staatspreis
für Literatur.
Siegfried Saf bei der
Errichtung der Tauplitzalmstrasse Anfang der
1960er Jahre
(Quelle: Frau Saf,
Fotograf: Sepp Kain)
Animal laborans als Homo ludens
Dabei war nicht nur der arbeitende Mensch am Werk, sondern vielfach
auch der Homo ludens. Nicht zufällig „entdeckte“ das städtische Bürgertum bei seiner Flucht in die idyllische Sommerfrische, dass die Menschen auf dem Lande nicht nur eine „arbeitende Masse“, sondern auch
kreative und originelle Kulturschöpfer waren. Die Begeisterung für diese
Menschen, im Besonderen für ihre Volksmusik, drückte sich gerade im
Ausseerland aus, wie zum Beispiel bei Konrad Mautner, der sich als
Abkömmling einer Industriellenfamilie in einen begeisterten Gössler
verwandelte.10 Vielleicht klingt in der überdurchschnittlich hohe „Musikantendichte“ der Region, die in keiner öffentlichen Statistik als bemerkenswerte Erscheinung vorkommt, diese Seite des Homo ludens noch nach.
Bis in das 20. Jahrhundert war der „schaffende Mensch“ in den
vergleichsweise armen Alpentälern der k.k. Monarchie Teil einer
bäuerlich-dörflichen Welt, geprägt von harter Arbeit und einem bescheidenen Leben, autarker Selbstversorgungswirtschaft, geringen
Marktbeziehungen, eingeschränkten Konsummöglichkeiten, strenger
sozialer Kontrolle und einem Aufeinanderangewiesensein in dörflichen
Gemeinschaften7 – in den Gegenden des Bezirks Liezen ergänzt durch
Zuverdienstmöglichkeiten im Bergbau, in der Holzwirtschaft, im Fuhrwerk oder Handwerk, erst später gelegentlich durch den Tourismus.
Der aus der Region stammende Schriftsteller Herbert Zand betonte in
den 1960er-Jahren in seinem Essay Einsame Freiheit oder Landleben
und Zivilisation die illusionslose und unromantische Seite des Arbeitens
und Lebens auf den Höfen und in den Dörfern seiner Heimat – gegen eine
falsche Idealisierung des Landlebens.8 Für ihn war es eine Welt, wo die
Menschen durch ihre Arbeit „der Natur“ ständig näher waren, als es städtische Naturliebhaber je sein konnten, eingebunden in einen gnadenlosen
Jahreskreislauf und eine karge Basis, die kaum Freiheiten für anderes zuließ. Aber Zand nahm auch wahr, wie diese Welt auch ein gewisses Maß
an Eigenständigkeit und Freiheiten von Menschen ermöglichte, vorausgesetzt sie waren in der Lage, mit diesen Bedingungen zurechtzukommen.
Diese bäuerliche, mit Bergbau, Forstwirtschaft und Fuhrwesen vermischte Welt, wie sie diese Region prägte, war aber nicht nur eine Zone
hart arbeitender Menschen außerhalb der Städte, die keinen Geist und
Sinne für mehr hatten. Sondern sie war auch eine Welt voller Fertigkeiten,
voller Stolz und voller Kreativität. Der in Spital am Phyrn aufgewachsene
österreichische Soziologe Roland Girtler beschreibt diese Welt, die er als
Jugendlicher nach dem Zweiten Weltkrieg noch erlebt hatte und welche
in den 1950er- und 1960er-Jahren zu Ende ging:9 Eine bäuerliche Kultur,
die seit dem Mittelalter nach dem Prinzip der Selbstversorgung lebte
und wo Menschen nebenher Einnahmequellen erschlossen, wie im Bereich des ländlichen Handwerks, im Bergbauwesen, als Holzknechte und
Holzführer – oder ab dem späten 19. Jahrhundert im Ausseerland durch
die Aufnahme und Versorgung von „Herrschaften“ aus den Städten über
die Sommermonate. Diese Welt war voller Fertigkeiten und Erfahrungswissen: Nicht nur von Ennstaler Bauern, sondern auch von Handwerkern,
wie jene entlang der Salzstrasse wie an einer Perlenschnur aufgefädelten Schmiede, Wagner oder Sattler. Oder die Schneider und Schuster,
die „auf Stör“ von Hof zu Hof zogen, Kleider und Schuh richteten und
herstellten. Oder die stolzen und gewiss privilegierten Salinenbergleute
und Salzfuhrleute. Oder jene Holzknechte und Holzführer, die in der
Lage waren, harte und gefährliche Handarbeit im Wald zu verrichten.
9
Roland Girtler: Sommergetreide. Vom Untergang
der bäuerlichen Kultur.
Wien: Böhlau 1996.
10
Vgl. dazu: Nora Schönfellinger (Hg.): „Conrad
Mautner, großes Talent“.
Ein Wiener Volkskundler
aus dem Ausseerland.
Grundlsee: Kulturelle
Arbeitsgemeinschaft
Grundlsee 1999.
11
Vgl. dazu: Vom Leben auf
der Alm. Ausstellungskatalog. Kleine Schriften
des Landschaftsmuseum
Schloß Trautenfels am
steiermärkischen Landesmuseum Joanneum, Heft
12. Trautenfels 2004.
Zu dieser besonderen Welt gehörten auch Almen und Berge, jener
„erste Stock“ der Region, den auch Herbert Zand in seiner biografischen Erinnerung als Achse der Freiheit und des mythischen Zaubers
erlebte. Nicht zufällig wurde das „Almleben“, trotz harter und verantwortungsvoller Arbeit, jedoch verbunden mit geringerer sozialer
Kontrolle und mit mehr Freiheit, zum besonderen „Labor“ volkskultureller Ausdrucksformen und Gegenstand späterer Idealisierung.11
Die Zeit der Modernisierung und des großen Wandels ländlicher Regionen
vor allem nach dem Zweiten Weltkrieg machte jedoch auch sichtbar, wie
gerne Menschen aus dieser kargen bäuerlich geprägten Welt flüchteten,
hinein in eine Welt der – in dieser Region oft staatlichen – Arbeitsplätze
in Industrie und Dienstleistung, die mehr Rechte, weniger Schinderei und
mehr Wohlstand bedeutete. Vielleicht war die rasante Modernisierung in
den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg, die Ablehnung alles Ländlichen,
Regionalen und Alten und die Zuwendung zur modernen materiellen Kultur seit den 1960er-Jahren auch ein Ausdruck dieser Flucht.
146 — 147
Günther Marchner
Enns und die Nutzbarmachung des Talbodens für Verkehr und Landwirtschaft im 19. Jahrhundert. In der rasanten Veränderung der Kulturlandschaft durch Meliorationen, Mechanisierung, Flurbereinigung, Produktivitätssteigerung und Spezialisierung auf Grünlandbewirtschaftung.
Oder im Wandel von der ennstalerischen Heuhütten- in eine HeuballenLandschaft, unterbrochen vom Zeitalter der Betonsilos der 1970er- und
1980er-Jahre.
Die romantische Idealisierung ländlich-alpinen Schaffens
Alpine Landschaften dienten seit der Industrialisierung und seit ihrer
romantischen „Entdeckung“ als vielfältige Projektionsflächen: sowohl für
bürgerliche Fluchtbewegungen als auch für wärmestiftende Heimatbilder im Gegensatz zur Unwirtlichkeit und Unbehaglichkeit der industriellen Moderne. Die Landschaften des Bezirks Liezen – vor allem das Ausseerland – zeugen davon mit reichhaltigem Material.12 Die arbeitenden
Menschen in ländlichen Regionen – vor allem Bauern, Handwerker, Jäger,
Holzknechte oder Sennerinnen – schienen für Adel und Bürgertum einem
„Leben mit der Natur“ näher zu stehen. Sie idealisierten das harmonisch
erscheinende und bescheidene Leben eines stolzen und eigensinnigen
„Menschenschlages“. So entstanden Mythen des einfachen Volkes in
einer heilen ländlichen Welt, nachhaltig wie wirkungsvoll besungen etwa
von Erzherzog Johann
Oder durch den Wandel der Verkehrswege in der Region, wie zum Beispiel mit dem markanten Beginn des Eisenbahnzeitalters in den 1870erJahren (was erst durch die Regulierung der Enns möglich geworden war).
Historisch waren die Verkehrswege oft quer zum Talboden verlaufen, zum
Beispiel vom Pass Stein ins Sölktal oder durch das Donnersbachtal über
das Gladjoch Richtung Süden. Die uns heute bekannten Hauptstrecken
durch die Talböden waren nicht immer die wichtigsten, da technisch genauso rasch (oder langsam) zu bewältigen, wie die Saumpfade über die
Alpen. Der Bau des Eisenbahnnetzes veränderte durch die Einbindung
der Region in ein überregionales Industriesystem die Bedingungen des
Wirtschaftens in der Region ebenso radikal wie der spätere motorisierte
Straßenverkehr. In den 1970er-Jahren wurde das Ennstal zur gefürchteten, da gewundenen, langsam zu befahrenden, vom Verkehr überrollten
„Gastarbeiterroute“. Eine Entwicklung, die schließlich zur Planung der
„Ennsnahen Trasse“ führte, die nicht nur als Verkehrsweg, sondern auch
als Konfliktlinie von Befürwortern und Gegnern das Tal in zwei Hälften
schneidet.
Im Hinblick auf Idealisierung bis hin zum politischen Missbrauch stand
im Besonderen immer das Bild des „stolzen unabhängigen Bauern“ im
Mittelpunkt: zum Beispiel als Repräsentant des „einfachen und fleißigen Volkes“, als Vertreter einer ständischen Gesellschaftsordnung,
oder – wie in der NS-Zeit – als tragendes Element einer Blut-und BodenMythologie. Heute ist es das Bild des Bauern als spezialisierter selbständiger Unternehmer. Dieses Bild kollidiert aber auch in dieser Region
mit einer Realität, in welcher die Mehrheit der immer weniger werdenden
Landwirtschaftsbetriebe zu abhängigen Gliedern einer Agrarmaschine
geworden ist, eingespannt in vor- und nachgelagerte Bereiche einer Bereitstellungs- und Verarbeitungsindustrie und eines dschungelartigen
Vertretungs- und Förderwesens.
12
Thomas Hellmuth u.a.:
Visionäre bewegen die
Welt, Ein Lesebuch durch
das Salzkammergut.
Salzburg: Pustet 2005.
13
Daten laut „Rauminformationssystemsystem
Steiermark. Regionalprofil
Liezen“ (ein Projekt der
Initiative Regionext des
Landes Steiermark): Im
Jahr 2005 waren 7% der
Erwerbstätigen in der
Land- und Forstwirtschaft, 30% in Industrie
und Gewerbe, 63% im
Bereich der Dienstleistungen beschäftigt.
Oder sei es der Tourismus, der in den Gesichtern mancher Gemeinden
seine Spuren hinterließ, sogar bis hin zum „totalen Tourismus“14, der
als teilweise realisierte Vision in den 1970er-Jahren z.B. die Gemeinde
Bad Mitterndorf prägte, bis der Bauboom aufgrund des zunehmend unbehaglichen Gefühls quer durch alle Gemeinderatsfraktionen in einem
Baustopp mündete. Genauso wie in der Dachstein-Tauernregion, wo die
Tourismusinfrastruktur den umliegenden Bergen einen nachhaltigen
Stempel aufdrückt.
Ländlich-alpine Regionen werden auch in aktuellen Vorurteilen und
Wunschbildern vieler Menschen noch immer als vorrangig „agrarische“
Welt verstanden, ergänzt mit Tourismus und Naturschutz. Andere Bereiche wie Dienstleistung und neue Industrien, Forschung, Wissenschaft
oder „Kreativwirtschaft“ sind in diesen Vorstellungen des ländlichen
Raumes gar nicht vorgesehen – auch wenn die meisten Menschen im
Bezirk Liezen nicht mehr in der Landwirtschaft tätig sind und obwohl es
in dieser Region immer auch schon andere Branchen und Berufe gegeben
hat.13
Regionalität als Aufstand gegen Entwertung
Der schaffende Mensch als Gestalter und Zerstörer seiner Umwelt
Der „schaffende Mensch“ als Gestalter – und auch als Zerstörer – seiner
Landschaft und Umwelt, manifestierte sich in der Region vielfältig: zum
Beispiel in der Bewirtschaftung der Wälder für die Ausseer Salinen, die
die Landschaften seit dem Mittelalter mitformte. In der Regulierung der
14
Der Begriff wurde verwendet in: Stefan Karner: Geschichte der Steiermark
im 20. Jahrhundert. Graz:
Styria 2000.
„Regionalität“, jenes Schlagwort, das im Schatten der Globalisierung zur
Konjunktur gelangte, lebt nicht nur vom der Erfahrung des Verschwindens nahräumlicher Qualitäten, sondern vor allem vom „Aufstand“ gegen
einen schleichenden Entwertungsprozess lokal gebundener Erwerbstätigkeit und Wertschöpfung. Dieser Wandel, der traditionelle wirtschaftliche Kleinstrukturen unter Druck setzt, hat seine Auswirkungen auch in
einem Bezirk wie Liezen, wo Wertschöpfung, Kaufkraft und Humanressourcen in einem stetigen Prozess an Ballungsräume verloren gehen oder
148 — 149
Günther Marchner
15
Siehe dazu: www.meisterstrasse.at
16
Vgl. dazu: Landschaft des
Wissens (Hrsg.): Strategien des Handwerks.
Sieben Portraits außergewöhnlicher Projekte in
Europa. Stuttgart 2006.
sich an wenigen verkehrsgünstigen Punkten und attraktiven Standorten
in der Region konzentrieren.
Bereits vor drei Jahrzehnten ist dagegen die Idee der „eigenständigen Regionalentwicklung“ geboren worden – die auch in der Programmatik des
europäischen Förderprogramms „Leader“ ihren Ausdruck findet. Statt auf
Betriebsansiedlungen, Wachstumseffekte und den Segen von außen und
von oben alleine zu hoffen, werden mit dieser Idee die vorhandenen Potenziale und Stärken der Menschen einer Region und das gemeinschaftliche innovative Handeln und Erneuern in den Mittelpunkt gestellt. Diese
Idee erzählt im Grunde von nichts anderem als von „schaffenden“ und
„eigensinnigen“ Menschen als Motoren für die Entwicklung in Regionen.
Gerade in der Konzentration auf wertschöpfende Potenziale und identitätsschaffende Qualitätsprodukte einer Region wird die Wiederaufwertung von vorhandenen Kenntnissen, Fähigkeiten und Fertigkeiten, um
gute Arbeit zu machen und Qualität zu schaffen, zum Leitmotiv. Erzählt
nicht gerade die Vermarktungsplattform der „Meisterstraße“, die die Renaissance österreichischer Handwerkskultur propagiert, und der inzwischen viele Betriebe im Salzkammergut und im Ennstal angehören, nicht
vom Stolz auf die eigene Qualität, auf die Besonderheit originärer wie
kreativer Leistungen und von ihrem Beitrag zu Wertschöpfung und Lebensqualität in der Region?15 Sind nicht die Ennstaler Lodenwalkereien
Beispiele für „neue Strategien des Handwerks“16 und für Betriebe, die es
schaffen, traditionelle Verfahren und gewachsenes Wissen mit Spezialisierung und Nischen-Marketing zu kombinieren und sich in einer Wirtschaft zu behaupten, in welcher eine europäische Textilindustrie kaum
noch eine Rolle spielt?
Sind die Landschaften des Bezirks nicht voll brach liegendem und unsichtbar gewordenem Erfahrungswissen in Land- und Forstwirtschaft, in
der Holzverarbeitung, in montanistischen Techniken oder im Tourismus,
die in neuen Kombinationen und Modellen auch in der „Wissensgesellschaft“ genutzt werden können?
Vielleicht tritt der „schaffende Mensch“ in dieser Region zukünftig
vermehrt als jugendlicher Neugründer, als kreative Bäuerin, als initiative Dienstleisterin oder als engagierter Migrant ebenso hervor wie als
neuartige Kooperation zwischen Gewerbetrieben oder als kleingenossenschaftliche Initiative in der Landwirtschaft – wie es zum Beispiel die
„Hinterberger Landpartie“ als Plattform von rund 15 Bauern tut.
Auf der Suche nach dem regionalen Eigensinn
Eigensinn wird den Landschaften des Bezirks Liezen zugeschrieben –- positiv wie negativ. Aber was ist damit gemeint? Ist es ein bäuerlicher Katholizismus oder eine sozialdemokratische Holzknechtkultur, die so manche
gegen den Nationalsozialismus immunisierte oder der Eigensinn mancher
Menschen aus dem Salzkammergut, der sie in den spanischen Bürgerkrieg,
zur Desertion von Kriegseinsatz und zum Versteck ins Tote Gebirge geführt
hat. Ist es der Eigensinn mancher Ortschaften, wo das geheimprotestantische Verstecken und Zusammenhalten gegenüber der katholisch-habsburgischen Obrigkeit noch heute seine kulturellen Spuren hinterlässt, obwohl
in den meisten Fällen jegliche Überlieferung an reformatorisches Aufbegehren gelöscht worden ist? Oder ist es der Eigensinn des „Ausseers“, der in
seinen Jahreskalender gleich mehrere heilige Faschings- und Bierzelttage
einbaut, um gesellschaftliche Normen und Pflichten außer Kraft zu setzen
und welcher im Wechselspiel zwischen Einheimischen und bewundernden
„Zuagroasten“ zum überregionalen Markenartikel geworden ist? Oder der
Eigensinn von Menschen, die – wie einst die Figur des murtalerischen Hödlmosers – gar nicht wissen, dass sie sich in einer peripheren Lage befinden
und die eigene Welt immer als Mittelpunkt „rationalisieren“, um gar keine
defizitären Gefühle aufkommen zu lassen, und eben Graz und andere „abgelegene“ Gegenden zur unwichtigen Peripherie erklären? Oder jener Eigensinn, der scheinbar selbstbewusst, aber bildungsfeindlich daherkommt und
der entsteht, wenn man sich ausgeschlossen fühlt, nicht mehr mitkommt
und auf „eckig sein“ pocht, im Widerstand gegen eine Modernisierung, von
der man sich ausgeschlossen fühlt. Oder ist es der Eigensinn von Personen, die sich in einer Region ohne bürgerlich-städtische Kultur erlauben,
in der Öffentlichkeit „abweichende“ und kritische Meinungen zu äußern?
Oder vielleicht der Eigensinn, der in der unnachahmlichen Querfeldinterpretation von Volksmusik und Jazz bei der Wörschacher „Lemmerer Musi“
zum Ausdruck kommt?
In einer Arbeitswelt, die den Menschen Anpassung und Funktionieren abverlangt, wird Querdenken und Kreativität zunehmend als Quelle für Innovation gesehen, sodass in der heutigen Wettbewerbsgesellschaft überall
nach eigensinnigen Menschen mit neuen Ideen gesucht wird. Heute hängen auch die Möglichkeiten von ländlichen Regionen immer weniger von
Grund und Boden, sondern vor allem von Wissenspotenzialen ihrer Menschen sowie von Motivation und Eigensinn ab. Und obwohl die „Statistik
Austria“ und wahrscheinlich alle Raum- und Regionalexperten aufgrund
vorhandener Daten und der topografisch-strukturellen Lage den Bezirk
Liezen zur strukturschwachen und peripheren Region erklären, wird in
Schladming oder vor allem auch im Ausseerland niemand daran zweifeln,
sich trotzdem im Mittelpunkt der Welt zu befinden.
150 — 151
Der Autor, seine realen und
fiktiven Protagonisten
Wegnotizen auf einem literarischen
Weitwanderweg
Text: Peter Gruber
Bilder: Kurt Hörbst
  Im Sommer lebe ich im Dachsteingebirge. Auf einer Alm. In einer
Textwerkstätte. In einer Denkhütte. Mit Blick auf den Dichterfelsen, von
dessen höchstem Punkt einst mein literarischer Weg seinen Ausgang
nahm. Ein Weg, der längst zum Weitwanderweg wurde. Ein Weg, der
mich zunächst in die Notgasse führte, eine bizarre Felsenschlucht
inmitten des Kemetgebirges, danach durch wildreiche Hochwälder in die
düstere Tälchenfurche mit dem Schattenkreuz lenkte, von dort aus auf
die Hirzberghöhen und weiter auf das Wind und Wetter ausgesetzte
Karstplateau zum Tod Am Stein, und schließlich im gwändigen öden
Gebürg in den Sommerschnee. Ein Weitwanderweg, der gewissermaßen
mit meinen literarischen Werken Hand in Hand geht und einen chronologischen Bogen von fast 500 Jahren übers Dachsteingebirge spannt, vom
Spätmittelalter bis in die Gegenwart. Ein Weg, dessen Tritte in den
Tälern, Stufen auf den Höhen, Fußstapfen im Schnee und Schritte im
Nebel ich gerne erneut abschreite, jedenfalls gedanklich, auf der Suche
nach besonderen Wegnotizen und nach Begegnungen mit jenen Menschen, die meinen Weitwanderweg kreuzten, und die seither wie Wegmarken in meinen Erinnerungen leben, ob realer oder fiktiver Natur.  
Etappe I: Die Blütezeit des Almlebens, die Anfänge der Reformation, der
Bauernaufstand im Jahr 1525. Etappe II: Die Hoch-Zeit der verbotenen
Jagd, die Wilderei, das Aufeinanderprallen von Wildschützen und Jägern,
vor dem Hintergrund der Zwischenkriegszeit und der Wirren der Ersten
Republik. Etappe III: Die Erschließung des Gebirges als internationale
Fremdenverkehrsattraktion, das unvergessliche Unglück der Heilbronner
Schüler und Lehrer. Etappe IV: Die gegenwärtige Situation der Dachstein-Almen, die kaum noch erhebliche wirtschaftliche Bedeutung
haben, heutzutage auch als Rückzugsorte für Identität suchende Menschen dienen – so etwa für mich, den Hüterautor, wie mich der AlmKunst-Kurator zu benennen pflegt.   Der 23. Oktober 1994 ist ein
Bilderbuchtag. Auf den Almhöhen strahlen die Lärchen, bronzefarbene
Nadeln tänzeln durch die Lüfte, entkleiden die knorrigen Uraltriesen,
lassen dünnes Gezweige mehr und mehr nackt zurück, besäen die frosterstarrten Mulden und länger und länger werdenden spätherbstlichen
Schatten. Auf einem meiner liebsten Aussichtshöcker im Gebirge lasse
ich die Gedanken lustwandeln. Ich stelle mir vor, wie es gewesen sein
mag, vor Jahrhunderten, als die Steige und Almen mindestens so sehr
belebt waren wie die Dörfer und Märkte in den umliegenden Tälern. Ich
stelle mir das rege Leben und Treiben recht fantasievoll vor. In den Almdörfern mit dutzenden von niedrigen Hütten, mit hunderten von Almtieren, mit unzähligen Menschen, Frauen und Männern, Kindern und Alten.
Ich ahne, wie die Almschreie und Juchzer der Almleute und die Glocken
und Schellen des Almviehs die Höhen zum Erklingen gebracht haben.
Die Vorstellung, eine große Geschichte über die Almen im Dachsteingebirge zu schreiben, beseelt mich. Meine Idee vom Leben auf der Hirzbergalm nimmt ihren Anfang, ebenso die vom Sterben in der Notgasse.  
Ein umtriebiger Felsritzbildhüter gewährt mir Zugang und Einblick in
ein reichhaltiges Archiv. Ich orte die Anfänge der Reformationszeit als
die veränderungsstärkste Epoche aller Zeiten im und rund um das Dachsteingebirge, die Jahre von 1523 bis 1525. Mit dem vereinten Aufstand
der Bergknappen und Bauern gegenüber Grundherrschaften. Mit einem
Rebellenheer von 10.000 Mann, das sich gegen die Söldner des Landesfürsten stellt, im Ennstal und im Paltental, einen blutigen, unerbittlichen, zunächst durchaus erfolgreichen Kampf führt. Aber das Kriegsglück ist für die Aufständischen nur von kurzer Dauer. Die Notgasse
gerät in den Mittelpunkt der Geschichte, als unheimlicher Ort, an dem
dämonische Kräfte walten. Der gleichnamige Romantitel soll zugleich
eine Metapher sein für Leid, Schuld und deren Überwindung.  
Aneignen eines sonderbaren Glossars: Aderlassen (den Kranken Blut
entziehen, schröpfen), Bader (handwerksmäßig geschulte Helfer bei
Krankheiten), Bergmiete (Zinsabgabe für Almbenützung), Drude (alptraumhafte Peinigerin aus der Teufel-Sippschaft), Fußbrand (offene Feuerstätte), Gewäg Haar (Maßeinheit für Flachs), Gorz (Maßeinheit, 12
Gorz = 1 Mut), Harnisch (Brustpanzer für Soldaten), Hellebarde (Waffe,
Spieß mit Axt), Kaskee (konisches Holzgefäß mit durchlöchertem
Boden), Mut (Maßeinheit, ca. 270 Liter), Pfleger (Verwalter für eine
Grundherrschaft), Schwardach (Flachdach mit Legschindeln und Steinbeschwerung), Sudpfanne (zum Aussieden von Salz), Terz (Türkensteuer,
wurde vom Landesfürsten speziell zur Abwehr der Türken eingehoben).
  Die Felsritzbilder in der Notgasse, an überhängenden Felsen zu
finden, sind zwar in ihren symbolischen Bedeutungen erklärbar, hinsichtlich ihrer Herkunft jedoch bleiben die meisten bis heute ein Rätsel,
öffnen deshalb Tür und Tor für alle möglichen Interpretationen. Dass die
Bilder den Lebenswelten von Almleuten, Jägern, Salzträgern, Holzarbeitern entspringen, gilt als am Wahrscheinlichsten. Wie eine seltene Blüte
152 — 153
Peter Gruber
der Erkenntnis erscheint es mir, dass die in die Verwitterungsrinde des
Kalkgesteins geritzten Initialen und Jahreszahlen, vorwiegend das
17./18. Jahrhundert betreffend, als Sterbedaten von geheimprotestantischen Bauern gedeutet werden, wie dies einem ORF-Radio-Wandersendung-Skript von 1982 zu entnehmen ist, wobei sich die Redakteure auf
eine Gröbminger Quelle berufen.   Manche Bergführer, die heutzutage Gäste durch die enge, verschlungene Notgasse führen, zeigen sich
mehr vom realen Gegenwärtigen angetan als vom mystischen Vergangenen, wie etwa von einer Kleinflugzeugabsturzstelle, die an den tragischen Tod von vier Insassen erinnert, nach denen in den 1980er-Jahren
wochenlang gesucht wurde.   Notgasse ist der historische Roman
der Heimat Peter Grubers, die er herzlich liebt und die ihn in ihren Armen
hält, stellt der Geschichteprofessor fest, anlässlich der Roman-Erstpräsentation beim Grafenwirt in Aich.   Der Autor dürfte für diesen
Roman einen guten Lektor gehabt haben, äußerst sich die betagte
Volksmusiklehrerin, selbst auch poetisch tätig, im höchsten Maße anerkennend nach etwa der ersten Hälfte der Lektüre, erfreut über die gute
Recherche im Milieu der Bauern und was die Besiedelungshistorie des
Ennstales betrifft. Der Autor müsse jedoch plötzlich von allen guten
Geistern verlassen worden sein, meint sie vernichtend, ebenso im
höchsten Maße, nach der zweiten Hälfte der Lektüre, und sie ortet diesen Teil als schrecklichen Unsinn.   Wissenshüter, wie es insbesondere Wissenschaftler, Forscher, Historiker, Chronisten, Archivare, aber
vor allem auch Hobby-Volkskundler sind, mögen es gar nicht gerne,
wenn ihnen ein vermeintlich Gescheiterer in die Quere kommt. Dies ist
eine Erkenntnis, die ich im Zuge meiner Recherchen mache, die mich
zwar befremdet, den einen und anderen Zugang zu Wissenswertem deshalb auch erschwert, mich aber von meinem weiteren Tun nicht abbringen lässt.   Im Frühjahr 1999 erfahre ich, dass vier Jäger aus dem
Gröbminger Winkl das Höflechner-Kreuz wiederaufgestellt haben, das
schwere Eisenkreuz, nachdem es nach fast sieben Jahrzehnten durch die
winterliche Schneelast vom großen Kalksteinklotz gedrückt worden war,
der seit 1931 an den erschossenen Jäger in der Tälchenfurche erinnert,
an einem äußerst schwer aufzufindenden Ort im Kemetgebirge, zwischen dem kleinen Z’sammtreibboden und der Zeissenstallalm. In einer
Nacht-und-Nebel-Aktion haben die Jäger den Schaden behoben, unter
Ausschluss der Öffentlichkeit, wie es sich für diesen Berufsstand
geziemt. Doch was vermag schon geheim zu bleiben, wenn anschließend
Jäger und Nichtjäger im Dorfwirtshaus einander begegnen.   Wenn
man das erste Mal diese Tälchenfurche betritt, bei schlechtem Wetter,
bei Nebel, Nieseln oder bei Nordwind, man plötzlich zwischen den zig
quer liegenden Bäumen und inmitten der vielen glitschigen, stummen
Tothölzer das schwarze Eisenkreuz mit seinen nach oben und seitlich
ragenden scharfen Zargen erblickt, überkommt einen leicht ein Gefühl
des Unbehagens, und man beginnt sogleich, sich vorzustellen, was sich
hier an jenem Julimontagmorgen tatsächlich zugetragen haben könnte.
  Als ich meinen Vater – zugleich einer meiner wichtigsten
Gesprächspartner, was Recherchen hinsichtlich der Dachsteinweitwanderweggeschichten anbelangt – darüber in Kenntnis setze, dass ich
mich literarisch dem offensichtlich nie wirklich geklärten Fall Höflechner, insbesondere dem damit in Verbindung stehenden und damals
wider Erwarten vom Gericht, noch dazu in einem aufsehenerregenden
Prozess mit Lokalaugenschein am Tatort im Hochgebirge, in allen Anklagepunkten freigesprochenen Wilderer August Dormann widmen möchte,
fragt er mich spontan: Traust du dich das? Ist das nicht zu gewagt?
Schließlich geht selbst heute noch ein heftiger Ruck durch die Jägerkreise, wenn das Wort auf den Freispruch dieses verruchten Wilderers
fällt.   Die Steiner-Gretl, leidenschaftliche und legendäre Sängerin
und Jodlerin, bevorzugt in Perlloden gekleidet, begleitet mich zu einem
erfahrenen Jäger am Fuße der Dachstein-Südwände, zu einem älteren
Mann, dem ein großer Wissensschatz nachgesagt wird. Ja, ich weiß von
diesem Fall Höflechner, von der Geschichte mit dem Stock und den Haaren, vom unverzeihlichen Freispruch, vom Justizirrtum, vom Justizskandal, von der Aufgebrachtheit in der Jägerschaft. Ich vermute, dass Dormann falsche Aussagen gemacht hat, vielleicht doch Mithelfer hatte.
Jedenfalls galt er als frech und selbstsicher. Hat die ganze Justiz in die
Irre geführt. Das Gerücht, dass Ramsauer Wildschützen für seinen Verteidiger Geld gesammelt hätten, für einen Juden noch dazu, ist wahrlich
nicht glaubhaft. Es war bestimmt kein Unfall, keine Notwehr, sondern
kaltblütiger Mord.   Der erfahrene Jäger bestätigt mir, dass es tatsächlich so was wie Schussfieber gibt. Vor allem bei jüngeren Schützen.
Das ist die Aufregung, das Warten, bis ein Wild in richtiger Position für
einen Breitschuss ist, um es ganz sicher zu treffen. Da werden die
Hände zittrig, die Nerven flattern, die Ungeduld wächst. Im höheren
Alter ist das nicht mehr so, kann man schon auch einmal auf einen
Schuss verzichten.   Dieser erfahrene Jäger erzählt mir auch davon,
dass sie als Schüler den Heimwehr-Angehörigen nachriefen: Hahnenschwanz, Hahnenschwanz, bist ein armer Tropf. Was der Hahn am Hintern trägt, trägst du auf dem Kopf. Unerklärlich aber ist ihm, dass alle
Angehörigen der Heimwehr Spielhahnfedern als Hüteschmuck trugen. So
viele Spielhähne kann es doch gar nicht gegeben haben, erklärt mir der
Mann, es müssten ja alle zum Abschuss freigegeben worden sein. Er
vermutet vielmehr einen Import von einem verwandten Hahn in Skandinavien, den es in viel größerer Zahl gab.   Bei einem etwas älteren
Herren, ebenfalls einem Zeitzeugen der 30er-Jahre, den ich, so wie allgemein ältere Informanten mit Hilfe einer Vertrauensperson kontaktiere,
erwarte ich mir mehr Details zum Fall Höflechner, erhalte stattdessen
jedoch eine ausführliche Milieu-Studie, was die frühe nationalsozialistische Tätigkeit im oberen Ennstal betrifft. Ich lausche mit einer Mischung
aus großem Interesse und Ernüchterung zugleich. Der ältere Herr
154 — 155
Peter Gruber
erzählt mir von einem Aufmarsch der Nazis mit Transparent und Gesang,
cirka 20 junge Männer, alle mit weißen Hemden und weißen Stutzen
bekleidet, anlässlich einer NS-Versammlung in den Jahren 1932/33 in
Gröbming, die vom örtlichen Gendarmen wegen Aufmarschverbotes verhindert wurde, weshalb man später im Gasthofgarten weitergesungen
hatte. Der ältere Herr weiß auch davon, dass Nazis damals zu Ehren der
im Weltkrieg Gefallenen zu Allerheiligen das Kriegerdenkmal in Gröbming mit Kranz und Schleife versehen hatten. Das hat einen großen
Konflikt mit dem damaligen Gröbminger Pfarrer zur Folge gehabt. Dieser
ältere Herr erzählt mir auch, dass auf einem Felsen über dem Sattental
ein Hakenkreuz prangte, weithin sichtbar.   Ich ahne, dass die literarische Bearbeitung des Falles Höflechner vom zeitgeschichtlichen Hintergrund nicht loszusagen sein dürfte, vielmehr werde ich einen Nachhilfeunterricht nehmen müssen, denn mein erworbenes Schulwissen über
die Zwischenkriegszeit wird kaum ausreichen, um möglichst real diese
Zeit beschreiben zu können.   Der älteste aller Zeitzeugen, ein über
Neunzigjähriger, zugleich einer, der sogar noch persönlich beim Prozess
vor Ort dabei war, damals bereits als Jungjäger, im Turnsaal der Volksschule Gröbming, den man kurzerhand zum Prozessraum umgewandelt
hatte, und wo um zwei Uhr in der Früh der von allen Seiten vehement
verteufelte Freispruch getroffen worden war. Dieser Neunzigjährige will
mir in der Tat weismachen, dass die Ramsauer mit dem Angeklagten
Dormann unter einer Decke steckten, weil sie selbst die ärgsten Wilderer
im Kemetgebirge waren, und viel Geld für den Verteidiger aufgebracht
haben. Der Mann zeigt mir einen Eintrag in seinem Tagebuch, in dem von
20.000 Schilling die Rede ist. Hitlerverehrung und Judenhass in einem
schlagen mir in diesem Recherchegespräch entgegen. Die Zeit sei extrem schlecht gewesen, versucht mir der Zeitzeuge verständlich zu
machen. Die Bauern gingen Not abbeten, der Bauer trug dabei eine
Pfanne mit Glut und Weihrauch bei sich und sprach: Koa Staberl steht,
koa Bröckl Brot, und ein Bub ging hinten nach und sagte: Verdammte
Not! Verfluchte Not!   Mehrere Monate lang widme ich mich in der
Folge ausschließlich dem nachträglichen Geschichteunterricht, begebe
mich in Archive, sichte einschlägige Literatur, vergleiche meine Erkenntnisse und die Aufzeichnungen meiner Gespräche mit den Zeitzeugen mit
historisch kompetenten Experten. Allmählich gedeiht mein Wildererroman.   Ein Ramsauer, dessen Vater verdächtigt wurde, in den Fall
Höflechner verstrickt gewesen zu sein, gewährt mir Einblick in die private Sammlung von seltenen Fotos und Postkarten. Mir fällt die gestochen schöne Handschrift von Dormann auf. In diesem Gespräch erfahre
ich von einem obersten Gebot, dass sich Wildschützen immer wieder
und wieder in Erinnerung riefen und regelrecht antrainierten: Sofort die
Waffe wegwerfen, wenn du auf einen Jäger stoßt! Nur ja nicht in Versuchung kommen, die Waffe auf einen Jäger zu richten!   Die Tochter
eines Wildschützen zeigt sich stolz, weil sie schon im jungen
156 — 157
Peter Gruber
Mädchenalter vom Vater in den Wald mitgenommen wurde. Sie hat
bereits als Kind einen Rehbock erlegen dürfen. Einmal haben sie beide,
Vater und Tochter, frisches Gamsblut getrunken. Ihr Vater meinte, dass
dies sehr gesund sei. Sie erinnert sich noch gut an die volle Doppelhandkehle mit dem Blut. Wildererleidenschaft ist nicht erklärbar, sagt
sie. Das ist ein Gefühl. Nichts für den Verstand. Auch nicht die Tötungslust. Es ist das Verbotene, das Warten, die Chance, die Überlegenheit.
  Am Rande eines Vortrages des bekannten Wildererprofessors, vor
voll gefülltem Saal in Gaishorn, versuche ich, den lokalen Wildschützen
Dormann ins Gerede zu bringen, stelle jedoch bald fest, dass dies gar
kein erwünschtes Gesprächsthema ist, trotz der längst vergangenen
Geschehnisse. Mit ernsten Mienen hören die Gäste dem unterhaltsam
vortragenden Professor zu und mit regungslosem Gesichtsausdruck folgen sie dem Gesangsquintett bei der Wildererhymne: An eines Sonntags
Morgen. Trotz Einladung des Vortragenden findet kein einziger der
Zuhörer auch nur einen Ton zum Mitsingen.   Die Gerüchte, was
unmittelbar nach dem Freispruch aus dem Wildschützen Dormann
geworden ist, sind so vielfältig, wie es sich wohl oder übel für eine Figur
dieser Art gehört. Man sagt, er habe sich umgebracht. Er sei in die Enns
gegangen. Er habe sich erhängt. Er sei neuerlich der Leidenschaft des
Wilderns nachgegangen. Er habe sich später jenseits der deutsch-österreichischen Grenze herumgetrieben. Er sei wieder auf frischer Tat
ertappt und hinter Schloss und Riegel gebracht worden. Er habe geheiratet, und nachdem er seiner Gemahlin gestanden hat, dass er drei Menschenleben auf dem Gewissen habe, wurde ihm verwehrt, weiterhin im
Haus zu schlafen, er habe fortan mit einer Hütte Vorlieb nehmen müssen. Wahrheiten? Gerüchte? Lügen? Legenden? Der Anfang eines
Mythos?   Im Dachsteingebirge, auf einer Alm, in einer Textwerkstätte, in einer Denkhütte, vertiefe ich mich in das SchattenkreuzManuskript. Einige Minuten zuvor war ich noch draußen unterwegs,
habe beobachten können, wie der Bergnebel von den Hirzberghöhen tiefer und tiefer wölbte, grüne Gamsäsungen verhüllte, gleichfarben mit
dem grauen Kalkkarst verschwamm, näher und näher rückte, kühle und
feuchte Luft mitbringend. Bergnebel ist der Freund des Wilderers. Bergnebel ist auch mein Freund, der mich stets läutert, mir alles Wesentliche
vom Unwesentlichen zu trennen vermag, und mich dazu inspiriert,
unmittelbar Papier zu entrollen und Bleistifte zu spitzen, mich hinzusetzen und sofort festzuhalten, was mir gedanklich in den Sinn kommt, so
wie an diesem Tag, mit der alles entscheidenden Erzählszene im Skript,
der Wildererpirsch in der Tälchenfurche am Julimontagmorgen. Mittendrin in meinem Unterfangen kreuzt der Königreichalmhüter auf. Heute
Nacht wird der Jäger dran glauben müssen, sage ich zum Almnachbarn.
Lass ihn noch eine Nacht leben, fleht mich der Almnachbar an, nicht
minder lapidar.   Schreib doch einmal eine Geschichte mit einem
guten Ausgang, wünscht sich sehnlich eine treue Leserin meiner Bücher.
Wenn Schattenkreuz auch so eine grausame Geschichte ist wie Notgasse, werde ich das Buch nicht lesen, lässt mir eine andere Leserin
ausrichten.   Bei der gut besuchten Sonderausstellung Auf der Alm
im Schloss Trautenfels in den Jahren 2004 und 2005 wird mir, dank
eines Impulses vonseiten des AlmKunst-Kurators, die Möglichkeit zum
Mitwirken beschert. Kunst 19 lässt die Besucher eine Textwerkstatt-Alm
schauen, mit Werkzeug und Schwersteinen auf Materialbündeln, wo mit
Roafmesser und Bleistiftspitzer gleichermaßen umgegangen wird, wo
die Abfälle zum eigentlichen Werkplatz gehören wie die Scharten in die
Tischlerei, oder es ist alles ganz anders, penibel geordnet und aufgeräumt. Anlässlich der Ausstellungseröffnung begegne ich dem vulgo
Kalcher aus Ramsau am Dachstein, der mir schildert, wie er auf imaginäre Weise meiner Notgasse-Erzählung gefolgt ist, auf Schritt und Tritt,
jeden im Buch beschriebenen Ort, ob realen oder fiktiven Ursprungs,
gedanklich nachgegangen ist und jeden dieser Orte in seinen Vorstellungen auch gefunden hat. Ich bin tief bewegt von dieser Begegnung mit
dem alten vulgo Kalcher, und ich denke mir, dass es sich für solch einen
Leser allein lohnt, eine Geschichte zu erzählen.   Einige Wochen
nach der Veröffentlichung des Romans Schattenkreuz entdecke ich, bei
einem Fitnesslauf entlang der Enns, nahe der Brücke in Aich, unmittelbar neben Altpapiercontainern einen Haufen mit alten Zeitungen und
Zeitschriften. Im Zuge meiner Recherchen in Archiven und Sammlungen
habe ich mir den Blick der Neugierde für altes, vergilbtes Papier angewöhnt, und ich kann nicht umhin, vor diesem Haufen jäh zu stoppen und
darin zu stöbern. Nach nur wenigen Augenblicken halte ich eine Ausgabe der Neuen Illustrierten Wochenschau aus dem Jahr 1954 in Händen, eine damals im ländlichen Raum beliebte Wochenzeitung, und mir
sticht sogleich die Titelseite ins Auge, mit einer Reportage vom Heilbronner Dachsteinunglück und, zu meiner völligen Verblüffung, einem
Titelfoto, dass drei der im Schnee erfrorenen Opfer unmittelbar nach der
Bergung in Großaufnahme zeigt.   Magst dich schon äußern, welches Thema du als nächstes bearbeiten wirst, fragt mich der Grafenbergalmhüter in einem Café in Wien. Ja, weißt, da gibt es noch eine
Geschichte, ein Dachstein-Ereignis, stottere ich wohl ein wenig unsicher,
in Anbetracht des frühen Stadiums meiner Überlegungen, und ich meine,
dass es vielleicht an der Zeit wäre, mir ernsthaft Gedanken zu machen.
Noch gar nicht auf den Punkt meiner Äußerungen gekommen, nimmt mir
der Grafenbergalmhüter das Wort vorweg: Du meinst die Dreizehn, die
Kinder, die Lehrer, die an einem Karfreitag gestorben sind.   Von der
Tälchenfurche mit dem Schattenkreuz ist es ein weiter, mühsamer Weg
bis zum Tod Am Stein. Die Geländeunwirtlichkeit lässt es kaum zu,
geradlinig zu gehen, immer wieder muss breiten Latschenfeldern, Geröllhalden, Karen, Dolinen, Schlünden und Abgründen ausgewichen werden.
Manchmal führt es einen um die rundlichen Kuppen der Hirzbergausläufer, manchmal durch die aussichtsarmen Muldensenken. Man erzählt,
158 — 159
Peter Gruber
dass an jenen dreizehn Orten im Kalkkarst, wo die einzelnen Opfer später gefunden wurden, jeweils ein rotes Kreuzlein auf den blanken Fels
gemalt worden ist, zur Erinnerung an die weit voneinander verstreuten
Dreizehn. Nur wenige Ortskundige wissen noch um die Orte dieser
Kreuzlein. Ich widme mich ausgiebig der Recherche im Umfeld des Heilbronner Kreuzes – das übrigens an jener Stelle errichtet worden ist, wo
seinerzeit ein Notbiwak der Vermissten entdeckt wurde – vermeide aber
die Suche nach diesen kleinen Kreuzlein, aus Respekt und aus Gründen
der Pietät.   Wieder ist es mein Vater, zu dem ich mich als Erstes
begebe, was meine genaueren Nachforschungen anbelangt, vor allem
auch deshalb, weil ich mich entsinne, dass er schon zu meiner Kindheit
über dieses Unglück erzählt hatte. Mein Vater gilt seit jeher als ausgezeichneter Kenner des Kemetgebirges. Am Freitag, dem 23. April 1954,
ist er zusammen mit seinem Bruder und dem Pitzer-Friedl (ein Unikum
unter den damaligen Almhütern) aufgebrochen, um sich vom Stoderzinken aus in Richtung Plankenalm auf die Suche nach den Vermissten zu
begeben. In der Hoffnung, vielleicht in einer der eingeschneiten Almhütten Spuren zu entdecken. Die drei wollten nicht untätig bleiben. Es war
eine innere Stimme, die sie zum Aufbruch rief. Auch sie wollten bei der
groß angelegten Suchaktion ihren Anteil leisten. Ausgerüstet waren sie
mit einfachen Skiern, damals noch ohne Metallkanten, sie verfügten
nicht einmal über Steigfelle. In die Rucksäcke stopften sie Jause, sie
rechneten mit Nächtigungen in einer der Almhütten. Es hat damals
ungeheure Schneemengen und im April noch meterhohe Schneeverwehungen gegeben, erinnert sich mein Vater. Im Tumerach, kurz vor der
Plankenalm, stießen die drei Männer auf Bergretter, die von Gröbming
aus an der Suchaktion teilnahmen, und sie schlossen sich diesen unmittelbar an.   Du bist dazu bestimmt, diese Geschichte zu schreiben,
der Tragik der Dreizehn auf den Grund zu gehen, kommentiert die Steiner-Gretl meine Absicht, als ich sie und den Gebauer-Heli am Fastenberg auf der Tauernseite zum Gespräch treffe, hinsichtlich ihrer Erinnerungen an die Geschehnisse von Ostern 1954. Begleitet von einem
seltsamen Ausdruck in ihren Augen beschwört sie, dabei regelrecht
allem und jedem überlegen erscheinend: Die Buben werden dir begegnen, nachts, in den Träumen, dort oben, wenn du Wind und Wetter ausgesetzt sein wirst, auf deiner Alm! Vom Fastenberg aus erscheint es
einem, als könne man das ganze Dachsteingebirge mit einem einzigen
Blick erfassen, doch der Schein trügt, denn nichts ist von hier aus von
der breiten, weiten Hochfläche zu erkennen, die sich hinter den Wänden
und Graten ausdehnt. Spät, mit Einbruch der Dämmerung, als die letzten Sonnenstrahlen am Kalkgestein des Dachsteins rötlich aufflammen,
jodeln mir die Gretl und der Heli zum Abschied den Dåchstoana nach, so
klar und kräftig und perfekt, wie ich ihn niemals zuvor (auch niemals
wieder danach) von den beiden vernommen habe.   Es war die
größte alpine Suchaktion in der Geschichte Österreichs.
160 — 161
Peter Gruber
Unzählige Männer waren in den Tagen nach Ostern 1954 unterwegs, um
im Dachsteingebirge nach den dreizehn Vermissten zu suchen, Bergrettungsmänner und Alpingendarmen. Bis zu 500 waren im Einsatz,
bemühten sich vergeblich, vermochten am Ende nur dreizehn Tote zu
bergen. 500 Bergretter, das sind auch 500 Bergrettergeschichten.  
Von mehreren Seiten wird mir – durchwegs von einem ewig unverzeihlichen, vorwurfsvollen Unterton begleitet, zu meinem Erstaunen selbst
noch 50 Jahre nach der Tragödie – ein Zitat des Klassenlehrers Hans
Sailer (Anführer der Dreizehn, der letztlich selbst auch unter den Opfern
war) zugetragen: Meine Jungen müssen sich richtig warm laufen!  
Im Mai 2006, in der süddeutschen Stadt Heilbronn, am Tag vor der Erstpräsentation meines Romans Tod Am Stein gegenüber der Heilbronner
Öffentlichkeit, im besonders launischen Maienwetter, begebe ich mich
auf den städtischen Friedhof, wo in einem Ehrengrab elf von den dreizehn Verunglückten ihre letzte Ruhestätte gefunden haben. Dort hocke
ich mich auf eine Bank, lasse meine Blicke und Gedanken über die Grabsteine schweifen, auf denen in großen Lettern die Vor- und Nachnamen
und Geburtsdaten geschrieben stehen. Irgendwo, in sehr weiter Ferne, in
direkter Luftlinie über die Gräber hinweg, gegen Südosten zu, denke ich
mir das Gebirge, das Dachsteinmassiv, das den jungen Heilbronnern zum
Verhängnis geworden war. Während ich so manchen Wegnotizen nachsinne, die diese Etappe meines literarischen Weitwanderweges mit einer
ganz besonderen Tiefe geprägt haben, beginnt sich der Himmel über mir
wie rasend zu verfinstern, kommt plötzlich Wind auf, setzen fast zeitgleich Blitz und Donner und ein kräftiger Wolkenbruch ein, legt ein
ziemlich heftiges Frühjahrsgewitter los. Als würde die Natur mehr als
bloß ein Wörtchen mitreden wollen, auch an diesem Tag.   Seit den
Ereignissen von 1954 bin ich nie wieder in die Nähe des Dachsteins
gekommen, verrät mir der ehemalige Sportlehrer der Damm-Realschule,
und versichert mir aus voller Überzeugung, dass er auch in Zukunft nie
und nimmer diesem Gebirge begegnen will.   Ich dagegen setze meinen literarischen Weitwanderweg fort, bleibe dem Schnee im Hochgebirge auf gewisser Weise treu, wenn auch auf gänzlich andere Art,
wende mich vom Tod Am Stein in den 50er-Jahren wieder ab und der
Gegenwart zu und begebe mich in den Sommerschnee.   Als ich
erstmals den Fotografen mit den Hochalmen im Kemetgebirge vertraut
mache, wir zusammen über die Almhöhen schreiten, ohne viele Worte,
eher schweigsam, beide in Gedanken und Beobachtungen versunken,
beim Überschreiten des Almsattels zur Neubergalm, mit den Blicken auf
die abgewitterten Dächer der Almhütten, Viehunterstände, Sautrempel
und Wasserbunker, äußert sich der Fotograf beeindruckt: Schön, dieses
gleichfarbene Grau der abgewitterten Schindeldächer, der Kalksteine,
der toten Baumstrünke!   Das Dachsteingebirge ist seit jeher eine
Art Panoptikum für Narren, stellt die Mittelschulprofessorin fest. Als
Dachstein-Narren könne man sie alle auch bezeichnen,
die Wissenschaftler und Forscher, die Wanderer und Bergsteiger, die
Wilderer und Jäger, die Schafbauern und Almhüter, die Grenzgänger und
Aussteiger, die Maler und Schriftsteller.   Sind Sie ein Einzelgänger,
fragt mich die Lebenswege-Moderatorin. Einen Augenblick halte ich
inne, als müsse ich erst überlegen, obgleich das auf diese Frage hin gar
nicht notwendig ist, aber ich halte wohl deshalb kurz inne, weil mir
bewusst wird, dass ich die Antwort in einer Rundfunksendung und somit
vielen Zuhörern gebe. Ja, antworte ich schließlich aus Überzeugung.
Und in Selbsteinschätzung, denn die Quelle meines literarischen Wanderns nährt sich vom Einzelgängerischen.   Ich möchte auch zukünftig im Sommer im Dachsteingebirge leben. Auf einer Alm. In einer Textwerkstätte. In einer Denkhütte. Mit Blick auf den Dichterfelsen, wie der
Schröfl-Rudl, ein treuer Weggefährte in den frühesten Jahren meiner
Erkundungen auf und um die Almen im Dachsteingebirge – lange vor den
ersten Schritten auf dem literarischen Weitwanderweg – einen der
unzähligen, auf erstem Blick hin eher unbedeutend erscheinenden Almhöcker benannt hatte, in der Ahnung, dass der Almhöcker einer meiner
Lieblingsdenkplätze ist.
162 — 163
Wenn Helene kommt
Text: Christof Huemer
Bilder: Stefan Emsenhuber
1) Ich bin ein geschmeidiger Vogel. Ich tanze und kreise. Ich schwebe und
gleite. Ich liebe es. Ich spiele im Aufwind, drehe Kreise um den runden
Turm, lasse mich wieder fallen. Ein paar Mal kräftig mit den Flügeln
schlagen, wenn die Abendsonne die Luft bewegt unten an der großen
Mauer, und wieder gleite ich. Ich gleite, um zu fühlen, wie die klare Luft
mein Gefieder streift. Ich gleite um zu spüren, wie schnell ich bin. Zu
fühlen wie sich meine Krallen entspannen, mein Rumpf ganz glatt wird
und wildes Knarren aus meinem Schnabel dringt.
Wenn ich fliege, kann ich Dinge, die sonst nur Zauberer können und
Hexen. Ich drehe mich mühelos, ich drifte entlang des Frieds, ich wirble
um den Reif, der den Turm umarmt, und segle weiter. Ich segle, halte dann
beinahe an und schaue in die Fenster. Ich sehe und erkenne und fliege
weiter. Ich schmiege mich an die Strömung, spreize meine Schwingen,
folge dem Balkon und lasse mich über den Weiher treiben. Ich bin ein
Wachtelkönig und mein Name ist...
2) Kleine, braun gefiederte Vögel, Hunderte davon, zogen ihre Kreise
rund um den Flaggenturm des Schlosses, als Theresa Hegelmann, ein
Waisenkind von fast 14 Jahren, das die Erzieherinnen in ihrem Münchner
Internat gerne als vorlaut oder frühreif beschrieben, wenn sie Theresa
dieser Eigenschaften nicht sogar bezichtigten, vor dem Bahnhof im Dorf
der Haselnussmenschen stand und vergeblich versuchte, von dem sie
abholenden Fahrer Hilfe zu bekommen. Wie Theresa schnell erkannt hatte,
war er nicht jener Notar, Dr. Philipp Burger, dessen Brief sie im FilibusterHeim der Karmeliterinnen St. Rhinus über den notwendigen Antritt einer
Erbschaft informiert hatte, sondern eine im Schloss angestellte Hilfskraft.
Ohne auszusteigen und, wie Theresa sich einbildete, widerwillig hob der
bärtige Mann im Lodenjanker die Hand zu einem müden Gruß, den man
auch als Geste deuten konnte, die so viel besagen sollte wie: Ich will
mit dir und deinem Schicksal nichts zu tun haben. Theresa öffnete die
Beifahrertür, kletterte in den vor sich hin brummenden Wagen und da der
Chauffeur weiterhin keine Anstalten machte, ihr behilflich zu sein, stellte
sie ihren Koffer einfach zwischen ihre Füße.
Bald begann die Fahrt sie zu irritieren. So nahe hatte das Schloss vom
Bahnhof aus noch gewirkt. Doch der durch Schlaglöcher versehrte Weg
durch das Dorf der Haselnussmenschen, das nun so gar nicht wie eine
Ortschaft aussah, eher wie eine Ansammlung von zu unterschiedlichen
Zeiten vergessenen Häusern, nahm kein Ende. Viele Gebäude im Dorf
waren verlassen oder verfallen, oder vielleicht schien es nur so, und
die Züge hielten zwar am Bahnhof, doch stieg nie jemand zu oder aus.
Theresa war die Einzige am Bahnsteig gewesen, die Einzige in der Halle,
und der Mann, der sie ins Schloss brachte, blieb der einzige Mensch, den
sie sah.
„Ist es zu dieser Zeit immer so kalt?“, machte sie Konversation, griff sich
an dem Mantelkragen, wie eine Dame im Film es getan hätte, und der
Chauffeur aus dem Dorf der Haselnussmenschen starrte vor sich hin.
Auch ihre Erkundigungen nach der Einwohnerzahl und dem Grund für
seine langsame Fahrweise ließ er unquittiert. Er wollte oder durfte nicht
sprechen. Theresa presste ihre Unterschenkel an ihren Koffer und eine
Hand, die rechte, an ihre linke Brust, dorthin, wo sie das Tagebuch ihrer
Mutter vermutete. Schweigend zuckelten sie durch die letzten Häuser
des Dorfs der Haselnussmenschen und ihr Chauffeur begann, holprige,
zischende Silben zu murmeln.
Sie nahmen die unbefestigte Straße, die das Schloss mit dem Dorf der
Haselnussmenschen verband. Der Chauffeur murmelte lauter. Noch
immer kam das Schloss nicht in Sicht. Hinter dieser Biegung muss es
liegen, dachte Theresa bei jeder Kurve aufs Neue. Hinter jener dort vorne.
Der endlose Weg und das feindselige Murmeln – sie wollte am liebsten
schreien, so genervt war sie. Und dann sah sie das Schloss. Sie sah den
See, in dessen Mitte ein verlassenes Ruderboot trieb. Sie passierten ein
Haus, das einer Fischerhütte glich und hinter dessen Fenstern sich viele
neugierige und, wie sie fand, irre Kindergesichter drängten. Sie sah die
felsige Anhöhe mit dem kastenförmigen Gebäude, das wie eine Klinik oder
Heilanstalt wirkte, aber so gar nicht wie ein Schloss. Sie sah die Vögel,
Hunderte aufgeregte Vögel, die im abendlichen Aufwind der Nordwand
tollten und dabei ein schnarrendes Geschrei ausstießen, das Theresa bis
unter die Haut ging. Und dann sah sie den Ring um den runden Flaggenturm
des Schlosses, einen weißen, nach unten gesunkenen und auf rätselhafte
Art leuchtenden Heiligenschein, von dem Theresa schwören könnte, dass
er bis vor wenige Minuten noch nicht und weder als sie das Schloss vom
Bahnhof noch von der Strecke aus betrachten konnte, da war.
Ohne eine Antwort zu erwarten und mehr, um sich ihrer Wahrnehmung
zu versichern, fragte sie: „Was ist das für ein Ring?“ Ihr Chauffeur lachte
laut auf, klammerte sich wie ein Affe an das Lenkrad des Geländewagens,
den er, jetzt noch langsamer, die schmale Straße um den Teich herum
kutschierte und rief, es sei das Reich, das wiederkehre, das Reich, das
gottseidank immer und immer wieder- und wiederkehre, Nacht für
Nacht, und auch wenn man es rundum verboten habe, auch wenn man
sie gedemütigt und erniedrigt habe, sie, die Haselnussmenschen, seien
glücklich zu preisen, das Reich, es kehre wieder.
Der Weg führte nun bergauf, der Irre schaltete in einen niedrigeren Gang,
glücklich zu preisen, schnarrte er und Speichel, sehr weißer Speichel
sammelte sich in seinem Bart.
Vor dem Schlossportal angekommen, wurde ihr die Wagentür von einem
Mann in dreiteiligem Anzug geöffnet, der sich als Notar Dr. Philipp Burger
vorstellte. Er erkundigte sich nach ihrer Reise, die, lang wie sie war,
hoffentlich frei von Überraschungen und Beschwernissen vonstatten
gegangen sei. Er half ihr vom Trittbrett und führte sie sofort ein paar
Schritte weg von Schloss und Wagen. Dann eröffnete er Theresa, die
er abwechselnd mit „Mein Kind“ und „Liebes Fräulein“ ansprach, dass
dringende Termine ihn leider zur sofortigen Abreise zwängen, ja, es bliebe
nicht einmal mehr die Zeit, gemeinsam Abend zu essen, bedauerlich sei
das und dennoch nicht zu ändern, nach seiner Rückkehr aber... Während
all dieser Worte, denen Theresa vor allem entnahm, dass es noch dauern
würde, bis sie erfuhr, um welche Art Erbschaft es sich handle und was für
ein Mensch ihre Mutter gewesen war, spürte sie rege Betriebsamkeit hinter
ihrem Rücken. Während seiner Abwesenheit werde sich die langjährige
Haushälterin und Herrin über das wenige Personal, fuhr der Notar fort und
legte eine Hand auf Theresas Rücken, gut um sie kümmern. Auch würde
seine Absenz nicht lange währen, wahrscheinlich kaum einen Monat.
Der Notar schob sie zum Schloss, die drei Stufen hinauf, und durch das
offene Portal. Theresa stand unversehens in einer steinernen Halle,
ein Mädchen von 14 Jahren, in Baumwollkleid und Mantel, der Kragen
hochgeschlagen, und wurde von einer Gruppe dunkel gekleideter
Personen gemustert, neugierig und ohne sichtbare Wertschätzung. Wie
jedes Kind, das ohne Eltern aufgewachsen war, fühlte sich Theresa in
solch einer Situation unwohl und blickte ungeschickt in die Versammlung.
Ganz hinten stand ihr irrer Chauffeur, rieb sich den Bart, presste seine
Hände dann übertrieben kräftig an seine Hosennaht, und als wäre somit
alles fertig, trat da die Gestalt vor ihm aus der Menge. Sie war in tiefstes
Schwarz gekleidet, hager und groß, zwischen 50 und 70 Jahren alt, mit
hervorstechenden Backenknochen, pergamentener Haut und erinnerte
Theresa vage an einen Pinguin.
„Das, mein Kind,“ erklärte der Notar, „ist Frau Thannver“. Theresa
schauderte bei diesem Namen. Unsicher beugte sie ihre Knie, deutete
einen Kicks an, und die Vorgestellte kam auf sie zu, streckte ihre
Arme nach Theresa aus, voller Liebe und doch mit staubig gemessener
Haltung, blieb genau einen Schritt vor ihr stehen und betrachtete sie
gütig. Sie flüsterte etwas, das wie „Helene“, klang, ganz zärtlich, „meine
166 — 167
Christof Huemer
Helene“, und machte sich daran, Theresas schüchtern vorgestreckte
Hand zu ergreifen. „Frau Thannver,“ vollendete der Notar das Ritual
in sachlichem Ton, „dies ist Fräulein Theresa.“ Die Hand, die Theresas
dann ergriff, war schwer, eiskalt und fühlte sich wie tot an. Und Frau
Thannvers Gesicht, eben noch voller Zuneigung, verwandelte sich in
Stein, in ein in Marmor gehauenes Mahnmahl zu allen von ihr selbst, dem
Dorf der Haselnussmenschen oder gleich des ganzen Gaus erlittenen
Schmähungen. Sie ließ ihre eiskalte Hand in der von Theresa und bohrte
ihren Blick in ihre Stirn. Dann fügte sie sich wieder in die Gruppe ein,
Margit werde sie auf ihr Zimmer führen, hörte Theresa Frau Thannver
sagen. Ein leicht schielendes Mädchen in Theresas Alter löste sich aus
dem Aufgebot, Theresas Koffer schon in der Hand. Sie ging ein paar
Schritte und huschte, als sie sah, dass Theresa ihr folgte, die Stiegen
hinauf. Theresa fühlte hundert Blicke in ihrem Hinterkopf. „Sie ist eine
Hegelmann“, hörte sie den Notar noch sagen, „die Vorletzte.“ Und
Thannver sagte, ausatmend: „Wir wollen es hoffen.“
3) Das Zimmer, das man Theresa zuwies, war geräumig und trotz der
Dämmerung hell. Margit schickte sich an, ihren Koffer auszupacken, was
Theresa sie ersuchte, nicht zu tun, und selbst als die Vorhänge zugezogen,
der Koffer im rechten Winkeln am Bett abgelegt und auch sonst nichts
mehr zu tun war, kostete es Theresa einige Mühe, Margit aus dem Zimmer
zu komplimentieren. „Was ist nur mit diesen Haselnussmenschen los?“,
dachte sie unkompliziert, legte sich samt Mantel und Schuhen auf das
Bett, rollte auf den Bauch und öffnete ihren Koffer.
Als sie wieder erwachte, war es dunkel, ein Tablett mit einem Teller
Suppe ruhte neben dem Bett auf einem Tisch, der zuvor noch nicht da
gestanden hatte und ihr Koffer, eine Tatsache, die Theresa aber erst viel
später auffiel, war verschwunden.
Nachdem Theresa ein paar Löffel kalte Suppe gegessen hatte, zog sie
das Tagebuch ihrer Mutter aus der Innentasche ihres Mantels. Dieses
Buch, ein Heft von circa 120 Seiten, war die Gesamtheit dessen, was
Theresa von ihrer Mutter kannte, die bei ihrer Geburt sehr jung ums Leben
gekommen war, oder so hatten es ihr die Schwestern im Internat erzählt.
Theresa sei Österreicherin, so wie ihre Mutter Gertrude eine gewesen sei,
und auch das monatliche Geld an das Internat würde von Österreich aus
überwiesen, ihr Vater sei wohl im Krieg gefallen, im Alter von vier Jahren
sei sie zu den Karmeliterinnen gekommen, was früh sei, sehr früh, mehr
wisse man oder wolle man auch beim besten Willen nicht wissen, noch
habe es irgendeinen Sinn, in der Vergangenheit zu rühren, nun weine
doch nicht, wer wird denn gleich sentimental werden. Vor zwei Wochen
kam dann der Brief des Notars, ihrem Vormund, wie er sich auch nannte,
mit der dringenden Bitte, ins Dorf der Haselnussmenschen zu reisen. Wie
im Testament ihres Vaters vorgesehen, solle sie eine Erbschaft antreten,
für Details bliebe vor Ort noch Zeit, eine Zugkarte fände sie anbei.
Dem freundlich, aber vollkommen unpersönlich gehaltenen Brief
lag jenes Tagebuch von Theresas Mutter bei, das den Zeitraum von
März bis September 1941 umspannte, also in etwa zwei Monate vor
Theresas Geburt abbrach. Schon nach ein paar Zeilen hatte Theresa
erkannt, worum es sich handelte, das Heft wieder zärtlich geschlossen.
Und seitdem jeden Tag darin und nie mehr als drei Seiten, es musste
lange halten, gelesen. Wie ihre Mutter, womöglich bereits schwanger,
im März 1941 ins Dorf der Haselnussmenschen kam, wo der Künstler
Conrad Halder (ein bedeutender? Theresa hatte noch nie von ihm
gehört) Gertrudes Zukünftiger und, so konnte man mutmaßen, Theresas
Vater, von seinem engen Freund, Reichspostminister Ohnesorge zum
Verwalter im Schloss bestellt worden war, eine Funktion, die dieser alles
andere als wahrnahm. Wie eine Haushälterin namens Thannver ihrer
Mutter jede Minute ihres dort verbrachten Lebens durch Gemütskälte
erschwerte; wie die für Juni anberaumte Hochzeit wieder und wieder
verschoben wurde, wie die Menschen des Haselnussdorfs sich über sie
und ihren Zustand das Maul zerrissen, ein Umstand, den ihre Mutter
tollkühnerweise konterte, indem sie im Gewand einer Schlossherrin ins
Dorf ging; wo ihre Versicherungen, Conrad Halder werde sie heiraten,
allerdings niemand ernst nahm, erst recht nicht, als sich ihre Besuche
wöchentlich wiederholten und die Haselnussmenschen Gelegenheit
hatten, Gertrudes Courage und Aufgeklärtheit zu begegnen (auch
bei den anzüglichsten Bemerkungen ihren Körper oder ihr Gesicht
betreffend wahrte sie Beherrschung und Contenance, worin die Mehrheit
der darüber klatschenden Haselnussmenschen den Hinweis auf einen
kühnen, freisinnigen Charakter sahen, was nur den Schluss zuließ:
Hierher, und vor allem zu Halder, passte sie nicht), kurz, weder das Jahr
1941 noch das Dorf der Haselnussmenschen eigneten sich besonders
für fehlende Kleingeistigkeit. Wie ihre Mutter versuchte, angesichts
ihrer fortschreitenden Schwangerschaft und des nahenden Herbstes
Renovierungsarbeiten durchzusetzen; wie sie dabei scheiterte. Und,
immer wieder, so als wäre es ein Refrain, wie ihre Mutter nach Einsetzen
der Dunkelheit durch die Gänge des Schlosses wandelte, im Nachthemd,
barfuss, vom Schlafzimmer in den Salon in den Marmorsaal, durch den
Saal in das Speisezimmer und immer weiter. Und Theresa richtete sich
auf.
Konnte dieses Bett, auf dem sie lag, das Bett ihrer Mutter sein? Sie stand
auf und betrachtet es kurz, ein einfaches Bett, alt, aber in gutem Zustand.
Jetzt erst bemerkte Theresa, dass am Fußende des Bettes ein Nachthemd
für sie lag. Nahe der Halsnaht waren die Initialen HH eingestickt. Wie
lange konnte sie geschlafen haben?
Und dann tat Theresa etwas, wozu eigentlich nur ihre Mutter mutig genug
war. Theresa schlüpfte aus Schuhen, Mantel, Kleid und Unterwäsche,
zog das Nachthemd über. Dann machte sie sich daran, das Schloss zu
erkunden.
168 — 169
Christof Huemer
Barfuss, eine Kerze in der Hand, alles wie bei ihrer Mutter, schlich sie
hinaus in den Salon, durch den das Hausmädchen sie geführt hatte
und dessen Deckengemälde sie aufgrund geschlossener Fensterbalken
abermals ignorierte, wandte sich dann aber nicht sofort nach rechts
in Richtung des Stiegenhauses, sondern ging, als sie die zweite Tür zu
ihrer Rechten ausmachte, ein paar Schritte weiter. Sie drückte lautlos die
Klinke, nie hatte ihre Mutter Geräusche erwähnt, bis auf das Schnarren
der Vögel, natürlich, das sie zu rufen schien, ein Werben, gegen das sich
wehren musste, so schrieb sie, und Theresa trat ein in die vom Mondlicht
annehmend beleuchtete Halle. Sie bemerkt sofort den Marmorboden,
der die Sicheln ihrer Fußsolen abbildete, anders als die Parkett- und
Schiffsböden in den restlichen Räumen. Sie setzte weiter Fuß vor Fuß,
Schritt für Schritt. „Ich setze Schritt für Schritt, Fuß vor Fuß und summe
ein Lied für mein Mädchen“, hatte Gertrude an einer Stelle geschrieben;
obwohl sie nicht wissen konnte, dass ich ein Mädchen würde, dachte
Theresa und ließ ihren Blick dem vom Mond hingeworfenen Umriss eines
Fensters vom Fensterrahmen die Wand hinauf bis zur Decke folgen, wo
der helle Umriss bei einer gemalten Szene anhielt: Eine dicke Frau, die in
der rechten Hand ein Seepferdchen schwang, kniff einen noch dickeren
Engel mit der linken Hand in die Schulter. Ihr gegenüber ein irgendwie
von einem Einhorn aufgespießter Engel, der ihr einen Spiegel hinhielt;
über ihm ein Band mit der Aufschrift „PRUDENTIA TE SERVABIT“, ein
Spruch, den die Klosterschülerin Theresa unschwer als Teil der Sentenz
„Consilium custodiet te, prudentia servabit te“ erkannte. De facto hatte
sie ihn schon drei Mal hundert Mal in ein Heft geschrieben, samt der
Übersetzung: Guter Rat wird dich bewahren, Verstand dich behüten. Doch
was sollte das Fehlen des ersten Teils hier bedeuten? Und warum zwickte
die dicke Frau den armen Engel?
Theresa jedenfalls wärmte sich zuerst ihre rechte, dann ihre linke Fußsohle
am jeweils anderen Oberschenkel und nahm dann die offen stehende Tür
zu ihrer Rechten, die sie, wie Theresa erkannte, direkt ins Stiegenhaus
führte. Es mochte genetisch vererbte Sorglosigkeit sein, Waghalsigkeit,
Forschergeist – Theresa war der mysteriöse Ring eingefallen, der sich wie
eine Halskrause um den Flaggenturm gezogen hatte. Zu ihm, zumindest
zu einem Fenster im zweiten Stockwerk, von dem aus man ihn begutachten
konnte, wollte sie nun vordringen.
Theresa bewegte sich bereits auf die Stufen zu, als ihr Blick ein zweites
Mal von einem Kunstwerk gefesselt wurde. Der Stein oder Marmor, das
konnte sie nicht sagen, schien ihr, als sie ihn berührte, sonderbar kalt
und sein Standort schien mit Stolz gewählt und entbehrte nicht einer
gewissen Logik, denn das Stiegenhaus gab gewissermaßen den Herztrakt
des Schlosses. Sie legt kurz ihre Wange an die kühle Tafel, als würde
sie an der Wand lauschen, dann trat sie zwei Schritte zurück und besah
das Ornament genauer. Wie auf einem Schachbrett, einem in die Länge
gezogenen Schachbrett, um exakt zu sein, waren dort Buchstaben
170 — 171
Christof Huemer
angeordnet. Suchte man das Zentrum des Kunstwerks, was Theresa
automatisch tat, fand man ein tänzelndes F, den einzigen Buchstaben,
der nur einmal vorkam. Ausgehend von diesem Mittel-F strahlten all die
restlichen Buchstaben in alle Richtungen, ergaben unzählige mögliche
Wege und Straßen und Schneisen. Doch egal, welchen Pfad von der Mitte
zu einer der Ecken man nahm, egal welchen Ausweg man suchte – die
Buchstaben waren so angeordnet, dass sie immer den Namen „Franz
Hillebrand“ ergaben, nie etwas anderes. Einen kurzen, bitteren Moment
lang dachte Theresa, sie müsse das Orakel etwas fragen, aber ihr fiel keine
Frage ein, warum hat meine Mutter darüber nie geschrieben, wunderte sie
sich und ihr Gesicht verzog sich zu einer Grimasse, der es gelang, den
restlichen Körper zu beruhigen. Dann setzte sie einen Fuß auf die erste
Stufe und erstarrte, als sie plötzlich die Stimme von Frau Thannver direkt
hinter sich vernahm.
„Wohin, darf ich fragen, gedenken Sie zu gehen?“
Theresa blies wie auf Befehl ihre Kerze aus.
„Auf dem Weg zum Schloss ist mir ein, wie soll ich sagen, Steg, rund um
den Flaggenturm aufgefallen“, sagte sie.
„Ein Steg?“
„Vielleicht mehr ein Ring, wie eine Beilagscheibe...“
„Fräulein Theresa,“ aus ihrem Mund klang es wie der Name einer zur
Recht Verurteilten, „ich gebe Ihnen einen guten Ratschlag: Sie werden
keinen Fuß in den zweiten Stock dieses Hauses setzen.“
„Aber wieso denn nicht?“
„Der zweite Stock ist für Helene reserviert.“ Dann fügte die im blassen
Mondlicht noch fahler und toter wirkende Thannver hinzu, dass es spät
sei, das Fräulein jetzt wohl besser zu Bett gehe, man habe ihr eine Tasse
Tee ans Bett gestellt, und als Theresa sich darauf hin nicht bewegte,
vernahm sie ein gefauchtes „Verschwinde in Dein Zimmer!“
Theresa brach in Tränen aus, lief zurück in ihr Zimmer, knallte die schwere
Tür zu, warf sich sehr theatralisch dagegen, und es war, als hörte sie
direkt davor jemanden zischen: „Bleib weg von meinem zweiten Stock!“
5) Den nächsten Tag brachte Theresa damit zu, das Schloss mit Ausnahme
des zweiten Stocks zu erkunden und ihr Erleben mit dem in Einklang zu
bringen, was sie bisher aus dem Tagebuch ihrer Mutter kannte. Bei sich
im Zimmer und gleich nachdem sie morgens die Augen geöffnet hatte,
fing sie an. Sie öffnete, auch auf der Suche nach ihrem eigenen Koffer,
sämtliche Schränke, drei an der Zahl, und fand sie voller weißer Wäsche.
Es handelte sich jedoch nicht um Bettwäsche, wie sie die Stapel zunächst
vermuten ließen. Im Kasten neben der Tür zum Stiegenaufgang fand sich
im Mittelfach Babykleidung für, so schien es Theresa, Kinder von null bis
24 Monaten, und sie hatte mit dieser Einschätzung recht. Allen Lätzchen,
Strampelanzügen, Hemdchen etc., alle weiß, war in Hals- oder Bundnähe
das Monogramm HH eingestickt. Im Fach darunter: Kinderhemden,
-nachthemden, -leibchen, -röcke, -jäckchen, alle weiß, allen in Hals- oder
Bundnähe das Monogramm HH eingestickt. Im Fach darüber: Blusen,
Jacken, Röcke, Leibchen für Kinder im Schulalter, wie Theresa wieder
richtig schätzte, alle weiß, allen in Hals- oder Bundnähe das Monogramm
HH eingestickt. In den beiden anderen Schränken, und auch hier fehlte
weder das Monogramm noch das Weiß, der Rest einer Garderobe eines
ganzen noch einzukleidenden Frauenlebens, vom ersten Schrei bis zum
– wer konnte schon sagen, wie es zu Ende ging, sagte sich Theresa mit
der für Heranwachsende typischen Morbidezza – dem letzten. Bis zum
letzten Schrei, letzten Ächzen oder Hauchen von HH, in deren Nachthemd
sie steckte. Ha ha. Zweimal der achte Buchstabe. H wie Hillebrand, wie
Hegelmann, wie Heil. Theresa beschloss jemand nach HH zu fragen,
Margit, wenn sie sie sah, Thannver, wenn es sein musste, den Notar, wenn
es nicht anders ging. Dann schlüpfte Theresa in Kleid und Wäsche des
Vortages, vergaß erneut, sich um den Verbleib ihres Koffers zu sorgen
und wiederholte, auch aufgrund des Tageslichts weniger zaghaft, ihren
nächtlichen Rundgang, das Tagebuch in der Hand.
Schritt für Schritt. Das Durchgangszimmer, von dem Theresa diesmal
wahrnahm, dass es anders als ihres, eine üppig verzierte Zimmerdecke
aufwies. Fuß vor Fuß. Geradeaus ins nächste Zimmer, ein leeres
Schlafzimmer mit kleiner, einer Voliere nachempfundenen Badenische.
Auf einem Schemel warteten dort (für Theresa?) zwei penibelst gefaltete
Badetücher. Schritt für Schritt. Zurück und nach links in den Marmorsaal,
guter Rat und Verstand, Fuß vor Fuß in den nächsten, unbekannten
Raum, das Speisezimmer. Auf einem runden, unter dem verschlissenen
Tischtuch massiven Tisch – einer der schweren Stühle war bereits für sie
zurückgeschoben – ein Teller mit zwei länglichen Brotschnitten, beide
mit Butter bestrichen. Kein Besteck. In einer Tasse schwarzer Tee oder
sehr erbärmlicher Kaffee. Schritt für Schritt und noch immer barfuss hielt
sie sich links, die Tür zum Eckzimmer, eine Bibliothek, stand offen. Bücher
bis an die Decke, schwere Fauteuils, auch hier wohnte niemand, ruhte
niemand, las niemand, auch hier kein Mensch, nicht einmal ein Vogel vor
dem Fenster. Enttäuscht, erleichtert und einsam, vor allem einsam, lief
Theresa zurück in ihr Zimmer, schlüpfte in ihre Schuhe. Lief zurück ins
Speisezimmer und frühstückte.
Schwäche und Übelkeit, die kurz nach dieser Mahlzeit einsetzten,
fesselten Theresa den restlichen Tag ans Bett. Thannver kam und sah
nach ihr, legte ihre Eishand auf Theresas Stirn, ließ einen heißen, in Tücher
geschlagenen Ziegelstein bringen und Theresa fragte nicht nach Frau H
und fragte auch nicht nach Medizin, sondern dämmerte in Sphären, in
denen die Welten der Klosterschule und des Schlosses sich ineinander
schoben, und kam erst wieder so richtig zu sich, als es dämmerte. Theresa
stellte sich ans Fenster, betrachtete aufmerksam das Dach der Bäume,
die einen kleinen Wald bildeten, der „ein dunkler Bauch war, durch den
172 — 173
Christof Huemer
lautlose Tiere huschten“, dachte sie, ihre Mutter zitierend, und hörte ein
Schnarren und Kreischen und Klagen, das in der Luft flog wie ein langes
weißes Band und langsam näher kam. Hinter mir, auf der anderen Seite,
geht die Sonne unter, sagte sich Theresa. Ich muss Thannver finden und
mit ihr sprechen. Dann sah sie die Vögel.
Doch wie auch schon Gertrude Hegelmann in ihrem Tagebuch notiert hatte,
konnte man
„Thannver nicht finden; wenn, dann fand Thannver einen. Ich habe
versucht, mit den anderen Angestellten über dieses Phänomen zu
sprechen und viele haben mir bestätigt, man könnte fast sagen, es
ist eine Tatsache, dass man Thannver sich nie durch das Schloss
bewegen sieht. Bekommt man sie zu Gesicht, dann steht sie, so
als stünde sie schon ewig und noch länger hier, die Hände vor
der Scham verschränkt, ihr Rock reicht bis zum Boden und man
sieht ihre Füße nicht. Wie sie dies schafft, wie sie zwischen den
Stockwerken wechselt, wie sie in die einzelnen Räume gelangt,
ohne je auf dem Weg dorthin gesehen zu werden, ist mir, und allen,
mit denen ich sprach, ein Rätsel, dessen dunkelster Teil jener ist,
dass Thannver die Angewohnheit hat, stets völlig überraschend
hinter einem aufzutauchen. Da steht sie dann plötzlich, erschreckt
einen zu Tode mit irgendeiner Form des Tadels und wieder fragt
man sich, wie sie einem so lautlos so nahe kommen konnte.“
In der Tat. Als Theresa in das Zimmer mit der Badenische kam, stand dort
Thannver und obwohl das Zimmer hell beleuchtet war und nichts an dieser
Begegnung, die sie ja herbeiführen wollte, überraschend war, fuhr Theresa
zusammen. „Ihr Bad ist bereitet“, sagte Thannver knapp. Hatte sie auf
Theresa gewartet? Hatte sie gewusst, dass sie kam?
6) Folgendes Bild: Theresa in der Wanne, in warmem Wasser halb liegend,
halb schwebend, eine Hand auf ihrem kindlichen Bauch, ein Unterarm über
ihren weiblichen Brüsten. Neben der Nische, den Blick abgewandt, auf
einem Sessel sitzend, Thannver. Der Raum allein erleuchtet durch eine
kleine Tischlampe, von draußen die Laute der Vögel. Keine Nachricht von
Notar Burger, das Abendessen stehe, erkaltet natürlich, immer noch im
Speisezimmer, Theresa fragte nicht nach der Bedeutung des Monogramms,
und Thannver sprach von Theresas Mutter. „Auch ihre Mutter litt vom
ersten Tag an an Übelkeit“, sagte sie und wer könnte beurteilen, ob sie
es abschätzig sagte oder bloß kalt. „Eine Frau von ruheloser Energie“, sei
Gertrude Hegelmann gewesen, Conrad Halder eine Seele, ein Künstler, ein
Poet. Das Fehlen jeglichen Blickkontaktes verleitete Thannver zu sprechen,
könnte man annehmen; schwierige Jahre hätten sie hinter sich, doch werde
es bald besser; wenn Helene kommt, alles werde besser, alles sei bereit für
Helene.
„Ihr Vater?“, fragte Theresa, die sich auch nicht nach Helene zu fragen
traute. Meldete sich im Herbst 1941, einer Eingebung folgend, zu den
Fahnen. Wurde zunächst zum 312. Infanterieregiment geschickt, diente
dann später unter General von Bohle, einem von Wilhelms (gemeint ist
der Theresa aus dem Tagebuch ihrer Mutter hinlänglich bekannte Wilhelm
Ohnesorge, damaliger Reichspostminister und enge Freund des Führers,
der so wie Thannver selbst aus Gräfenheinichen stammte, wie Thannver
selbst 1920 der Partei beitrat und dem zu begegnen Thannver am
Machnower See das Vergnügen und dann natürlich des öfteren in diesem
Hause im Dorf der Haselnussmenschen hatte; von dem Theresa später
im Tagebuch ihrer Mutter noch lernen sollte, dass die Parteinummer 42
die seine war, die 69 jene von Thannver) wirklich engen Freunden, wo
sie doch beide so für Philatelie schwärmten ... Halders Spur, der seinen
Teil beigetragen hatte, Ehre wem Ehre gebührt, der sich der Vorsehung
unterworfen habe, verlor sich im Winter 1942, Dezember, Rumänien,
Schicksalsjahr, von Bohle, Leichtsinn, und irgendwo dazwischen,
eingestreut oder Sinnestäuschung, der Name Helene. Thannver sprach,
und Theresa hörte. Thannver deutete an, Theresa, das Tagebuch im
Hinterkopf, nicht wissend, dass Thannver es natürlich kannte, glich ab.
Die nächsten Tage verliefen exakt gleich. Theresa stand auf, frühstückte,
Übelkeit und Schwäche fesselten sie ans Bett, einmal kam ein Arzt,
verschrieb ein Mittel, Tropfen, die Thannver Theresa gab oder vorenthielt,
am Abend endlich Besserung. Ein Bad, ein Gespräch, das keines ist im
Halbdunkeln.
Der Tag darauf. Verlief gleich.
Der Tag darauf. Verlief gleich.
Theresa, in ihrer Wanne, rund um sie die Geschöpfe des Paradiesgartens,
von draußen das Locken der Vögel. Thannver auf ihrem Stuhl. Immer früher
wird es finster. Zeit für die Fütterung. Nie mehr fiel der Name Helene. Und
doch entkam Theresa nicht der Diktatur dieses Namens. Vielen kleine
dunkle Andeutungen der Haushälterin – oder vielleicht war es nur der
Tonfall, oder so etwas wie die Pausen zwischen den Wörtern – zwangen
Theresa förmlich zur Mutmaßung, Thannver selbst bilde womöglich den
Punkt, an dem all die Geheimnisse und auch die Antworten kurzweg
zueinander finden mochten, und dieser Punkt trage diesen Namen. Oder:
Vielleicht war Theresa, die Klosterschülerin, das Kind, auch allzu leicht zu
beeindrucken. Vielleicht war sie müde aufgrund der Krankheit und dachte
schwermütiger und ängstlicher, als es sonst der Fall war. Eventuell
verrieten die Worte der Haushälterin und auch jene des Fahrers aus dem
Dorf der Haselnussmenschen gar nichts über den Gemütszustand, den
Charakter des Haselnussdorfs und seiner zitternden Empfänglichkeit für
das Ewige und Reine.
Folgendes Bild: Theresa, in einem Schuppen, der der Lagerung der
Gartengeräte dient, und ein Erntehelfer – die Kartoffelstauden werden
174 — 175
Christof Huemer
ausgerissen, ihre Erde abgeschüttelt, die Früchte in Weidenkörbe
geworfen – ein Erntehelfer aus dem nächstbesten bayrischen Dorf, den
Theresa seit zwei Jahren als Ministranten kannte, ihn genau so lange
stumm anstarrte, von ihm angestarrt wurde, schiebt seine Hand unter
ihrem Rock hoch, seine gewaschene, von Erde vollkommen freie Hand.
Nach 10 Minuten ist alles vorbei. Niemand hat etwas bemerkt.
7) Schwäche und Übelkeit. Übelkeit und Schwäche. Nach gut einer
Woche, Theresa musste sich eingestehen, dass sie jegliches Zeitgefühl
verloren hatte, waren ihr beide so sehr vertraut, dass sie untertags, es
war ein Sonntagvormittag und sie wähnte Thannver in der Kirche, den
Versuch zu lesen unternahm. Sie holte das Tagebuch aus dem Schrank
mit der Babywäsche, vergewisserte sich, dass niemand in der Nähe ihres
Zimmers war und begann zu lesen, und es war an diesem Tag, dass ihre
Mutter in einem Eintrag zum ersten Mal den Ring erwähnte.
„Wir nahmen das Abendmahl dann ohne Gezänke [dieser Stelle
war ein Streit vorangegangen] im Speisezimmer, Conrad las wie
für gewöhnlich seine Zeitung. Und nach dem Essen hatte wie
immer Frau Thannver ihren Auftritt und unser gerade wieder
aufgenommenes Gespräch geriet ins Stocken. Frau Thannver stellte
sich an den Tisch, viel näher zu Conrad als zu mir – aber: besser so
– und ließ dort ihre üblichen Fragen nach dieser Front oder jenem
Buch ab; sie versuchte dabei wie eine preußische Intellektuelle zu
klingen (was sehr lustig ist, schade, dass Conrad keinen Humor
hat), während Conrad ein Messer mit Horngriff und kurzer Klinge
aus der Tischschublade holte und einen Apfel schälte, einfach des
Schälens wegen. Und, ich weiß nicht warum ich es tat und warum
genau dort und dann, ich fragte Conrad: „Conrad, was hat es mit
dem Ring um den Turm auf sich?“ Ich war wahrscheinlich bloß
neugierig. Aber Frau Thannver und Conrad wechseln hektisch
Blicke, ängstliche Blicke. „Ring...?“ fragt Conrad noch, da fällt ihm
Thannver dazwischen und mich an: „Das ist allein Angelegenheit
Helenes. Herr Halder, bitte sorgen sie dafür, dass die zukünftige
Frau Halder sich von Helenes Räumlichkeiten fernhält.“
Ach, dieser entsetzliche Krieg. Er macht die Menschen so
sonderbar. Ich wollte Conrad nach Helene fragen, aber die einzige
Zeit, zu der ich ihn sehe, ist das Abendessen, und da kommt
immer sofort Frau Thannver und stört. Meine zwei Vermutungen
bezüglich Helene: Thannver hat eine geheime Liebhaberin, die
oben im Turm wohnt, nicht ernst gemeint, natürlich. Oder Helene
ist der Name von irgendeinem Geheimprojekt, das Ohnesorge hier
betreibt (für das er womöglich auch Conrad benötigt, wofür denn
auch sonst) und der Ring gehört dazu. Das Wetter ist nach wie vor
grässlich. Am liebsten würde ich heizen lassen.“
Und Theresa las auch den Eintrag des nächsten Tages, geschrieben
gleich in der Früh, man spürte, dass Gertrudes Eindruck noch frisch war.
Ihre Mutter war in der Nacht aufgewacht, verstört und angsterfüllt. Sie
hatte geträumt, schlecht geträumt, in schwarzweiß. Wie sie auf einem
Schachbrett stand, das das Schloss war und Personen, die sie aus dem Dorf
der Haselnussmenschen kannte oder ihr nahe standen, ihre Großmutter
etwa, warteten neben ihr vor sich hin, jede für sich auf einem eigenen
Feld. Dann wurde Gertrude von irgendwelchen Mächten verschoben und
sie spürte, dass es ein schlechter Zug gewesen war, und sie wollte etwas
sagen, es gelang ihr aber nicht; sie wollte schreien, doch sie konnte nicht;
sie wollte sich wehren, aber nichts half, eine hochmütige Figur rückte
neben sie und Gertrude hörte Stimmen rufen, die Königin werde fallen,
die Königin werde fallen. Gertrude versuchte den Bann zu lüften, sich
zu bewegen, zu schreien, leben zu können. Ein Zug wurde gemacht, eine
schwarze, kalte Frauenfigur kam auf sie zu, kam immer näher, stieß aber
schließlich nicht sie um, sondern Conrad Halder, den König, der, ohne
dass sie ihn wahr genommen hatte, direkt neben ihr stand all diese Zeit,
und Gertrude wachte auf, panisch, richtete sich auf, sie blickte atemlos
neben sich. Da lag ihr zukünftiger Gemahl. Conrad Halder schlief tief und
fest. Gertrude lachte erleichtert auf, fuhr mit einer Hand durch sein Haar,
strich es aus der Stirn. Dann konnte sie einfach nicht anders. Sie weckte
ihn, rüttelte ihn wach. „Was?“, fragte Halder. „Was ist los?“
„Conrad, ich liebe Dich!“, sagte Gertrude und umarmte ihn, indem sie sich
einfach auf ihn legte, auf ihn warf, ihn mit sich zudeckte. „Nichts ist los.
Ich liebe Dich nur so sehr.“
Halders Kopf drehte sich leicht zu ihrem hin. Sie sah es ihm sofort an.
Sein unbewegtes Gesicht, an dem sich außer einem Halsmuskel nichts
rührte oder zuckte, als Halder sich zu ihr drehte, nicht einmal besonders
verschlafen oder durcheinander, wirkte zwar wie stets elegant und
distanziert. Auch sagte Halder gar nichts, nicht einmal „Was ist bloß los
mit dir?“ oder was er sonst zu sagen pflegte, wenn Gertrudes Benehmen
ihm Anlass zu Ärger bot oder er sich wegen ihr schämte. Er blickte sie bloß
an mit einem Blick, und dieser Blick sagte es. Als sei diese Umarmung das
Ekelhafteste, Unglaublichste und Abartigste, das ihm je widerfahren sei
und deshalb auch ohne Beispiel, wie man damit umgehen könnte, sagte
dieser Blick: Du bist widerwärtig, dreckig und noch mehr und, und das
traf Gertrude am allermeisten, dieser Blick konnte auch nicht verhehlen,
wie peinlich Halder das Vorgefallene war. Jedoch nicht peinlich auf
herkömmliche Faux-pas-Art, weil sich so etwas nicht schickte; auch nicht
peinlich um ihretwillen. Nein, peinlich um seinetwillen und einer höheren
Instanz wegen, als müsste Halder vor Scham vergehen, dass zwischen
dem, wofür er stand, und ihr überhaupt je, wenn auch nur einmal, eine
Verbindung bestanden hatte.
Gertrude wurde also klar, dass er nie mehr mit ihr schlafen oder sie
berühren würde. Nicht klar wurde ihr selbstverständlich, dass sie ihn
176 — 177
Christof Huemer
nie mehr sehen sollte. Halder, der aufstand, bevor sie wach war und
den sie den ganzen Tag – augrund seiner Arbeit? – nie sah, nahm seine
Abendessen, wie Thannver sie informierte, ab dieser Nacht im Dorf. Um
sie nicht zu wecken, bezog er ein zweites Schlafzimmer, und als Gertrude
endlich, zwei Wochen nach dieser Nacht, den Mut aufbrachte, seine
Anwesenheit ein für allemal einzufordern, war er bereits an der Ostfront.
Theresa, deren Bauch sich wölbte, nahm ab diesem Sonntag ihre
nächtlichen Erkundigungen wieder auf. Jedoch traute sie sich nicht
in den zweiten Stock, und da alle Türen zum Nordteil des ersten
Geschosses versperrt waren – sie fand sowohl die Tür vom Speisezimmer
in den nächsten Raum als auch die zweite Tür in ihrem Zimmer versperrt,
beschränkten sich ihre nächtlichen Wandlungen auf die fünf ihr schon
bekannten Zimmer. Bis sie eines Nachts, es war eine helle, winterliche
Vollmondnacht und die Böden und Möbel ächzten beim leisesten Hauch,
die Klinke an der Tür im Speisezimmer drückte und die massive Holztür
ein Stück nachgab. Nach kurzem Zögern – bezüglich des ersten Stocks
gab es von Thannver kein Verbot – schob Theresa die Türe einen Spalt auf,
schlüpfte in den Raum und sah sofort die bizarren Möbel. Sessel, Fauteuils,
Tische, Beistelltische, alle in penibelster Kleinarbeit aus den Geweihen
toter Hirsche gefertigt, die Sitzgarnitur gewordene Spießrutenfantasie
eines vor Jagdlüsternheit kranken Gehirns. Theresa wusste nicht, was
sie angesichts dieser Obszönitäten fühlen sollte, wollte lachen, spürte
gleichzeitig eine ganz andere Übelkeit in sich aufsteigen und erinnerte
sich an eine Stelle im Tagebuch ihrer Mutter. Die Stelle fand sich relativ
am Beginn der Aufzeichnungen, und da sie nichts mit ihrer Mutter zu tun
hatte, sondern mit einer Frau, die Theresa nicht kannte, hatte sie diese
offenbar mit weniger großem Interesse gelesen. So aber lief Theresa
zurück, holte das Tagebuch aus dem Wäscheschrank und warf sich damit
aufs Bett. Sie fand den Eintrag auf der fünften Seite.
„... und setze meinen Fuß durch die Tür und in ein Zimmer, das mir
das Grauen über den Rücken jagte. Gleichzeitig musste ich um ein
Haar lachen, denn alle Möbel in diesem Raum waren aus Tierhorn,
also Geweihen gefertigt: Eine komplette Zimmereinrichtung
voller Enden und Zacken und Spieße. Ich wollte mich kurz auf
der Armlehne eines Stuhls niederlassen, um die Szenerie auf
mich wirken zu lassen, tat es dann aber nicht aus Angst, mein
Nachthemd zu beschädigen. Und da erinnerte ich mich einer
Geschichte, die man sich auf der Hakeburg erzählt hatte. Dass
nämlich Hitler und seine Gefährtin Eva Braun in diesem Schloss
bei Wilhelm Ohnesorge, Conrads Vorgesetztem, zu Gast war und
dass nach der Abendgesellschaft, während derer man sicher
angeregt über die Herrlichkeit der deutschen Landschaft und den
kernigen Menschenschlag der Haselnussmenschen geschwätzt
178 — 179
Christof Huemer
hatte, alle ins Bett gegangen waren. Nur Eva Braun wollte noch
länger am Feuer sitzen. Hitler, Ohnesorge, dessen Frau Gustie
und noch andere gingen also auf ihre Schlafzimmer, Eva blieb
noch. Und während unser Führer Carlyles Biografie Friedrichs
des Großen studierte, setzte sich Eva Braun so folgenschwer und
unglücklich und gleichzeitig fest und ruckartig in einen der Sessel
(oder vielleicht war es ein Unfall und sie war von der Armlehne
abgerutscht; auch mag sie gestolpert sein, man war sich darin
damals nicht einig) dass ein Geweihspieß eine ihrer Schamlippen
perforierte und tief in ihr Fleisch eindrang. Über die folgenden
Einzelheiten wusste man natürlich noch weniger. Hitlers Leibarzt
reiste bereits am nächsten Tag in das Dorf der Haselnussmenschen
und nähte und korrigierte so gut es ging, was der in der Nacht
gerufene örtliche Mediziner sich kaum anzurühren gewagt hatte.
Geschlechtsverkehr zwischen Hitler und Eva Braun soll ab dieser
Nacht jedenfalls nicht mehr stattgefunden haben; stattgefunden
haben können, wie es häufiger hieß, wobei sich die Berichte, die
es zu diesem Unfall gab, jeweils sowohl auf einen Vertrauten
des Leibarztes als auch darauf stützten, dass Hitlers Politik
in den darauf folgenden Wochen, etwa in der Judenfrage, eine
entscheidende Wende nahm. [Das könnte in der Tat stimmen.
Historiker gehen momentan davon aus, dass die endgültigen
Entscheidungen, die zum Holocaust führten, im Herbst 1941
gefallen sein müsse, was zeitlich gut hinkäme.] Eine Version all
dieser Berichte, die natürlich dadurch interessanter wurden, dass
sie zu erzählen lebensgefährlich war, erscheint mir, da ich die
Möbel selbst gesehen habe, nun jedoch am Glaubwürdigsten, ich
weiß nicht warum. Es ist jene, die niemand bis dato für besonders
plausibel hielt. Dass Eva Braun es absichtlich getan hatte. Dass
sie den Spieß, den Zacken, das Ende absichtlich durch ihre
Schamlippe getrieben hatte, warum auch immer.
Ich setzte meinen Versuch, zu diesem seltsamen Ring zu
gelangen, der immer nur in den Stunden der Dämmerung,
gemeinsam mit dem Lullen der Vögel zu existieren scheint, an
diesem Abend nicht fort.“
8) Nach Wochen, vielleicht Monaten im Schloss, zumindest war aus Herbst
Winter geworden, hatte sich Theresas Zustand soweit gebessert, dass sie
zwar tagsüber das Bett verlassen konnte. Sobald sie aber ein paar Schritte
lief, die Stiegen zu schnell nahm oder aus anderen Gründen außer Atem
geriet, bemächtigte sich ihrer eine bis dato ungekannte Erschöpfung, und
ihr Bauch war so geschwollen, dass die von ihr mitgebrachte und kürzlich
wieder aufgetauchte Kleidung nicht mehr passte. Da Thannver sich nicht
daran störte, bediente sich Theresa also jener Blusen, Jacken etc., die sie
im Schrank in ihrem Zimmer fand.
Vom Notar hatte Theresa einen Brief erhalten, den Thannver ihr ungeöffnet
übergab. Sein Inhalt lief vollumfänglich auf eine Entschuldigung heraus,
die Gründe für die lange Absenz jedoch blieben vage, Geldgeschäfte.
Beigelegt war eine Postkarte aus Buenos Aires. Theresa besah kurz
die Briefmarke. Sie war ebenfalls in Buenos Aires abgestempelt, sie
wollte sich nicht vorstellen, wie lange eine Schiffspassage, sagen wir
von Marseille nach Argentinien, oder von Buenos Aires nach Rotterdam
dauerte. Theresa bemerkte Thannver, die plötzlich oder immer noch hinter
ihr stand und lief weinend und leicht watschelnd auf ihr Zimmer.
In einer der nächsten Nächte ereignete sich Seltsames. Theresa fand,
wieso auch nicht, alle Türen im ersten Geschoss offen. Sie konnte also,
wie ihre Mutter es getan hatte, Schritt für Schritt, Fuß vor Fuß aus
ihrem Zimmer in den Durchgangsraum, von dort in den Marmorsaal
(„Verstand wird dich behüten“), von dort in das Speisezimmer, weiter in
den bizarren Raum der Eva Braun wandeln. Und weiter in eine Folge von
nordseitig gelegenen, feucht-muffigen Räumen, von denen der erste an
den Flaggenturm anschloss. Wie in allen anderen Räumen der Nordseite,
verhinderten auch in diesem, von den Schreien der Vögel erfüllten Raum
geschlossene, oder wie es Theresa schien: vernagelte Fensterläden
einen klärenden Blick nach draußen. Auf die Vögel und den Grund ihres
Lärms. Auf den See, der zugefroren und trüb, unterhalb des Schlosses
im Dauerschatten lag. Auf die Fassade des Flaggenturms, um die sich
einen Stock höher ein Ring, ein Reif, ein Steg ziehen musste. (Nicht, dass
Theresa noch nie versucht hatte, bei Anbruch der Nacht aus dem Schloss
zu gelangen. Sobald es ihr Zustand zuließ, galt diesem Ziel beinahe all
ihre Energie; die Mission ihrer Mutter, das Auffinden des Stegs, war zu
ihrer Mission geworden. Allein das Schlossportal, der einzige Weg nach
draußen, blieb mehrfach verschlossen, Theresa war also eine Gefangene.
Nur, dass sie dies nicht so empfand, denn auch im Münchner Internat
war es ihr noch nie anders ergangen.). Theresa ging weiter, öffnete Tür
um Tür der Zimmer des Nordtraktes, vier Räume, in jedem derselbe
kalte Schiffsboden, dieselbe Dunkelheit, die Fenster in jedem einzelnen
verschlossen, vernagelt. Ich muss versuchen, eine Zange aufzutreiben,
dachte Theresa, wusste gleichzeitig, dass ihr eine Zange nicht helfen
würde, dass sie schon eher so etwas wie ein Brecheisen benötigte und
ärgerte sich, dass sie zwar Latein beherrschte, nicht aber die Namen für
die einfachsten Werkzeuge kannte. Sie öffnete enttäuscht und zugleich
erleichtert, einen ersten Rundgang absolviert zu haben, ohne jemanden
zu treffen, die diesmal nicht verschlossene zweite Tür zu ihrem Zimmer.
Und bemerkte sogleich eine kleine Gestalt, die sich an ihrem Versteck
zu schaffen machte. Ohne das leiseste Zögern rannte Theresa los, warf
sich gegen den winzigen Dieb, der wuchtig gegen die Regalbretter des
Wäschekastens prallte und dann zu Boden ging, wimmernd und klein.
Die Kerze, die Theresa immer noch in der Hand hielt, war bei ihrer Attacke
180 — 181
Christof Huemer
ausgegangen. Theresa entzündete sie erneut und erblickte ein aus der
Nase blutendes Mädchen mit zwei seitlich abstehenden Zöpfen, keine
acht Jahre alt.
„Wer hat dich geschickt? Was willst Du mit meinem Buch?“, herrschte
Theresa den blutenden Zwerg vor ihr an, der zunächst gar nichts sagen
wollte, sich aber nach mehreren immer drohender dargebrachten Fragen
schließlich erklärte. Sie habe nichts stehlen wollen, bei ihrer kranken
Großmutter nicht. Der Grund, warum sie halb im Schrank verschwunden
wäre, sei ein einfacher. Sie hätte Schritte gehört, gedacht, es handle sich
um Thannver und das nächstbeste Versteck aufgesucht.
Was sie in ihrem Zimmer zu suchen hätte, fragte Theresa.
Ihr Vater, sie wohne unten in der Fischerhütte, eines der irren Gesichter,
sagte sich Theresa, ihr Vater habe sie geschickt, Theresa zu warnen.
Ihr Vater?
Der Fischer, Chauffeur, Handwerker, Hausbesorger in einer Person.
Und wovor warnen?
„Ich weiß, wie Deine Mutter gestorben ist.“
Und Theresa ließ das blasse kleine Kind mit den zwei Zöpfen erzählen.
Gertrude, ihre Mutter, sei abends aus der Badewanne gestiegen,
hochschwanger und angelockt durch einen Laut, so wie ein Hund auf
eine Pfeife, nein, wie eine Schlange auf eine Flöte reagiert. Sie hätte
sich in ihr Handtuch gehüllt und sei der Melodie gefolgt, barfuss und
alle Vorsicht in den Wind schlagend, sei in den zweiten Stock gelangt,
in den zweiten Stock und in jenes sagenhaft weiße Eckzimmer, das an
den Flaggenturm anschließt. Sie habe gesungen, als sie das Zimmer
betreten habe, „Was hat sie gesungen?“, schnappt Theresa dazwischen.
Gesungen, lässt sich das Mädchen nicht irritieren, sie sei die fünf, sechs
Stufen hinaufgestiegen, wie eine Braut. Das Fenster stand offen. Sie sei
hinausgeschritten. Auf den Steg, den Ring, Schritt für Schritt, als hätte
sie es geübt, und eigentlich hätte sie immer nur weiter gehen müssen,
immer weiter um das Rund des Turms herum, beim zweiten Fenster hinein
in das Weiß, die Stufen hinunter. Das kleine Mädchen begann zu husten,
ein bellendes, krankes Husten, und Theresa schüttelte es: „Erzähl!“
Man habe sie nie gefunden. Sie sei am höchsten Punkt ... einfach
verschwunden, hieße es. Nicht hinunter gestürzt, gefallen, gesprungen,
zig Meter weit, nicht davon getragen. Verschwunden. Und auf der obersten
Stufe, im Zimmer, fand man ein Neugeborenes.
„Mich?“, fragte Theresa.
„Mein Vater sagt, ja.“
„Und was hat es mit dem Steg auf sich?“
„Ich weiß nicht?“
„Was hat es mit dem Steg auf sich?“
„Ich weiß es nicht!“
Theresa packte das blasse Mädchen, riss es hoch, warf es zu Boden und
trat mit ihren Füßen gegen den kleinen Körper so fest es ging, gegen
den Kopf, die Rippen und dorthin, woher die enervierenden Geräusche
kamen, sie trat und trat, bis sie selbst erschöpft war, bis er ihr besser
ging, weil einmal sie die Stärkere war, die Unbarmherzige, weil sie einmal
nicht das Gefühl hatte, sich in Luft aufzulösen, ein Gefühl des kaum mehr
Existierens, das sie hatte, seitdem sie hier war; bis sie Thannver hinter
sich sagen hörte: „Hör sofort auf!“
Ein sehr großer, sehr blonder Mann mittleren Alters, den Theresa vorher
noch nie gesehen hatte, trug den übel zugerichteten Körper des Mädchens
aus ihrem Zimmer, gleich nachdem Theresa von ihm abgelassen hatte,
und sogleich erschien auch Margit mit Eimer und Tüchern und beseitigte
die Blutflecken. Thannver blieb vor dem offenen Kasten stehen, bis alles
verrichtet war, und keine Falte in ihrem Gesicht bewegte sich, ein Hinweis,
dass ihr Zorn über diesen Vorfall schnell verrauchen würde.
Der Arzt, der Theresa nach dem Frühstück des nächsten Tages aufsuchte,
diagnostizierte einen Nervenzusammenbruch, verordnete Ruhe,
körperliche und geistige, und gab ihr eine Spritze. Theresa erwachte am
nächsten Morgen.
9) Folgendes Bild: Theresa sitzt im Speisezimmer beim Frühstück und
dreht sich um, weil Thannver den Raum betritt, mit einer Torte. 14 Kerzen.
Hinter ihr der sehr große, sehr blonde Mann, der vor ein paar Tagen das
halbtote Mädchen aus ihrem Zimmer getragen hatte. Beide singen sie
„Zum Geburtstags viel Glück, zum Geburtstag viel Glück“, und anstatt der
Zeile, in der es „liebe Theresa“ heißen müsste, singen sie ebenfalls „zum
Geburtstag.“ Theresa rechnet nach. Ihrer raschen Kalkulation zufolge, die
zur Hälfte auf ihrem Gefühl, zur Hälfte auf der Zahl der Vollmonde basiert,
liegt ihr Geburtstag in etwa acht, neun Wochen zurück. Thannver stellt
den Kuchen auf den Tisch und eine merkwürdige Situation entsteht, da
sich im Raum kein Messer befindet, um ihn anzuschneiden. Auch nicht
das kleine Messer mit dem Horngriff, mit dem Ihr Vater seinen Apfel
schält. Theresa hat das längst überprüft.
Ab diesem Tag sollte Theresa den sehr großen, sehr blonden Mann täglich
sehen. Er kam, sobald sie ihr Frühstück beendet hatte, geleitete sie die
paar Meter in die Bibliothek, nahm ein Buch aus einem der Regale und
ging es mit ihr durch. Theresa las über Norwegen; über die Tugenden
Keuschheit, Bußfertigkeit und Entsagung; sie hörte von Pflanzenarten des
Toten Gebirges, von Brehms Tierleben; sie lernte die Kunst Michelangelos
über jene Brunelleschis zu stellen. Sie grub sich durch das Tal der Könige.
Sie verehrte den Medici Giovanni die Bicci, zumindest tat sie so. Sie las
eine vereinfachte Form von Moby Dick auf Englisch, kurz: Unterricht, der
die in ihren weißen Kleidern noch blasser wirkende Theresa so erschöpfte,
aber genau das mag seine Aufgabe gewesen sein, dass sie das Angebots
einer Mittagsruhe gerne annahm. Sie zog sich dann in ihr Zimmer zurück,
sah lange aus den Fenstern auf die verschneite Landschaft und widmete
sich ernsthaft und immer noch heimlich ihrem strengen Regime von
höchstens drei Tagebuchseiten pro Tag.
Ihre Mutter, hochschwanger, widmete sich wiederum allein dem Rätsel
um den Ring. Sonntag für Sonntag begab sich die Hochschwangere
und an sich bedingt gläubige Gertrude auf den beschwerlichen Weg zur
Johanneskapelle, um nach der Messe unter dem Vorwand der Stärkung und
Ruhe eines der Gasthäuser aufzusuchen und Erkundigungen einzuholen.
Theresa, die sich nicht erinnern konnte, das Schlossgelände je verlassen
zu haben, versuchte sich vorzustellen, wie ihre Mutter die matschige
Strasse hinunter zum See schlitterte, der bleifarben und wie ein
monströser Pechtropfen im Schatten lag. Wie sie dann weiterstapfte,
den unerträglichen Weg entlang, der nirgendwohin führte, ins Dorf der
Haselnussmenschen, und der Theresa, wie zurzeit fast alles, das nicht
Schloss war, auch nicht von dieser Welt zu sein schien. Sie malte sich aus,
wie ihre Mutter eine ganze Messe lang ausharrte, um dann im Gasthof des
Herrn Zettler Erkundigungen über den Ring einzuholen. Ihre Mutter, die
trotz ihres Zustandes immer noch von einschüchternder Schönheit war,
zumindest wollte Theresa sich so erklären, warum Thannver, die ihren
Vater so verehrte, sie partout nicht leiden wollte, suchte dort dann die
Nähe alter Zausel, knorriger Bauern oder Soldaten auf Heimaturlaub, die
in ihrem Tagebuch zu schildern Gertrude eine Riesenfreude bereitete. Die
übrigen Gespräche verstummten kurz, sobald diese Kontaktaufnahme
erfolgreich war, und kreisten sodann allein darum, wie und in welcher
Stellung jeder einzelne Gertrude gerne vögeln würde. Und Gertrude fragte
ihre Opfer nach dem Ring, der sich, immer nur zur Zeit der Dämmerung,
um den Flaggenturm des Schlosses zu schlingen schien.
Zumeist gaben sich die Herren verschwörerisch. Ob sie schon einmal
etwas von Feng Shui gehört habe, fragte sie etwa ein Volksschuldirektor
im Ruhestand und schüttelte für sie den Kopf gleich mit. Wong Schweh,
wie er es aussprach, sei die Lehre der Harmonisierung des Menschen mit
seiner Umgebung, eine alte asiatische Kunst, die speziell hier im Dorf
der Haselnussmenschen, denn die Haselnussmenschen seien Asiaten,
Asiaten, die nicht aussähen wie Hühner und dir auch nicht die ganze Hand
abkauten, wenn du ihnen einen kleinen Finger reichtest. Darin glichen sie
den Bayern, aber, in Gottes Namen, man hüte sich vor den Bayern, den
Salzburgern, mit denen spreche man am Besten gar nicht, es sei denn sie
seien auf der Durchreise, dann seien sie wie junge Hunde. „Spielen Sie
ruhig mit ihnen.“
„Die Asiaten?“, fragte Gertrude.
Haben eine leichte, vollkommen ausgewogene Küche, was zum Teil den
Fels- und Kiessteinen ihrer Küsten geschuldet sei, da könnte Schweden
nicht mit. Auch England nicht, Engländer seien dreckige Schweden mit
Deckel drauf. „Und die Wong Schwe?“, fragte Gertrude. Oh ja, es heiße
übrigens „Schweh, das W, als würden Sie ein Schwein küssen, Schweh!“,
184 — 185
Christof Huemer
dabei gehe es um eine Harmonisierung der Lebensräume mit dem Äther.
Wong Schweh hieße ja „den Himmel und die Erde beobachten“. Man wolle
sich also die Geister der Luft und des Wassers geneigt gemacht. So gebe
es etwa in Asien viele Geister, die man sich, um das Böse, das man sich
nicht so wie das Böse aus Polen vorstellen dürfe, die Polen und auch die
Juden seien wesentlich penibler in ihrer Bösartigkeit, die Juden geradezu
rechthaberisch, um das asiatische Böse ungestört dorthin fließen zu
lassen, wo es aufgesogen werde, im großen gelben Meer etwa. In den
Schluchten der mittleren Gebirge, das seien noch Schluchten, die diesen
Namen verdienten. Das Böse könnte also, sagen wir, aus dem Berg, sagen
wir, durch das Dorf, ohne Aufenthalt ins Meer, ins Tal, in die Schlucht
fließen. Und die baulichen Maßnahmen im Dorf, die dies unterstützten, im
Übrigen seien die Holländer nicht nur Sodomiten, sondern auch passable
Architekten, besser als viele Deutsche, diese Maßnahmen folgten der
Lehre der Beobachtung von Himmel und Erde, Luft und Wasser.
Und der Ring um das Schloss?
Der Gürtel um den Schlossturm, im Übrigen würde er gerne einmal beide
ihrer geschwollenen Titten kneten, sei genau das. Im Schloss sitze
das Böse, nur dass es nicht sitze, es lauere dort, nein, es brüte dort,
im Portugiesischen (als Volk schwuchtliger als die Spanier, aber bessere
Seemänner) gäbe es ein Wort dafür, eine Mischung aus „wachsen“, „lauern“,
„zu Kräften kommen“ und dabei „etwas planen“; und wie eine dunkle
Sonne, die von Zeit zur Zeit Eruptionen zeige, Protuberanzen, müsse
dieses Böse im seinem momentanen Stadium hie und da ausbrechen. Und
der Ring, er gehe davon aus, das Fräulein werde sich für diese Information
erkenntlich zeigen, man sollte dies als alleinstehende Frau ja schon allein
des Nährwerts des Spermas wegen, er sorge dafür, dass dieses Böse, all
die dunkle Energie, die aus dem Schloss schieße zur Abendstunde, nicht
das Dorf der Haselnussmenschen heimsuche; dass es nicht am Grimming
vorbei und in Richtung Tauplitz flöge. Dass es nicht den Weg nach Westen
gen Schladming finde. Und so weiter. Das Böse würde aus dem Schloss
hinaus geschleudert, das meiste davon im Ring gefangen und zurück ins
Schloss geleitet werden. Der Überschuss schaffe es nicht weiter als bis
zum See und zur Fischerhütte, arme Brut, die sich dort zusammenrotte.
Nie schrieb ihre Mutter, ob sie sich schlussendlich erkenntlich zeigte.
10) Wieder glichen sich Theresas Tage. Nach dem Frühstück das
Studium, nach dem Mittagessen die Müdigkeit, das Trampeln im ihren
Bauch, die Lektüre des Tagebuchs, das Abendmahl, ein treuer, seltsamer
Muttesanbeterinnen-Rundgang durch den ersten Stock. Schlaf.
Ein anderer Sonntag hatte Gertrude in die Stube des Gasthauses
Beichtbuchner geführt, und während die anderen Männer rauchten und
sich darüber unterhielten, in welcher Stellung sie die schöne Schwangere
gerne vögeln würden, erhielt Gertrude einmal nicht jene mal mehr, mal
weniger einfallreich ausstaffierte Geschichte vom Bösen im Schloss. Ein
junger, auf einem Auge erblindeter Invalider, dem sich die Haut in Fetzen
vom Gesicht schälte und den Gertrude als jungfräulich, ungeschickt und
zerstreut beschrieb, als „menschliche Taschenlampe“, lud sie auf einen
warmen Wein ein. Und wusste, dass „der Krieg ohne die Atombombe
bald verloren sei“, worauf ein Geraune durch die Gaststube ging, sich
zwei andere Heimkehrer erboten, ihm das Maul zu stopfen, vom Wirt
aber barsch aufgefordert wurden, an ihrem eigenen Zopf zu ziehen,
was auch immer das bedeuten sollte. Die Taschenlampe fuhr fort: Karl
Wilhelm Ohnesorge, der Schlossbesitzer, wie Gertrude ja sicher wisse
(was Gertrude bewies, dass er sie und ihre Geschichte nicht kannte),
und dazu ein persönlicher Freund des Führers, sei auch dessen erste
Ansprechperson in Sachen Atom. Ohnesorge sei er bis zu seinem Unfall
unterstellt gewesen, als dessen Mann im Institut von Manfred Baron von
Ardenne in Berlin-Lichterfelde (deswegen der Dialekt, dachte Gertrude),
wo er an der Entwicklung eines elektromagnetischen Massetrenners
gearbeitet habe, mehr dürfe er wirklich nicht sagen. Beim Flaggenturm
des Schlosses handle es sich demnach, er dürfe das wahrscheinlich nicht
sagen, andererseits wisse er es ja nicht, er „wisse“ es nur, ob sie verstehe,
um die äußere Scheibe eines Zyklotrons, welches wohl bald um eine
Anlage zur Isotopentrennung erweitert würde.
Conrad Halder?
Ja, er habe diesen Namen gehört.
Und die Vögel, die um den Ring kreisten?
Vögel?
Die Gaststube prustete.
Warum der Ring nur bei Dämmerung erscheine und dann wieder
verschwinde?
Eine optische Täuschung. Worauf Gertrude beschloss, ihm nicht länger
zuzuhören.
Die Ausbeute anderer Sonntage:
• Die Heilige Lanze sei im Schloss versteckt (und, aber das
dürfe man niemandem sagen: Eva Braun habe sich daran die
Schamlippen geritzt). Gesprächspartner: ein Messdiener.
• Ganz ohne Zweifel verfeinere man im Turm und für den Endsieg
den so sehnlichst im Einsatz erwarteten Nurflügler, weshalb
der Ring zur Dämmerung auch in Richtung Neuschwabenland
zeige. Gesprächspartner: ein für den Pfarrer aus dem Dorf der
Haselnussmenschen einspringender Kaplan.
• Die Vril-Gesellschaftz werden ihn umbringen, wenn er es
verrate, aber, nun gut: Gemeinsam mit Wissenschaftern des
Sternensystems Aldebaran (über 60 Lichtjahre entfernt),
denen der Grimming als Einflugsschneise und das Schloss als
Lande- und Arbeitsplatz diene, werde im Schloss aus simplen
organischen Verbindungen Gold gewonnen. Nebenbei, Frau
186 — 187
Christof Huemer
•
Thannver sei natürlich niemand anderes als Maria Oršič. (Als
wer? Mein Gott, Kind. Selig die Unwissenden.) Gesprächspartner:
ein junger Rekrut, Überlebender eines Kopfschusses.
Es handle sich um einen Balkon, nein, Verzeihung, es sei natürlich
die zynischerweise als Jungfernsturz bekannt gewordene
Anhöhe, derer sich junge, in Not geratene Frauen bedienten, um
die Ehre ihrer Familien nicht zu schädigen. Hü und Hüpf. Haha.
Gesprächspartner: ein Arschloch, dem Gertrude ins Gesicht
schlug.
11) Für Theresa, in deren Leben Sexualität, bis auf einen einzigen Vollzug,
keine Rolle gespielt hatte, öffnete sich mit den Schilderungen dieser
sonntäglichen Nachforschungen und den auf sie folgenden, impliziten
Übergriffen ein Panoptikum sexuellen Wissens. Der einzige Mensch,
mit dem sie darüber sprechen konnte (abgesehen von ihrem großen,
blonden Lehrer, der ihr immer leicht das Gefühl vermittelte, ihm grause
vor ihr) blieb Thannver. Nicht nur, weil sie neben Margit die einzige
weibliche Person im Schloss war. Auch weil sich zwischen Thannver
und Theresa, durch die stets einseitig verlaufenden Unterhaltungen
während des abendlichen Bades und trotz oder wegen aller Asymmetrie
der Beziehung, trotz aller Feindseligkeit, die von beiden kaum verhohlen
wurde, so etwas wie Vertrautheit entwickelt hatte.
Und so beschloss Theresa, ihr Bauch eine Kugel und die Wanne der
einzige Ort, an dem sich zu bewegen ihr noch schmerzlos möglich war,
Thannver, die wie jeden Abend seit Monaten auf einem Stuhl im dunklen
Zimmer saß, den Rücken Theresa zugewandt, einfach zu fragen.
„Wie ist das,“ fragte sie, „wenn man es in sich fühlt, wenn man endlich
möchte, dass es passiert, dass diese große Nähe, der Wunsch danach,
endlich beisammen sein zu können, wenn man...“
„Wenn man“, nahm Thannver ihren Gedanken auf, die Stimme weicher
als sonst, „in der Erwartung lebt, dass es passiert. Wenn man horcht,
immerzu, ob man es nicht hört, das Nahen eines Wunders, das sich eines
Nachts dem Zimmer nähert, wo sie alle warten, und es dann endlich so
weit ist, das Warten ein Ende hat und sie endlich kommt, wenn sie endlich
kommt ...“ Thannver verstummte. Auch Theresa sagte nichts mehr, und
in der eintretenden Stille, die vom Schnarren der Vögel nicht gemindert
wurde, war ihr, als hörte sie Thannver schluchzen. Leise, schüchtern und
erleichtert schluchzen.
In der darauf folgenden Nacht badete Theresa zum ersten Mal allein.
Margit legte die Handtücher zurecht, Thannver sei ins Dorf gegangen,
sagte sie, ob Theresa wünsche, dass sie bei ihr bleibe und sie starrte
Theresa, die aus ihren Kleidern stieg, dabei seltsam wissend an. Nein,
sie brauche nichts, es sei schon gut, antwortete Theresa und stieg erst
ins Wasser, als Margit die Zimmertür geschlossen hatte. „Gute Nacht“,
sagte sie dann leise. Gute Nacht, gute Nacht, gute Nacht. Sie blies die
Kerze aus, ließ ihren Rumpf mit dem Ausatmen ins Wasser sinken, mit
dem Einatmen aufsteigen und lauschte den Vögeln, der Symphonie ihres
Knarrens, sie sah sie förmlich vor sich. Wie sie mühelos schwebten,
sich fallen ließen, kurz nur mit den Flügeln schlugen, Höhe gewannen
und wieder frei waren. Sie schloss die Augen, konzentrierte sich ganz
auf dieses tierische Raunen, und eine neue Note mischte sich unter
die Schreie. Theresa war, als würde sie ihren Namen hören, als wäre
es dringlich. Komm zu uns, schienen die Stimmen zu weinen, komm,
säuselten die ihr so vertrauten Geschöpfe. Theresa wusste nicht, ob
sie es hörte oder roch wie einen betörenden Duft. Komm, spürte sie sie
rufen. Theresa drehte schnell ihre Haare im Nacken zu einem Zopf, wrang
ihn aus und stieg aus der Wanne. Ein Badetuch verknotete sie oberhalb
der Brüste, das zweite schlang sie um den Kopf wie einen gelüfteten
Schleier. Dann folgte sie dem Rufen, folgte ihm und nichts tat ihr mehr
weh. Leicht setzte sie Fuß vor Fuß auf dem Parkettboden, „Was ist los,
bitte?“ fragt sie hallend in den Raum rund um sich, mehr um denjenigen,
zu dem sie ging, wer auch immer das war, wissen zu lassen, dass sie
kam. „Bitte?“
Wie auf einem Band glitt sie vorwärts. Sie kam in den Marmorsaal, der ihr
heller schien als je zuvor. In seiner Mitte schwebte, wartete eine weiße
Treppe, wie aus Zähnen gefertigt, sie wand sich in einer großzügigen
Pirouette nach oben durch den Raum. All das ist Theresa vertraut. Das
ist der Traum meiner Mutter, sagt sie sich. Das Ende des Schachspiels.
Die Obhut der Vernunft. Und: Wie kann es sein, dass diese Treppe, diese
gleichzeitig so himmlische und entartete Treppe, nicht schon immer
hier war? „Hier, wo sie hingehört.“ Theresa, die nicht mehr zu sagen
vermochte, ob sie noch selber ging und ob die Stufen vom Himmel herab
oder in ihn hinauf führten, sprach es laut aus. Sie begann zu singen.
Der Raum drehte sich um sie, verlosch unter ihr, auf dem Singsang der
Vögel kehrte sie ein in das zweite Geschoss des Schlosses. Ich komme,
sang Theresa, der klar war, dass man sie nicht hörte. Zwei vollkommen
unerhebliche Räume noch. Ich komme.
Die Tür stand offen. Theresa verstummte. Noch nie hatte Theresa so ein
Weiß gesehen. Ein vollkommen strahlender Raum, weiß wie die Hölle. An
der Stirnseite ein offenes Fenster, fünf, sechs Stufen führten hinauf zum
Ring um den Turm. Der Singsang der Vögel war ein Brausen. Der sanfte
Nachtwind nahm sie bei der Hand. „Ich trage dich“, hörte Theresa ihn
sagen. Gleich ist es vorbei. Eine Stufe noch, und Theresa, beide Hände
auf ihrem Bauch, geht hinaus. Schritt für Schritt. Fuß vor Fuß. Dann kam
der Schmerz und irgendwann hörte er auf.
188 — 189
Christof Huemer
13) Ich bin ein kluger Vogel. Ich kann Brot fressen, ich kann Aas fressen.
Ich esse mit Genuss. Wenn ich nicht esse oder schlafe, fliege ich. Ich
fliege und drehe mich, und segle und tolle. Ich fliege am Schloss vorbei.
Ich wirble um den Reif, der den Turm umarmt. Ich fange den Wind, lasse
mich nach oben tragen, spreize meine Schwingen und schaue in die
leuchtenden Fenster. Diese Frau, die wie eine Krähe aussieht, läuft ins
Zimmer, die Prozession hinter ihr hält Abstand. Ich sehe ihre Tränen. Ich
stoße einen Schrei aus, fliege eine schnelle Schleife, komme wieder zu
stehen vor diesem offenen Fenster, und das nackte Menschenjunge, das
halb am Fenster lag, halb am Reif, liegt nun im Arm der Frau. Sie wischt
sich eine Träne von der Wange, dreht sich dann um und präsentiert das
Menschenjunge der fiebernden, strahlenden Gesandtschaft aus dem Dorf.
Heil Helene, rufen sie. Heil Helene. Der Säugling wird herumgereicht. Sie
heben ihn hoch, Heil, jeder hält ihn und vergießt seine Freudentränen auf
ihm. Dann nehmen sie ihn, hüllen ihn in Loden und tragen ihn zum Altar.
Ich fliege weiter. Ich gleite und sause. Ich bin ein Wachtelkönig und meine
Name ist ...
190 — 191
Das Herstellen1
für Herzustellendes zu benutzen. Dies scheint das Ende zu sein, das
schließlich alle einzelnen Dinge der Welt erwartet, gleichsam als Zeichen dafür, daß sie Produkte sterblicher Menschen sind; aber für die
Welt im Ganzen, in der alle einzelnen Dinge ständig ersetzt werden im
Wechsel der Generationen, die in sie geboren werden, in ihr verweilen und aus ihr wieder verschwinden, gibt es ein solches Ende nicht.
Außerdem nutzt das Gebrauchen die einzelnen Gegenstände zwar ab,
aber dies Abgenutztwerden gehört nicht im gleichen Sinne zu ihrem
Wesen, wie das Verzehrtwerden zum Wesen der Konsumgüter gehört.
Was sich im Gebrauchtwerden abnutzt, ist Dauerhaftigkeit und Haltbarkeit.
Hannah Arendt
Diese Haltbarkeit nun verleiht den Dingen der Welt eine relative
Unabhängigkeit von der Existenz der Menschen, die sie herstellten
und in Gebrauch nehmen, die „objektive“ Gegenständlichkeit, die sie
dazu befähigt, den unersättlichen Bedürfnissen und Notdürften ihrer
Erzeuger „entgegenzustehen“ und sie wenigstens für eine Zeit zu
überstehen.3 So gesehen, haben die Weltdinge die Aufgabe, menschliches Leben zu stabilisieren, und ihre „Objektivität“ liegt darin, daß
sie der reißenden Veränderung des natürlichen Lebens − daß, wie
Heraklit sagt, niemals derselbe Mensch in denselben Fluß steigen
kann − eine menschliche Selbigkeit darbieten, eine Identität, die sich
daraus herleitet, daß der gleiche Stuhl und der gleiche Tisch den jeden
Tag veränderten Menschen mit gleichbleibender Vertrautheit entgegenstehen. Mit anderen Worten, das, was der Subjektivität des Menschen entgegensteht, und woran sie sich mißt, ist die Objektivität, die
Gegenständlichkeit der von ihm selbst hergestellten Welt, und nicht
die erhabene Gleichgültigkeit einer von Menschenhand unberührten
Natur, deren überwältigende Elementargewalt ihn im Gegenteil, vermöge des biologischen Lebensprozesses und seines Kreislaufs, in
die umgreifend kreisende Bewegung zwingt und einfügt, in der alles
Natürliche schwingt. Nur weil wir aus dem, was die Natur uns gibt,
die objektive Gegenständlichkeit einer eigenen Welt errichtet, weil
wir in den Umkreis der Natur eine nur uns eigene Umgebung gebaut
haben, die uns vor der Natur schützt, sind wir imstande, nun auch die
Natur als einen „Gegenstand“ objektiv zu betrachten und zu handhaben. Ohne eine solche Welt zwischen Mensch und Natur gäbe es ewige
Bewegtheit, aber weder Gegenständlichkeit noch Objektivität.
Die Dauerhaftigkeit der Welt
1
Wiederabdruck aus: Hannah
Arendt: Vita activa oder
Vom tätigen Leben. (c) 1967
Piper Verlag GmbH, München.
2
Das lateinische Wort faber,
das vermutlich mit facere
im Sinne des hervorbringenden Menschen zusammenhängt, bezeichnet den
Künstler oder Handwerker,
der hartes Material bearbeitet – Holz, Stein oder
Metall. Ihm entspricht das
griechische Wort τέχτων,
für das faber auch als
Übersetzung dient. Der
Plural fabri ist häufig in
fabri tignarii für Bauhandwerker und Zimmerleute. Es war mir unmöglich
festzustellen, wann der
Begriff des Homo faber
zuerst auftaucht oder wer
ihn geprägt hat. Sicher ist
nur, daß er ganz modernen
Ursprungs ist: Jean Leclercq
(in Vers la Société basée
sur le Travail, in Revue du
Travail, Vol. LI, No. 3, März
1950) meint, daß Bergson
sein Urheber ist.
Das Werk unserer Hände, und nicht die Arbeit unseres Körpers, Homo
faber, der vorgegebenes Material bearbeitet zum Zwecke der Herstellung, und nicht das Animal laborans, das sich körperlich mit dem Material seiner Arbeit „vermischt“ und ihr Resultat sich einverleibt, verfertigt
die schier endlose Vielfalt von Dingen, deren Gesamtsumme sich zu der
von Menschen erbauten Welt zusammenfügt.2 Die meisten dieser Dinge,
aber nicht alle, sind Gebrauchsgegenstände, und als solche besitzen sie
die Haltbarkeit, die Locke als Vorbedingung des Eigentums erkannte, die
Adam Smith als Vorbedingung der „Werte“ benötigte, die auf dem Markt
erscheinen und ausgetauscht werden, und in der Marx den Beweis für
die der menschlichen Natur eigene Produktivität erblickte. Diese Gegenstände werden gebraucht und nicht verbraucht, das Brauchen braucht
sie nicht auf; ihre Haltbarkeit verleiht der Welt als dem Gebilde von
Menschenhand die Dauerhaftigkeit und Beständigkeit, ohne die sich
das sterblich-unbeständige Wesen der Menschen auf der Erde nicht einzurichten wüßte; sie sind die eigentlich menschliche Heimat des Menschen.
Aber auch die Haltbarkeit der von Menschen geschaffenen Dingwelt
ist nicht absolut. Der Gebrauch, den wir von den Dingen machen, nutzt
sie ab, wiewohl er sie nicht verzehrt; der Lebensprozeß, der die Existenz des Menschen treibt und sie dringt, dringt auch in die Welt; und
selbst wenn wir die Dinge nicht benutzten, würden sie doch schließlich verfallen, nämlich zurückkehren in den umgreifenden Kreislauf
der Natur, dem sie entrissen und gegen den sie in ein eigenständiges Dasein gestellt wurden. Ausgestoßen aus der Welt der Menschen
und sich selbst überlassen, wird auch der Stuhl wieder zu Holz werden, und das Holz wird verwittern und zu dem Boden zurückkehren,
aus dem der Baum wuchs, bevor man ihn fällte, um ihn als Material
3
Das Wort „Gegenstand“ ist
eine wörtliche Übersetzung
von „Objekt“, das, von
obicere „entgegenstellen“,
ursprünglich das Entgegengestellte bezeichnete.
Wiewohl Gebrauchen und Verbrauchen so wenig dasselbe sind wie
Herstellen und Arbeiten, kommen sie sich doch oft so nahe, gehen so
fast unmerklich ineinander über, daß die öffentliche und gelehrte Meinung, die diese Sachen miteinander identifiziert, gerechtfertigt zu sein
scheint. Alles Brauchen enthält in der Tat ein Element des Verbrauchens, insofern der Abnutzungsprozeß durch Kontakt des gebrauchten
192 — 193
Hannah Arendt
Gegenstandes mit einem lebend-verzehrenden Organismus zustande
kommt, so daß die Identifizierung von Gebrauchen und Verbrauchen
um so einleuchtender sein wird, je mehr der betreffende Gegenstand
in den körperlichen Bereich des Benutzers rückt. Denkt man z. B. bei
der Erörterung von Gebrauchsgegenständen an das, was wir für unsere
Kleidung benötigen, so wird man zu der Überzeugung kommen, daß
Gebrauchen sich von Verbrauchen nur durch eine Verlangsamung des
Tempos unterscheidet. Hiergegen spricht, wie wir bereits erwähnten,
daß Abgenutztwerden eine zwar unvermeidliche, aber sekundäre Folge
des Gebrauchtwerdens ist, während das Verzehrtwerden eines Konsumgutes dasjenige ist, um dessentwillen es überhaupt erzeugt wurde. Die
billigste Fabrikware unterscheidet sich von der erlesensten Delikatesse
noch dadurch, daß sie nicht verdirbt, wenn sie nicht benutzt wird, daß
sie eine bescheidene Eigenständigkeit hat, die sie befähigt, die wechselnden Launen ihres Besitzers für einen recht beträchtlichen Zeitraum
zu überdauern. Wenn man ein Paar Schuhe nicht gerade mutwillig zerstört, werden sie, getragen oder ungetragen, für eine gewisse Zeit in
der Welt verweilen.
Aber es gibt ein berühmteres und auch viel plausibleres Beispiel, das
man zugunsten der Gleichsetzung von Herstellen und Arbeiten anführen
kann. Die notwendigste und elementarste Arbeit des Menschen besteht
in der Bestellung des Bodens, und der Ackerbau stellt in der Tat eine
Tätigkeit dar, in welcher sich das Arbeiten in seinem Vollzug in ein Herstellen verwandelt. Denn obwohl alle landwirtschaftlichen Arbeiten dem
biologischen Lebensprozeß des Menschen notwendiger und dem Kreislauf der Natur inniger eingefügt sind als irgendeine andere Tätigkeit, hinterlassen sie doch ein Resultat, das die Tätigkeit selbst überdauert und
zu einem greifbaren, bleibenden Teil der Welt wird: wo jahrein und jahraus, in endloser Wiederholung gepflügt, gesät und geerntet wird, fügt
sich die Wildnis der Natur schließlich in ein von Menschen bestelltes
Land. Das ist natürlich der Grund, warum zu allen Zeiten die Würde der
Arbeit an der Landarbeit exemplifiziert worden ist, während die Haushaltsarbeiten stets ins Feld geführt wurden, wenn man die knechtische
Natur der Arbeit kennzeichnen wollte. Zweifellos steht die Landarbeit,
die die Produktion der Lebensmittel besorgt, dem Herstellen näher als
die Hausarbeit, die für ihren Konsum erforderlich ist; zweifellos auch
geht die uralte Hochschätzung des Landbaus darauf zurück, daß die
Bodenbestellung eben nicht nur Lebensmittel erzeugt, sondern bestelltes Land, in welchem die Erde, zum Acker verwandelt, nun den Grund
hergibt für die Erstellung der Welt. Dennoch springt selbst in diesem
Fall der Unterschied zwischen Arbeiten und Herstellen als menschlichen Tätigkeiten in die Augen: auch Ackerland ist niemals wirklich ein
Gebrauchsgegenstand, der seine Eigenständigkeit besitzt und für seine
Beständigkeit nur einer gewissen Pflege bedarf; der bestellte Boden
muß, wenn er Ackerland bleiben soll, immer wieder von neuem bearbeitet werden; er besitzt kein von menschlicher Mühe unabhängiges Dasein,
er wird niemals zu einem Gegenstand. Selbst da, wo in jahrhundertelanger Mühe der bestellte Boden zur Landschaft geworden ist, hat er nicht
die Gegenständlichkeit erreicht, die den hergestellten Dingen eigen ist,
die ein für allemal in ihrer weltlichen Existenz gesichert sind; um Teil der
Welt zu bleiben und nicht in die Wildnis der Natur zurückzufallen, muß
er immer wieder von neuem erzeugt werden.
4
Die Vorstellung, daß der
Mensch in seinem Schaffen
an Material gebunden ist,
während Gott aus dem
Nichts hervorbringt, ist
mittelalterlich, während die
Auffassung vom Menschen
als unumschränkten Herrn
der Erde und der irdischen
Natur charakteristisch für
die Neuzeit ist. Beide
Auffassungen stehen in
gewissem Widerspruch zu
dem Geist der Bibel. Denn
für das Alte Testament ist
der Mensch der Herr aller
lebenden Kreaturen, die zu
seiner Hilfe geschaffen
wurden; er bleibt ein Diener
der Erde, und die Güter der
Erde sind nicht Material für
eine unabhängige, prometheische Schöpfungskraft. So ist es bezeichnend,
daß Luther auch in dieser
Hinsicht die Versuche der
Scholastik, die Lehren der
Bibel mit Hilfe griechischer
Philosophie zu interpretieren, zurückweist und
seinerseits versucht, alle
eigentlich produktiven
Elemente im menschlichen
Tun zu eliminieren. Alles,
was der Mensch tut mit
Bezug auf die Natur, ist,
daß er die Schätze „findet“,
die Gott in sie gelegt hat; er
bleibt Diener der Erde wie
im Alten Testament: „Sage
an, wer legt das Silber und
Gold in die Berge, daß man
es findet? Wer legt in die
Äcker solch großes Gut als
herauswächst…? Tut das
Menschen Arbeit? Ja wohl,
Arbeit findet es wohl; aber
Gott muß es dahin legen,
soll es die Arbeit finden…So
finden wir denn, daß alle
unsere Arbeit nicht ist denn
Gotte Güter finden und
aufheben, nicht aber möge
machen und erhalten“
(Werke, Ausg. Walch, Bd. V,
S. 1873).
Die Verdinglichung
Die Werktätigkeit von Homo faber, der die Welt herstellt, vollzieht sich
als Verdinglichung. Selbst den zerbrechlichsten Dingen verleiht er eine
gewisse Konsistenz, die er dem Material entnimmt, aus dem er sie verfertigt. Dies Material wiederum ist ebenfalls bereits etwas Verfertigtes; es ist nicht einfach da und gegeben wie die Früchte von Baum und
Strauch, die wir pflücken oder hängen lassen mögen, ohne damit in den
Haushalt der Natur einzugreifen. Material muß erst einmal gewonnen
werden, seiner natürlichen Umgebung entrissen, und mit der Gewinnung von Material greift der Mensch in den Haushalt der Natur ein,
indem er entweder ein Lebendiges zerstört – einen Baum fällt, um Holz
zu gewinnen – oder einen der langsameren Naturprozesse unterbricht,
wenn er das Eisen, den Stein, den Marmor aus dem Schoß der Erde
bricht. Alles Herstellen ist gewalttätig, und Homo faber, der Schöpfer
der Welt, kann sein Geschäft nur verrichten, indem er Natur zerstört. Die
Bibel hat Adam, den dem Acker verpflichteten, arbeitenden Menschen,
zum Herrn über alle lebende Kreatur gesetzt, aber das Animal laborans,
das die Kraft des eigenen Körpers durch die Kraft der ihm unterstellten
und von ihm gezähmten Tiere vervielfachen kann, um dem Leben seine
Nahrung zuzuführen, wird nie Herr der Erde und der Natur selbst. Nur
weil er auch Homo faber ist, kann es dem Menschen gelingen, Herr und
Meister der gesamten Erde zu werden. Und da menschliche Produktivität sich immer an einer göttlichen Schöpferkraft gemessen hat, die
ex nihilo, aus dem Nichts schafft, während der Mensch eine Substanz
braucht, die er gestaltet, hat sich das Bild der Rebellion des Prometheus
der Vorstellung von Homo faber so innig vermählt, wie das Bild einer
Gott ergebenen Frömmigkeit im Sinne der Bibel exemplarisch geworden ist für ein Leben, das gesegnet ist, wenn es Mühe und Arbeit gewesen. In jedem Herstellen liegt etwas Prometheisches, weil es eine Welt
errichtet, die auf der gewalttätigen Vergewaltigung eines Teils der von
Gott geschaffenen Natur sich gründet.4 Kraft und Stärke des Menschen
äußern sich am elementarsten in den Erfahrungen der Gewalttätigkeit,
und sie stehen daher im äußersten Gegensatz zu der qualvoll-erschöpfenden Anstrengung, welche die Grunderfahrung des Arbeitens ist. Aus
ihnen stammen Selbstgewißheit und Selbstgefühl, und sie können sogar
194 — 195
Hannah Arendt
5
In Hendrik de Mans berühmtem Buch Der Kampf um
die Arbeitsfreude (1927)
wird z.B. ausschließlich die
für alle Werktätigkeit
charakteristische Befriedigung über die Fertigstellung eines Gegenstandes,
die natürlich erst einsetzt,
wenn das Werk vollendet
ist, beschrieben.
6
Die Formulierung steht in
Yves Simon: Trois Leçons
sur le Travail (Paris, o. J.),
aber sie ist typisch für die
Idealisierungen der Arbeit
bei liberalen katholischen
Autoren. „Le travailleur
travaille pour son œvre
plutôt que pour lui-même:
loi de générosité métaphysique, qui définit l’activité
laborieuse“, meint z.B. der
Dominikaner M. D. Chenu in
Pour une Théologie du
Travail in Esprit 1952 u.
1955. Ganz ähnlich auch
Jean Lacroix: La Nation du
Travail, in der Zeitschrift La
Vie Intellectuelle, Juni
1952.
Quelle lebenslänglicher Zufriedenheit werden, aber sie sind grundsätzlich verschieden von dem Segen, der auf einem Leben ruht, das in Mühe
und Arbeit dahingegangen ist, und sie vermögen niemals die Intensität
des Lustgefühls zu erreichen, das das Arbeiten zuweilen begleitet, vor
allem dann, wenn die Anstrengung rhythmisch verläuft und der Körper
die gleiche Lust empfindet, die jeder rhythmisch geordneten Bewegung
eigen ist. Sofern die modernen Beschreibungen der „Arbeitsfreude“ mehr
meinen als die Arbeitslust eines gesunden Körpers, sofern sie ferner
nicht einfach auf einer Verwechslung des Stolzes auf eine Leistung mit
der höchst fragwürdigen „Freude“ beruhen, die angeblich den Vorgang
des Vollbringens selbst begleiten soll,5 haben sie ihre echte Erfahrungsgrundlage in dem beinahe physischen Gefühl einer Genugtuung, die sich
meldet, wenn immer der Mensch das ihm eigene Kraftpotential in seiner
ganzen Gewalttätigkeit an der überwältigenden Macht der Elementargewalten mißt, denen er in dem Grad standzuhalten vermag, als es ihm
gleichsam gelingt, sie zu überlisten, nämlich durch die Erfindung von
Werkzeugen die eigene Kraft ungeheuer über ihr natürliches Maß hinaus
zu vervielfältigen. Die dinghafte Substantialität, die den Gegenständen
der Welt innewohnt und sie befähigt, Widerstand zu leisten, ist nicht das
Resultat des Segens und der Mühe, der Lust und der Qual, mit denen wir
im Schweiße unseres Angesichts unser Brot essen, sondern das Produkt
dieser Stärke; und solche Produkte fallen dem Menschen nicht in den
Schoß wie die Früchte der Erde, sie sind nicht freie Gabe der Natur, welche die Immerwährende ihren Kreaturen reicht; das zu ihrer Erstellung
benötigte Material muß dem Schoß der Erde entrissen werden, Substanz
und Substantialität sind bereits Dinge von Menschenhand.
Die eigentliche Herstellung nun vollzieht sich stets unter Leitung eines
Modells, dem gemäß das herzustellende Ding angefertigt wird. Ein solches Modell mag dem inneren Blick des Herstellenden nur vorschweben, oder es kann als Entwurf bereits versuchsweise vergegenständlicht sein. In jedem Fall befindet sich das Vorbild, das die Herstellung
leitet, außerhalb des Herstellenden selbst; es geht dem Werkprozeß
voraus und bedingt ihn auf eine ganz ähnliche Weise, wie die drängenden Antriebe des Lebensprozesses im Arbeiter der eigentlichen
Arbeit vorangehen und sie bedingen. (Diese Beschreibung widerspricht
natürlich den Lehren der modernen Psychologie, die meint, daß Vorstellungen sich ebenso greifbar im Kopfe lokalisieren ließen wie das
Hungergefühl im Magen. Diese Subjektivierung der modernen Wissenschaft spiegelt nur die radikalere Subjektivierung der modernen
Gesellschaft wider und läßt sich damit rechtfertigen, daß das moderne
Herstellen in der Tat in der Weise des Arbeitens vonstatten geht, so
daß der Werktätige, selbst wenn er es wirklich wollte, ganz außerstande ist, „mehr um der Sache als um seiner selbst willen“ zu arbeiten,6 da er von dieser „Sache“, nämlich davon, wie der Gegenstand, an
dessen Herstellung er beteiligt ist, schließlich aussehen wird, zumeist
nicht die leiseste Ahnung hat.7 Aber diese rechtfertigenden Umstände,
wiewohl sie historisch von großer Bedeutung sind, kommen in einer
Beschreibung der grundsätzlichen Gliederung der Vita activa kaum in
Betracht.) Ausschlaggebend ist hier, daß alle körperlichen Empfindungen, Lust und Unlust, das Verlangen und seine Stillung – die so „privater“ Natur sind, daß sie noch nicht einmal angemessen mitgeteilt werden können, von einem dinglichen Erscheinen in der Außenwelt ganz
zu schweigen – durch eine Kluft von der geistigen Vorstellungswelt
geschieden sind, die sich so leicht und selbstverständlich der Verdinglichung fügt, daß wir weder ein Bett herstellen können, ohne uns vorher irgendwie ein Bett vorzustellen, d. h. ohne die „Idee“ eines Bettes
vor Augen zu haben, noch uns ein Bett vorstellen können, ohne uns an
ein bestimmtes Bett aus unserer sinnlichen Anschauungserinnerung
zu halten.
7
Georges Friedman
(Problèmes humains du
Machinisme industriel,
1946, S. 211) berichtet
ausführlich, wie häufig die
Fabrikarbeiter noch nicht
einmal den Namen oder den
Zweck des von ihrer
Maschine produzierten Teils
kennen.
Für die Stellung, welche die Herstellung in der Hierarchie der Vita
activa eingenommen hat, ist von großer Bedeutung, daß die Vorstellung oder das Modell, das den Herstellungsprozeß leitet, ihm nicht
nur vorausgeht, sondern auch nach Fertigstellung des Gegenstandes
nicht wieder verschwindet und sich so in einer Gegenwärtigkeit hält,
welche die weitere Herstellung identischer Gegenstände ermöglicht.
Aber diese der Herstellung inhärente, potentielle Vervielfältigung desselben unterscheidet sich prinzipiell von der Wiederholung, die das
Kennzeichen der Arbeit war. Denn Wiederholung ist nur die Art und
Weise, in welcher die Arbeit dem Kreislauf des biologischen Lebens
nachkommt und ihm untertan bleibt; die Bedürfnisse und Begehren
des menschlichen Körpers kommen und gehen in rhythmischer Folge,
sie erscheinen und verschwinden, aber verweilen nicht. Vervielfältigung dagegen vervielfacht das, was bereits eine relativ stabile, relativ gesicherte Existenz in der Welt besitzt. Diese Eigenschaft des
Beständigseins, die dem Modell und Vorbild zukommt – daß es vor
dem Beginn der Herstellung schon war und noch als identisches da
ist, wenn die Herstellung an ihr Ende gekommen ist, daß es also die
Entstehung aller in seinem Bilde hergestellten Dinge überdauert und
immer weiter unveränderlich und unerschöpflich zur Herstellung neuer
Dinge dienen kann –, spielt eine sehr große Rolle in Platos Lehre von
den immerwährenden Ideen. Sofern nämlich die Ideenlehre wirklich
von dem Wort Idee – also von ίδέα und είδος, von Gestalt und Aussehen –, das Plato als erster in einem philosophischen Sinne verwandte,
ausgeht, beruht sie offensichtlich auf Erfahrungen des Herstellens,
der ποίησις, und wiewohl Plato die Ideen selbstverständlich dazu
benutzt, um ganz andere, nämlich eigentlich philosophische Erfahrungen des „Sehens“ mitzuteilen, greift er doch immer, wenn er die
Plausibilität seiner Lehren illustrieren will, auf Beispiele zurück, die
196 — 197
Hannah Arendt
8
Daß Plato das Wort ίδέα als
erster in philosophischer
Bedeutung verwandte,
wissen wir von Aristoteles
(1. Buch der Metaphysik,
987b8). Gerard F. Else: The
Terminology of Ideas (in
den Harvard Studies in
Classical Philology, Bd.
XLVII, 1936), unterrichtet
ausgezeichnet über die
vorphilosophische Bedeutung des Wortes. Else
betont mit Recht, daß wir
aus den Dialogen nicht
erfahren, was die Ideenlehre in ihrer endgültigen Form
lehrte. Wir wissen auch
nichts Definitives über ihren
Ursprung, aber hier mag der
sicherste Hinweis noch in
der Bedeutung des Wortes
selbst liegen, das Plato so
überraschend in die philosophische Begriffssprache
eingeführt hat, obwohl es
in der attischen Alltagssprache ungebräuchlich
war. Die Worte είδος und
ίδέα beziehen sich zweifellos auf sichtbare Formen
und Gestalten, und zwar im
speziellen von lebendigen
Wesen; dies macht es
eigentlich unwahrscheinlich, daß die Ideenlehre
geometrisch-mathematischen Ursprungs ist. Cornford nimmt an, daß die
Lehre einerseits Sokratischen Ursprungs ist, da ja
Sokrates solchen Fragen
wie dem Gerechten überhaupt, dem Guten an sich
nachging und versuchte,
Begriffe zu definieren, die
aus der Welt des Handwerkers und des Herstellens stammen.8 So wird
schließlich einleuchtend, daß eine einzige, immerwährende Idee über
der Vielheit vergänglicher Dinge thront, weil diese Beziehung zwischen
dem ewig Einen und dem veränderlich Vielen in offenbarer Analogie zu
der Beziehung gesehen ist, die zwischen der Beständigkeit und Einzigkeit des Modells und den vielen entstehenden und vergehenden Dingen
obwaltet, die in seinem Bilde hergestellt werden können.
Was nun den Herstellungsprozeß selbst anlangt, so ist er wesentlich
von der Zweck-Mittel-Kategorie bestimmt. Das hergestellte Ding ist ein
Endprodukt, weil der Herstellungsprozeß in ihm an ein Ende kommt („der
Prozeß erlischt im Produkt“, wie Marx sagt), und es ist ein Zweck, zu
dem der Herstellungsprozeß selbst nur das Mittel war. Zwar produziert
die Arbeit zweifellos auch für den „Zweck“ des Konsums, aber da dieser Zweck, als Endprodukt gesehen, der weltlichen Beständigkeit eines
Gegenstandes ermangelt, ist das Ende des Arbeitsprozesses nicht durch
das Endprodukt determiniert, sondern durch die Erschöpfung der Arbeitskraft; die Arbeitsprodukte andererseits werden sofort wieder zu Mitteln,
ihr Zweckcharakter ist eine ganz vorübergehende Eigenschaft, die sofort
verschwindet, wenn die erzeugten Güter ihrer Bestimmung zugeführt
werden, um als Lebensmittel für die Regeneration der Arbeitskraft verwendet zu werden. Über das Ende des Herstellungsprozesses kann dagegen gar kein Zweifel bestehen; er ist zu Ende, wenn ein ganz und gar
neues Ding, das beständig und eigenständig genug ist, von nun an ohne
alle Hilfe des Menschen in der Welt zu bleiben, dem Gebilde von Menschenhand hinzugefügt worden ist. Was dies Ding in seinem Fertigsein
betrifft, so braucht der Prozeß, dem es sein Entstehen schuldet, nicht
wiederholt zu werden. Daß der Handwerker ihn dann doch wiederholt
und ein Ding nach dem anderen herstellt, hat lediglich damit zu tun, daß
auch er sich seinen Lebensunterhalt verdienen muß, was nichts anderes
heißt, als daß in gewissem Sinne Herstellen und Arbeiten zusammenfallen; oder es mag daher rühren, daß eine Nachfrage nach solchen Dingen
besteht, die der Verfertiger aus Erwerbsgründen zu befriedigen wünscht,
was nichts anderes besagt, als daß er, wie Plato gemeint haben würde,
neben seiner Handwerkskunst noch die zusätzliche Kunst des Gelderwerbs gelernt hat und zu betreiben wünscht. Worauf es hier ankommt,
ist, daß der Herstellungsprozeß in beiden Fällen aus Gründen wiederholt
wird, die außerhalb seiner selbst liegen und mit ihm nichts zu tun haben;
während eine endlose, sich im Kreise drehende Wiederholung allen
Arbeitsprozessen inhärent ist: man muß essen, um zu arbeiten, und muß
arbeiten, um zu essen.
Es ist das eigentliche Merkmal des Herstellens, daß es einen definitiven Anfang und ein definitives, voraussagbares Ende hat; und hierdurch
allein schon unterscheidet es sich von allen anderen menschlichen Tätigkeiten. Das Arbeiten, gefangen in den Kreislauf des Körpers, hat weder
Anfang noch Ende. Und das Handeln hat zwar einen klar erkennbaren
wir ständig gebrauchen und
die uns in sinnlicher Erfahrung nicht gegeben sind;
und daß sie andererseits
unter pythagoreischem
Einfluß entstanden ist, weil
die Antwort der Ideenlehre
auf die Sokratischen Fragen, nämlich die ewige und
von allem Vergänglichen
abgetrennte Existenz einer
Idee des Gerechten oder
des Guten, implizierte, daß
es eine bewußte und der
Erkenntnis fähige Seele
gibt, die so abgesondert
von Körper und Sinnen
existiert wie die Idee von
irdischen Dingen. Es ist
also, als hätte Plato auf die
sokratischen Fragen mit der
pythagoreischen Seelenlehre geantwortet. Dies klingt
wahrscheinlich (für Cornford, siehe vor allem seinen
Plato und Parmenides).
Aber meine Darstellung
läßt alle diese Fragen in der
Schwebe; sie bezieht sich
einfach auf das 10. Buch
des Staates, wo Plato
selbst den Begriff der Idee
mit dem alltäglichen Beispiel eines Handwerkers
erklärt, der Betten und
Stühle herstellt „entsprechend seiner Idee“, also
einer im vorhinein gefaßten
Vorstellung, wobei Plato
noch ausdrücklich hinzufügt: dies meinen wir in
diesen und ähnlichen
Fällen. Für Plato hatte
natürlich das Wort „Idee“
eine ganz andere, konkret
sprechende und bedeutende Qualität als für uns; und
was er mit dem Wort selbst
andeuten wollte, war
einfach, daß ja auch der
„Handwerker, der ein Bett
oder einen Tisch herstellt,
hierfür nicht auf ein anderes Bett oder einen anderen
Tisch blickt, sonder auf die
‚Idee‘ des Bettes“ (vgl. Kurt
von Fritz: The Constitution
of Athens, 1950, S. 34/5).
Selbstverständlich rührt
keine dieser Erklärungen an
den Kern der Sache, d.h.
weder an die spezifisch
philosophische Erfahrung,
die dem Ideenbegriff zugrunde liegt, noch an die
entscheidende und gearde
nur den Ideen zukommende
Eigenschaft der Leuchtkraft, daß sie gleich der
Sonne alles Erscheinende
erhellen und zum Leuchten
bringen.
Anfang, ist aber dann, wenn es erst einmal begonnen ist, wie wir sehen
werden, ebenfalls, wenn auch auf andere Weise, endlos; auf keinen Fall
hat es ein Ende, das man voraussagen, und einen Zweck, den man in
Gewißheit verfolgen könnte. Diese große Verläßlichkeit, die dem Herstellen eignet, spiegelt sich in der Tatsache wider, daß es, im Unterschied
zum Handeln, nicht unwiderruflich ist. Was von Menschenhand geschaffen wurde, kann von Menschenhand auch wieder zerstört werden, und
kein Gebrauchsgegenstand wird so dringlich im Lebensprozeß benötigt,
daß sein Verfertiger sich seine Vernichtung nicht leisten und sie überleben könnte. Homo faber ist in der Tat ein Herr und Meister, nicht nur, weil
er Herr der Natur ist oder verstanden hat, sie sich untertan zu machen,
sondern auch, weil er Herr seiner selbst, seines eigenen Tuns und Lassens ist – was man weder von dem Animal laborans, das der Notwendigkeit des eigenen Lebens unterworfen bleibt, noch von dem handelnden
Menschen sagen kann, der sich immer in Abhängigkeit von seinen Mitmenschen befindet. Unabhängig von Allem und Allen, allein mit dem ihm
vorschwebenden Bild des herzustellenden Dinges, steht es Homo faber
frei, es wirklich hervorzubringen; und wiederum allein, konfrontiert mit
dem Resultat seiner Tätigkeit, kann er entscheiden, ob das Werk seiner
Hände der Vorstellung seines Geistes entspricht, und ist frei, wenn es
ihm nicht gefällt, es zu zerstören.
Die Rolle des Instrumentalen in der Arbeit
Für Homo faber, der sich vollkommen auf seine Hände verläßt, diese
ursprünglichsten aller Werkzeuge und Geräte, läßt sich der Mensch in der
Tat, in den Worten Benjamin Franklins, als ein „toolmaking animal“, ein
Werkzeug-fabrizierendes Lebewesen definieren. Die gleichen Geräte, die
dem Animal laborans nur zur Erleichterung seiner Last und zur Mechanisierung der Arbeit dienen, hat Homo faber entworfen und erfunden für
die Errichtung einer Dingwelt, und ihre Tauglichkeit und Präzision hat
sich weit mehr nach den objektiv-gegenständlichen Zwecken gerichtet,
für die er sie verwenden wollte und die seinem inneren Auge als Modelle
jeweils vorschwebten, als daß sie unter dem Druck der Lebensnotdurft
oder der subjektiven Bedürfnisse entstanden wären. Werkzeuge, Geräte
und Instrumente sind so durch und durch weltliche Gegenstände, daß wir
ganze geschichtliche Epochen und ihre Zivilisationen nach ihnen benennen und mit ihrer Hilfe klassifizieren. Nirgends aber kommt gerade ihr
weltlicher Charakter so ausgesprochen zum Vorschein als in Arbeitsprozessen, wo sie in der Tat die einzigen Dinge sind, die sowohl den Arbeitsprozeß wie den Konsumprozeß überdauern. Dem Animal laborans, gerade
weil es dem Lebensprozeß unterworfen und um seine Erhaltung dauernd besorgt sein muß, repräsentieren die Werkzeuge und Geräte, deren
es sich bedient, daher die Welt in ihrer Dauerhaftigkeit und Haltbarkeit überhaupt und müssen in seiner „Weltanschauung“ eine erheblich
198 — 199
Hannah Arendt
9
Seit Karl Büchers berühmter
Sammlung von Arbeitsliedern ist eine umfangreiche
wissenschaftliche Literatur
der Verbindung von „Arbeit
und Rhythmus“ weiter
nachgegangen. In einer der
besten dieser Untersuchungen wird von Joseph
Schopp (Das deutsche
Arbeiterlied, 1935) ausdrücklich darauf hingewiesen, daß es zwar Arbeitslieder, aber keine eigentlichen Werklieder gibt. Die
Lieder der Handwerker
werden nach der Arbeit
beim geselligen Beisammensein gesungen. Dies
hat natürlich damit zu tun,
daß es bei der Werktätigkeit keinen „natürlichen“
Rhythmus gibt. Abgesehen
von den zahlreichen Klagen über den künstlichen
Rhythmus, den die
Maschinen dem Menschen
auferlegen, wird gelegentlich auch bemerkt, daß
dieser künstliche Rhythmus
dem natürlichen Rhythmus
des Arbeitens auffallend
ähnelt. Es ist daher auch
bezeichnend, daß die
Arbeiter selbst sich verhältnismäßig selten über den
Rhythmus der Maschinen
beklagen und im Gegenteil
offenbar die gleiche „Arbeitslust“ empfinden, ob
nun die Maschinenarbeit
oder reine Körperarbeit den
Rhythmus des Arbeitsvorganges bestimmen (hierfür
s. Georges Friedmann: Où
va le Travail humain?,
1953, S. 233 und Hedrik de
Man, op. cit., S. 213). Dies
wird vor allem auch durch
die Erhebungen bestätigt,
die am Anfang des Jahrhunderts in den Fabriken von
Ford gemacht wurden.
Bücher, der meinte, rhythmische Arbeit sei bereits
„vergeistigte Arbeit“, wies
ebenfalls darauf hin, daß
„nur solche einförmigen
Arbeiten, die sich nicht
rhythmisch gestalten
lassen“, als aufreibend
empfunden werden (op. cit.,
S. 443). All dies beweist,
daß die Arbeit an der
Maschine, wenn auch ihr
Tempo größer und ihre
Verrichtungen einförmiger
bedeutendere Rolle spielen, als bloßen Mitteln sonst zugestanden wird.
Für das Arbeiten verlieren Werkzeuge und Maschinen ihren instrumentalen Charakter, und das Animal laborans bewegt sich unter ihnen so,
wie Homo faber sich in der Welt der fertigen Dinge, in der Welt seiner
Zwecke, bewegt.
Die häufigen Klagen, die wir über die Verkehrung der Mittel in Zwecke
und umgekehrt der Zwecke in Mittel in der modernen Gesellschaft
hören: daß die Mittel sich als stärker als die Zwecke erweisen und daß
der Mensch der Knecht der Maschinen wird, die er selbst erfunden hat,
daß er sich ihren Erfordernissen anpaßt, anstatt sie als bloße Mittel für
menschliche Zwecke und Bedürfnisse zu nutzen – haben ihre Wurzel in
der tatsächlichen Situation des Arbeitens. Denn für das Arbeiten, das ja
primär in einer Präparierung von Gütern für den Konsum besteht, ergibt
die für die Herstellung so außerordentlich wesentliche Unterscheidung
zwischen Zweck und Mitteln einfach keinen Sinn, weil in ihm Zweck und
Mittel gar nicht getrennt genug auftreten, um überhaupt scharf auseinandergehalten und geschieden werden zu können. Daher verlieren die
von Homo faber erfundenen Instrumente und Werkzeuge, mit denen er
dem Animal laborans bei seiner Arbeit zu Hilfe gekommen ist, sofort ihren
instrumentalen Charakter, wenn sie erst einmal wirklich in den Arbeitsprozeß eingegangen sind. So ist es auch müßig, an das Leben und den
Lebensprozeß, von dem die Arbeit einen integrierenden Teil bildet und
den sie als solchen niemals übersteigt, Fragen zu stellen, die die ZweckMittel-Kategorie voraussetzen, also z. B. zu fragen, ob der Mensch lebt
und seine Bedürfnisse stillt, um die Kraft zur Arbeit zu haben, oder ob
umgekehrt er nur arbeitet, um dann auch seine Bedürfnisse stillen zu
können.
Will man sich klarmachen, was es eigentlich für menschliches Verhalten
besagt, in einer Situation zu sein, in der es unmöglich ist, klar zwischen
Mitteln und Zwecken zu unterscheiden, so muß man sich die Situation
eines arbeitenden Körpers vergegenwärtigen, für den an die Stelle der
freien Disposition und des freien Gebrauchs von Werkzeugen für ein
bestimmtes Endprodukt die rhythmische Vereinigung des Körpers mit
seinem Gerät getreten ist, wobei die vereinigende Kraft von Körper und
Gerät die arbeitende Bewegung selbst ist. Die Leistung des Arbeiters,
aber nicht die des Herstellers, verlangt zur Erzielung bester Resultate
eine rhythmisch geordnete Bewegung, bzw. bei dem Zusammenarbeiten mehrerer Arbeiter die rhythmische Koordinierung aller individuellen
Bewegungen in der Gruppe.9 In dieser Bewegtheit verlieren die Werkzeuge ihren instrumentalen Charakter, und es verwischt sich in ihr sowohl
der Unterschied zwischen dem Menschen und dem Werkzeug, also seinem Mittel, wie der zwischen dem Menschen und dem, was er produziert,
also seinem Zweck. Was den Arbeitsprozeß – und alle in der Weise des
Arbeitens vollzogenen Herstellungsprozesse – beherrscht, ist weder der
im vorhinein entworfene Zweck noch ein begehrtes Produkt, sondern die
sind, dem nichtmaschinellen, spontanen Arbeiten
sehr viel näher kommt als
dem Herstellen; den Ausschlag gibt das Rhythmische
als solches. So weist auch
Hendrik de Man darauf hin,
daß „diese von Bücher
gepriesene Welt weniger
die des…handwerksmäßig
schöpferischen Gewerbes
[ist] als die der einfachen,
schieren…Arbeitsfron“ (op.
cit., S. 244). Gerade diese
Arbeitsfron aber erregt
Lust, und zwar unabhängig
von dem, was sie leistet;
während die Werktätigkeit
selbst überhaupt keine
„Lust“ erregt, sie kann sich
nur des hergestellten
Gegenstandes erfreuen und
stolz auf die Leistung sein.
Wie fragwürdig aber alle
diese Theorien von einer
„Arbeitsfreude“ überhaupt
sind, wird offenbar, sobald
man die Arbeiter selbst
fragt, warum sie z.B.
eintönige Arbeit vorziehen.
Ihr Grund ist, daß sie
mechanisch ist und keine
Aufmerksamkeit beansprucht, so daß sie ihnen
erlaubt, an anderes zu
denken – „geistig wegzutreten“, wie man in Berlin
sagt (vgl. Thielicke u.
Pentzlin: Mensch und
Arbeit im technischen
Zeitalter: Zum Problem der
Rationalisierung, 1954, S.
35ff.). Nach den Erhebungen des Max-Planck-Instituts für Arbeitspsychologie
ziehen 90% aller Arbeiter
mechanische, einförmige
Arbeiten allen anderen vor.
Daß diese Vorliebe für das
mechanische Arbeiten
keineswegs ein Zeichen von
Dummheit oder Abgestumpftheit zu sein braucht,
geht daraus hervor, daß es
durchaus im Einklang mit
sehr frühen christlichen
Erfahrungen des körperlichen Arbeitens steht; daß
es weniger Aufmerksamkeit
beanspruche als alle anderen Tätigkeiten, galt als
einer seiner wesentlichen
Vorzüge, weil es einen
Spielraum für „Kontemplation“ läßt (siehe Etienne
Delaruelle: Le Travail dans
les Règles monastiques
occidentales du 4e aus 9e
siècle, im Journal des
Psychologie Normale et
Pathologique, Vol. XLI, No.
1, 1948).
Bewegung des Prozesses selbst und der Rhythmus, in den er den Arbeitenden hineinzwingt. In diesen Rhythmus werden die Arbeitsgeräte mithineingezogen, so daß Körper und Werkzeug in der gleichen, immer wiederholten Bewegung schwingen, bis schließlich die Maschinen, die sich
wegen ihrer Bewegtheit am besten von allen Geräten für die Verrichtungen des Animal laborans eignen, dem Körper die Initiative für die Bewegung abnehmen und nicht mehr er dem Werkzeug den Takt angibt, sondern nach dem Takt der Maschine gewissermaßen tanzt. Nichts kommt
der Mechanisierung leichter und selbstverständlicher entgegen als der
Rhythmus des Arbeitsprozesses, und zwar weil er seinerseits bedingt ist
von dem gleichfalls automatischen, in der Form der Wiederholung verlaufenden Rhythmus des Lebensprozesses und seines Stoffwechsels mit
der Natur. Gerade weil das Animal laborans Werkzeuge und Instrumente
nicht zum Zweck der Errichtung einer Welt benutzt, sondern um sich die
Arbeit zu erleichtern, lebt es buchstäblich in einer Welt von Maschinen,
seit die industrielle Revolution und die Befreiung der Arbeit nahezu alle
Werkzeuge durch Maschinen ersetzte, und das heißt, die menschliche
Arbeitskraft mit Hilfe der Naturgewalten ungeheuer vervielfachte.
Den entscheidenden Unterschied zwischen Werkzeugen und Maschinen
kann man sich vielleicht am besten vergegenwärtigen, wenn man an die
nicht enden wollenden Diskussionen darüber denkt, ob nun der Mensch
sich der Maschine anpassen solle oder ob umgekehrt es humaner sei,
die Maschine der „Natur“ des Menschen anzupassen. Den Hauptgrund,
warum eine solche Diskussion unfruchtbar bleiben muß, haben wir im
ersten Kapitel erwähnt: da der Mensch ein bedingtes Wesen in dem Sinne
ist, daß jegliches, ob er es vorfindet oder selbst macht, für ihn sofort
eine Bedingung seiner Existenz wird, hat er sich natürlich der Umgebung
der Maschinen in dem Augenblick auch angepaßt, sich von ihnen bedingen lassen, in dem er sie erfand. Die Maschinen sind heute für unsere
Existenz eine nicht weniger unabdingbare Bedingung als Werkzeuge und
Geräte für alle früheren Epochen. Das Interesse an dieser Diskussion liegt
daher nicht so sehr in der Vexierfrage, um die sie sich dreht, wie darin,
daß sie diese Fragen überhaupt anschneiden konnte. Denn kein Mensch
hat sich je den Kopf darüber zerbrochen, ob der Mensch sich auch gehörig den Werkzeugen anpasse, die er benutzt, oder ob man umgekehrt das
Werkzeug seiner Natur angleichen müsse, um es humaner zu gestalten.
Das hätte sich genauso lächerlich angehört wie der Vorschlag, den Menschen und seine Hände in die gehörige Beziehung zueinander zu setzen.
Der Fall der Maschinen liegt in der Tat ganz anders. Ungleich dem Werkzeug, das in jedem einzelnen Augenblick des Herstellungsprozesses der
Hand untertan bleibt und ihr als Mittel dient, fordert die Maschine von
dem Arbeiter, daß er sie bediene und den natürlichen Körperrhythmus
der mechanischen Bewegung angleiche. Das heißt natürlich keineswegs,
wie man oft annimmt, daß der Mensch als solcher mechanisiert werde
oder sich zum Diener der Maschinen erniedrigen müsse; aber es heißt
200 — 201
Hannah Arendt
10
Abgesehen von allen
Erfahrungen, war die wesentlichste Vorbedingung
der industriellen Revolution
einfach die Verknappung
des Holzes und die Entdeckung der Kohle als
Brennstoff. In diesem
Zusammenhang ist die
Vermutung von R. H. Barrow bemerkenswert, daß
die Lösung des „bekannten
Rätsels der Wirtschaftsgeschichte des Altertums,
dessen industrielle Entwicklung über einen gewissen Punkt nicht
hinauskam“, nicht darin
besteht, daß man keine
Maschinen zu erfinden
wußte, sondern daß es für
solche Maschinen keinen
Brennstoff, eben keine
Kohle gegeben hätte
(Slavery in the Roman
Empire, 1928, S. 123).
11
„The greatest pitfall to
avoid is the assumption
that the design aim ist
reproduction oft he hand
movements oft he operator
or laborer“, meint John
Diebold: Automation: The
Advent oft he Automatic
Factory, 1952, S. 67.
12
Ebda., S. 69.
13
So Georges Friedmann in
Problèmes humains du
Machinisme industriel, S.
168. Und zu diesem Schluß
muß man allerdings kommen, wenn man Diebolds
Buch mit einiger Aufmerksamkeit liest. Denn wenn
das Fließband das Resultat
einer Vorstellung ist, in der
„die Fabrikation als ein
kontinuierlicher Prozeß
erscheint“, so ist die Automation ihrerseits die weitere Mechanisierung dieses
Prozesses, bei der nun auch
die am Fließband stehenden Arbeiter durch einen
kontinuierlichen, von
Maschinen getriebenen
Prozeß ersetzt werden. Die
Arbeiter am fließenden
Band hatten die von der
Maschine geleistete Arbeit
wohl, daß, solange die Arbeit an der Maschine andauert, der mechanische Prozeß an die Stelle des Körperrhythmus getreten ist und daß der
Mensch sich an diesen Rhythmus der Maschinen gewissermaßen schon
gewöhnt haben mußte, als er ein solches Ding wie eine Maschine auch
nur im Geist konzipierte. Noch das raffinierteste Werkzeug bleibt ein Diener seines Herrn, unfähig die Hand zu leiten oder sie zu ersetzen. Aber
selbst die primitivste Maschine leitet die Arbeit des Körpers, bis sie sie
schließlich ganz und gar ersetzt.
Der Historiker weiß nur zu gut, daß der Sinn geschichtlicher Abläufe
meist erst zum Vorschein kommt, wenn sie ihren Abschluß erreicht
haben, niemals aber zu erkennen ist, bevor die Entwicklung auf ihren
Höhepunkt gekommen ist. So ist es auch in diesem Fall, als zeigte sich
die wirkliche Bedeutung der Technik, d. h. der Ersetzung von Werkzeugen und Geräten durch die Maschinen, erst in dem, was wir vorläufig als
das unmittelbar bevorstehende Endstadium dieser Entwicklung antizipieren, nämlich in der Automation. Blicken wir von diesem antizipierten
Endstadium auf die Entwicklung der neuzeitlichen Technik zurück, so
entfaltet sie sich ungefähr in folgenden Stadien: Im ersten Stadium, das,
von der Dampfmaschine beherrscht, unmittelbar in die industrielle Revolution führte, ahmte man mit Hilfe der Maschine Naturprozesse nach
oder bediente sich zu diesem Zweck auch direkt der Naturkräfte; beides
unterschied sich grundsätzlich kaum von den Wasser- und Windmühlen,
in denen der Mensch seit unvordenklichen Zeiten bestimmte Naturkräfte
eingefangen und in seinen Gebrauch gestellt hatte. Neu war nicht die
Dampfmaschine, sondern vielmehr die Entdeckung und Ausbeutung der
Kohlenlager der Erde, durch die man endlich den Brennstoff gewann, um
das Prinzip der Dampfmaschine anzuwenden.10 Die Maschinenwerkzeuge
dieses Anfangsstadiums zeigen auf ihre Weise die gleiche Nachahmung
des natürlich Gegebenen; auch sie imitieren und steigern die Kraft der
menschlichen Hand. Dies gerade gilt heute als mangelndes Verständnis
für das Wesen der Maschine, als eine Art Kurzschluß, den man auf jeden
Fall vermeiden muß. Unter keinen Umständen darf das Entwerfen von
Maschinen von dem Ziel geleitet sein, die Hand des Arbeiters zu ersetzen oder die Handbewegungen dessen nachzuahmen, der die Maschine
bedient.11
Im nächsten Stadium tritt die Elektrizität und Elektrifizierung der Welt
in den Vordergrund, und in diesem Stadium befinden wir uns auch heute
noch, jedenfalls im Rahmen des Alltagslebens, das ja noch nicht von der
Automation oder der Nutzung der Atomenergie bestimmt ist. In diesem
Stadium kommt man mit den Vorstellungen einer technisch bedingten,
gigantischen Steigerung der handwerklichen Möglichkeiten, also der
Technisierung von Herstellungsprozessen, nicht mehr aus; auf diese
bereits wirklich technisch bestimmte Welt sind die Kategorien von Homo
faber, für den ein Werkzeug eben ein Mittel zur Erreichung eines vorgefaßten Zweckes ist, nicht mehr anwendbar. Denn hier handelt es sich
zu ergänzen und zu kontrollieren, und die Automation besagt nichts anderes,
als daß diese gleichsam
noch von menschlicher
„Gehirnkraft“ geleiteten
Arbeiten der Kontrolle und
Leitung nun ihrerseits
genauso von Maschinen
übernommen werden wie in
den frühen Stadien der
Industrialisierung die
Leistungen der „Arbeitskräfte“ (op. cit., S. 140).
Was von den Maschinen
geleistet wird, ist in den
beiden Fällen Arbeit und
nicht eigentlich Werk. Das
Selbstbewußtsein des
Werktätigen und der
Handwerkerstolz, deren
„menschliche und psychologische Werte“ (S. 146) fast
alle Werke auf diesem
Gebiet verzweifelt zu retten
versuchen – was manchmal
nicht ohne eine gewisse
unfreiwillige Komik abgeht,
wie wenn Diebold und
andere im Ernst meinen,
daß Reparaturarbeiten, die
vielleicht niemals voll
automatisiert werden
können, das gleiche Selbstbewußtsein werden vermitteln können wie einst die
Befriedigung, einen neuen
Gegenstand hervorgebracht
zu haben –, gehören schon
darum nicht hierher, weil
sie längst aus den Fabriken
verschwunden waren, bevor
auch nur irgend jemand das
Wort Automation gehört
hatte. Fabrikarbeiter sind
immer Arbeiter, und nicht
Werktätige, gewesen, und
obwohl sie als Personen ein
völlig intaktes Selbstbewußtsein entwickeln
mögen, so kann dieses sich
schwerlich gerade auf ihre
Arbeit gründen. Man kann
nur hoffen, daß sie sich von
den gesellschaftlichen
Surrogaten, die ihnen die
Arbeitstheoretiker anbieten, nicht irremachen
lassen und sich nicht
einreden werden, daß
Berufsinteresse und
Handwerksstolz durch
„human relations“ ersetzt
werden können oder durch
gegenseitige Hochachtung
(S. 164). Die Automation
sollte jedenfalls den Vorzug
haben, die Absurdität des
neumodischen „Humanismus der Arbeit“ handgreiflich zu demonstrieren; für
den allerdings, der über-
nicht mehr darum, der Natur, so wie sie ist, das zu entnehmen oder zu
entreißen, was wir in der Form von Material brauchen und gebrauchen,
wobei wir in die Natur nur eingriffen, indem wir ein Natürliches vernichteten, einen natürlichen Prozeß „künstlich“ unterbrachen oder auch ihn
künstlich nachahmten. In all diesen Fällen haben wir für unsere eigenen
weltlichen Zwecke Natürliches verändert oder auch die Natur künstlich denaturiert, so zwar, daß die von Menschen errichtete Welt und die
Natur durchaus deutlich voneinander geschieden und unterschieden
blieben. Wir haben begonnen, gewissermaßen Naturprozesse selbst
zu „machen“, d.h. wir haben natürliche Vorgänge losgelassen, die niemals zustande gekommen wären ohne uns, und anstatt die menschliche
Welt, wie alle historischen Epochen vor der unsrigen, vorsichtig gegen
die Elementargewalten der Natur abzuschirmen, sie so weit wie möglich aus unserer Welt zu entfernen, haben wir im Gegenteil gerade diese
Kräfte in ihrer Elementargewalt mitten in unsere Welt geleitet. Daß hier
mehr im Spiele ist und mehr auf dem Spiele steht als die Entwicklung
rein technischen Könnens, sieht man schon daran, daß sich die geänderte Relation von Welt und Natur am augenfälligsten in dem modernen
Städtebau nachweisen ließe, für den ja weder das Hochhaus noch das
Stadtbild von New York auf der Halbinsel Manhattan charakteristisch
ist, sondern die neuerdings angestrebte und in Amerika im Ansatz auch
bereits verwirklichte Auflösung des städtischen Elements in menschlichen Siedlungen, also eine Nicht-Stadt von der Art Los Angeles‘, bei der
der „Ausgleich zwischen Stadt und Land“ nun in der Tat so weit gediehen
ist, daß weder von Stadt noch von Land, wie wir es gemeinhin verstehen,
auch nur das geringste übriggeblieben ist. In der Literatur über diese
zweite technische Revolution wird hierauf nicht hingewiesen, wohl aber
auf ein verwandtes Auflösungsphänomen im Herstellungsprozeß selbst;
die Fabrikation, die sich bisher „aus einer Reihe voneinander getrennter Handgriffe“ ergab, ist zu „einem kontinuierlichen Prozeß“ geworden,
dem fließenden Band, an dem produziert und montiert wird. 12
Die letzte Phase in dieser Entwicklung ist die Automation, die nun tatsächlich „die gesamte Geschichte der Maschinisierung erhellt“13. Sie wird
den Gipfelpunkt dieser Entwicklung bilden, selbst wenn ein Atomzeitalter mit auf nuklearer Energie beruhender Technik sie rasch noch einmal
ablösen sollte, weil nur die Automation, für die man keine Atomenergie,
sondern nur Elektrizität benötigt, noch dem Gesetz folgt, nach dem wir
seit der industriellen Revolution angetreten sind. Die verschiedenen
Arten von Atombomben, welche gewissermaßen die ersten Geräte der
Atomtechnik darstellen und bereits ein Vernichtungspotential besitzen,
das ausreicht, das gesamte organische Leben auf der Erde zu zerstören, geben ein erstes Anzeichen davon, in was für einem Ausmaße eine
Umstellung der Technik auf Atomenergie die uns bekannte Welt verändern würde. Denn in einer solchen von der Atomtechnik bestimmten Welt
würde es sich nicht mehr um die Entfesselung von Elementargewalten
202 — 203
Hannah Arendt
haupt noch fähig ist, sich
unter diesem abgegriffensten aller Worte etwas
vorzustellen, dürfte ein
„Humanismus der Arbeit“
ohnehin nichts anderes
bedeutet haben als eine
contradictio in adiecto.
Jedenfalls findet sich in der
neueren Literatur zunehmend eine entschiedene
Kritik an der Gestaltung der
„human relations“, die in
den Fabriken so sehr en
vogue war. Siehe z.B. die
ausgezeichneten Ausführungen von Daniel Bell in
Work and ist Discontents,
1956, 5. Kapitel und den
Artikel von R. F. Genelli,
Facteur humain ou Facteur
social du Travail, in Revue
Française du Travail, Vol.
VII, Nos. 1-3, 1952, der sich
auch sehr entschieden
gegen die „schrecklichen
Illusionen“ der „Arbeitsfreude“ wendet.
14
In einigen interessanten
Bemerkungen zur Atombombe in seiner Antiquiertheit des Menschen weist
Günther Anders allerdings
mit Recht darauf hin, daß
man im Falle der Atomexplosion kaum noch von
Experiment und Laboratorium sprechen könne, weil
„die Effekte so ungeheuer
sind, daß im Moment des
Experiments das ‚Laboratorium‘ ko-extensiv mit dem
Globus wird“ (S. 260). Für
Laboratoriumsversuche ist
charakteristisch, daß der
Raum, in dem sie stattfinden, gegen die Umgebung
isoliert und von der Welt
abgegrenzt ist.
der Natur und auch nicht mehr um das Loslassen natürlicher Prozesse
handeln, die im Haushalt der Natur nie vorgesehen waren, sondern
darum, Energien und Kräfte auf der Erde und im täglichen menschlichen
Leben zu handhaben, die sonst nur außerhalb des Irdischen, im Universum, vorkommen; in gewissem Sinne geschieht ähnliches bereits heute,
aber doch nur in dem abgegrenzten und abgeschirmten Rahmen der
Versuchslaboratorien der Atomphysik.14 Wenn die gegenwärtige Technik darauf beruht, daß Naturkräfte in die von Menschen erstellte Welt
geleitet werden, so könnte die Technik eines kommenden Atomzeitalters
darin bestehen, die Universumskräfte des Weltalls, in dem wir rotierend
schweben und von dem wir umgeben sind, in die irdische Natur zu leiten.
Ob eine solche zukünftige Technik den Haushalt der Natur im gleichen,
oder vielleicht noch größeren, Maße verändern wird, wie die gegenwärtige Technik die Weltlichkeit der Menschenwelt verändert hat, kann
heute noch niemand wissen.
Die Naturkräfte, welche die moderne Technik in die Welt selbst geleitet
hat, haben vorerst einmal die spezifische Zweckhaftigkeit dieser Welt
vernichtet, d. h. den heute veralteten Tatbestand, daß Werkzeuge und
Geräte zum Zwecke der Herstellung von Gegenständen entworfen werden. Wir verstehen unter Naturprozessen Vorgänge, die ohne menschliche Hilfe entstehen, und wir verstehen unter Naturdingen all das, was
nicht „gemacht“ ist, sondern aus sich heraus wächst und eine Gestalt
annimmt. (Dem entspricht auch die ursprüngliche Bedeutung des Wortes „Natur“, ob wir es nun aus dem lateinischen nasci, geborenwerden,
herleiten oder es weiter in seine griechische Wurzel verfolgen und von
der „Physis“ sprechen, wörtlich dem Gewachsenen.) Im Unterschied
zu dem, was die menschliche Hand mit oder ohne Zuhilfenahme eines
Werkzeugs her- und aufstellt, was nur Schritt um Schritt bewerkstelligt
werden kann, und wobei schließlich das Dasein des Produkts so weit von
dem Vorgang seiner Herstellung geschieden ist, daß es überhaupt erst
zu existieren anfängt, wenn dieser Vorgang zum Abschluß gekommen
ist, ist die Existenz der Naturdinge von dem Wachstumsprozeß, in dem
sie entstehen, nicht nur nicht zu trennen, sie ist mit ihm sogar auf eine
geheimnisvolle Weise identisch: Das Samenkorn enthält nicht nur, sondern ist in gewissem Sinne bereits der Baum, und der Baum hört auf zu
„sein“, er stirbt, sobald der Wachstumsprozeß, durch den er entstand,
zum Stillstand kommt. Betrachten wir diese Prozesse aus dem Blickwinkel menschlicher Zweckhaftigkeit, wo ein vorgefaßter Zweck mit absoluter Präzision Anfang und Ende eines Vorganges von außen limitiert, so
müssen sie als automatische Prozesse erscheinen. Automatisch nennen
wir alle Bewegungsarten, die, sind sie erst einmal angelaufen, von selbst
weiterlaufen, also nicht angewiesen sind auf willentliche und zweckbestimmte Eingriffe. In der Automation wird nun tatsächlich „automatisch“ produziert, und darum gibt es strenggenommen in dem automatischen Fabrikationsprozeß keinen Unterschied mehr zwischen dem
15
So Diebold, op.cit., S.
59-60.
16
Ebda, S. 67.
Produktionsvorgang und dem Fabrikat. Daher sind auch Vorstellungen,
wie die, daß der fabrizierte Gegenstand ein Primat vor dem Prozeß habe,
durch den er entsteht, daß der Prozeß nur das Mittel für einen Zweck sei,
sinnlos und veraltet.15 Die „mechanistischen“ Kategorie- und Begriffssysteme von Homo faber versagen hier genau so, wie sie seit eh und je vor
den Vorgängen einer organischen Natur und des natürlichen Universums
versagt haben. Warum denn auch die Vertreter der Automation allgemein die mechanistische Naturbetrachtung ausdrücklich verwerfen und
sich gegen den praktischen Utilitarismus des achtzehnten Jahrhunderts
kehren, der so außerordentlich charakteristisch für die einseitig zielbewußte Werk-Mentalität von Homo faber war.
Die Erörterungen des Problems der Technik, bzw. der Veränderungen
des Lebens und der Welt durch die Einführung der Maschine, bewegen
sich zumeist in einem merkwürdig unangemessenen Horizont, weil sie
ausschließlich an der Frage ihres Nutzens für den Menschen orientiert
bleiben. Sie unterstellen, daß alle Werkzeuge und Geräte dazu bestimmt
seien, das menschliche Leben zu erleichtern und menschliche Arbeit von
Mühe und Plage zu befreien. Ihre Zweckdienlichkeit wird ausschließlich
anthropozentrisch verstanden. Aber der unmittelbar gegebene Zweck,
für den ein Werkzeug oder ein Instrument als Mittel entworfen wird, ist
nicht der Mensch, sondern ein Gegenstand, und der „humane Wert“ dieses Instrumentariums beschränkt sich auf den Gebrauch, den das Animal laborans, das von sich aus keine Werkzeuge fabriziert, dann von
ihnen macht. Homo faber, mit anderen Worten, hat seine Werkzeuge und
Geräte erfunden, um mit ihnen eine Welt zu errichten, aber nicht, oder
doch nicht primär, um dem menschlichen Lebensprozeß zu Hilfe zu kommen. Daher ist die Frage, ob wir nun die Herren oder die Sklaven unserer
Maschinen sind, falsch gestellt; die hier angemessene Fragestellung ist,
ob die Maschine noch im Dienst der Welt und ihrer Dinghaftigkeit steht
oder ob sie nicht vielleicht im Gegenteil angefangen hat, ihrerseits die
Welt zu beherrschen, nämlich die von ihr produzierten Gegenstände in
den eigenen automatischen Prozeß wieder zurückzuziehen und damit
gerade ihre Dinglichkeit zu zerstören.
Eines steht schon heute fest: der kontinuierlich automatische Fabrikationsprozeß hat nicht nur mit der „ungerechtfertigten Annahme“ aufgeräumt, daß „menschliche Hände, die von einem menschlichen Kopf
gelenkt werden, die höchste Leistungsfähigkeit erzielten“,16 sondern
mit der ungleich wichtigeren „Annahme“, daß die Weltdinge, von denen
wir umgeben sind, von Menschen entworfen werden und bestimmten
menschlichen Maßstäben der Schönheit und Nützlichkeit genügen müssen. An die Stelle des Nutzens ist die Funktion getreten, und das Aussehen der fabrizierten Gegenstände wird vorwiegend von dem Gang der
Maschine selbst bestimmt. Die „Grundfunktionen“, die das Maschinenfabrikat immer noch erfüllen muß, sind natürlich Funktionen im Lebensprozeß des Einzelnen und der Gesellschaft, da keine andere „Funktion“
204 — 205
Hannah Arendt
17
Ebda, S. 38-45.
18
Ebda, S. 110 u. 157.
grundsätzlich „notwendig“ ist, so daß das Fabrikat selbst nicht nur
Variationen desselben, sondern auch „die Umstellung auf ein absolut
neues Produkt“ –, bzw. die Frage, welche Gegenstände denn überhaupt
produziert werden sollen, ausschließlich von den Möglichkeiten der
Maschinen abhängig wird.17
Gegenstände so zu entwerfen, daß sie maschinell hergestellt werden
können, anstatt Maschinen zu erfinden, die sich für die Fabrikation
bestimmter Gegenstände eignen, würde nun allerdings die genaue Verkehrung des alten Zweck-Mittel-Verhältnisses bedeuten, wenn diese
Kategorie überhaupt noch anwendbar wäre. Aber selbst ein so allgemeiner und vor kurzem noch allgemein anerkannter Zweck der Maschinen,
wie die Entlastung menschlicher Arbeitskraft und die Steigerung der
gesellschaftlichen Produktivität, gilt heute als überholt und zweitrangig, weil auch er noch den „verblüffenden Steigerungsmöglichkeiten des
Leistungspotentials“ unangemessen ist, ja ihnen Grenzen setzen würde,
nämlich die natürliche Begrenztheit der menschlichen Konsumfähigkeit.18 Wie die Dinge heute liegen, ist es ebenso sinnlos geworden, diese
Maschinenwelt auf ihre Zweckdienlichkeit zu befragen, wie es stets
sinnlos gewesen ist, die Natur daraufhin abzufragen, ob sie den Samen
hervorbringe, um einen Baum zu erzeugen, oder umgekehrt den Baum
hervorgebracht habe, damit er Frucht und Samen trage. Und weil Maschinenprozesse, je automatischer sie werden, desto mehr sich Naturprozessen angleichen, ja weil ihr kontinuierlicher Automatismus überhaupt nur
dadurch ermöglicht wurde, daß wir die kreisenden, anfangs- und endlosen, zweckfreien Prozesse der Natur in eine von menschlichen Zwecken
bestimmte Welt geleitet haben, ist es durchaus vorstellbar, daß ein voll
automatisiertes Maschinenzeitalter, obzwar es vermutlich die Weltlichkeit der Welt als einem Gebilde von Menschenhand vernichten wird, sich
als ein ebenso zuverlässiger und grenzenlos produktiver Versorger des
Menschengeschlechts herausstellen wird, wie die Natur es war, bevor
der Mensch sich ihr „entfremdete“ und eine Welt in ihr errichtete, die ihn
behauste und damit eine Schranke bildete zwischen ihm und der Natur.
In einer Arbeitsgesellschaft ersetzt die „Welt“ der Maschinen die wirkliche Welt, wenn auch diese Pseudowelt die größte Aufgabe der Welt nie
erfüllen kann, nämlich sterblichen Menschen eine Behausung zu bieten,
die beständiger und dauerhafter ist als sie selbst. In den ersten Stadien
ihrer Entwicklung hatte die Welt der Apparaturen, in welche die Neuzeit
den arbeitenden Teil der Menschheit hineingeworfen hat, noch einen
eminent weltlichen Charakter, insofern das arbeitende Leben sich nun
plötzlich in einer Umgebung abspielte, die wesentlich von dem eigenständigen, jede Tätigkeit überdauernden Dasein der Werkzeuge und
Geräte bestimmt war; diesen weltlichen Charakter aber hat die moderne
Fabrik, die durch den kontinuierlichen, tag- und nachtwährenden Lauf
der Maschinen bestimmt ist, bereits verloren. Die Naturprozesse, von
denen der Gang der Maschinen gespeist wird, machen ihn mehr und mehr
zu einer Abart des Lebensprozesses selbst, und die Apparate, die wir
einst frei handhabten, fangen in der Tat an, so zu unserm biologischen
Leben zu gehören, daß es ist, als gehöre die menschliche Spezies eben
nicht mehr zur Gattung der Säugetiere, sondern beginne sich in eine Art
Schaltier zu verwandeln – es kann so aussehen, als ob die Apparate, von
denen wir überall umgeben sind, „ebenso unvermeidlich zum Menschen
gehören wie das Schneckenhaus zur Schnecke oder das Netz zur Spinne“.
Von diesem die zur Automation drängende Entwicklung der modernen
Technik antizipierenden Gesichtspunkt aus „erscheint dann die Technik
fast nicht als das Produkt bewußter, menschlicher Bemühung um die
Ausbreitung der materiellen Macht, sondern eher als ein biologischer
Vorgang im Großen, bei dem die im menschlichen Organismus angelegten Strukturen in immer weiterem Maße auf die Umwelt des Menschen
übertragen werden; ein biologischer Vorgang also, der eben als solcher
der Kontrolle durch den Menschen entzogen ist.“19
Die Rolle des Instrumentalen für das Herstellen
19
Werner Heisenberg: Das
Naturbild der heutigen
Physik, 1955, S. 14/5.
Die Werkzeuge und Geräte, die Homo faber für sein Herstellen und Fabrizieren benötigt und entwirft, stecken das Feld ab, in welchem Zweckdienlichkeit und das rechte Verhältnis zwischen Mitteln und Zwecken
ursprünglich erfahren werden. Hier stimmt wirklich, daß der Zweck die
Mittel rechtfertigt; er tut sogar noch erheblich mehr für sie, er produziert sie nämlich überhaupt erst und organisiert sie. Der Zweck rechtfertigt die Gewalt, die der Natur angetan wird, wenn man Material aus ihr
gewinnen will, wie das Holz das Fällen des Baumes rechtfertigt, wie der
Tisch schließlich die nochmalige Zerstörung des Materials, das Zersägen
des Holzes, rechtfertigt. Um des bezweckten Gegenstandes willen aber
werden auch Werkzeuge nur entworfen, Geräte hergestellt, und der gleiche Endzweck organisiert noch den Herstellungsprozeß selbst, entscheidet darüber, welche Fachleute in ihm zusammenarbeiten sollen, wie viele
Leute man zu den ungelernten Arbeiten braucht usw. Auch während des
Herstellungsprozesses wird alles danach beurteilt und entschieden, ob
es dem Endzweck angemessen und für ihn von Nutzen ist.
Der gleiche Maßstab der Zweckdienlichkeit wird an das Produkt dieses
Vorgangs, den hergestellten Gegenstand, angelegt. Zwar ist das Fertigfabrikat ein Zweck mit Bezug auf die Mittel, durch die es hergestellt
wurde, und so der Endzweck des Herstellens selbst; dennoch wird es,
wenn es fertig ist, kein „Zweck an sich“, jedenfalls nicht, solange es ein
Gebrauchsgegenstand bleibt. Der Stuhl, der für die Tätigkeit des Tischlers ein Endzweck war – nämlich der Zweck, der, wenn er erreicht ist,
seiner Tätigkeit ein Ende setzt –, ist in der Welt, in die er eintritt, wenn
er die Tischlerwerkstatt verläßt, wieder eine Art Mittel; er muß benutzt
werden und kann seinen Nutzen nur dadurch beweisen, daß er einem
neuen Zweck dient, sei es dem, das Leben bequemer zu machen, oder,
206 — 207
Hannah Arendt
20
Wille zur Macht, Aphorismus 666.
als Tauschmittel in der Warenzirkulation zu fungieren. Alles, was ist, an
seinem Nutzen zu messen und in seiner Zweckdienlichkeit zu beurteilen,
liegt im Wesen des Herstellens, aber die Schwierigkeit, mit den Urteilsmaßstäben dieser Tätigkeit in der Welt auszukommen, liegt darin, daß
die Zweck-Mittel-Kategorie, auf der sie beruhen, unbegrenzt anwendbar ist und eine Kette ohne Ende erzeugt, in welcher sich jeder erreichte
Zweck immer sofort wieder in ein Mittel in einem anderen Zusammenhang auflöst. Jede wirklich durch und durch, konsequent utilitaristisch
organisierte Welt befindet sich, wie Nietzsche gelegentlich bemerkte, in
einem „Zweckprogressus in infinitum“.20
Theoretisch kann man diese Aporie des konsequenten Utilitarismus, der
die eigentliche Weltanschauung von Homo faber ist, als eine ihm inhärente Unfähigkeit diagnostizieren, den Unterschied zwischen dem Nutzen
und dem Sinn einer Sache zu verstehen, den wir sprachlich ausdrücken,
wenn wir dazwischen unterscheiden, ob wir etwas im Modus des „Umzu“ oder des „Um-willen“ tun. So ist das Ideal des Nutzens selbst, das
dem Tun in einer Handwerksgesellschaft vorschwebt – wie das Ideal der
Bequemlichkeit in einer Arbeitsgesellschaft oder das Ideal des Erwerbs in
einer kommerziellen Gesellschaftsordnung –, nicht mehr vom Nutzen her
zu entscheiden; es ist nicht die Antwort auf eine Zweckfrage, sondern
auf die Frage nach dem Sinn des Tuns. Um des Ideals der Nützlichkeit
willen, das ihn in seinem Tun leitet, tut Homo faber alles, was er betreibt,
in der Form des Um-zu, um einen bestimmten Zweck zu erreichen. Das
Ideal des Nutzens selbst kann nicht mehr damit erklärt werden, daß es
„nützlich“ sei; über seinen eigenen Nutzen und Zweck befragt, muß es
die Auskunft verweigern. Denn es gibt keine Antwort innerhalb dieser
Kategorien auf die Frage, die Lessing einmal den utilitaristischen Philosophien seiner Zeit stellte: „Und was ist der Nutzen des Nutzens?“ Die
Aporie des Utilitarismus besteht darin, daß er in dem Zweckprogressus
ad infinitum hoffnungslos gefangen ist, ohne je das Prinzip finden zu
können, das die Zweck-Mittel-Kategorie rechtfertigen könnte, bzw. den
Nutzen selbst. Innerhalb des Utilitarismus ist das Um-zu der eigentliche
Inhalt des Um-willen geworden – was nur eine andere Art ist zu sagen,
daß, wo der Nutzen sich als Sinn etabliert, Sinnlosigkeit erzeugt wird.
Innerhalb der Zweck-Mittel-Kategorie und ihres Erfahrungsfeldes, in
dem die gesamte Welt von Gebrauchsgegenständen und der Nützlichkeit überhaupt lokalisiert ist, gibt es keine Möglichkeit, den Zweckprogressus zu durchbrechen und zu verhindern, daß alle Zwecke schließlich wieder zu Mitteln für weitere Zwecke werden, es sei denn, man
deklariere eines dieser Dinge zu einem „Zweck an sich“. In der Welt von
Homo faber, wo alles seinen Nutzen beweisen muß und daher als ein
Mittel gebraucht wird, um etwas anderes, als es selbst ist, zu erreichen,
kann Sinn nur als ein Zweck verstanden werden, und zwar als ein Endzweck, bzw. ein „Zweck an sich“, also etwas, was entweder tautologisch allen Zwecken zukommt, nämlich wenn man sie vom Standpunkt
des Herstellers ansieht, oder ein Widerspruch in sich selbst ist. Denn
ein Zweck, der erreicht ist, hört ja damit auf, ein Zweck zu sein; er hat
seine Fähigkeit verloren, die Auswahl bestimmter Mittel zu indizieren,
sie zu rechtfertigen, sie zu organisieren und zu produzieren. Der hergestellte Gegenstand war ein Zweck nur, solange er noch nicht fertig war;
als Fertigfabrikat ist er ein Gegenstand unter anderen Gegenständen,
ein Objekt mehr in dem gewaltigen Arsenal des Vorliegenden, aus dem
Homo faber sich frei seine Mittel wählt, um seine Zwecke zu erreichen.
Ein Sinn muß dagegen beständig sein, und er darf von seinem Charakter nichts verlieren, wenn er sich erfüllt, oder besser, wenn er dem Menschen in seinem Tun aufgeht oder sich ihm versagt und ihm entgeht.
Homo faber, d. h. der Mensch, sofern er ein herstellendes Wesen ist und
keine anderen Kategorien kennt als die Zweck-Mittel-Kategorie, die sich
unmittelbar aus seiner Werktätigkeit ergibt, ist genau so unfähig, Sinn
zu verstehen, wie das Animal laborans, d. h. der Mensch, sofern er ein
arbeitendes Lebewesen und nichts anderes ist, unfähig ist, Zweckhaftigkeit zu verstehen. Und so wie die Werkzeuge und Geräte, die Homo faber
nur benutzt, um eine Welt zu errichten, für das Animal laborans stellvertretend für die Welt und Weltlichkeit überhaupt werden, so wird die
Sinnhaftigkeit dieser Welt, die den Verstand von Homo faber übersteigt,
für ihn das Paradox eines „Zwecks an sich“ oder eines Endzwecks.
Was das utilitaristische Denken selbst anlangt, so gibt es für dieses keinen anderen Ausweg aus dem Dilemma der Sinnlosigkeit, als der objektiven Welt der Gebrauchsgegenstände den Rücken zu wenden und sich
auf die Subjektivität des Brauchens selbst zurückzuziehen. Nur in einer
absolut anthropozentrisch geordneten Welt, in der der Mensch selbst als
Gebrauchender der Endzweck ist, der den endlosen Zweckprogressus zum
Halten bringt kann der Nutzen als solcher zu einer Bedeutung kommen,
die dem Sinn nahekommt. Aber wenn dies geschieht, setzt die Tragödie
ein; sobald nämlich Homo faber eine seiner eigenen Tätigkeit immanente
Sinnerfüllung gefunden hat, beginnt er auch bereits, die Dingwelt, den
Zweck seines Sinnens und das Erzeugnis seiner Hände, zu degradieren;
wenn der Mensch, insofern er Hergestelltes braucht und nutzt, das „Maß
aller Dinge“ ist, dann ist nicht nur die Natur, die Homo faber ohnehin als
bloßes Material für Herzustellendes betrachtet und behandelt, sondern
sind die „wertvollen“ Dinge selbst zu Mitteln geworden und haben ihren
eigenen immanenten „Wert“ verloren.
In der Kantischen Formulierung, daß kein Mensch je Mittel zum Zweck
sein darf, daß jeder Mensch vielmehr einen Endzweck, einen Zweck an sich
darstelle, hat der anthropozentrische Utilitarismus von Homo faber seinen
größten und großartigsten Ausdruck gefunden. Zwar finden wir bereits vor
Kant eine gewisse Einsicht davon, zu welch furchtbaren Konsequenzen ein
ungehindertes und kritikloses Denken im Begriff der Zweck-Mittel-Kategorie auf dem Gebiet des Politischen führen muß (so z. B. bei Locke, der
immer wieder darauf hinweist, daß niemandem erlaubt werden dürfe, eines
208 — 209
Hannah Arendt
21
Kritik der Urteilskraft, § 2.
22
Ebda., §§ 83 u. 84.
23
Dritter Band des Kapitals,
Marx-Engels-Gesamtausgabe, S. 698.
anderen Menschen Körper zu besitzen oder seine Körperkraft auszunutzen); aber erst in der Kantischen Philosophie haben diese frühen Einsichten einen begrifflich adäquaten Ausdruck gefunden und eine Tiefe erreicht,
mit der sich das Niveau „mittelmäßiger Verständer“ nicht vergleichen läßt,
das Nietzsche zu Unrecht den „braven Engelländern“ zuschreibt, weil es in
Wahrheit überall da vorherrscht, wo Homo faber die Maßstäbe bestimmt.
Der Unterschied zwischen Kant und seinen Vorläufern ist offenbar; Kant
wollte ja keineswegs die Grundsätze des Utilitarismus formulieren und
zum Begriff erheben, sondern im Gegenteil die Zweck-Mittel-Kategorie
auf den ihr gehörigen Platz verweisen, um zu verhindern, daß sie im Feld
politischen Handelns zur Anwendung komme. Dennoch können seine Formulierungen in der „Kritik der praktischen Vernunft“ ihren Ursprung aus
utilitaristischem Denken genau so wenig verleugnen, wie die berühmte
und ebenfalls paradoxe Formel, mit der er in der „Kritik der Urteilskraft“
den Umgang mit den einzigen Dingen, die nicht Gebrauchsgegenstände
sind, nämlich mit Kunstwerken, festlegt, an denen wir „ein Wohlgefallen
ohne alles Interesse“ nehmen.21 Denn der gleiche Gedanke, der den Menschen als einen Zweck an sich etabliert, macht ihn auch zum „betitelten
Herrn der Natur“, der seinem Dasein, „soviel er vermag, die ganze Natur
unterwerfen kann“,22 nämlich jederzeit die Natur wie die Welt zu Mitteln
seines Daseins machen und sie der ihnen zukommenden Eigenständigkeit
für seine Zwecke berauben darf. Auch Kant konnte die Aporie des utilitaristischen Denkens nicht lösen und die Blindheit, mit der Homo faber
dem Sinnproblem gegenübersteht, nicht heilen, ohne einen paradoxen
Endzweck anzusetzen. Die Aporie hat ihren Grund darin, daß zwar nur das
Herstellen und sein Zweck-Mittel-Denken fähig ist, eine Welt zu errichten,
daß aber diese selbe Welt sofort so „wertlos“ wird wie das zu ihrer Errichtung verwendete Material, ein bloßes Mittel für nie abreißende Zwecke,
sobald man versucht, die gleichen Maßstäbe in der fertigen Welt zur Geltung zu bringen, die unerläßlich alles Tun leiten, das Weltliches erst einmal entstehen läßt.
Sofern der Mensch Homo faber ist, kennt er nichts als seine vorgefaßten
Zwecke, zu deren Realisierung er alle Dinge zu Mitteln degradiert, so daß
schließlich unter seiner Herrschaft nicht nur die hergestellten Dinge, sondern „die Erde überhaupt, wie alle Naturkraft, keinen Wert [haben], weil
sie keine in [ihnen] vergegenständlichte Arbeit darstellen“.23 Weil die Griechen das wußten, haben sie in ihrer klassischen Zeit das gesamte Gebiet
der Herstellung, des Handwerks und der bildenden Künste, wo keine Tätigkeit um ihrer selbst willen vor sich geht und jeder Handgriff schon ein Mittel für einen Zweck darstellt, unter das Verdikt des Banausischen gestellt
und der Verachtung preisgegeben. Die Konsequenz dieser Gesinnung, die
offenbar nichts so fürchtete wie das Vulgäre und das Zielstrebige, muß
uns immer wieder in Erstaunen setzen, wenn wir bedenken, wie groß die
bildenden Künstler und Architekten waren, die unter dies Verdikt fielen.
Worum es sich hier handelt, ist natürlich nicht die Zweckdienlichkeit als
solche, der Gebrauch von Mitteln für einen bestimmten Zweck, sondern
vielmehr die Verallgemeinerung der für die Herstellung gültigen Erfahrungen, in welcher Nutzen und Nützlichkeit die eigentlichen Maßstäbe für
das Leben und die Welt der Menschen werden. Auch diese Verallgemeinerung liegt noch im Wesen der herstellenden Tätigkeit, weil die ZweckMittel-Erfahrungen, die dem Herstellen inhärent sind, nicht einfach verschwinden, wenn der Zweck erreicht und der Gegenstand hergestellt ist,
sondern diesen fertigen Gegenstand weiterhin begleiten, wenn er sein
neues Dasein als ein Gebrauchsding antritt. Nicht der Herstellungsprozeß als solcher verursacht die Degradierung aller Welt- und Naturdinge
zu bloßen Mitteln, die unaufhaltsame Entwertung alles Vorhandenen,
das Anwachsen der Sinnlosigkeit, in dessen Prozeß alle Zwecke verschlungen werden, um wieder als Mittel zu dienen, und der auch den
Menschen verschlingen würde, wenn man ihn nicht zu einem Endzweck
deklariert hätte, der nun desto freier alles, was er selbst nicht ist, für
seine Zwecke als Mittel verwenden und degradieren darf; denn vom
Standpunkt des Herstellungsprozesses selbst ist das Endprodukt genau
so ein Selbstzweck, ein unabhängig autonom Seiendes, wie der Mensch
der Endzweck in Kants politischer Philosophie ist. Nur weil das Herstellen vorwiegend Gebrauchsgegenstände herstellt, kann das Endprodukt
wieder zu einem Mittel, nämlich einem Gebrauchsmittel, werden, und nur
insofern der Lebensprozeß sich der Gegenstände bemächtigt und sie für
seine Zwecke benutzt, kann die produktive und limitierte Zweckhaftigkeit des Herstellers umschlagen in die unbegrenzte Zweckdienlichkeit,
die sich aller Dinge, die nur überhaupt sind, als Mittel bemächtigt.
24
Siehe Theatet 152 und
Cratylus 385E. – Der Satz
des Protagoras lautet fast
übereinstimmend: πάντων
χρημάτων μέτρον άνδρωπον
είναι, των μεν όντων ως
έστι, των δε μη όντων ως
ουχ εοτιν. Das Wort
χρήματα, von χράομαι,
bezeichnet aber nicht so
sehr „alle Dinge“ als „alles
Brauchbare“ unter den
Dingen; es bezieht sich auf
den Menschen und seine
Bedürfnisse. Hätte Protagoras sagen wollen: Aller
Dinge Maß ist der Mensch,
so hätte er dies auf
griechisch eher durch ein
άνζρωπος μτερον πάντων
ausgedrückt, so wie auch
Heraklit einfach sagt:
πόλεμος πατήρ πάντών,
„Streit (oder was immer
πόλεμο hier heißt), ist der
Vater aller Dinge“. DielsKranz: Vorsokratiker,
Fragm. B1.
Daß den Griechen diese Entwertung der Welt und der Natur mit dem
ihr inhärenten Anthropozentrismus – der „absurden“ Meinung, daß der
Mensch das höchste Seiende sei, dessen Dasein alles sonst Seiende
untertan sein müsse (Aristoteles) – unheimlich war, liegt ebenso klar
zutage, wie daß sie die einfache Vulgarität einer konsequent utilitaristischen Gesinnung verachteten. Wie sehr sie sich der Folgen einer
Gesinnung bewußt waren, die in Homo faber die höchste Möglichkeit des Menschen ansetzt, läßt sich vielleicht am besten an Platos
berühmtem Streit mit Protagoras exemplifizieren, der die anscheinend
selbstverständliche Feststellung gemacht hatte, daß „der Mensch das
Maß aller Gebrauchsdinge (χρήματα) ist, derer, die sind, und derer, die
nicht sind“.24 Denn Protagoras hat offenbar niemals gesagt, daß der
Mensch das Maß aller Dinge schlechthin sei, wie die Überlieferung und
die Standardübersetzungen es ihm unterschieben. Aber − und dies,
scheint mir, ist der entscheidende Punkt − Plato hat, obwohl Protagoras nur von Gebrauchsdingen spricht, die sich ja selbstverständlich in
ihrem Vorhanden- oder Nicht-Vorhandensein nach den sie brauchenden
Menschen richten, sofort gesehen, daß dies auf Grund der Eigentümlichkeiten menschlicher Bedürfnisse dazu führen muß, daß nun der Mensch
210 — 211
Hannah Arendt
25
In den Gesetzen, 716D,
zitiert Plato noch einmal
den Satz des Protagoras,
nur daß hier an die Stelle
des Wortes άνζρωπος der
Gott ό ζεός tritt.
in der Tat das Maß aller Dinge wird. Denn wenn man vom Menschen
als dem Maß der Gebrauchsdinge spricht, so meint man ja den Menschen, der braucht, benutzt und als Mittel verwendet, und nicht den
Menschen, insofern er spricht und handelt und denkt; macht man ihn
zum Maß der Gebrauchsdinge, so wird er sich schwerlich davon abhalten lassen, alle Dinge für seinen Gebrauch zu reklamieren, das heißt,
alles als ein Mittel für einen möglichen Zweck zu betrachten, in jedem
Baum schon das Holz zu sehen, und sich so zum Maßstab nicht nur der
Dinge zu machen, deren Sein oder Nichtsein in der Tat von ihm abhängen, sondern von allem Vorhandenen überhaupt.
In der Platonischen Deutung klingt das, was Protagoras zu sagen hat,
wie eine erste Vorwegnahme Kantischer Philosophie, denn wenn man
den Menschen als das Maß aller Dinge ansetzt, so hat man ihn als dasjenige bestimmt, was selbst außerhalb des Zweckprogressus ad inifinitum, außerhalb der Kette verbleibt, in der notwendigerweise jeder Zweck
wieder zu einem Mittel wird, eben als den Endzweck, der, selbst niemals
Mittel, sich alles Bestehende für seine Zwecke untertan macht. Aber im
Unterschied zu anderen Maßstäben, deren Wesen sich darin erschöpft,
außerhalb des Meßbaren und zu Messenden als ein Selbiges zu verbleiben, ist der Mensch, der hier als Maßstab gilt, ein lebendiges und lebendig unbegrenzbares Wesen, dessen Produktionsmöglichkeiten so wenig
ein für allemal festgelegt sind wie seine Wünsche und Geschicklichkeiten. Erlaubt man dem Menschen in seinem Brauchen und Gebrauchen
der fertigen Welt sich der gleichen Maßstäbe zu bedienen, die unerläßlich waren für ihre Entstehung, sieht man, mit anderen Worten, in Homo
faber nicht nur den Hersteller, sondern auch den Bewohner und Herrn
der Welt, so wird er in der Tat alles in seinen Gebrauch nehmen und
es entweder als ein Mittel für neue Zwecke oder als ein Mittel für sich
selbst betrachten und verwerten. Dann wird es nichts mehr geben, was
nicht ein Gebrauchsgegenstand, ein der Klasse der χρήματα angehöriges
Ding ist, und − um Platos Beispiel zu folgen − der Wind wird nicht mehr
als eine eigenständige Naturkraft die menschliche Welt durchwehen,
sondern nur noch im Rahmen menschlicher Bedürfnisse als etwas, das
erfrischt oder wärmt oder kältet, erfahren werden − was für Plato nichts
anderes bedeutet, als daß der Mensch seine Fähigkeit, das Dasein des
Windes als ein natürlich Vorhandenes zu erfahren, eingebüßt hat. An
diese Konsequenzen rührt Platos Polemik gegen Protagoras, und es ist,
um sie abzuwehren, daß er in den „Gesetzen“ schließlich die paradox
klingende Gegenformulierung wagt: Nicht der Mensch − der vermöge
seiner Wünsche und Geschicklichkeit alles brauchen und gebrauchen
kann und daher dabei enden muß, alles Vorhandene nur als Mittel zu
nutzen − sondern „ein Gott ist das Maß [selbst] aller Gebrauchsdinge“.25
Die Beständigkeit der Welt und das Kunstwerk
Zu den Dingen, die der Welt, dem Gebilde von Menschenhand, die Stabilität verleihen, die sie geeignet macht, den unstabilsten Wesen, die
wir kennen, sterblichen Menschen, eine irdische Behausung zu bieten,
gehören auch eine Anzahl von Gegenständen, die überhaupt keinen Nutzen aufweisen und dazu noch so einmalig sind, daß sie prinzipiell unvertauschbar sind, also überhaupt keinen „Wert“ besitzen, den man in Geld
ausdrücken oder sonst auf einen Generalnenner bringen könnte. Wenn
sie auf dem Markt erscheinen, erzielen sie zwar auch Preise, aber diese
Preise stehen überhaupt in keinerlei Verhältnis mehr zu ihrem „Wert“,
sie sind ganz und gar willkürlich. Auch ist die angemessene Art des
Umgangs mit den Dingen, die wir Kunstwerke nennen, sicher nicht das
Brauchen und Gebrauchen; vor diesem müssen sie vielmehr sorgfältig
bewahrt und daher aus dem Gesamtzusammenhang der gewöhnlichen
Gebrauchsgegenstände entfernt werden, um den ihnen gemäßen Platz
in der Welt einnehmen zu können. So müssen sie auch den täglichen
Bedürfnissen und Notdürften des Lebens entrückt werden, mit denen sie
weniger in Berührung kommen als irgendein anderes Ding. Ob nun diese
Nutzlosigkeit von Kunstdingen immer bestanden hat oder ob in früher
Zeit die Kunst den sogenannten religiösen Bedürfnissen des Menschen
in der gleichen Weise gedient hat und auf sie in der gleichen Weise zugeschnitten war wie Gebrauchsgegenstände auf das alltägliche Brauchen,
spielt hierfür keine Rolle. Denn selbst wenn es stimmen sollte, daß der
geschichtliche Ursprung der Kunst ausschließlich religiöser oder mythischer Natur wäre, so bliebe doch immer noch die Tatsache bestehen, daß
die Kunst die Ablösung von Zauber, Religion und Mythos auf das glorreichste überstanden hat.
Kunstwerke sind die beständigsten und darum die weltlichsten aller
Dinge. Der zersetzende Einfluß, den Naturprozesse auf alles Gegenständliche ausüben, bleibt nahezu ohne Wirkung auf sie, weil sie nicht
dem Gebrauch lebendiger Wesen ausgesetzt sind, der sie in ihrer Eigentümlichkeit nur zerstören könnte, und nicht, wie im Falle von Gebrauchsgegenständen, eine ihnen inhärente Möglichkeit verwirklichen würden.
In dem Sinne, in dem der Zweck eines Stuhles nur verwirklicht ist, wenn
jemand auf ihm sitzt, gibt es überhaupt keinen Zweck, den ein Kunstwerk erfüllt. Daher unterscheidet sich seine Dauerhaftigkeit nicht nur
quantitativ, sondern qualitativ von der Stabilität, deren alle Dinge für
ihre Existenz bedürfen; seine Beständigkeit ist so ungemeiner Art, daß
es unter Umständen durch Jahrhunderte und Jahrtausende hindurch den
sich ändernden Bestand der Welt zu begleiten vermag. „Über dem Wandel und Gang/ Höher und freier / Währt noch dein Lobgesang/ Gott mit
der Leier“ (Rilke). Und in diesem Währen des Beständigen tritt die Weltlichkeit der Welt, die als solche niemals absolut sein kann, weil sie von
Sterblichen bewohnt und benutzt wird, selbst in Erscheinung, ja in ein
212 — 213
Hannah Arendt
Leuchten, in dessen Glanz auch der Wandel und Gang aufleuchtet. Was
hier aufleuchtet, ist die sonst in der Dingwelt, trotz ihrer relativen Dauerhaftigkeit, nie rein und klar erscheinende Beständigkeit der Welt, das
Währen selbst, in dem sterbliche Menschen eine nicht-sterbliche Heimat finden. Es ist, als würde in dem Währen des Kunstwerks das weltlich Dauerhafte transparent, und als offenbare sich hinter ihm ein Wink
möglichen Unsterblichseins − nicht etwa der Unsterblichkeit der Seele
oder des Lebens, sondern dessen, was sterbliche Hände gemacht haben;
und das Ergreifende dieses Tatbestands ist, daß er nicht eine sehnende
Regung des Gemüts ist, sondern im Gegenteil greifbar und den Sinnen
gegenwärtig vorliegt, leuchtend, um gesehen zu werden, tönend, um
gehört zu werden, in die Welt noch hineinsprechend aus den Zeilen des
gelesenen Buches.
Wenn Gebrauchsgegenstände ihre Existenz der menschlichen Geschicklichkeit verdanken, Gegenständliches zu brauchen und zu nutzen, wenn
Waren ihre Existenz der menschlichen „Neigung zum Tauschen und Einhandeln“ (Smith) schulden, dann entstehen Kunstwerke aus der menschlichen Fähigkeit, zu denken und zu sinnen. Alles dies sind wirkliche
Fähigkeiten des Menschen, und nicht bloß Attribute eines der Gattung
Mensch angehörenden Lebewesens, wie Gefühle, Bedürfnisse und Triebe,
auf die sie sich allerdings beziehen können und die oft ihren eigentlichen Inhalt bilden. Die dem menschlichen Lebewesen eigentümlichen
Attribute haben so wenig zu tun mit der Welt, die sich der Mensch als
seine Heimat auf der Erde errichtet, wie die entsprechenden Attribute
anderer Lebewesen, und wollte man die weltliche Umgebung des Menschen auf sie zurückführen, so wäre diese Umgebung, wie die tierische,
nicht eigentlich weltlich, d. h. sie wäre, wie das Netz der Spinne oder die
Seide des Seidenwurms, nicht Kreation, sondern Emanation. Sofern das
Denken sich auf Gefühle bezieht, verwandelt es bereits die verschlossene Stummheit schieren Fühlens, nicht anders als Tauschen die nackte
Gier der Begehrlichkeit verwandelt und das Brauchen die getriebene
Notdurft des Bedürfens transformiert − bis sie sich schließlich alle der
Welt eignen, weil sie bereit sind, vorbereitet gleichsam, sich auf Gegenstände zu richten und im dinglichen Bestand der Welt ihre Erfüllung und
Begrenzung zu erfahren. In jedem dieser Fälle transzendiert eine ihrem
Wesen nach weltoffene und weltbezogene Fähigkeit die leidenschaftliche Intensität eines bloßen Gefühls oder Triebs oder Dranges und befreit
sie dadurch aus dem Gefängnis des bloßen Bewußtseins, d. h. eines nur
sich selbst fühlenden Selbsts, in die Weite der Welt.
Alles Verdinglichen ist Verwandlung und Transformation, aber die vergegenständlichende Verdinglichung, die das Kunstwerk dem ihm zugrunde
liegenden Inhalt zufügt, ist eine Transfiguration, eine Metamorphose so
radikaler Art, daß es ist, als könne in ihm der natürliche Lauf der Dinge
umgekehrt werden − als gäbe es Gebilde, die aus so „unbeschreiblicher
Verwandlung stammen“, daß die Flammen des Herzens, in sie gerettet,
26
Der Text benutzt ein Gedicht von Rilke, das unter
dem Titel „Magie“ diese
Transfiguration der Kunst
beschreibt. Es lautet: „Aus
unbeschreiblicher Verwandlung stammen/solche
Gebilde − : Fühl! und
glaub!/ Wir leidens oft: zu
Asche werden Flammen,/
doch, in der Kunst: zu
Flamme wird der Staub.
Hier ist Magie. In das [sic!]
Bereich des Zaubers/
scheint das gemeine Wort
hinaufgestuft…/ und ist
doch wirklich wie der Ruf
des Taubers,/ der nach der
unsichtbaren Taube ruft.
(Aus Taschen-Büchern und
Merk-Blättern, 1950).
nicht mehr zu Asche werden, ja daß noch der Staub der Vergänglichkeit
in ein immerwährendes Feuer entflammt.26 Das, was das leuchtende
Feuer in das Kunstwerk bannt, ist das sinnende Denken, aber obwohl
Kunstwerke Gedankendinge sind, sind sie doch wesentlich Dinge wie
andere Dinge auch. Das sinnende Denken ist an sich nicht herstellend,
und ein Gedankengang produziert so wenig greifbare Dinge − Bücher,
Bilder, Statuen, Kompositionen −, wie das alltägliche Brauchen und
Gebrauchen von sich aus Häuser oder Möbel herstellt und produziert.
Die Verdinglichung, die statthat, wenn ein Gedanke niedergeschrieben, ein Bild gemalt, eine Melodie komponiert, eine Gestalt in Marmor
geschlagen wird, steht natürlich mit dem Denken, das ihm vorausging,
in ständiger Beziehung; aber das, was den Gedanken realisiert und das
Gedankending herstellt, ist die gleiche Werktätigkeit, welche vermöge
des Urwerkzeugs, das die menschliche Hand ist, auch alles andere dauerhaft Dingliche der Welt schafft und herstellt.
Wir erwähnten bereits in einem anderen Zusammenhang (Kap. III, 12) den
hohen Preis, den das Denken und Sinnen, wie das Sprechen und Handeln, dafür zahlen, daß sie durch das herstellende Vergegenständlichen
als greifbar wirkliche Dinge in die Dingwelt eingehen; der Preis ist das
Leben selbst, da immer nur ein „toter Buchstabe“ überdauern kann, was
einen flüchtigen Augenblick lang lebendigster Geist war. Zwar kann auch
der tote Buchstabe immer wieder zum Leben erweckt werden, nämlich
sobald er wieder mit einem Lebendigen in Berührung kommt, das vermöge des eigenen Lebens den lebendigen Geist spürt, welchen der tote
Buchstabe gleichsam verewigt hat; aber auch diese Auferstehung von
den Toten teilt das Los aller lebendigen Dinge, aufs neue dem Tod zu
verfallen. Es gibt keine Kunsterzeugnisse, die nicht in diesem Sinne unlebendig wären, und ihre Leblosigkeit zeigt den Abstand an, der zwischen
der Quelle des Denkens und Sinnens im Herzen oder Hirn des Menschen
besteht und der Welt, in die das Gedachte und Ersonnene schließlich
entlassen wird. Aber diese Leblosigkeit ist nicht allen Künsten in gleichem Maße zu eigen; sie ist dort am schwächsten, wo die herstellende
Verdinglichung am wenigsten an Material im eigentlichen Sinne gebunden ist, also in der Musik und der Dichtung, deren „Material“ Worte und
Töne sind, mit denen umzugehen ein Minimum an Materialkenntnis und
Werkerfahrung erfordert. Darum spielt in der Dichtung die Gestalt des
Jünglings eine so große Rolle, und darum gibt es gerade in der Musik,
aber weder in den bildenden Künsten noch in der Architektur, das Phänomen des Wunderkinds.
Die gewissermaßen menschlichste und unweltlichste der Künste ist die
Dichtkunst, deren Material die Sprache selbst ist und deren Produkt
dem Denken, das es inspirierte, am nächsten bleibt. Die Dauerhaftigkeit des Gedichts entsteht gleichsam durch Verdichtung; es ist, als wäre
ein in äußerster Dichte und Aufmerksamkeit gesprochenes Sprechen in
sich bereits „dichterisch“. Das andenkende Erinnern − Mnemosyne, die
214 — 215
Hannah Arendt
27
Wenn der Sprachgebrauch
davon spricht, daß man ein
Gedicht „macht“ – auch im
Französischen sagt man
vom Dichten fair des vers
und im Englischen to make
a poem –, so bezieht sich
dies auf die im Dichten
bereits stattfindende
Verdinglichung. Aber auch
das deutsche Dichten
stammt aus dem lateinischen dictare und heißt
„das ausgesonnene geistig
Geschaffene niederschreiben oder zum Niederschreiben vorsagen“ (Grimms
Wörterbuch). Kluge-Götz,
Etymologisches Wörterbuch
(1951), leitet das Wort
dichten neuerdings von
tichen, einem alten Wort für
schaffen ab, was besagen
würde, daß es mit dem
lateinischen fingere vielleicht zusammenhängt.
Auch in diesem Fall ist die
eigentliche dichterische
Tätigkeit, die das Gedicht
herstellt, bevor es niedergeschrieben wird, als
eine Art von Verdinglichung
vorgestellt. Und in ganz
dem gleichen Sinne pries
bereits Demokrit den
Dichter aller Dichter, Homer,
daß er „einen wohlgeordneten Bau mannigfaltiger
Verse gezimmert habe“
(Diels-Kranz, B 21).
Demokrit griff hier
sprachlich nur die gängige
griechische Bezeichnung
für die Dichter auf, die
„Zimmerer von Gesängen“,
τέχτωνες υμνων.
Mutter aller anderen Musen und Künste − vermag sprachlich so zu konzentrieren, daß das Gedachte sich in etwas verwandelt, was sich unmittelbar dem Gedächtnis einprägt; und auch Rhythmus und Reim, die
technischen Mittel der Dichtkunst, stammen noch aus dieser äußersten
Konzentration. Die ursprüngliche Nähe des Gedächtnisses zu dem lebendig andenkenden Erinnern ermöglicht es dem Gedicht, auch ohne die
Niederschrift in der Welt zu überdauern, und wiewohl die Qualität eines
Gedichts von einer Reihe ganz anders gearteter Maßstäbe bestimmt
ist, wird doch gerade seine „Einprägsamkeit“ weitgehend darüber entscheiden, ob es sich endgültig im Gedächtnis der Menschheit festsetzen, ihm sich einprägen kann. So bleiben Gedichte, unter den Gedankendingen der Kunst, dem Denken als solchem am engsten verhaftet;
sie sind gleichsam die wenigst dinglichen unter den Weltdingen. Aber
wenn auch „Dichterworte/ Um des Paradieses Pforte/ Immer leise klopfend schweben/ Sich erbittend ewges Leben“, und wenn es auch wahr
ist, daß „in des Ursprungs Tiefe“ sich ein Gedicht einzig bewährt, indem
es als „gesprochen Wort“ aus dem Gedächtnis des Dichters oder derer,
die ihm zuhören, dringt, als wäre es gerade erst entstanden, so kommt
doch immer die Zeit, da auch dies undinglichste aller Dinge „gemacht“
werden muß, niedergeschrieben und verwandelt in ein greifbares Ding
unter Dingen, weil lebendige Erinnerung und die Fähigkeit des Gedächtnisses, aus denen alles Verlangen nach Unvergänglichkeit stammt, der
Greifbarkeit des Dinglichen bedarf, um sich an ihm festzuhalten und
nicht seinerseits dem Vergessen und der Vergänglichkeit zu verfallen. 27
Denken und Erkennen sind nicht dasselbe. Denken, das für das Kunstschaffen die außerhalb seiner selbst liegende Quelle bildet, manifestiert
sich direkt in aller großen Philosophie, während Erkennen, das Wissen
vermittelt und Gewußtes ansammelt und ordnet, sich in den Wissenschaften niederschlägt. Das Erkennen verfolgt stets ein bestimmtes Ziel,
das ihm sowohl praktische Erwägungen wie „müßige Neugier“ gesetzt
haben mögen; ist dies Ziel erreicht, so ist der Erkenntnisprozeß an sein
Ende gelangt. Denken hingegen hat weder ein Ziel noch einen Zweck
außerhalb seiner selbst, und es zeitigt strenggenommen noch nicht einmal Resultate. Daß das Denken wirklich zu nichts nütze ist, haben ihm
nicht nur die utilitaristischen Gesinnungen von Homo faber, sondern auch
die Männer der Tat und der Wissenschaften oft genug bestätigt; es ist in
der Tat so nutzlos wie das von ihm inspirierte Kunstwerk. Und nicht einmal auf diese nutzlosesten aller Dinge kann das Denken als auf von ihm
erzeugte Resultate Anspruch erheben, denn man kann im Ernst von den
Kunstwerken sowenig wie von den großen philosophischen Systemen
behaupten, sie seien durch nichts als durch reines Denken entstanden;
gerade den reinen Denkprozeß, den eigentlichen Gedankengang, muß
der Künstler, aber auch der schreibende Philosoph, unterbrechen, wenn
er das Gedachte so verwandeln will, daß es sich einer schriftlich-verdinglichenden Darstellung eignet. Denken als eine Tätigkeit ist endlos wie
das Leben, das es begleitet, und die Frage, ob es einen Sinn hat zu denken, ist genau so unbeantwortbar wie die Frage, ob das Leben einen Sinn
habe. Gedankengänge durchdringen das Gesamte menschlicher Existenz,
jedes, auch das primitivste menschliche Leben, ist von ihnen gleichsam
durchpflügt, und dies Denken hat weder Anfang noch Ende, es sei denn
den Anfang, der mit der Geburt, und das Ende, das mit dem Tode gegeben ist. Zu denken ist daher keineswegs das spezifische Vorrecht von
Homo faber, obwohl das Sinnen seine höchste weltliche Produktivität
inspiriert; aber in diesem höchsten Schaffen, dessen er fähig ist, das sich
von Brauchen und Gebrauchen so weit emanzipiert hat, daß es nutzlose
Dinge herstellt, ist es auch, als wachse er gleichsam über sich selbst und
alle nur auf den Menschen bezogenen Bedürfnisse hinaus, als könne er
ohne den Stachel materieller oder intellektueller Antriebe auskommen,
als bedürfe er, um der Welt zu dienen, weder des natürlichen Verlangens
nach den Gütern der Welt noch des spezifisch menschlichen Durstes,
über die Welt Bescheid zu wissen. Das Erkennen hingegen spielt in allen,
und nicht nur in den geistigen oder künstlerischen, Herstellungsprozessen, eine ausgezeichnete Rolle. Es hat mit dem Herstellen gemein, daß
es ein Prozeß ist mit Anfang und Ende, dessen Nutzen kontrollierbar ist
und der, wenn er nicht zu dem gewünschten Resultat führt, eben seinen
Zweck verfehlt hat, wie das Tischlern seinen Zweck verfehlt hat, wenn es
einen zweibeinigen Tisch hervorbringt. Die Rolle, die das Erkennen in den
Wissenschaften spielt, unterscheidet sich grundsätzlich nicht von seiner
Funktion im Herstellen; und die wissenschaftlichen Resultate, die durch
Erkennen gewonnen werden, können wie alle anderen Dingprodukte der
menschlichen Welt hinzugefügt und in ihr untergebracht werden.
Was die spezifisch intellektuellen Tätigkeiten anlangt, so muß die
logische Verstandestätigkeit noch einmal vom Denken wie vom Erkennen geschieden werden, sofern sie nämlich weder, wie das Denken, der
lebendigen Erfahrung noch, wie das Erkennen, eines vorgegebenen
Gegenstandes bedarf, um sich zu entfalten. Sowohl das Deduzieren aus
Axiomen wie das Subsumieren von Einzelnem unter allgemeinere Regeln
wie schließlich die verschiedenen Techniken, durch die der Verstand
Ketten in sich stimmiger Schlußfolgerungen gleichsam aus sich herausspinnen kann, sind Tätigkeiten, in denen das menschliche Gehirn eine
Art „Kraft“ entfaltet, die der Arbeitskraft, die sich aus dem Stoffwechsel
des Menschen mit der Natur ergibt, sehr ähnlich ist. Im Gegensatz zum
Denken wie Erkennen ist die Intelligenz, die sich im Logischen bewährt,
ein eigentlich physisches Kraft-Phänomen und daher mit IntelligenzTests genauso meßbar, wie Körperkraft mit Hilfe anderer Apparaturen
meßbar ist. Die Gesetze, denen logische Prozesse unterworfen sind,
sind natürliche Gesetze, die letztlich von nichts anderem abhängen als
von der Struktur des menschlichen Gehirns, in dem sie verankert sind.
Alles eigentlich Logische übt auf menschliches Denken einen Zwang aus,
dem es sich nicht entziehen kann − jedenfalls nicht, solange ein Gehirn
216 — 217
Hannah Arendt
normal funktioniert. Aber dieser Zwang, mit dem der Verstand das Denken beherrscht, unterscheidet sich in nichts von dem Zwang, mit dem
der Körper das menschliche Leben seiner Notdurft untertan macht. Wäre
der Mensch wirklich ein Animal rationale, das sich von anderen Tieren nur
durch eine überlegene Intelligenz unterscheidet, dann wären die neuen
elektronischen Maschinen, die diese Intelligenz ins Ungeheure steigern,
in der Tat jene Homunculi, für die ihre Erfinder sie manchmal zu halten
versucht sind. In Wirklichkeit tun auch diese Maschinen nichts anderes,
als was Maschinen immer tun: sie ersetzen, verstärken und verbessern
die physische Kraftleistung des Menschen, seine Arbeitskraft, die Kraft
seiner Muskeln oder die Kraft seines Gehirns. Und das Prinzip, nach dem
sie funktionieren, ist das altbewährte Prinzip der Arbeitsteilung, das
Aufbrechen komplizierterer Operationen in ihre einfachsten Bestandteile,
also z. B. die Rückführung der Multiplikation auf die ihr inhärenten Operationen des Addierens. Das, was die Arbeitsteilung eigentlich attraktiv
macht, nämlich daß die Arbeitsleistung durch Beschleunigung produktiver wird, ist auch hier der ausschlaggebende Faktor; nur daß in diesen
Intelligenz-Maschinen die Geschwindigkeit, das Tempo, in welchem logische oder rechnerische Prozesse verlaufen, so ungeheuer gesteigert ist,
daß auf die alten, gleichsam menschlichen Tricks der Beschleunigung,
wie z. B. auf Multiplikation, die ja ihrerseits nur dazu diente, Additionsprozesse zu beschleunigen, verzichtet werden kann.
Das einzige, was die Computer, diese ins Gigantische gewachsenen
Rechenmaschinen, wirklich beweisen, ist, daß das siebzehnte Jahrhundert unrecht hatte, wenn es mit Hobbes meinte, daß der Verstand,
nämlich die Fähigkeit des Schlußfolgerns − das „reckoning with consequences“ −, die höchste und menschlichste aller menschlichen Fähigkeiten ist, und daß das neunzehnte Jahrhundert mit seiner Arbeits- und
Lebensphilosophie − mit Marx, Bergson und Nietzsche − im Recht war,
wenn es den Verstand für eine bloße Funktion des Lebensprozesses
hielt und also das Leben selbst für etwas „Höheres“ als den Verstand.
Der bis heute vielfach anhaltende, eigentliche Irrtum dieser neuzeitlichen Entwicklung war natürlich zu glauben, daß Denken und Erkennen
ihren eigentlichen Ursprung in diesen animalischen Funktionen eines
mit Intelligenz ausgestatteten Lebewesens haben. Offenbar ist, daß
diese im Gehirn verankerten Intelligenzprozesse ebenso weltlos, d. h.
ebenso außerstande sind, eine Welt zu errichten, wie die anderen physischen Prozesse, durch die das Leben den Menschen zwingt, die zwangsläufigen Prozesse der Arbeit und des Verzehrs.
Der auffallendste innere Widerspruch der klassischen politischen Ökonomie, auf den oft aufmerksam gemacht worden ist, besteht darin, daß
die gleichen Theoretiker, die so stolz auf ihre konsequent utilitaristische
Weltanschauung waren, im Grunde eine ausgesprochene Verachtung für
das bloß Nützliche hegten, die sich vor allem darin manifestierte, daß sie
auf die Produktion der reinen Konsumgüter, also des Nützlichsten, was es
gibt, immer als auf etwas Zweitrangiges herabsahen. Nicht Nützlichkeit,
sondern Haltbarkeit und Dauerhaftigkeit waren die Maßstäbe, die sie in
Wirklichkeit anlegten, um Produktivität zu bestimmen. Und dies heißt
nichts anderes, als daß sie sich noch im Sinne von Homo faber an der
Welt und ihrer Dinglichkeit orientierten, und nicht im Sinne des Animal
laborans alle Tätigkeiten auf das Leben und das ihm Notwendige bezogen. Zwar ist die Haltbarkeit alltäglicher Gebrauchsgegenstände relativ
und nur ein schwacher Abglanz jener Beständigkeit, welche die weltlichsten aller Dinge, die Kunstwerke, durch die Jahrhunderte hindurch
währen läßt; aber auch diese relative Haltbarkeit ist noch eine Abart des
währenden Überdauerns (das Plato für etwas Göttliches hielt, weil es
sich der Unvergänglichkeit nähert), das jedem Ding qua Ding zukommt.
Jedenfalls ist es diese Eigenschaft, die seine Gestalt, seine Erscheinungsform in der Welt bestimmt und damit die Voraussetzung dafür ist,
daß es uns schön erscheinen kann oder häßlich. Dabei spielt natürlich die
eigentliche Gestalt für alltägliche Gebrauchsgegenstände eine ungleich
geringere Rolle als für die dem Gebrauch entrückten Kunstdinge, und
der Versuch des modernen Kunstgewerbes, Gebrauchsgegenstände so
herzustellen, als wären sie Kunstdinge, hat genug Geschmacklosigkeiten auf dem Gewissen. Aber der Wahrheitskern, der diesen Bemühungen
innewohnt, liegt in dem unbestreitbaren Tatbestand, daß jegliches, das
überhaupt lange genug währt, um als Form und Gestalt wahrgenommen
zu werden, gar nicht anders kann, als sich einer Beurteilung auszusetzen,
die nicht nur seine Funktion, sondern auch seine Erscheinung angeht;
und solange wir uns nicht die Augen ausreißen, bzw. uns vorsätzlich
der Maßstäbe berauben, die für Sichtbares gelten, können wir gar nicht
anders, als alles Dingliche auch danach zu beurteilen, ob es schön ist
oder häßlich oder irgend etwas dazwischen.
Weil alles Seiende auch erscheint, und nicht erscheinen kann ohne eine
ihm eigene Gestalt, gibt es in Wahrheit kein Ding, das nicht das bloße
Gebrauchtwerden bereits übersteigt und eine Art von Existenz hat, die
jenseits seiner Funktion liegt. Dies gilt nur nicht von den Konsumgütern,
die aber in die eigentliche Dingwelt niemals eintreten, weil sie zum Verzehr bestimmt und für den Konsum präpariert sind. (Hier wird infolgedessen jedes Bemühen, sie „schön“ zu machen, unweigerlich zum Kitsch
führen, wobei der Kitsch darin besteht, daß „Schönheit“ appetitanregend
wirken soll, was dem Wesen des Schönen widerspricht, das gerade das
Zugreifen abwehrt und, wo es voll in Erscheinung tritt, jeglichen Umgang
mit dem betreffenden Gegenstand verwehrt.) Das jenseits des Funktionellen liegende Sosein eines Dinges ist seine Schönheit oder seine Häßlichkeit, und dies Sosein, im Unterschied zu der Funktion, ist an Erscheinen überhaupt gebunden und damit an Sichtbarkeit in einer öffentlichen
Welt. Sofern ein Gegenstand überhaupt in die Welt der Dinge eingeht,
transzendiert er bereits die Sphäre des nur Zweckdienlichen, durchbricht,
218 — 219
Hannah Arendt
gleichsam auf eigene Faust, den ihm vom menschlichen Gebrauchtwerden diktierten Zweckprogressus ad infinitum. In dieser Dingwelt kann der
Maßstab seiner Trefflichkeit nicht mehr seine bloße Nützlichkeit sein, als
erfülle ein häßlicher Tisch seinen Zweck genausogut wie ein „schöner“;
hier entscheidet sein Aussehen über seine Vortrefflichkeit. Und dies Aussehen ist, platonisch gesprochen, nichts anderes als die mögliche Entsprechung oder Annäherung an das ειδος oder die ιδέα, an das vorgestellte Bild, das dem inneren Auge des Herstellers vorschwebte, als er
den Gegenstand fabrizierte, und das als solches schon war, bevor der
Herstellungsprozeß begann, andauert, wenn er zum Abschluß gekommen ist, und selbst das Verschwinden durch Verbrauchen oder Zerstörung des in seinem Ebenbilde hergestellten Gegenstandes überdauert.
So entzieht sich alles Gestaltete und Geformte in seinem Sosein, auch
wenn es dem Gebrauch dient, in gewisser Weise den nur »subjektiven«
Bedürfnissen derer, für deren Zwecke es doch hervorgebracht ist, und
geht ein in eine von „objektiven“ Maßstäben bestimmte Welt von Gegenständlichem, in der es nicht nur dem Gebrauch dient, sondern auch das
Aussehen, die spezifische Qualität, der dinglichen Umwelt bestimmt, in
der menschliches Leben sich bewegt.
Die Umwelt des Menschen ist die Dingwelt, die Homo faber ihm errichtet, und ihre Aufgabe, sterblichen Wesen eine Heimat zu bieten, kann sie
nur in dem Maße erfüllen, als ihre Beständigkeit der ewig-wechselnden
Bewegtheit menschlicher Existenz standhält und sie jeweils überdauert,
d. h. insofern sie nicht nur die reine Funktionalität der für den Konsum
produzierten Güter, sondern auch die bloße Nützlichkeit von Gebrauchsgegenständen transzendiert. Wie der Stoffwechsel mit der Natur, also der
biologische Lebensprozeß, den der Mensch mit allem Lebendigen gemein
hat, sich in der Tätigkeit der Arbeit realisiert, so realisiert sich das spezifisch menschliche Leben, die Zeitspanne, die ihm zwischen Geburt und
Tod zugemessen ist, in den Tätigkeiten des Handelns und Sprechens, die
immerhin mit dem Leben so viel gemeinsam haben, daß auch sie in sich
selbst flüchtig sind und vergänglich. Denn es mag einer noch so „beredt
in Worten sein und rüstig in Taten“, weder Worte noch Taten hinterlassen irgendeine Spur in der Welt, nichts zeugt von ihnen, wenn der kurze
Augenblick verflogen ist, während dessen sie wie eine Brise oder ein Wind
oder ein Sturm durch die Welt strichen und die Herzen von Menschen
erschütterten. Ohne die Geräte, die Homo faber entwirft, um die Arbeit
zu erleichtern und die Arbeitszeit zu verkürzen, könnte auch menschliches Leben nichts sein als Mühe und Arbeit; ohne die Beständigkeit der
Welt, die die den Sterblichen zugemessene Frist auf der Erde überdauert,
wären die Geschlechter der Menschen wie Gras und alle Herrlichkeit der
Erde wie des Grases Blüte; und ohne die gleichen herstellenden Künste
von Homo faber, aber jetzt auf ihrem höchsten Niveau, in der vollen Glorie ihrer reinsten Entfaltung, ohne die Dichter und Geschichtsschreiber,
ohne die Kunst des Bildens und die des Erzählens, könnte das Einzige,
was redende und handelnde Menschen als Produkt hervorzubringen
vermögen, nämlich die Geschichte, in der sie handelnd und sprechend
auftraten, bis sie sich so weit gefügt hat, daß einer sie als Geschichte
berichten kann, niemals sich so dem Gedächtnis der Menschheit einprägen, daß sie Teil der Welt wird, in der Menschen leben. Insofern aber Sprechen und Handeln die höchsten und menschlichsten Tätigkeiten der Vita
activa sind, ist die Welt eine wirkliche Heimat für sterbliche Menschen
nur in dem Maße, als sie diesen in sich flüchtigsten und vergeblichsten
Tätigkeiten eine bleibende Stätte sichert, als sie sich dafür eignet, Tätigkeiten zu beherbergen, die nicht nur völlig nutzlos für den Lebensprozeß
als solchen sind, sondern auch prinzipiell anderer Natur als die mannigfaltigen herstellenden Künste, durch die die Welt selbst und alle Dinge in
ihr hervorgebracht sind. In dieser Hinsicht handelt es sich schwerlich um
eine Wahl zwischen Plato und Protagoras oder darum zu entscheiden,
ob nun der Mensch oder ein Gott das Maß aller Dinge sei; denn so viel
ist sicher, das Maß für die Welt ist nicht die zwingende Lebensnotwendigkeit, die sich in der Arbeit kundgibt, und es kann nicht in dem Reich
von Mitteln und Zwecken gefunden werden, das maßgebend ist für die
Herstellung der Weltdinge und maßgeblich noch für den Gebrauch, den
wir von ihnen machen.
222 — 223
Die Hand1
Richard Sennett
1
Wiederabdruck aus: Richard
Sennett: Handwerk. Berlin:
BvT 2009. © Berlin Verlag,
S. 201-239.
2
So sagt es jedenfalls
Raymond Tallis: The Hand:
A Philosophical Inquiry in
Human Being. Edinburgh
2003, S. 4.
3
Charles Bell: The Hand,
Its Mechanisms and Vital
Endowments, as Evincing
Design. London 1833; dt.:
Die menschliche Hand und
ihre Eigenschaften, Stuttgart 1836. Es handelt sich
um den vierten Band einer
Schriftenreihe mit dem Titel
The Bridgewater Treatises
on the power, wisdom
and goodness of God as
manifested in the creation;
dt: Die Natur, ihre Wunder
und Geheimnisse oder Die
Bridgewater-Bücher.
Technik hat einen schlechten Ruf. Sie kann seelenlos erscheinen. Menschen, die in ihren Händen ein hohes Maß an Übung erreichen, sehen
das allerdings nicht so. Für sie ist Technik eng verbunden mit Ausdruck.
In diesem Kapitel will ich einen ersten Schritt in der Erforschung dieser
Verbindung unternehmen.
Vor zwei Jahrhunderten bemerkte Kant einmal, die Hand sei das Fenster
zum Geist.2 Die moderne Wissenschaft hat diese Beobachtung vertieft.
Von allen menschlichen Gliedern verfügt die Hand über das größte Repertoire unterschiedlicher und willentlich steuerbarer Bewegungen. Die
Wissenschaft versucht zu klären, in welcher Weise diese Bewegungen
in Verbindung mit dem Greifen und dem Tastsinn unser Denken beeinflussen. Der Verbindung zwischen Hand und Kopf werde ich am Beispiel
dreier „Handwerker“ nachgehen, die ihre Hand in beträchtlichem Maße
üben müssen: Musiker, Köche und Glasbläser. Eine Handfertigkeit dieser
Art ist zwar etwas Besonderes, hat aber auch Implikationen für das normalere Erleben.
Die intelligente Hand
Wie die Hand menschlich wurde
Greifen und Tasten
Das Bild der „intelligenten Hand“ erschien in den Wissenschaften bereits
1833, als Charles Bell eine Generation vor Darwin sein Buch The Hand
(Die menschliche Hand) veröffentlichte.3 Der fromme Christ Bell glaubte,
die Hand sei vom Schöpfer als vollkommenes, seinen Zwecken bestens
angepasstes Glied geschaffen worden, wie es für all seine Werke galt.
Bell schrieb der Hand eine privilegierte Stellung in der Schöpfung zu
und führte diverse Experimente durch, die beweisen sollten, dass unser
Gehirn von der Hand vertrauenswürdigere Informationen erhält als von
den Augen, die uns oft nur falsche oder irreführende Bilder lieferten.
4
Charles Darwin: The
Descent of Man (1879),
London 2004; dt.: Die Abstammung des Menschen.
Stuttgart 1966, S. 60–63.
5
Frederick Wood Jones: The
Principles of Anatomy as
Seen in the Hand. Baltimore
1942, S. 298–299.
6
Tallis: The Hand, S. 24.
7
Siehe John Napier: Hands,
überarb. von Russell
H. Tuttle: Princeton, N.
J. 1993, S. 55 ff. Eine
ausgezeichnete populärwissenschaftliche
Zusammenfassung dieser
veränderten Sichtweise
findet sich bei Frank R.
Wilson: The Hand: How
Its Use Shapes the Brain,
Language, and Human Culture. New York 1998; dt.:
Die Hand – Geniestreich der
Evolution: Stuttgart 2000,
S. 129–160.
Darwin entthronte Bells Überzeugung, wonach die Hand nach Form und
Funktion zeitlos sei. In der Evolution, so nahm Darwin an, vergrößerte
sich das Gehirn der Affen, als die Arme nicht mehr nur dazu dienten, den
Körper in der Bewegung zu stabilisieren.4 Mit wachsender Hirnkapazität
lernten unsere menschlichen Vorfahren, mit den Händen Dinge zu halten, über die in den Händen gehaltenen Dinge nachzudenken und diese
Dinge schließlich auch zu formen. Der Menschenaffe konnte Werkzeuge
machen. Der Mensch macht Kultur.
Bis vor kurzem glaubten Evolutionswissenschaftler, dass der Gebrauch
der Hand und nicht deren Struktur sich mit der wachsenden Größe des
Gehirns veränderte. So schrieb Frederick WoodJones vor einem halben
Jahrhundert: „Nicht die Hand ist vollkommen, sondern der gesamte
Nervenapparat, der die Bewegungen der Hand auslöst, koordiniert und
kontrolliert.“ Und dies habe die Evolution des Homo sapiens ermöglicht.5
Heute wissen wir, dass auch die physische Struktur der Hand sich in der
jüngeren Geschichte des Menschen entwickelt hat. Der moderne Philosoph und Arzt Raymond Tallis erklärt die Veränderung zum Teil durch die
beim Menschen im Vergleich zum Schimpansen größere Bewegungsfreiheitim Gelenk zwischen Trapezbein und Metakarpalknochen. „Wie beim
Schimpansen besteht das Gelenk aus ineinandergreifenden konkaven
und konvexen Flächen, die einen Sattel bilden. Der Unterschied zwischen
uns und den Schimpansen liegt darin, dass die Teile dieses Gelenks beim
Schimpansen enger ineinandergreifen und so die Bewegung behindern,
insbesondere die Opposition des Daumens zu den übrigen Fingern.“6 Die
Forschung von John Napier und anderen hat gezeigt, dass die physische
Gegenstellung des Daumens und der übrigen Finger in der Evolutionvon
Homo sapiens immer ausgeprägter wurde und mit sehr feinen Veränderungen jener Knochen einherging, die den Zeigefingerstützen und stärken.7
Diese strukturellen Veränderungen ermöglichten unserer Art die einzigartige körperliche Erfahrung des Greifens. Das Greifen ist eine willentliche
Handlung, Ergebnis einer Entscheidung und keine unwillkürliche Bewegung wie der Lidschlag. Die Ethnologin Mary Marzke unterscheidet drei
Grundformen des Greifens. Beider ersten fassen wir kleine Gegenstände,
indem wir sie zwischen die Spitze des Daumens und die Innenseite des
Zeigefingers nehmen. Bei der zweiten wiegen wir einen Gegenstand auf
der Handfläche und bewegen ihn mit stoßenden und massierenden Bewegungen des Daumens und der übrigen Finger. (Zwar beherrschen auch
fortgeschrittene Primaten diese beiden Griffe, aber sie können sie nicht
so gut ausführen wie wir.) Die dritte Grundform ist der Korbgriff, etwa
wenn man einen Ball oder andere größere Gegenstände mit dem Daumen
und sämtlichen anderen Fingern in der hohlen Hand festhält, und diese
Form ist beim Menschen sogar noch höher entwickelt. Der Korbgriff erlaubt es uns, einen Gegenstand fest in der Hand zu halten, während wir
ihn mit der anderen Hand bearbeiten.
224 — 225
Richard Sennett
8
Mary Marzke: Evolutionary
Development of the
Human Thumb, Hand
Clinics 8, Nr. 1 (Februar
1992), S. 1–8. Siehe auch
Marzke: Precision Grips,
Hand Morphology, and
Tools, American Journal of
Physical Anthropology 102
(1997), S. 91–110.
9
Siehe K. Müller und
V.Homberg, Development
of Speed of Repetitive
Movements in Children…,
Neuroscience Letters 144
(1992), S. 57–60.
Beherrscht ein Tier wie wir erst einmal diese drei Grundformen des
Greifens, übernimmt alles weitere die kulturelle Evolution. Für Marzke
erschien Homo faber erstmals auf der Erde, als jemand die Fähigkeit erwarb, Dinge mit sicherem Griff zu halten, um sie zu bearbeiten. „Die meisten Besonderheiten der modernen menschlichen Hand, darunter auch
der Daumen, lassen sich mit den Belastungen verbinden …, zu denen es
durch den Einsatz dieser Griffformen beim Umgang mit Steinwerkzeugen
gekommen sein dürfte.“8 Daraus ergibt sich dann das Nachdenken über
die Dinge,die man solcherart im Griff hat. Man sagt von Problemen, dass
man sie „im Griff hat“, und ganz allgemein von geistigen Zusammenhängen, dass man sie begreift. In beidem spiegelt sich der evolutionäre
Dialog zwischen Hand und Gehirn.
Es gibt indessen ein Problem mit dem Greifen, das besondere Bedeutung
für Menschen besitzt, die ein hohes Maß an technischer Handfertigkeit
entwickeln, die Frage nämlich, wie man loslässt. Wer etwa lernen will, ein
Musikinstrument schnell und sauber zu spielen, muss lernen, wie er die
Finger auch schnell wieder von der Klaviertaste, der Saite oder der Ventilklappe löst. In ähnlicher Weise müssen wir uns zumindest zeitweise von
einem Problem lösen, um es aus der Distanz zu betrachten und uns dann
erneut an seine Lösung zu machen. Neuropsychologen glauben heute,
dass die physischen und kognitiven Fähigkeiten des Loslassensauch der
Fähigkeit des Menschen zugrunde liegen, sich von Ängsten und Zwangshandlungen zu lösen. Das Loslassen besitzt auch zahlreiche ethische
Implikationen, etwa wenn wir andere aus unserer Kontrolle – unserem
Griff – entlassen.
Zu den Mythen um hohe technische Fertigkeiten gehört die Vorstellung,
wer technische Meisterschaft erwerbe, müsse einen besonderen Körper
besitzen. Soweit es die Hand betrifft, ist diese Vorstellung nicht ganz
richtig. Die Fähigkeit etwa, die Finger sehr schnell zu bewegen, liegt bei
allen Menschen im Pyramidaltrakt des Gehirns begründet. Jede Hand
lässt sich so trainieren, dass Daumen und Zeigefinger im rechten Winkel
voneinander abgestreckt werden können. Und während kleine Hände für
Cellisten eine wichtige Voraussetzung darstellen, sind sie für Pianisten
ein Handicap, das sie allerdings durch entsprechende Techniken ausgleichen können.9 Auch für andere körperlich anspruchsvolle Tätigkeiten
wie die des Chirurgen ist es nicht erforderlich, dass die Hand von Anfang
an eine besondere Beschaffenheit besäße. Schon Darwin bemerkte vor
langer Zeit, dass physische Begabung einen Ausgangspunkt für das Verhalten von Organismen darstellt und nicht das Ziel. Das gilt sicher auch
für die technischen Fertigkeiten der Hand. Griffe entwickeln sich beim
Einzelnen in derselben Weise, wie sie sich innerhalb unserer Art entwickelt haben.
***
10
Siehe Charles Sherrington: The Integrative
Action of the Nervous
System. New York 1906.
Der Tastsinn wirft andere Fragen hinsichtlich der intelligenten Hand auf.
In der Geschichte der Medizin wie auch der Philosophie gibt es eine lange
Debatte über die Frage, ob der Tastsinn dem Gehirn eine andere Art von
Sinneseindrücken liefert als das Auge. Es scheint, dass der Tastsinn aufdringliche, „ungebundene“ Daten, das Auge dagegen Bilder liefert, die in
einen Rahmen eingebunden sind. Wenn man einen heißen Ofen berührt,
erfährt der gesamte Körper plötzlich einen Schock. Einen schmerzhaften
Anblick kann man dagegen lindern, indem man die Augen schließt. Vor
einem Jahrhundert gab der Biologe Charles Sherrington dieser Diskussion
eine neue Richtung. Er erforschte das „aktive Tasten“, wie er es nannte,
bei dem die Fingerspitzen bewusst über eine Oberfläche geführt werden.
Er sah im Tastsinn einen ebenso aktiven wie reaktiven Sinn.10
Ein Jahrhundert nach Sherrington haben dessen Forschungen eine weitere Wende erfahren. Die Finger können einen Gegenstand auch ohne
bewusste Absicht aktiv abtasten, etwa wenn sie nach einem bestimmten
Punkt suchen, der das Gehirn anregt nachzudenken. Man spricht hier von
„lokalisiertem“ Tasten. Einem Beispiel dafür sind wir bereits begegnet,
denn genau so prüfte der mittelalterliche Goldschmied Metalle. Er rollte
und drückte die metallene „Erde“ so lange zwischen den Fingerspitzen,
bis er auf eine Stelle stieß, die ihm unrein erschien. Aus dieser lokalisierten Sinneswahrnehmung schloss der Goldschmied dann zurück auf die
Natur des betreffenden Stoffes.
Einen Spezialfall lokalisierten Tastens stellen die Schwielen an den Händen von Menschen dar, die von Berufs wegen manuelle Tätigkeiten verrichten. Im Prinzip sollten die verhornten Hautschichten den Tastsinn beeinträchtigen. In der Praxis stellt sich jedoch der umgekehrte Effekt ein.
Da die Schwiele die Nervenenden in der Haut schützt, kann das Tasten
zielstrebiger erfolgen. Obwohl wir die Physiologie dieses Vorgangs noch
nicht ganz verstehen, gilt doch offenbar: Die Schwiele sensibilisiert die
Hand für kleinste räumliche Bereiche und stimuliert das Empfindungsvermögen der Fingerspitzen. Man könnte sagen, die Schwiele leiste für
die Hand etwas Ähnliches wie das Zoomobjektiv für die Kamera.
Im Blick auf die tierischen Fähigkeiten der Hand glaubte Charles Bell,
die verschiedenen Glieder oder Organe besäßen jeweils eigene Nervenbahnen zum Gehirn, so dass die Sinne sich voneinander trennen ließen.
Die moderne Neurowissenschaft hat gezeigt, dass diese Vorstellung
falsch ist. Ein neuronales Netz, das Auge, Gehirn und Hand verbindet,
sorgt vielmehr für eine Integration des Tastens, Greifens und Sehens.
So greift das Gehirn beim Betrachten der zweidimensionalen Fotografie
eines Balls auf gespeicherte Informationen zurück, die aus der Erfahrung
stammen, einen Ball in der Hand zu halten. Die Krümmung der Finger
und das von der Hand empfundene Gewicht des Balls helfen dem Gehirn,
in drei Dimensionen zu denken und das flache Objekt aufdem Papier als
Kugel zu sehen.
226 — 227
Richard Sennett
11
Wilson, Die Hand, S. 115.
12
A. P. Martinich: Hobbes:
A Biography. Cambridge
1999.
wenn die Handzeichen des Dirigenten dem Ton um einen Augenblick
vorausgehen. Gäbe er das Handzeichen für einen Taktschlag genau zum
richtigen Zeitpunkt, führte er das Orchester gar nicht, denn der Ton wäre
längst gespielt. Die Schläger beim Kricket erhalten gleichfalls den Rat,
dem Schlag voraus zu sein. In Beryl Markhams bemerkenswerten Memoiren West with the Night (Westwärts mit der Nacht) findet sich noch
ein weiteres Beispiel. Zu einer Zeit, als die Piloten bei ihren Flügen kaum
auf Instrumente zurückgreifen konnten, stellte Markham sich bei ihren
Flügen durch die afrikanische Nacht vor, sie hätten das geplante Flugmanöver wie einen Steigflug oder eine Kurve bereits hinter sich.13 All diese
technischen Meisterleistungen basieren auf dem, was jeder tut, wenn er
nach einem Glas greift.
Die bislang vollständigste Darstellung der Prehension hat Raymond Tallis
gegeben. Er gliedert das Phänomen in vier Dimensionen: Antizipation, wie
sie geschieht, wenn die nach einem Glas greifende Hand sich vorweg entsprechend formt; Berührung, wenn das Gehirn Sinnesdaten im Bereich des
Tastsinns erhält; sprachliches Erkennen, wenn man den ergriffenen Gegenstand benennt; und schließlich Nachdenken über das, was man getan
hat.14 Tallis behauptet nicht, dass all dies bewusst geschehen müsste.
Die Orientierung kann auf den Gegenstand fokussiert bleiben. Die Hand
weiß genau das, was sie tut. Den vier von Tallis genannten Dimensionen
möchte ich noch eine weitere hinzufügen: die Bedeutungen, die sich durch
große technische Handfertigkeit entwickeln lassen.
Prehension
Etwas erfassen
Wenn wir sagen, dass wir „etwas erfassen“, so setzt dies physisch voraus, dass wir danach greifen. Wenn wir etwa nach einem Glas greifen,
antizipiert die Hand, schon bevor sie die Oberfläche des Glases berührt,
dass es sich um einen runden Gegenstand handelt, den sie in vertrauter Weise fassen kann. Der Körper ist zum Greifen bereit, bevor er weiß,
ob das, wonach er greift, eiskalt oder kochend heiß ist. Der Fachbegriff
für solche Bewegungen, in denender Körper im Vorgriff auf Sinnesdaten
agiert und sie antizipiert, lautet „Prehension“.
Geistig „erfassen“ wir etwas, wenn wir zum Beispiel eine Gleichung wie
a/d= b+ c nicht nur ausführen, sondern auch verstehen. Geistiges Verstehen wie auch physisches Handeln erhalten durch Prehension eine besondere Prägung. Wir warten mit dem Denken nicht, bis alle Informationen
beisammen sind, sondern antizipieren die Bedeutung. Prehension signalisiert Aufmerksamkeit, Engagement und Risikobereitschaft im Blick
nach vorn. Sie ist das genaue Gegenteil eines vorsichtigen Buchhalters,
der keinen einzigen Finger rührt, bis er nicht alle erforderlichen Zahlen
beisammenhat.
Neugeborene beginnen mit der Prehension schon in der zweiten Lebenswoche, wenn sie etwa nach Spielsachen greifen, die man ihnen vors Gesicht hält. Wegen des Zusammenspiels zwischen Auge und Hand nimmt
die Prehension zu, wenn das Kind den Kopf heben kann, da es dann besser sieht, wonach es greift. In den ersten fünf Lebensmonaten entwickelt
die Hand des Kindes die neuromuskuläre Fähigkeit, sich unabhängig in
Richtung des gesehenen Gegenstands zu bewegen, und in den folgenden
fünf Monaten die Fähigkeit, verschiedene Greifpositionen einzunehmen.
Beide Fähigkeiten hängen mit der Entwicklung des Pyramidaltrakts zusammen, einer Verbindung zwischen dem primären motorischen Kortex
und dem Rückenmark. Gegen Ende des ersten Lebensjahres, so schreibt
Frank Wilson, „ist die Hand zur lebenslangen Erkundung bereit“.11
Die sprachlichen Ergebnisse der Prehension illustriert ein Experiment,
das der Philosoph Thomas Hobbes mit den Kindern der Familie Cavendish durchführte. Hobbes schickte seine Schützlinge, deren Hauslehrer
er war, in ein abgedunkeltes Zimmer, in dem er diverse Gegenstände deponiert hatte, mit denen die Kinder nicht vertraut waren. Nachdem sie
die Gegenstände betastet hatten,rief er sie aus dem Zimmer und ließ sie
beschreiben, was siemit ihren Händen „gesehen“ hatten. Er stellte fest,
dass die Kinder präzisere Ausdrücke benutzten als bei der Beschreibung
von Dingen, die sie bei Licht gesehen hatten. Hobbes erklärte dies unter
anderem durch den Umstand, dass sie im Dunkeln „nach Bedeutung
griffen“ – dieser Reiz half ihnen dann im Hellen, als die unmittelbaren
Empfindungen bereits „zerfallen“ waren, treffende Worte zu finden.12
Ein Vorgreifen im Sinne der Prehension schafft Tatsachen, zum Beispiel
Tugenden der Hand
An der Fingerspitze
Wahrhaftigkeit
13
Beryl Markham: West
with the Night. London
1984; dt.: Westwärts
mit der Nacht. München
1987.
14
Siehe Tallis: The Hand,
Elftes Kapitel, insb. S.
329–331.
15
Siehe Shin’ichi Suzuki:
Nurtured by Love: A
New Approach to Talent
Education. Miami, Fl.,
1968; dt.: Erziehung
ist Liebe: eine neue
Erziehungsmethode.<
Kassel 1994.
Wenn ein Kind ein Streichinstrument zu spielen lernt, weiß es zunächst
nicht, wohin es die Finger auf dem Griffbrett setzen soll, um einen bestimmten Ton präzise zu erzeugen. Die nach dem japanischen Musikpädagogen
Suzuki Shin’ichi benannte Suzuki-Methode löst dieses Problem durch dünne
farbige Plastikstreifen, die auf das Griffbrett geklebt werden. Die junge
Geigenschülerin legt den Finger auf diesen farbigen Streifen, um einen bestimmten Ton zu erzielen. Die Methode legt das Schwergewicht von Anfang
an auf die Schönheit des Tons oder, wie Suzuki dies nannte, die „Intonierung“,
ohne sich um die komplizierten Details der Erzeugung eines schönen Tons zu
kümmern. Die Bewegung der Hand wird durch das fest vorgegebene Ziel für
die Fingerspitze bestimmt.15
Diese benutzerfreundliche Methode stärkt das individuelle Zutrauen. Schon
nach der vierten Stunde kann das Kind ein Kinderlied wie „Twinkle, Twinkle,
Little Star“ bestens spielen. Und sie stärkt das gemeinschaftliche Zutrauen,
denn ein ganzes Streichorchester aus Siebenjährigen vermag das Kinderlied
zu spielen, weil jeder genau weiß, was die Hand zu tun hat. Diese beglückende
Zuversicht schwindet allerdings, sobald man die Streifen entfernt.
228 — 229
Richard Sennett
Eigentlich sollte man erwarten, dass die eingeschliffene Gewohnheitsich auch auf die Präzision erstreckt und die Finger auf dem nicht
mehr markierten Griffbrett genau die Stelle träfen, an denen sich der
Streifen befunden hatte. In Wirklichkeit jedoch versagt eine solcherart
mechanische Gewohnheit, und das aus einem physischen Grund. Die
Suzuki-Methode dehnt die kleinen Hände seitlich am Knöchelkamm,
sie sensibilisiert jedoch nicht die Fingerspitze, die letztlich die Saite
nach unten drückt. Da die Fingerspitze das Griffbrett nicht kennt,
erklingen falsche Töne, sobald die Streifen entfernt werden. In der
technischen Fingerfertigkeit ist es wie in der Liebe: Unschuldige Zuversicht führt nicht weit. Eine weitere Komplikation ergibt sich, wenn
der Spielende auf das Griffbrett schaut, um zu sehen, wohin er die
Fingerspitze setzen soll. Das Auge wird auf dieser glatten schwarzen
Fläche keine Antwort finden. Deshalb klingt ein Kinderorchester wie
ein jaulender Mob, wenn die Markierungsstreifen abgenommen werden.
Das Problem liegt hier in der falschen Sicherheit. Die Schwierigkeiten
des musizierenden Kindes erinnern an Victor Weisskopfs Warnung an
erwachsene Wissenschaftler und Techniker, der Computer verstehe
die Antwort, „aber ich glaube nicht, dass Sie die Antwort verstehen“.
Eine weitere Analogie zu den farbigen Markierungen wäre das Rechtschreib- und Grammatikprogramm eines Computerschreibprogramms.
Wer es benutzt, lernt nicht, weshalb eine grammatische Konstruktion
der anderen vorzuziehen ist.
Suzuki war sich des Problems der falschen Sicherheit durchaus bewusst. Er empfahl, die farbigen Streifen zu entfernen, sobald das Kind
erlebt hat, welchen Spaß das Musizieren macht. Als musikalischer Autodidakt (sein Interesse an der Musik erwachte, als er Ende der 1940er
Jahre eine Aufzeichnung des Ave Maria von Franz Schubert in einer
Interpretation von Mischa Elman hörte) wusste Suzuki aus eigener Erfahrung, dass die Wahrhaftigkeit in den Fingerspitzen liegt: Der Tastsinn ist der Richter über den Ton. Auch hier findet sich eine Parallele
zur Probe des Goldschmieds, der das Material mit den Fingerspitzen
erforscht und so der falschen Sicherheit des ersten Blicks entgeht.
Wir möchten wissen, welche Art Wahrheit solche falsche Sicherheit
verhindert.
In der Musik arbeiten Ohr und Fingerspitze gemeinsam an dieser
Probe. Recht trocken ausgedrückt: Der Musiker berührt die Saite in unterschiedlicher Weise, er hört die verschiedenen Wirkungen und sucht
dann nach einer Möglichkeit, den gewünschtenTon zu reproduzieren.
In der Realität ist dies zuweilen ein schwieriger und schmerzhafter
Kampf um die Frage: „Was habe ich da eigentlich gemacht? Wie kann
ich es wiederholen?“ Die Fingerspitze ist hier kein bloßes Werkzeug.
Bei dieser Art der Berührung sucht man den Rückweg von der Sinneswahrnehmung zum Vorgehen, von der Wirkung zur Ursache.
16
D.W. Winnicott: Playing
and Reality. London 1971;
dt.: Vom Spiel zur Kreativität. Stuttgart 1973; John
Bowlby: A Secure Base:
Parent-Child Attachment
and Healthy Human Development, London 1988;
dt.: Elternbindung und
Persönlichkeitsentwicklung.
Heidelberg 1995.
Was folgt nun daraus für jemanden, der nach diesem Grundsatz handelt?
Stellen wir uns einen Jungen vor, der ohne Hilfe farbiger Markierungen
darum kämpft, die richtigen Töne zu treffen. Er scheint eine Note ganz
genau zu treffen, aber dann sagt ihm das Ohr, dass die nächste mit dieser Fingerstellung gespielte Note schief klingt. Für dieses Problem gibt
es einen physischen Grund. Bei allen Streichinstrumenten verkürzt sich
die Saite, wenn man sie hinunterdrückt, und entsprechend muss auch
der Abstand zwischenden Fingern verkürzt werden. Das Feedback des
Ohrs schickt das Signal, dass es einer seitlichen Anpassung am Knöchelkamm bedarf (eine berühmte Übung in den Études von Jean-Pierre
Duport erkundet das Wechselspiel zwischen der Verringerung der seitlichen Spannweite und der Aufrechterhaltung der Rundung in der Hand
des Cellisten, während sie über alle Saiten und die gesamte Länge des
Griffbretts wandert). Durch Versuch und Irrtum mag der Neuling auch
ohne Markierungen lernen, wie er den Knöchelkamm zusammenziehen
kann, doch eine Lösung ist auch dann nicht in Sicht. Er hält die Hand im
rechten Winkel zum Griffbrett, und vielleicht sollte er nun versuchen,
die Handfläche in Richtung der Wirbel leicht zu höhlen. Das hilft. Nun
trifft er den richtigen Ton, weil die Neigung einen Ausgleich für die
unterschiedliche Länge des Zeige- und des Mittelfingers schafft. (Außerdem strafft ein vollkommen rechtwinkliger Ansatz den längeren Mittelfinger.) Doch diese neue Stellung verdirbt die Lösung, die er für das
Problem der seitlichen Knöchelstellung gefunden hatte. Und so geht es
weiter. Jedes neue Problem beim Spielen korrekter Töne zwingt ihn, die
bisherigen Lösungen zu überdenken.
Was könnte ein Kind motivieren, einen so anspruchsvollen Weg zu
gehen? Eine Psychologenschule behauptet, Motivation basiere auf einer
für jegliche menschliche Entwicklung grundlegenden Erfahrung. Das
Urereignis der Trennung könne jeden jungenMenschen lehren, neugierig
zu sein. Diese Forschungen waren Mitte des 20. Jahrhunderts mit den
Namen D.W. Winnicott und John Bowlby verknüpft, zwei Psychologen,
die sich für die frühesten menschlichen Erfahrungen der Bindung und
der Trennung interessierten, angefangen bei der Loslösung des Säuglings von der Mutterbrust.16 Nach der Volkspsychologie führt der Verlust
dieser Bindung zu Angst und Trauer. Die beiden britischen Psychologen
wollten zeigen, dass es sich um einen weitaus komplexeren Vorgang
handelt.
Winnicott behauptete, wenn das Kleinkind nicht mehr eins mit dem Körper der Mutter sei, werde es auf neuartige Weise stimuliert und wende
sich nach außen. Bowlby beobachtete in Kinderkrippen Kleinkinder, um
herauszufinden, welchen Einfluss Trennung auf den Umgang der Kinder
mit unbelebten Objekten hat. Mit größter Sorgfalt beobachtete er alltägliche Aktivitäten, denen man bis dahin kaum Einfluss beigemessen
hatte. Für unsere Fragestellung ist ein Aspekt dieser Forschung besonders interessant.
230 — 231
Richard Sennett
Beide Psychologen betonten die Energie, die Kleinkinder in „Übergangsobjekte“ investieren – ein Fachausdruck für die menschliche Fähigkeit,
sich für Menschen oder materielle Objektezu interessieren, die sich
ihrerseits verändern. Als Psychotherapeuten versuchten die Vertreter
dieser psychologischen Schule erwachsenen, auf ein kindliches Sicherheitstrauma fixierten Patienten zuhelfen, mit veränderlichen zwischenmenschlichen Beziehungen besser zurechtzukommen. Doch die Idee
des „Übergangsobjekts“ macht auch deutlich, was wirklich Neugier auszulösen vermag: eine ungewisse oder instabile Erfahrung. Ein Kind, das
mit der Unsicherheit der Erzeugung von Tönen oder dem Erwerb jeder
anspruchsvollen Handfertigkeit zu kämpfen hat, bildet jedoch einen Sonderfall, denn es scheint in einen endlosen, kaum strukturierten Prozess
verwickelt zu sein, für den es allenfalls vorläufige Lösungen gibt, so dass
dem Musiker das Gefühl zunehmender Kontrolle und die emotionale Erfahrung von Sicherheit versagt bleiben.
Aber ganz so schlimm ist es denn auch wieder nicht, denn der Musiker
muss einem objektiven Maßstab genügen: Er muss den Ton treffen. Wie
bei den im ersten Kapitel beschriebenen politischen Vorgaben könnte
man behaupten, nur mit festgelegten objektiven Wahrheitsmaßstäben
lasse sich ein hohes Maß an technischen Fertigkeiten erwerben. In der
Musik brauchte man nur daraufzu verweisen, dass der Glaube an Korrektheit die technische Verbesserung vorantreibt. Aus der Neugier für
Übergangsobjekte wird eine Definition dessen, was sie sein sollten. Die
Qualität des Klangs ist solch ein Maßstab für Korrektheit – selbst in Suzukis Augen. Deshalb beginnt er bei der Intonierung. Der Glaube an technische Korrektheit und das Streben danach sorgen dann fürden Ausdruck.
In der Musik kommt es zu diesem Übergang, wenn die Maßstäbe sich von
physischen Ereignissen wie dem Spielen eines guten Tons hin zu stärker
ästhetischen Maßstäben wie einer wohlgeformten Phrase entwickeln.
Natürlich sagen uns spontane Entdeckungen und glückliche Zufälle, wie
ein Musikstück klingen sollte. Dennoch müssen Komponist und Musiker
über Kriterien verfügen, mit denen sie glückliche Zufälle erkennen und
mit denen sie bestimmen können, welche davon glücklicher sind als andere. Bei der Entwicklung der Technik verwandeln wir Übergangsobjekte
in Definitionen, auf deren Grundlage wir dann Entscheidungen treffen.
Von Komponisten und Musikern sagt man, sie hörten mit dem „inneren
Ohr“, doch diese immaterielle Metapher führt in die Irre. Berühmte Beispiele dafür sind Komponisten wie Arnold Schönberg, die selbst schockiert waren, als sie die Musik hörten, die sie auf dem Blatt komponiert
hatten. Gleiches gilt für Musiker. Auch für sie ist das Studium der Partitur
eine notwendige, aber keineswegs hinreichende Vorbereitung auf die
tatsächliche Darbietung. Der Klang ist der eigentliche Augenblick der
Wahrheit.
Der Klang ist deshalb auch der Augenblick, in dem der Musiker Fehler
erkennt. Als Musizierender spüre ich den Fehler in den Fingerspitzen–
und versuche, ihn zu korrigieren. Ich verfüge über Maßstäbe, wie etwas
klingen soll, doch meine Wahrhaftigkeit liegt in der schlichten Wahrnehmung, dass ich Fehler mache. In wissenschaftlichen Diskussionen wird
diese Wahrnehmung oft auf das Klischee reduziert, wonach man „aus
seinen Fehlern lernt“. Die musikalische Technik zeigt, dass die Dinge
nicht so einfach sind. Ich muss bereit sein, Fehler zu machen und falsche
Noten zu spielen, um sie am Ende richtig spielen zu können. Die Verpflichtung auf solche Wahrhaftigkeit geht der junge Musiker ein, wenn er
die Suzuki-Streifen abnimmt.
Beim Spielen eines Musikinstruments besitzt die Rückkopplung zwischen Fingerspitze und Handfläche eine merkwürdige Konsequenz: Sie
bietet ein festes Fundament für die Entwicklung physischer Sicherheit.
Ein Üben, das auf Fehler an der Fingerspitze sogleich reagiert, steigert
das Selbstvertrauen. Vermag der Musiker etwas mehr als ein Mal korrekt zu tun, hat er keine Angst mehr vor Fehlern. Und zugleich besitzt
er damit einen Gegenstand, über den er nachdenken und den er durch
Variation im Blick auf Gleichheit oder Unterschiede erkunden kann. Das
Üben wird so zu einer Geschichte statt zu bloßer Wiederholung. Die hart
erarbeiteten Bewegungen prägen sich dem Körper immer tiefer ein, und
der Spieler erwirbt Schritt für Schritt immer größere Fertigkeiten. Bei der
Markierung durch die Streifen wird das Üben dagegen bald langweilig,
weil hier ein und dasselbe ständig wiederholt wird. Da wundertes nicht,
wenn die Handfertigkeit unter diesen Bedingungen eher abnimmt.
Die Angst vor Fehlern zu verringern ist in unserer Kunst von größter Bedeutung, da der Musiker auf der Bühne nicht gelähmt einhalten kann,
wenn er einen Fehler macht. Bei der Darbietung von Musik ist die Zuversicht, dass man sich von einem Fehler erholen wird, kein Persönlichkeitsmerkmal, sondern eine erlernte Fähigkeit.
Die Entwicklung der musikalischen Technik erweist sich demnach als
Wechselspiel zwischen korrektem Spiel und der Bereitschaft, zu experimentieren und dabei Fehler zu machen. Die beiden Seiten lassen sich
nicht voneinander trennen. Wenn man einem jungen Musiker nur den
korrekten Weg vorgibt, erwirbt er eine falsche Sicherheit. Wenn er nach
Belieben seiner Neugier und dem Fluss des Übergangsobjekts folgt, wird
er niemals besser werden.
***
Dieser Dialog verweist auf einen der Prüfsteine handwerklichen Könnens,
den Einsatz „gebrauchsfertiger“ Verfahren oder Werkzeuge. Dabei versucht man, alle Verfahren zu eliminieren, die nicht dem vorbestimmten
Zweck dienen. Dieser Gedanke stand schon hinter Diderots Tafeln zur Papierherstellung in L’Anglée, auf denen keinerlei Abfälle oder Papierreste
zu sehen sind. Programmierer sprechen heute von Systemen ohne hiccups (Schluckauf). Die Suzuki-Streifen sind eine Vorrichtung, die solche
232 — 233
Richard Sennett
Gebrauchsfertigkeit herstellen soll. Wir sollten in Gebrauchsfertigkeit
eher eine Leistung als einen Ausgangspunkt erblicken. Um dieses Ziel zu
erreichen, muss der Arbeitsprozess dem ordnungsliebenden Geist etwas
Unangenehmes antun – er muss ihm zumuten, sich zeitweilig auf chaotische Zustände einzulassen: auf falsche Wege, verpatzte Anfänge und
Sackgassen. Aber in Wirklichkeit ist dieses Durcheinander für den experimentierenden Handwerker in der Technik wie in der Kunst weit mehr
als bloßes Chaos. Er produziert es, um seine Arbeitsverfahren besser zu
verstehen.
Gebrauchsfertiges Handeln bildet den Rahmen für Prehension. Prehension scheint die Hand auf ihren zielgerichteten Gebrauch vorzubereiten,
doch das ist nur ein Teil der Geschichte. Beim Musizieren bereiten wir
uns zwar vor, aber wir können nicht zurück, wenn unsere Hand das angestrebte Ziel nicht erreicht. Wollen wir das korrigieren, müssen wir bereit
sein und sogar wünschen, noch etwas länger bei einem Fehler zu verharren, um ganz zu verstehen, was an der ursprünglichen Vorbereitung
falsch war. Das vollständige Szenario für eine die Fertigkeit verbessernde
Übung besteht also aus folgenden drei Elementen: vorbereiten, Fehler
erkunden, zur Form finden. In dieser Geschichte wird Gebrauchsfertigkeit
nicht vorausgesetzt, sondern erst geschaffen.
Beteiligten über dieselben Fertigkeiten verfügen. Als Beispiel werde ich
auch hier die Musik heranziehen, um die Koordination und Kooperation
zwischen Ungleichen zu erforschen, aber statt der Streichinstrumente
will ich das Klavier betrachten.
***
Die beiden Daumen
Aus der Koordination entsteht Kooperation
Ein bleibendes Merkmal des Handwerkers findet sich in der bildlichen
Darstellung der Werkstatt. Diderot idealisierte auf den Tafeln zur Papierherstellung in L’Anglée die Kooperation. Die Menschen dort arbeiten
harmonisch zusammen. Hat solche Zusammenarbeit eine körperliche
Grundlage? In den Sozialwissenschaften ist man dieser Frage in jüngster
Zeit meist im Zusammenhang mit Diskussionen um Altruismus nachgegangen. Im Mittelpunkt steht dabei die Frage, ob altruistisches Verhalten beim Menschen genetisch verankert ist. Ich möchte in eine andere
Richtung fragen: Was könnte die Erfahrung körperlicher Koordination für
diesoziale Kooperation bedeuten? Konkretisieren lässt sich diese Frage,
indem wir erkunden, wie die beiden Hände koordiniert werden und miteinander kooperieren.
Die Finger der Hand besitzen nicht alle die gleiche Kraft und Biegsamkeit, was deren Koordination erschwert. Das gilt selbst für die beiden
Daumen, deren Fähigkeiten davon abhängen, ob man Rechts- oder Linkshänder ist. Wer ein hohes Niveau der Handfertigkeit entwickelt, kann
diese Ungleichheit kompensieren. Finger und Daumen verrichten dann
eine Arbeit, die andere Finger von sich aus nicht zu leisten vermögen.
In der Wendung „eine helfende Hand“ findet diese physische Erfahrung
ihren Ausdruck. Die kompensatorische Leistung der Hände legt den Gedanken nahe, dass brüderliche Kooperation nicht davon abhängt, ob die
17
David Sudnow: Ways of the
Hand: A Rewritten Account.
2. Ausg. Cambridge, Mass.:
2001.
Die wechselseitige Unabhängigkeit der Hände ist beim Klavierspielen ein
zentrales Thema, ebenso die wechselseitige Unabhängigkeit der Finger.
Einfache Klaviermusik weist die Melodie häufig dem vierten und fünften
Finger der rechten, die Begleitung dem vierten und fünften Finger der
linken Hand zu, das heißt den jeweils schwächsten Fingern. Diese Finger
müssen stärker werden, während der Daumen, der stärkste Finger an
beiden Händen, lernen muss, seine Kraft zurückzuhalten. Anfängern gibt
man meist gnädig Stücke zu spielen, die der rechten Hand eine größere
Rolle zuweisen als der linken. Zu Beginn hat also der Klavierspieler bei
der Koordinierung der Hände mit Problemen der Ungleichheit zu kämpfen.
Beim Jazzpiano ist die körperliche Herausforderung noch größer. Der moderne Klavierjazz verteilt Melodie und Harmonie nur noch selten auf die
beiden Hände, wie es beim Barrelhouse-Blues der Fall war. Die Rhythmen
werden heute vielfach mit der linken Hand statt wie früher mit der rechten gespielt. Als der Pianist und Philosoph David Sudnow Jazz zu spielen
begann, entdeckte er, welche schwierigen Koordinationsprobleme sich
dabei ergeben konnten. In seinem bemerkenswerten Buch Ways of the
Hand berichtetder klassisch ausgebildete Sudnow, wie er sich in einen
Jazzpianisten verwandelte. Anfangs schlug er einen Weg ein, der zwar
logisch, aber dennoch falsch war.17
Wenn man auf dem Klavier Jazz spielt, muss die linke Hand häufiger zwischen einer weiten Spreizung der Finger und einer engen Fingerstellung
abwechseln, um die für diese Kunst typischen Harmonien zu erzeugen.
Sudnow begann ganz logisch, indem er den Wechsel zwischen weiter und
enger Fingerstellung übte. Entsprechend übte er auch mit der rechten
Hand die schnelle seitliche Bewegung über weite Bereiche der Tastatur,
die hüpfende Bewegung, die im traditionellen Jazz als stride bezeichnet
wird. Im moderneren Jazz hält man das rhythmische Pulsieren im Fluss,
indem man rasch in die höheren Lagen springt.
Diese technischen Probleme in ihre Bestandteile aufzulösen erwies sich
als kontraproduktiv. Die Zerlegung half ihm kaum, wenn es darum ging,
mit der linken Hand die enge Fingerstellung zu realisieren und gleichzeitig mit der rechten in stride-Manier zu hüpfen. Und schlimmer noch, er
übertrieb die Vorbereitung durch getrenntes Üben, und das kann tödlich
für das Improvisieren sein. Weil er mit beiden Händen getrennt arbeitete,
bekam er Schwierigkeiten mit den Daumen. Die Daumen sind für den
Jazzpianisten die wertvollsten Finger, seine Anker auf der Tastatur. Aber
234 — 235
Richard Sennett
18
Ebda., S. 84.
19
Zu einer interessanten
Diskussion dieses
Phänomens siehe Julie
Lyonn Lieberman: The
Slide, Strad 116 (Juli
2005), S. 69.
20
Siehe Michael C.
Corballis: The Lopsided
Ape: Evolution of the
Generative Mind. New
York 1991.
21
Yves Guiard: Asymmetric Division of Labor in
Human Bimanual Action,
Journal of Motor Behavior 19, Nr. 4 (1987), S.
488–502.
nun, da sie der Verankerung von Schiffen unterschiedlicher Größe dienen
sollten, die jeweils auch noch ihren eigenen Kurs steuerten, konnten die
beiden Daumen nicht mehr zusammenarbeiten.
Sudnow hatte ein Heureka-Erlebnis, als er entdeckte, dass „eine einzige
Note vollkommen ausreichte“, um ihm Orientierung zu bieten. „Man
konnte eine Note während der Dauer eines Akkords spielen und eine weitere gleich danach für die Dauer des nächsten Akkords, und so ließ sich
die Melodie spielen.“18 Technisch heißt dies, dass alle Finger wie Daumen
zu arbeiten und die beiden Daumen miteinander zu interagieren beginnen, wobei sie im Bedarfsfall die Rolle des jeweils anderen übernehmen.
Nach diesem Heureka-Erlebnis veränderte Sudnow seine Übungspraxis. Er benutzte nun alle Finger als echte Partner. Wenn einer der Finger zu schwach oder zu stark war, bat er einen anderen, die Aufgabe
zu übernehmen. Fotografien, die Sudnow beim Spielen zeigen, dürften
konventionelle Klavierlehrer mit Entsetzen erfüllen. Er wirkt vollkommen
verdreht. Doch wenn man ihn hört, spürt man die Leichtigkeit seines
Spiels. Und diese Leichtigkeit erzielte er, weil er beim Üben zu einem bestimmten Zeitpunkt die Koordination zum Ziel der Übung machte.
Es gibt einen biologischen Grund, weshalb die Koordination ungleicher
Glieder funktioniert. Das Corpus callosum verbindet den motorischen
Kortex der linken Hirnhälfte mit dem der rechten. Über diese Verbindung werden Informationen über die Steuerung der Körperbewegungen
zwischen beiden Hirnhälften ausgetauscht. Das gesonderte Üben beider
Hände führt zu einer Schwächung dieses Austauschs.19
Auch die Kompensation besitzt eine biologische Grundlage. Man hat
Homo sapiens als den „asymmetrischen Affen“ bezeichnet.20 Die physische Prehension ist asymmetrisch. Wir greifen eher mit einer bestimmten
Hand nach Dingen – die meisten Menschenmit der rechten. Bei dem von
Mary Marzke beschriebenen Korbgriff hält die schwächere Hand den
Gegenstand, während die stärkere ihn bearbeitet. Der französische Psychologe Yves Guiardhat untersucht, wie man dieser Asymmetrie begegnen kann, und ist dabei zu überraschenden Ergebnissen gelangt.21 Die
Stärkung der schwächeren Hand gehört, wie zu erwarten, dazu, aber dies
allein reicht nicht aus, um der schwächeren Hand größere Geschicklichkeitzu verleihen. Vielmehr muss die stärkere Hand ihre Stärke neu kalibrieren, damit die schwächere Hand größere Geschicklichkeit entwickeln
kann. Dasselbe gilt für die Finger. Der Zeigefinger etwa muss lernen, wie
der Ringfinger zu denken, um „aushelfen“ zu können. Ebenso die beiden
Daumen. Wir hören, dass Sudnows beide Daumen zusammenarbeiten,
doch physiologisch hält der stärkere Daumen seine Spannkraft zurück.
Das ist noch wichtiger, wenn der Daumen dem schwachen Ringfinger beispringt. Dann muss er sich wie ein Ringfinger verhalten. Ein Arpeggio zu
spielen, bei dem der starke linke Daumen dem schwächeren kleinen Finger der rechten Hand zu Hilfe kommt, ist wohl die physisch anspruchsvollste Aufgabe bei der kooperativen Koordination.
Die Koordination der Hände macht deutlich, wie falsch die Vorstellung
ist, wonach man technische Beherrschung erlangt, indem man von den
Teilen zum Ganzen fortschreitet. Zuerst perfektioniert man jede Teilfähigkeit gesondert und setzt die Teile anschließend zusammen – als
glichen technische Fertigkeiten der industriellen Fließbandproduktion.
Die Koordinierung der Hände funktioniert nur schlecht, wenn man sie auf
diese Weise organisiert und sie aus gesonderten individualisierten Tätigkeiten zusammenzusetzen versucht. Weit besser funktioniert sie, wenn
beide Hände von Anfang an zusammenarbeiten.
Das Arpeggio bietet uns auch Aufschluss über jene Brüderlichkeit, die
Diderot wie nach ihm auch Saint-Simon, Fourier und Robert Owen idealisierte: die Brüderlichkeit von Menschen, die über dieselben Fähigkeiten
verfügen. Deren Bindung wird erst dann wirklich auf die Probe gestellt,
wenn sie erkennen, dass sie diese Fähigkeit in unterschiedlichem Maße
besitzen. Die „brüderliche Hand“ steht für die Zurückhaltung der stärkeren Finger, in der Yves Guiard das entscheidende Moment bei der
physischen Koordination erblickt. Findet auch dieser Umstand seine Widerspiegelung im sozialen Bereich? Der Hinweis lässt sich weiter klären,
wenn wir die Rolle des minimalen Kraftaufwands bei der Entwicklung von
Handfertigkeiten besser verstehen.
Hand – Handgelenk – Unterarm
Die Lehre des minimalen Kraftaufwands
22
Zu dieser Geschichte
siehe Michael Symons:
A History of Cooks and
Cooking. London 2001,
S. 144.
23
Norbert Elias: Über den
Prozeß der Zivilisation, 2
Bde. Frankfurt am Main
1976, Bd. 1, S. 164.
Zur Klärung des minimalen Kraftaufwands wollen wir einen Blick auf eine
andere qualifizierte Handarbeit werfen, die des Kochs.
Archäologen haben geschärfte, zum Schneiden bestimmte Steine gefunden, die 2,5 Millionen Jahre alt sind. Bronzemesser wurden schon vor
mindestens 6000 Jahren, Messer aus Schmiedeeisen vor mindestens
3500 Jahren hergestellt.22 Eisen ließ sich besser gießen als Bronze,
und die daraus hergestellten Messer ließen sich leichter schärfen. Die
heutigen, aus gehärtetem Stahl hergestellten Messer erfüllen die Grundanforderung der Schärfe. Das Messer galt, wie der Soziologe Norbert
Elias bemerkt, immer schon als „ein gefährliches Instrument“, als „eine
Angriffswaffe“, die in Friedenszeiten in allen Kulturen mit einer „Unzahl
von Verboten oder Tabus“ belegt wurde, vor allem wenn es im Haushalt
Verwendungfand.23 Wenn wir den Tisch decken, legen wir deshalb das
Messer so, dass die Schneide zum Teller zeigt und nicht nach außen, wo
sie eine Gefahr für unseren Tischnachbarn darstellen könnte.
Wegen seiner potenziellen Gefährlichkeit wird das Messer und dessen
Gebrauch seit langem schon symbolisch mit Selbstbeherrschung assoziiert. So rät C. Calviac in seinem Traktat Civilité von 1560, das Kind
solle „sein Fleisch auf dem Schneidbrett in kleine Stücke schneiden“ und
die Stücke dann „mit der rechten Hand …und nur mit drei Fingern“ zum
Munde führen. Dieses Verhalten sollte an die Stelle der früheren Praxis
236 — 237
Richard Sennett
24
Ebda., S. 119–121.
25
David Knechtges: A
Literary Feast: Food in
Early Chinese Literature,
Journal of the American
Oriental Society 106
(1986), S. 49–63.
treten, bei der man ein großes Stück Nahrung mit dem Messer aufspießte
und zum Mundführte, so dass man ein Stück davon abbeißen konnte.
Calviac kritisiert diese Essweise nicht nur, weil dabei Saft über das Kinntropfen konnte und weil man Gefahr lief, Ausflüsse der Nase mitzuessen,
sondern auch, weil sie keinerlei Anzeichen von Selbstbeherrschung darstelle.24
Am chinesischen Esstisch ersetzen die Stäbchen als Symbol der Friedfertigkeit schon seit Jahrtausenden das Messer. Damit kann man kleine
mundgerechte Stücke Nahrung auf jene hygienische und disziplinierte
Weise aufnehmen, die Calviac vor 500 Jahren empfahl. Der chinesische
Koch stand vor dem Problem, wie er die Nahrung zubereiten konnte, so
dass sie sich mit den friedfertigen Stäbchen statt mit dem barbarischen
Messer verzehren ließ. Die Lösung liegt zum Teil in der Tatsache, dass es
beim Messer als Tötungsinstrument vor allem auf die geschärfte Spitze
ankommt, beim Messer als Werkzeug des Kochs dagegen auf die scharfe
Schneide. Als China während der Tschou-Dynastie in das Zeitalter des
Schmiedeeisens eintrat, entstanden Spezialmesser, die ausschließlich
für das Kochen bestimmt waren, darunter vor allem das Hackmesser mit
seiner rasiermesserscharfen Schneide und der rechteckig abgeschnittenen Spitze.
Seit der Tschou-Dynastie und bis in unsere Zeit sind chinesische
Küchenchefs stolz darauf, das Hackmesser als Allzweckwerkzeug einzusetzen und Fleisch in Stücke (hsiao) oder Scheiben (tsu) zu zerlegen oder
zu Hackfleisch (hui) zu verarbeiten, während weniger geschickte Köche
dazu verschiedene Messer verwenden. Das Tschuang-tzu, ein früher
taoistischer Text, preist den Koch Ting, der mit dem Hack messer „die
Lücken in den Gelenken“ zu finden und ein Tier daher so fein zu zerlegen
vermochte, dass der Mensch alle essbaren Teile verzehren konnte.25 Der
mit dem Hackmesser arbeitende Koch zerlegte Fisch und Gemüse mit
größter Präzision und sorgte so für die größtmögliche Verwertung der
Nahrung. Er schnitt Fleisch und Gemüse in gleich große Teile, so dass
man sie im selben Topf garen konnte. Das Geheimnis dieser Kunst liegt
in der Berechnung des minimalen Kraftaufwands durch die Technik des
Fallenlassens und der Entlastung.
Die alte Hackmessertechnik basierte auf derselben Wahl, die heute ein
Zimmermann treffen muss, wenn er einen Nagel in Holz einschlägt. Eine
Möglichkeit besteht darin, den Daumen an die Seite des Hammerstiels
zu legen und das Werkzeug auf diese Weise zu führen. Die Kraft für den
Schlag kommt dann allein aus dem Handgelenk. Oder er legt den Daumen um den Stiel. Dann liefert der ganze Unterarm die Kraft. Entscheidet
ein Heimwerker sich für die zweite Möglichkeit, erhöht er die rohe Kraft
des Schlages, läuft aber auch Gefahr, nicht mehr so präzise zielen zu
können. Der Koch im alten China wählte beim Gebrauch des Hackmessers
die zweite Möglichkeit, doch um die Nahrung sehr fein zu schneiden,
entwickelte er eine andere Art, Unterarm, Hand und Hackmesser einzu-
setzen. Statt das Hackmesser wie einen Hammer zu benutzen, führte er
die zu einer Einheit verschmolzene Verbindung aus Unterarm, Hand und
Hackmesser vom Ellbogen her und ließ das Messer auf die zu zerteilende
Nahrung fallen. Sobald die Schneide die Nahrung berührte, spannte er
die Unterarmmuskeln an, um das Schneidgut vom Druck des Körpers zu
entlasten.
Der Küchenchef hat also den Daumen um den Griff des Hackmessers
gelegt. Der Unterarm dient als Verlängerung des Griffs, der Ellbogen als
Drehpunkt. Im Minimum liefert das Gewicht des fallenden Hackmessers
die einzige Kraft und damit das Maß, das ausreicht, um weiche Nahrungsmittel zu schneiden, ohne sie zu zerquetschen – vergleichbar einem Klavierspieler, der pianissimo spielt. Rohe Nahrungsmittel können aber auch
fester sein, so dass der Koch, um im Bild zu bleiben, lauter spielen, das
heißt mehr Druck vom Ellbogen her ausüben muss, um ein kulinarisches
forte hervorzubringen. Beim Schneiden von Nahrungsmitteln wie beim
Anschlag eines Akkords liegt die Grundlinie der physischen Kontrolle, also
deren Ausgangspunkt, in Berechnung und Einsatz der geringstmöglichen
Kraft. Der Koch beginnt mit dem geringsten Krafteinsatz und verstärkt
ihn bei Bedarf. Das hat er gelernt, weil er sich bemüht, das Schneidgut
nicht zu beschädigen. Zerquetschtes Gemüse lässt sich nicht retten, doch
wenn ein Stück Fleisch nicht beim ersten Schlag zerschnitten ist, kann
man einenzweiten, kräftigeren Schlag ansetzen.
Der Gedanke des minimalen Krafteinsatzes als Grundlinie der Selbstbeherrschung findet sich auch in dem apokryphen, aber vollkommen logischen Rat der alten chinesischen Kochkunst, wonach der Koch erst einmal
lernen müsse, ein gekochtes Reiskorn mit dem Hackmesser zu zerlegen.
Bevor wir den Implikationen dieser handwerklichen Regel nachgehen,
müssen wir zunächst ein physisches Korrelat zur minimalen Kraftanwendung besser verstehen, und zwar die Entlastung. Wenn der Koch das
Hackmesser nach dem Schlag unten hält wie der Zimmermann den Hammer, verhindert er das Zurückprallen des Werkzeugs. Dabei treten über
die gesamte Länge des Unterarms Belastungen auf. Aus physiologischen
Gründen, die wir noch nicht vollständig verstehen, erhöht die Fähigkeit,
den Krafteinsatz innerhalb einer Millisekunde nach deren Anwendung abzubrechen, auch die Präzision der ausgeführten Geste. Sie verbessert die
Zielsicherheit. Beim Klavierspielen etwa, wo das Niederdrücken und Loslassen der Taste eine einzige Bewegung darstellt, muss der Fingerdruck in
dem Augenblick abbrechen, da die Fingerspitze die Taste berührt, damit
die Finger leicht und geschmeidig zur nächsten Taste gleiten können. Bei
Saiteninstrumenten vermag die Hand beim Übergang zu einer neuen Note
nur dann einen sauberen Ton hervorzubringen, wenn sie die gedrückte
Saite eine Mikrosekunde vorher loslässt. Für die musizierende Hand sind
klare, leise Töne daher schwieriger hervorzubringen als laute, kräftige.
Das Schlagen beim Kricket oder Baseball erfordert ein ähnliches Geschick
bei der Druckentlastung.
238 — 239
Richard Sennett
26
John Stevens: Zen Bow,
Zen Arrow: The Life and
Teachings of Awa Kenzo.
London 2007.
27
Elias: Der Prozeß der Zivilisation, Bd. 1, S. 166.
In der Bewegung der Einheit aus Hand, Handgelenk und Unterarm
spielt die Prehension bei der Druckentlastung eine entscheidende
Rolle. Sie erfordert dieselbe Antizipation wie beim Greifen nach einer
Tasse, nur in umgekehrter Reihenfolge. Schon wenn der Schlag unmittelbar bevorsteht, bereitet das Ensemble aus Hand und Unterarm sich
auf den nächsten Schritt vor, die Druckentlastung in der Millisekunde
unmittelbar vor dem Kontakt. Zu der von Raymond Tallis beschriebenen Berücksichtigung des Objekts kommt es genau in diesem Schritt,
wenn das Arm-Ensemble die Griffspannung zurücknimmt, so dass der
Hammer oder das Hackmesser nicht mehr so fest gehalten wird.
Der Rat, ein gekochtes Reiskorn mit dem Hackmesser zu zerlegen,
steht also für zwei eng miteinander verbundene körperbezogene Regeln: Schaffe eine Grundlinie des geringsten nötigen Krafteinsatzes!
Und lerne loszulassen! In technischer Hinsicht geht es hier um die Kontrolle von Bewegungen, doch der Vorgang hat eine Vielzahl menschlicher Implikationen – mit denen die antiken Autoren der chinesischen
Kochkunst vertraut waren. Das Tschuangtzu rät, sich in der Küche
nicht wie ein Krieger aufzuführen, und der Taoismus knüpft daran
eine ganze Ethik für Homo faber: Ein aggressiver, auf das Brechen von
Widerständen ausgerichteter Umgang mit natürlichen Materialien ist
kontraproduktiv. Der japanische Zen-Buddhismus nutzte dieses Erbe
später, um am Beispiel des Bogenschießens die Ethik des Loslassens
zu erkunden. In physischer Hinsicht steht im Mittelpunkt dieses Sports
dieS pannungsentlastung beim Loslassen der Bogensehne. ZenAutoren betonen das Fehlen jeglicher physischen Aggression und die
gelassene Ruhe, die diesen Augenblick kennzeichnen müssen. Dieser
Gemütszustand sei notwendig, wenn der Bogenschütze dasZiel genau
treffen wolle.26
Auch in westlichen Gesellschaften diente der Gebrauch des Messers als
kulturelles Symbol für ein Minimum an Aggression. Norbert Elias fand
heraus, dass die Europäer die Gefahren des Messers im Frühmittelalter
recht pragmatisch einschätzten. Der von ihm so genannte „Prozeß der
Zivilisation“ begann, als das Messer eine stärker symbolische Bedeutung erhielt, die dem kollektiven Denken sowohl das Übel spontaner
Gewalt als auch die geeigneten Heilmittel dagegen vor Augen führte.
„Die Gesellschaft, die in dieser Zeit mehr und mehr die reale Bedrohung
der Menschen einzuschränken… beginnt, umgibt mehr und mehr auch
die Symbole, die Gesten und Instrumente der Bedrohung mit einem
Zaun“, schreibt Elias. „Die Einschränkungen, die Verbote um den Gebrauch des Messers, mit ihnen die Zwänge, die man dem Einzelnen
auferlegt, wachsen.“27 Damit meint er zum Beispiel, dass man um 1400
Messerstechereien bei Gastmählern als normal empfand, während
man um 1600 die Stirn darüber runzelte. Oder auch, dass ein Mann um
1600 nicht gleich die Hand an den Knauf seines Degens legte, wenn er
nachts auf der Straße einem Fremden begegnete.
28
Ebda., Bd. 2, S. 398.
Ein „wohlerzogener“ Mensch disziplinierte seinen Körper in den elementarsten biologischen Bedürfnissen – im Unterschied zu Flegeln, Tölpeln
und Bauern, die angeblich ungeniert furzten oder sich die laufende Nase
am Ärmel abwischten. Eine Folge solcher Selbstbeherrschung war die
Entlastung der Menschen von aggressiver Spannung. Der Umgang des
Kochs mit dem Hackmesser macht diese sonderbare Aussage verständlicher: Selbstbeherrschung geht mit Entlastung einher.
Als Elias die Entstehung der höfischen Gesellschaft im 17. Jahrhundert
untersuchte, stellte er erstaunt fest, dass diese Verknüpfung zum Definitionsmerkmal des gesitteten Aristokraten geworden war: entspannt im
Umgang mit anderen und selbstbeherrscht. Richtig zu essen war eine der
sozialen Fertigkeiten des Aristokraten. Dass die Tischmanieren zum Kennzeichen des Aristokraten wurden, war deshalb möglich, weil die Gefahr
körperlicher Gewalt in der auf Höflichkeit bedachten Gesellschaft abnahm
und die gefährlichen Fertigkeiten, die mit dem Messer assoziiert wurden,
an Bedeutung verloren. Als sich im 18. Jahrhundert das bürgerliche Leben
entwickelte, stieg der Kodex eine soziale Stufe hinab und veränderte
nochmals seinen Charakter. Gelassene Zurückhaltung wurde nun zum
Kennzeichen der von den Philosophen gefeierten „Natürlichkeit“. Der Tisch
und die dort herrschenden Manieren taugten auch weiterhin als Mittel der
gesellschaftlichen Abgrenzung. So beachtete man in der Mittelschicht die
Regel, wonach man nur solche Speisen mit dem Messer schneiden soll,
die sich nicht mit der stumpferen, aber feineren Kante der Gabel zerlegen
lassen, und man schaute auf die niederen Stände herab, die das Messer
wie einen Spieß benutzten.
Elias ist ein bewundernswerter Historiker, aber ich fürchte, als Analytiker
des sozialen Lebens, das er so lebendig beschreibt, irrt er. Er behandelt
zivilisiertes Verhalten als ein dünnes Furnier, unter dem ein solideres und
persönlicheres Erleben liege: die Scham, der wirkliche Katalysator der
Selbstdisziplin. Seine Geschichten über das Rotzen, Furzen und Pinkeln
in der Öffentlichkeit und die Entwicklung der Tischsitten haben ihren Ursprung sämtlich in der Scham hinsichtlich natürlicher Körperfunktionen
und deren spontanem Ausdruck. Der „Prozeß der Zivilisation“ unterdrückt
Spontaneität. Elias sieht in der Scham eine nach innen gerichtete Emotion. „Dem entspricht“, so schreibt er, „daß die Angst, die wir ›Scham‹
nennen, für die Sicht der Anderen in hohem Maße abgedämpft ist; so stark
sie sein mag, sie kommt nicht unmittelbar in lauten Gesten zum Ausdruck
…; der Konflikt, der sich in ›Scham-Angst‹ äußert …, ist ein Konflikt seines
eigenen Seelenhaushalts; er selbst erkennt sich als unterlegen an.“28
Im Blick auf die Aristokraten klingt das ein wenig falsch, während es
auf die Manieren der Mittelschicht schon eher zutreffen könnte. Das ist
jedoch keine Erklärung, die sich auf die entspannte Leichtigkeit oder die
Selbstbeherrschung anwenden ließe, nach denen der Handwerker strebt.
Nicht Scham veranlasst ihn, den minimalen Krafteinsatz und die zeitgerechte Entlastung zu erlernen. Schon rein physisch kann er unmöglich
240 — 241
Richard Sennett
29
Eine Darstellung des
Konflikts zwischen Powells
und Rumsfelds Strategien
in dem von Amerika 2003
im Irak begonnenen Krieg
findet sich in Michael R.
Gordon und Bernard E.
Trainor: Cobra II. New York
2006.
davon getrieben sein. Es gibt in der Tat eine Physiologie der Scham, die
sich durch die Anspannung der Muskeln in der Bauchdecke und an den
Armen erkennen lässt. Scham, Angst und Muskelanspannung bilden im
menschlichen Organismus eine unheilige Dreifaltigkeit. Die Physiologie
der Scham stünde der Freiheit körperlicher Bewegung im Wege, die der
Handwerker für seine Arbeit benötigt. Muskelanspannung ist tödlich für
physische Selbstbeherrschung. Positiv ausgedrückt, wenn die Muskeln
kräftiger und ihre Bewegungen feiner werden, fallen die zur Anspannung
der Muskeln führenden Reflexe nicht mehr so stark aus. Die physische
Aktivität wird geschmeidiger und weniger sprunghaft. Deshalb können
körperlich starke Menschen den minimalen Krafteinsatz besser steuern
als körperlich schwächere. Bei ihnen hat sich ein Gradient der Muskelkraft
herausgebildet. Gut entwickelte Muskeln sind außerdem eher in der Lage,
sich zu entspannen. Sie behalten ihre Form selbst dann, wenn sie loslassen. Auch der Handwerker des Wortes könnte diese mental gar nicht mehr
erkunden und gut nutzen, wenn er voller Angst wäre.
Um Elias Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, sollten wir einräumen, dass
Selbstbeherrschung zwei Dimensionen besitzt. Die eine ist eine soziale
Oberfläche, unter der sich persönliche Not verbirgt; die andere eine Realität, die mit sich selbst physisch und mental im Reinen ist und der Entwicklung der handwerklichen Fertigkeiten dient. Diese zweite Dimension
hat ihre eigenen sozialen Implikationen.
Militärische und diplomatische Strategien müssen ständig über Grade
roher Gewalt urteilen. Die Strategen, die 1945 die Atombombe einsetzten, gelangten zu der Einschätzung, dass nur der überwältigende Einsatz
von Gewalt die Japaner zur Kapitulation bewegen konnte. In der aktuellen
Militärstrategie der Vereinigten Staaten setzt die „Powell-Doktrin“ auf die
Einschüchterung durch eine große Zahl von Soldaten, während die Doktrin
des Shock and Awe Technologie an die Stelle der Soldaten setzt – einen
massiven und überfallartigen Einsatz automatischer Raketen und lasergesteuerter Bomben.29 Der Politikwissenschaftler und Diplomat Joseph
Nye hat einen alternativen Ansatz vorgeschlagen, den er als „soft power“
(weiche Macht) bezeichnet und der eher dem Vorgehen eines erfahrenen
Handwerkers ähnelt. Bei der Koordination der Hände geht es um die Ungleichheit der Kraftentfaltung. Wenn Hände ungleicher Stärke zusammenarbeiten, korrigieren sie die Schwäche. Eine zurückhaltende Kraft nach
Art des Handwerkers, gepaart mit Entspannung, bedeutet einen weiteren
Schritt. Durch die Kombination beider Momente entwickelt der Handwerker physische Selbstbeherrschung und erzielt eine höhere Präzision in der
Ausführung. Blinde, rohe Gewalt ist bei der Handarbeit kontraproduktiv.
All diese Elemente – Kooperation mit dem Schwachen, zurückhaltende
Kraft, Loslassen nach dem Angriff – sind im Konzept der soft power enthalten. Diese Doktrin versucht gleichfalls, kontraproduktive blinde Gewalt
zu überwinden. Das handwerkliche Können ist hier Bestandteil des politischen Handwerks, der Staatskunst.
Hand und Auge
Der Rhythmus der Konzentration
30
Siehe z. B. Neil Postman:
Amusing Ourselves to
Death: Public Discourse in
the Age of Show Business.
New York 1985; dt.: Wir
amüsieren uns zu Tode.
Frankfurt am Main 1985.
31
Daniel Levitin: This Is Your
Brain on Music. New York
2006, S. 193.
Das sogenannte Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom beunruhigt gegenwärtig zahlreiche Lehrer und Eltern. Dabei geht es um Kinder und Jugendliche, die ihre Aufmerksamkeit nur für kurze Zeit auf einen Gegenstand zu
richten vermögen. Als Ursache gelten einerseits Störungen des Hormonhaushalts, andererseits kulturelle Faktoren. Zu den kulturellen Faktoren
sichtete der Soziologe Neil Postman umfangreiche Forschungen über die
negativen Auswirkungen des Fernsehens auf Kinder.30 Qualifikationsforscher definieren die Aufmerksamkeitsspanne jedoch oft in einer Weise,
die kaum adäquat auf solche Befürchtungen von Erwachsenen eingehen
dürfte.
Wie zu Beginn des Buches schon angemerkt, wird oft behauptet, man brauche 10 000 Stunden, um ein Experte zu werden. In Studien über „Komponisten, Basketballspieler, Science-Fiction-Autoren, Eiskunstläufer … und
Meisterdiebe“, so schreibt der Psychologe Daniel Levitin, „wird diese Zahl
immer wieder genannt“.31 Dieser lange Zeitraum ist nach Ansicht von Forschern erforderlich, damit komplexe Fertigkeiten sich dem Körper so tief
einprägen, dass sie zu ständig abrufbarem implizitem Wissen werden. Aber
so gewaltig ist die Zahl eigentlich gar nicht – wenn wir von den Meisterdieben einmal absehen. 10 000 Stunden, das sind drei Stunden Übung am
Tag über einen Zeitraum von zehn Jahren hinweg, und das entspricht dem
üblichen Trainingspensum junger Sportler. Bei der siebenjährigen Lehrzeit
mittelalterlicher Goldschmiedeverteilt sich die Summe auf knapp fünf
Stunden täglich an der Werkbank, und das entspricht dem, was wir aus
mittelalterlichen Werkstätten wissen. Unter den strapaziösen Bedingungen der ärztlichen Ausbildung in Krankenhaus und Praxis lässt sich diese
Stundenzahl auf drei Jahre oder noch weniger komprimieren.
Die Besorgnis der Erwachsenen hinsichtlich des Aufmerksamkeitsmangels
betrifft eine sehr viel kürzere Zeitspanne. Dort stellt sich das Problem,
wie man ein Kind dazu bringen kann, sich auch nur eine Stunde lang zu
konzentrieren. Pädagogen versuchen oft, Kinder geistig und emotional für
bestimmte Dinge zu interessieren, um ihre Konzentrationsfähigkeit zu verbessern. Die Theorie, auf der solche Versuche basieren, besagt, dass ein
inhaltliches Engagement zur Konzentration führt. Die langfristige Entwicklung manueller Fertigkeiten zeigt jedoch die Kehrseite dieser Theorie. Die
Fähigkeit, sich über längere Zeit zu konzentrieren, stellt die Voraussetzung
dar. Erst wenn jemand dies kann, wird er sich geistig oder emotional auf
etwas einlassen. Die Fähigkeit der physischen Konzentration folgt eigenen
Regeln, die darauf basieren, wie jemand lernt, eine Tätigkeit zu üben, sie
ständig zu wiederholen und aus dieser Wiederholung zu lernen. Konzentration besitzt also eine innere Logik, und diese Logik lässt sich, wie ich
glaube, auf das stetige Arbeiten anwenden, ob es sich dabei nun um eine
Stunde oder um mehrere Jahre handelt.
242 — 243
Richard Sennett
32
Erin O’Connor: Embodied
Knowledge: The Experience
of Meaning and the
Struggle towards Proficiency in Glassblowing, Ethnography 6, Nr. 2 (2005), S.
183–204.
Zur Klärung dieser Logik können wir das Verhältnis zwischen Hand und Auge
weiter erkunden. Die Beziehungen zwischen diesen beiden Organen erlauben
es, den Übungsprozess dauerhaft zu organisieren. Wir könnten keine bessere
Anleitung finden als Erin O’Connors Analyse des Prozesses, in dem Hand
und Auge gemeinsam lernen, sich zu konzentrieren.32 Die philosophische
Glasbläserin untersuchte die Entwicklung lang anhaltender Aufmerksamkeit
an ihrem eigenen Kampf um die Formung eines bestimmten Weinglases. In
einer nüchternen Fachzeitschrift berichtet sie, dass sie seit langem italienische Barolo-Weine geschätzt und daher nach einem Weinglas gesucht habe,
das groß und rund genug war, die duftende „Nase“ des Weins zu fassen.
Um dieses Ziel zu erreichen, musste sie ihre Konzentrationsfähigkeit in ihrer
zeitlichen Dauer erweitern. Den Rahmen für diesen Lernprozess bildete der
kritische Augenblick im Handwerk des Glasblasens, wenn das geschmolzene
Glas als großer Tropfen am Ende des langen, schmalen Blasrohrs hängt. Das
zähflüssige Glas muss ständig gedreht werden, damit es nicht in eine Richtung herunterhängt. Um eine regelmäßige Kugel zu erzeugen, müssen die
Hände eine Bewegung ausführen,die dem schnellen Drehen eines Löffels in
einem Glas Honig gleicht. Der ganze Körper ist an dieser Bewegung beteiligt.
Damit es beim Drehen der Glasbläserpfeife nicht zu Verspannungen kommt,
muss der Glasbläser den Rücken über der Hüfte und nicht im oberen Bereich
beugen, ähnlich einem Ruderer, der sich vor dem Beginn des Zugs nach vorn
beugt. Diese Haltung verleiht dem Handwerker auch einen sicheren Stand,
wenn er das geschmolzene Glas aus dem Ofen zieht. Doch von entscheidender Bedeutung ist das Verhältnis zwischen Hand und Auge.
Als O’Connor lernte, ein Barolo-Glas zu blasen, durchlief sie mehrere Stadien
ähnlich jenen, die wir bei Musikern und Köchen beobachtet haben. Zunächst
musste sie einige beim Blasen einfacherer Stücke erworbene Gewohnheiten
rückgängig machen, damit sie erkennen konnte, weshalb sie scheiterte.
So entdeckte sie, dass die Bewegungen ihr bisher deshalb so leichtgefallen waren, weil sie zu wenig geschmolzenes Glas mit der Spitze der Pfeife
aufnahm. Sie musste ein besseres Bewusstsein für das Verhältnis zwischen
ihrem Körper und der zähflüssigen Masse entwickeln, als bestünde zwischen Fleisch und Glas ein bruchloser Übergang. Das klingt poetisch, doch
diese Poesie dürfte rasch verflogen sein, wenn ihr Mentor lautstark seine
Kommentare dazwischenrief: „Mach langsam, Trampel, ganz gleichmäßig!“
O’Connor ist eine zierliche, zurückhaltende Person, und so nahm sie lieber
keinen Anstoß an solchen Einwürfen. Ihre Koordination verbesserte sich
dadurch.
Nun war sie eher in der Lage, die Triade der „intelligenten Hand“ zu nutzen – die Koordination von Hand, Auge und Gehirn. Ihr Lehrer drängte: „Lass
das Glas nicht aus dem Blick! Es beginnt schon zu hängen.“ Das hatte zur
Folge, dass sie den Griff um das Rohr lockerte. Wenn sie das Rohr lockerer
hielt, etwa so wie der Koch das Hackmesser, gewann sie größere Kontrolle
darüber. Doch sie musste immer noch lernen, ihre Konzentrationsspanne zu
verlängern.
33
Ebda., S. 188–189.
34
Siehe Maurice MerleauPonty: Phénoménologie
de la perception. Paris
1945; dt.: Phänomenologie der Wahrnehmung.
Berlin 1966, 2. Teil, §12.
35
Michael Polanyi:
Personal Knowledge:
Towards a Post-Critical
Philosophy. Chicago
1962, S. 55.
Diese Verlängerung erfolgte in zwei Phasen. Zunächst verlor sie das
ständige Bewusstsein für den Kontakt des Körpers mit dem heißen
Glas und versenkte sich ganz in das Material als Ziel an sich. „Mein
Bewusstsein für das Gewicht der Pfeife in meiner Hand nahm ab, und
an dessen Stelle verstärkte sich die Empfindung für die Kante des
Rings in der Mitte der Pfeife, für das Gewichtdes Glases, das sich an
der Spitze der Pfeife sammelte, und schließlich für das sich formende
Weinglas.“33 Der Philosoph Maurice Merleau-Ponty beschreibt die Erfahrung, „wie ein Ding zu sein“.34 Der Philosoph Michael Polanyi bezeichnet dies als „fokales Bewusstsein“ und erläutert es am Beispiel
des Einschlagens eines Nagels: „Wenn wir den Hammer niedergehen
lassen, haben wir nicht das Gefühl, dass der Stiel unserer Handfläche
einen Schlag versetzt, sondern der Hammerkopf dem Nagel … Ich habe
ein Nebenbewusstsein für das Gefühl in meiner Handfläche, eingebunden in mein fokales Bewusstsein vom Einschlagen des Nagels.“35
Anders ausgedrückt, wir sind ganz in etwas versunken und nicht mehr
unserer selbst bewusst, auch nicht unseres körperlichen Selbst. Wir
sind zu dem Ding geworden, an dem wir arbeiten.
Diese vertiefte Konzentration musste nun zeitlich ausgedehnt werden.
Das Problem, das O’Connor lösen musste, war das Ergebnis eines weiteren Scheiterns. Obwohl es ihrem durch eine gute Körperhaltung entspannten und in das Tun versenkten Selbst gelungen war, das Glas zu
einer Kugel zu formen und in die gewünschte Barolo-freundliche Form
zu bringen, wirkte es nach dem Abkühlen „schief und unförmig“, so
dass ihr Lehrmeister statt von einem goblet (Pokal) von einem globlet
(Kügelchen) sprach.
Wie sie schließlich herausfand, lag das Problem in jener Phase des
„Wie-ein-Ding-Seins“. Wollte sie besser werden, musste sie vorwegnehmen, wozu das Material in seiner nächsten, noch nicht existenten
Entwicklungsphase werden sollte. Ihr Lehrer nannte das einfach „Dranbleiben“. In ihrer eher philosophischen Denkweise begriff sie, dass sie
in einem Prozess „körperlicher Antizipation“ stand und dem Material
– erst im schmelzflüssigen Zustand, dann als Kugel, dann als Kugel
mit Stiel und schließlich mit Stiel und Fuß – stets einen Schritt voraus
sein musste. Sie musste diese Prehension zu einem permanenten Geisteszustand machen, und sie lernte dies, erfolgreich oder scheiternd,
indem sie immer wieder solch eine Kugel blies. Auch nach dem ersten,
auf Zufall beruhenden Erfolg musste sie immer weiterüben, damit sie
Sicherheit im Aufnehmen der Schmelze, im Blasen der Kugel und im
Drehen des Rohrs entwickelte. Das ist Wiederholung um ihrer selbst
willen. Wie bei den Zügen eines Schwimmers wird die bloße Wiederholung der Bewegung als solche zu einem Genuss.
Wie Adam Smith in seiner Darstellung der Industriearbeit könnten wir
nun meinen, Routine sei geisttötend und ein Mensch, der eine Tätigkeit
ständig wiederholt, nehme psychisch Schaden. Wir könnten Routine mit
244 — 245
Richard Sennett
Langeweile gleichsetzen. Für Menschen, die komplizierte Handfertigkeiten entwickeln, ist sie nichts dergleichen. Etwas immer wieder zu tun ist
anregend, sofern diese Tätigkeit im Blick nach vorn organisiert wird. Die
Substanz der Routine mag sich verändern, wandeln oder verbessern, der
emotionale Lohn aber ist die Erfahrung, es immer wieder zu tun. Diese
Erfahrung ist keineswegs sonderbar. Wir alle kennen sie, und sie hat
einen Namen: Rhythmus. Die Kontraktionen unseres Herzens gebenden
Rhythmus vor, der Handwerker dehnt ihn auf Hand und Kopf aus.
Der Rhythmus hat zwei Komponenten: Schlagen nach einem Takt und
Tempo, also die Geschwindigkeit, mit der wir etwas tun. In der Musik
steht der Tempowechsel innerhalb eines Stücks für Antizipation und
den Blick nach vorn. Die Bezeichnungen ritardando und accelerando
verpflichten den Musiker, sich auf einen Wechsel vorzubereiten. Diese
großen Tempowechsel sorgen dafür, dass er in seiner Aufmerksamkeit
nicht erlahmt. Dasselbe gilt für den Rhythmus im Kleinen. Wenn Sie
einen Walzer streng nach dem Takt eines Metronoms spielen, wird es
Ihnen immer schwerer fallen, sich darauf zu konzentrieren. Um einen
regelmäßigen Takt zu schlagen, bedarf es winziger Verzögerungen und
Beschleunigungen. Der regelmäßige Takt entspricht der im letzten Kapitel angesprochenen Typenform. Tempowechsel stehen dagegen für die
verschiedenen Varianten, die aus solch einem Typus hervorgehen. Prehension hat ihren Fokus auf dem Tempo. Der Musiker konzentriert sich in
produktiver Weise.
Der Rhythmus, der O’Connors Aufmerksamkeit wachhielt, lag in ihrem
Auge, das die Hand disziplinierte, sie ständig überwachte und beurteilte,
ihre Bewegungen anpasste und damit das Tempo vorgab. Kompliziert
wird die Sache dadurch, dass sie sich ihrer Hände nicht mehr bewusst
war und dass sie nicht mehr darüber nachdachte, was die Hände taten.
Ihr Bewusstsein war ganz darauf gerichtet, was sie sah. Die eingeschliffenen Handbewegungen waren Bestandteil des Vorausschauens geworden.
Beim Orchester scheint der Dirigent dem Musiker nur ganz wenig voraus
zu sein. Er zeigt den Ton an, und auch hier registriert der Ausführende
das Signal eine Mikrosekunde, bevor er den Ton produziert.
Ich fürchte, mein Darstellungsvermögen hat in der Beschreibung des
Rhythmus und seiner Bedeutung für die Konzentration seine Grenzen
erreicht, und ganz sicher klingt diese Erfahrung hier abstrakter, als sie in
Wirklichkeit ist. Die Zeichen der Konzentration beim Üben einer Tätigkeit
sind konkret genug. Wer es gelernt hat, sich ausreichend zu konzentrieren, zählt nicht, wie oft er eine Bewegung auf Befehl des Ohrs oder des
Auges wiederholt. Wenn ich beim Cellospiel tief ins Üben versenkt bin,
möchte ich eine Bewegung immer wieder ausführen, damit sie besser
wird, aber auch damit ich sie immer wieder besser ausführen kann. Genauso ergeht es O’Connor. Sie zählt nicht, wie oft sie es tut, sie will nur
die Glasbläserpfeife in Händen halten und sie drehen und hineinblasen.
Doch das Tempo gibt ihr Auge vor. Wenn die beiden Elemente des Rhyth-
mus sich beim Üben verbinden, kann der Übende seine Aufmerksamkeit
über eine lange Zeitspanne aufrechterhalten und eine Verbesserung erreichen.
Welche Bedeutung kommt hier dem Übungsstoff zu? Übt sich eine dreiteilige Invention von Johann Sebastian Bach besser als eine Etüde von
Ignaz Moscheles, weil sie bessere Musik ist? Nach meiner Erfahrung
lautet die Antwort nein. Der Rhythmus des Übens, der ein Gleichgewicht
zwischen Wiederholen und Antizipieren herstellt, sorgt von sich aus für
Engagement. Wer als Kind Latein oder Griechisch gelernt hat, dürfte eine
ähnliche Erfahrunggemacht haben. Das Lernen war zu einem Großteil
rein mechanisch und der Stoff sehr entlegen. Erst nach und nach half
uns die Routine, die uns befähigte, Griechisch zu lernen, Interesse an
einer seit langem verschwundenen Kultur zu entwickeln. Wie bei anderen
Lernenden, die einen Stoff noch nicht inhaltlich erfasst haben, gilt es zunächst, sich konzentrieren zu lernen. Das Üben hat eine eigene Struktur
und ein eigenes, darin angelegtes Interesse.
Die praktische Bedeutung solcher fortgeschrittenen Handfertigkeit für
Menschen, die mit dem Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom umzugehen
haben, liegt darin, dass sie die Aufmerksamkeit auf die Organisation von
Übungsstunden lenken. Mechanisches Lernen ist nicht an sich der Feind.
Übungsstunden lassen sich interessant gestalten, wenn man darin für
einen inneren Rhythmus sorgt, so kurz er auch sein mag. Die komplizierten Tätigkeiten des Glasbläsers oder des Cellisten lassen sich so vereinfachen, dass sie eine ähnliche zeitliche Strukturierung aufweisen. Wir
erweisen Menschen, die unter mangelnder Aufmerksamkeit leiden, einen
schlechten Dienst, wenn wir verlangen, dass sie eine Sache verstehen,
bevor sie sich darauf einlassen.
***
Es mag der Eindruck entstehen, dass dieses Verständnis guten Übens
der Verbindlichkeit zu geringe Bedeutung beimisst, doch ein verbindliches Engagement dieser Art hat zwei Seiten: die Entscheidung, dass eine
Sache es wert sei, getan zu werden, oder dass eine bestimmte Person es
wert sei, Zeit mit ihr zu verbringen; und die Pflicht, die wir gegenüber
einer Sitte oder den Bedürfnissen eines Menschen empfinden. Der Rhythmus organisiert eine Verbindlichkeit im zweiten Sinne. Wir lernen, wie
wir eine Pflicht immer wieder erfüllen. Theologen haben schon vor langer
Zeit gezeigt, dass religiöse Rituale wiederholt werden müssen, wenn sie
Überzeugungskraft erlangen sollen: Tag für Tag, Monat für Monat, Jahr
für Jahr. Die Wiederholung sorgt für Stabilität, doch in der religiösen
Übung wird sie deshalb nicht schal. Der Zelebrierende antizipiert jedes
Mal, dass etwas Bedeutendes geschehen wird.
Ich spreche dieses weite Feld unter anderem deshalb an, weil das Üben
beim Wiederholen einer musikalischen Phrase, beim Schneiden von
246 — 247
Richard Sennett
Fleisch oder beim Blasen eines Weinglases etwas von einem Ritual an
sich hat. Wir haben unsere Hand durch das Wiederholen trainiert. Wir
sind aufmerksam statt gelangweilt, weil wir die Fähigkeit der Antizipation entwickelt haben. Doch auch wer gelernt hat, einer Pflicht immer
wieder nachzukommen, hat eine technische Fertigkeit erworben, das
rhythmische Vermögen des Handwerkers, ganz gleich, an welchen Gott
oder an welche Götter er glauben mag.
***
In diesem Kapitel bin ich ausführlich der Vorstellung einer Einheit von
Kopf und Hand nachgegangen. Diese Einheit prägte die Ideale der Aufklärung im 18. Jahrhundert, und Ruskin gründete darauf im 19. Jahrhundert seine Verteidigung der Handarbeit. Dabei sind wir ihrem Weg allerdings nicht ganz gefolgt, denn wir haben Formen mentalen Verstehens
skizziert, die aus der Entwicklung seltener und sehr spezieller manueller
Fertigkeiten hervorgehen, wie sie erforderlich sind, um Töne genau zu
treffen, ein Reiskorn mit dem Hackmesser zu zerlegen oder ein schwieriges Weinglas zu blasen. Doch auch solche virtuosen Fähigkeiten basieren
auf grundlegenden Eigenschaften des menschlichen Körpers.
Konzentration sorgt für die Vollendung bestimmter Linien in der Entwicklung manueller Fertigkeiten. Die Hand musste zunächst durch Berührung
experimentieren, allerdings nach einem objektiven Maßstab. Sie lernte,
Ungleiches zu koordinieren. Sie lernte minimalen Krafteinsatz und Entlastung. Dadurch erwirbt die Hand ein Repertoire erlernter Gesten. Diese
Gesten lassen sich weiter verfeinern oder auch revidieren innerhalb des
rhythmischen Prozesses, zu dem es beim Üben kommt und der das Üben
unterstützt. Bei jedem dieser Schritte spielt Prehension eine wichtigeRolle, und jeder Schritt hat zahlreiche ethische Implikationen.
250 — 251
Think Global, Fabricate Local?
Auf den Spuren des „schaffenden Menschen“
in der Region Liezen
Elke Murlasits
Dreh- und Angelpunkt unseres Projektes war die Auseinandersetzung
mit dem Menschen als Subjekt, als Gestalter/in und Akteur/in seines/
ihres Lebens. Inspiration und Reverenz nahmen wir dafür beim Konzept
der Vita activa, das Hannah Arendt in ihrem epochemachenden gleichnamigen Buch präzisiert. Drei „menschliche Grundtätigkeiten“ seien es, die
die Vita activa ausmachen: das Arbeiten, Herstellen und Handeln.
Wir haben uns speziell auf das Herstellen konzentriert, wobei die Grenzen der Idee des praktischen, des realen Schaffens erweitert wurden.
Abseits tatsächlicher physischer Produkte rückte die das Leben an sich
bestimmende Frage in den Vordergrund: Wozu etwas schaffen? Was ist
der Sinn, der Nutzen, die Funktion des Herstellens? Welche zusätzliche
Bedeutung wird dem Hergestellten, dem Geschaffenen zugewiesen? Was
schafft sich der Mensch eigentlich? Was bedeutet das Geschaffene für
andere bzw. wie nimmt es auf das Leben dieser anderen Einfluss?
Sechs Künstler/innen-Formationen stellten sich diesen Fragen in einzelnen Kunstprojekten, die sie in engem Dialog gemeinsam mit und aus der
Bevölkerung generierten. Dabei wurden sie von einem Team von Kulturwissenschafterinnen und -wissenschaftern begleitet, das die Gespräche
mit den Menschen vor Ort intensivierte und erweiterte. Auf diese Art
und Weise konnten auch vier zentrale Themenfelder in den Arbeiten der
Künstler/innen festgemacht und in einem Ausstellungsteil präsentiert
werden:
a) Der schaffende Mensch als Gestalter/in seiner/ihrer Landschaft
b) Der schaffende Mensch als Garant/in seiner/ihrer Sicherheit
c) Der schaffende Mensch als Produzent/in seiner/ihrer zweiten Haut
d) Der schaffende Mensch als Gestalter/in seiner/ihrer Lebensräume
Der Mensch und die Landschaft
Die Vorstellung der nicht von Menschenhand geformten Natur, der Landschaft als gewachsene physische Umwelt, als steingewordener Rahmen
unseres Seins ist nicht erst seit der Einführung von Flussbettregulierungen und Autobahnen obsolet. Der Mensch hat mit seiner Kultur im weitesten Sinn immer schon in die Landschaft eingegriffen, sie geformt, sie
nutzbar gemacht. Ob nun im Dienste der zu steigernden landwirtschaftlichen Produktion feuchte Wiesen trocken gelegt, Flüsse umgeleitet oder
Wälder abgeholzt wurden. Gerade in der montanen und wenig urbanisierten Region Liezen, in der einerseits die Natur so definitionsmächtig,
aber auch so schützenswert ist, ist der Kampf um die Gestaltungshoheit
der Landschaft ein ganz zentraler. Wer darf wo eingreifen, was regulieren, zu welchem Zweck adaptieren? Darf Natur zur Schaffung von Privatheit ge-/miss-/braucht werden, wie es Franz Kapfer in seiner Arbeit
beobachtet? Was bedeutet es, wenn sich Nutzung und Bedeutung eines
Ortes innerhalb der Landschaft verändern, wenn dieser Ort z. B. zu einem
Verkehrsknotenpunkt werden soll, an dem sich die Geister scheiden, so
wie es Katařina Šedá für den geplanten Kreisverkehr vor dem Schloss
Trautenfels erkannt hat?
Um diesen Fragen auf den Grund zu gehen, hat unter anderem Gundi
Jungmeier Aktivistinnen und Aktivisten sowie Funktionärinnen und
Funktionäre rund um die Natura 2000 und die Ennsnahe Trasse interviewt und lässt diese in ihrem Ausstellungs- und Katalogbeitrag zu Wort
kommen.
Der Mensch und sein Überleben
Der Mensch schafft sich nicht nur die Dinge seines täglichen Lebens, er
schafft sich auch ein System der Ordnung und Sinnhaftigkeit, das ihm
Orientierung und Sicherheit gewährleistet. Früher waren es die Kirche
oder der unantastbare Erfahrungsschatz der Älteren, der Schicksalsschlägen eine Bedeutung zuwies und damit erträglich machte. Heute
dreht sich das Leben vordergründig darum, solche Ereignisse präventiv
zu vermeiden. Radfahrhelme und Sicherheitsgurte bewahren Menschen
vor Verletzungen, Pestizide wehren Schädlinge ab und Impfungen schützen Mensch und Vieh vor Erkrankungen. Der Mensch hat eine Reihe praktischer Sicherheitsmechanismen geschaffen – sie sollen das abwenden,
wogegen eigentlich doch im Vorfeld eine Versicherung abgeschlossen
wurde. Doch was verschafft uns tatsächlich Sicherheit? Und was würden wir opfern, abseits der monatlichen Versicherungsbeiträge, damit
wir (uns) „sicher“ sind? Maria Papadimitriou hat Teile der Liezener Bevölkerung dahingehend befragt, welche Systeme der Sicherheit sie sich
geschaffen haben. Im Mittelpunkt standen dabei vordergründig Landwirtinnen und -wirte, die in ihrem Arbeitskreislauf auf die oft unberechen-
252 — 253
Elke Murlasits
bare und nicht immer beherrschbare Natur angewiesen sind. Gernot Rabl
hat mit diesen Interviews gearbeitet und über Glaube und Aberglaube
reflektiert.
Des Menschen alte und neue Kleider
Etwas scheinbar so banales wie unser „Gewand“, unsere Kleidung, muss
mannigfaches leisten: vor Wind und Wetter ebenso wie vor Schmutz und
Kälte schützen, Schweiß abführen und Feuchtigkeit abweisen. Nicht umsonst wird die Kleidung auch als „zweite Haut“ bezeichnet.
Unsere Kleidung, und da nicht nur die sogenannte „Funktionswäsche“,
muss auch inhaltlich mehrere Funktionen erfüllen: Sie muss unsere
Scham bedecken, uns vor übergriffigen Blicken schützen, kommunizieren, wer wir sind, oft auch woher wir kommen, was wir wollen und wozu
wir da sind.
Gerade traditionelle Stoffe und Kleidung wie der Loden oder die Tracht
sind sehr stark dieser bewussten Sinnstiftung und Sinnkommunikation,
mit diesen zusätzlichen inhaltlichen Bedeutungszuschreibungen, unterworfen. An dieser per Definition für eine Region/Berufsgruppe/Zeit/etc.
typischen Kleidung kann sehr viel über das Selbstbild eben dieser Zeiten, Gruppen und Individuen abgelesen werden. Was bedeutet es aber,
wenn diese Kleidung auch noch in Handarbeit produziert wird? Wenn die
Arbeit, der Aufwand, die Sorgfältigkeit nicht in ein unbekanntes Land
zu Minimallöhnen vergeben, abgeschoben, sondern erfahrbar, sichtbar
wird? Christian Philipp Müller hat für seine künstlerische Arbeit viele
Gespräche mit Produzierenden und Trägerinnen und Trägern von Tracht
und Loden geführt, Günther Marchner hat ihn dabei unterstützt und
dabei die Abgründe und Hochebenen politischer Vereinnahmung bis zu
emanzipierter Selbstdefinition ausgeleuchtet und in seinem Beitrag über
die „Karriere des Lodens“ verarbeitet. Ebenso wurden die Mitglieder des
Vereins Schloss Trautenfels um ihren ganz persönlichen Standpunkt zu
Tracht und Loden befragt.
Der Mensch und seine Architektur_en
Architektur ist nun unbestreitbar ein vom Menschen geschaffenes Werk.
Doch wie wir uns diese Architektur zu eigen machen, wie wir sie benutzen
(dürfen), das wird durch deren und unsere Aufgabe definiert.
Für öffentliche Gebäude wie die Schauräume eines Schlosses oder ein Museum gelten klar geregelte Verhaltensmuster, die – nicht nur, aber auch –
durch künstlerische Interventionen wie die vom Künstler/innen-Paar Lang
& Baumann (L/B) unterwandert werden können. Architekturen können
„falsch“ verwendet, subversiv miss-/gebraucht werden oder ihre Funktion
– zumindest temporär – umgewandelt werden. Da muss sich der Mensch
aber schon auch aktiv neue Perspektiven und Interpretationen schaffen.
Einfacher hingegen ist die Nutzung des Privatraums, der ja dazu geschaffen wurde, um ganz privat, um ganz sie/er selbst zu sein. Franz
Kapfer hat sich in der Recherchephase für seine Arbeit mit Mustern in der
vielleicht typischen regionalen Privatarchitektur auseinandergesetzt, die
sich nach außen hin – gleich einer Wehranlage – dem Fremden gegenüber
klar abgrenzt.
Gundi Jungmeier hingegen hat die Fragestellung umgedreht und Fremde,
die sich in der Region Liezen – also aus deren Sicht „in der Fremde“ –
Privatraum geschaffen haben, befragt. Auszüge der Interviews sind im
Katalog zu finden, die Filmdokumentation in der Ausstellung zu sehen.
Die Schüler/innen der VS Unterburg haben mit Wolfgang Otte und ihrer
Lehrerin Maria Mössner das Schloss Trautenfels von einer unbekannten
Seite kennengelernt. Ihre Eindrücke haben sie für uns fotografisch festgehalten und in spannenden Aufsätzen dokumentiert. Gernot Rabl hat
der Architektur des Schlosses in seinem Beitrag ebenfalls ein besonderes
Augenmerk geschenkt.
Hier ist es endlich Zeit, sich bei all jenen zu bedanken, die uns bei den
vorhin genannten Projekten unterstützt haben und erst den Inhalt dieser
überaus spannenden Arbeiten geliefert haben. Danke an all die Interviewpartner/innen, die uns Einblick in ihr Leben und ihre Arbeiten gewährt
haben, uns ihre Zeit geschenkt und ihre Wohnungen geöffnet haben.
Danke auch an alle, die Fotos und Informationen bereitgestellt haben
und besonders an die Schüler/innen der VS Unterburg, die ihrer Fantasie
freien Lauf gelassen und das Schloss für uns neu entdeckt haben.
254 — 255
Kurzer historischer Aufriss zur
Geschichte von Schloss Trautenfels
in Verbindung mit klassischen
Architektur- und Raumfragen
Gernot Rabl
Sabina Lang und Daniel Baumann (L/B) greifen mit ihren Installationen in
ein bereits existierendes Gebäude sowie einen klar definierten Raum ein
und lassen die sich daraus ergebenden Wechselbeziehungen zwischen
Schloss, Raum und Objekt bewusst in Schwebe. Die vertraute Sichtweise
des vor allem durch die erhöhte Lage weit über dem Ennstal erkennbaren
Schlosses wird durchbrochen. Die durch L/B erfolgten Eingriffe sorgen für
eine geänderte Wahrnehmung und lassen klassische Architekturfragen
nach Konstruktion, Raum, Positionierung, Form und Funktion aufkommen, die in einem unmittelbaren Zusammenhang mit der repräsentativen
Architektur und der Geschichte des Schlosses stehen.
Bereits im Jahre 1261 wurde an dieser Stelle zum ersten Mal eine Burg
Neuhaus urkundlich erwähnt. Die Burg – an einer strategisch wichtigen
Stelle errichtet – stand rasch im Spannungsfeld zwischen dem Salzburger Bischofssitz, dem Herzogtum Steiermark und den Habsburgern, galt
es doch, den Kreuzungspunkt der Salzstraße mit der Strecke durch das
Ennstal, den Ennsübergang und die wenige Kilometer westlich gelegene
steirische Landesgrenze abzusichern.
Auf kriegerische Auseinandersetzungen folgte am Ende des 13. Jahrhunderts nach dem Erzbistum Salzburg die endgültige Übernahme durch
das Landesfürstentum Steiermark. Im Zuge der immer wiederkehrenden
Machtkämpfe wurde die Burg allerdings völlig zerstört und erlangte nach
dem Wiederaufbau nicht mehr dieselbe strategische Bedeutung.
Ende des 15. Jahrhunderts trat die Familie Hoffmann, eine der reichsten
und mächtigsten Adelsfamilien der Steiermark, als neuer Besitzer auf.
Sie waren bedeutende und einflussreiche Förderer des protestantischen
Glaubens und ließen im 16. Jahrhundert unweit der Burg eine evangelische Kirche errichten, wodurch Neuhaus während der Reformation zu
einem Zentrum des neuen Glaubens wurde. Mit der Zerstörung der Kirche
(1599) verlor Neuhaus allerdings in der darauffolgenden Gegenreformation wieder an Bedeutung.
Nach einigen Jahrzehnten unterschiedlicher Burgpfleger fiel die Anlage
1664 in den Besitz der Familie Trauttmansdorff. Unter Siegmund Friedrich von Trauttmansdorff, dem damaligen steirischen Landeshauptmann,
erfolgte der Umbau der Burg zu dem heutigen barocken Schloss und
erhielt den Namen Trautenfels. Trauttmansdorff verpflichtete um 1670
den Tessiner Maler Carpoforo Tencalla für die Gestaltung der Fresken
des Marmorsaales, der Schlosskapelle sowie für zwei weitere Räume des
Schlosses; für die Stuckaturen zeichnete Alessandro Sereni verantwortlich. Bis 1815 blieb das Schloss Eigentum der Familie Trauttmansdorff.
Nach zahlreichen Besitzerwechseln war das Schloss schließlich im Besitz
der Familie Lamberg, den letzten adeligen Eigentümern des Schlosses.
Unter Graf Josef Lamberg (Besitzer von 1878 bis 1904) wurde Schloss
Trautenfels umfassend renoviert, wohnlich ausgestattet und unter anderem mit einer Zentralheizung versehen. Durch die Mitgift seiner Frau
Anna und sein eigenes Vermögen war ihm die dringende Restaurierung
des damals stark vernachlässigten Gebäudes möglich geworden.
Seine Gattin Anna führte den Besitz nach seinem Tod bis 1941 weiter,
ehe sie aus finanziellen Gründen das Schloss an die Deutsche Reichspost verkaufen musste. Aufgrund der Kriegslage war das geplante Erholungs- bzw. Postkongressheim nicht realisierbar, weshalb die Republik Österreich als anschließender Eigentümer die Liegenschaft an das
steirische Jugendherbergswerk verkaufte. Dieses zog nach dem Zweiten
Weltkrieg ein, konnte aber ebenfalls die Erhaltung nicht über längere
Zeit finanzieren, sodass das Schloss 1983 in den Besitz der öffentlichen
Hand gelangte.
In den 1950er-Jahren erfolgte schließlich der Aufbau des Schlosses zu
einem Regionalmuseum für das steirische Ennstal und das Salzkammergut, als eine Abteilung des Steiermärkischen Landesmuseums Joanneum,
seit 2009 Universalmuseum Joanneum. Die Eröffnung fand am 9. August
1959 statt, wobei bereits von Beginn an eine starke Bindung der Bevölkerung an „ihr“ Museum festzustellen war.
Im Jahr 1983 erwarb die Gemeinde Pürgg-Trautenfels mit Unterstützung
des Landes das Schloss, und im selben Jahr konstituierte sich auch der
Verein Schloss Trautenfels, der die Sanierung der baufälligen Substanz in
anfänglich kleinen Schritten vorantrieb. Als die Abteilung Schloss Trautenfels 1989 die Landesausstellung für 1992 („Lust und Leid“) zugesprochen bekam, konnte die notwendige Generalsanierung beschleunigt und
in nur zweieinhalb Jahren Bauzeit durchgeführt werden. Als ausführen-
256 — 257
Gernot Rabl
den Architekten gewann man Manfred Wolff-Plottegg, welcher die alte
Bausubstanz des Schlosses mit moderner Architektur verband.1
Bereich, hat somit für jeden einzelnen Menschen eine konkrete Bedeutung. Sie ist Teil eines gewohnten Blickes, persönlicher Erfahrungen oder
steht in unmittelbarem Zusammenhang mit Erlebtem. So ergaben viele
im Zuge der Vorbereitungen zur Sonderausstellung getätigte Umfragen,
dass die um das Schloss wohnenden Personen sich dem Bauwerk stark
verbunden fühlen und es nicht missen wollen: Ihre Reaktionen auf L/Bs
Eingriffe werden am nachhaltigsten sein.
Bei einem Rundgang durch das Schloss lassen nun im Besonderen die
Einbauten Wolff-Plotteggs einen Vergleich mit den künstlerischen Installationen von L/B zu. Auch der Architekt ging von einem fertigen Gebäude aus und sorgte in der Durchführung für bewusste Irritationen: So
trennt beispielsweise im Zwischengeschoss eine Treppenkonstruktion, in
Verwendung als Tür, den Seminar- vom Museumsbereich oder dienen im
Museumsshop in die Wand führende Stufen als Präsentationsflächen. Weiters kann unter anderem an die zweite Hauptstiege, den Eingangs- und
Kassabereich sowie die Überdachung der Lichthöfe erinnert werden.2 Im
Unterschied zu Manfred Wolff-Plotteggs Maßnahmen bleiben jedoch die
Interventionen von L/B zeitlich begrenzt und sind vollständig reversibel,
d. h. sie werden entfernt, bevor sie langfristig Teil der Geschichte des
Schlosses werden.
1
Walter Brunner, Barbara
Kaiser: Schloss Trautenfels
(=Kleine Schriften der
Abteilung Schloss Trautenfels am Steiermärkischen
Landesmuseum Joanneum).
Trautenfels 1992, zit. nach:
http://www.museumjoanneum.at/de/trautenfels/das_schloss
[Zugriff: 28.4.2010.]
2
Walter Chramosta:
Grimmi(n)ge(r) Gegenkodierungen. Manfred WolffPlotteggs Eingriffe in Körper und Seele von Schloss
Trautenfels (=Architektur
& Bauforum, Nr. 152). Wien
1992, 109 ff; Wolfgang
Otte: Der Umbau des alten
Schlosses. Überraschungen
und neue Effekte. In: Da
schau her, Folge 2, Trautenfels 1992, 22 ff.
3
Marc Redepenning: Eine
selbst erzeugte Überraschung: Zur Renaissance
von Raum als Selbstbeschreibungsformel der Gesellschaft. In: Jörg Döring,
Tristan Thielmann (Hg.):
Spatial Turn. Das Raumparadigma in den Kultur- und
Sozialwissenschaften.
Bielefeld: transcript 2008,
S. 317.
Eine wichtige Funktion von Architektur, eines Raumes oder eines Gebäudes ist die klare Trennung von öffentlichen und privaten Lebensbereichen. „Es gibt [aber] immer wieder Einbrüche aus dem Privatraum in
die Republik und aus der Politik in den Privatraum, und Raumgestalter
sind dazu da, den Verkehr zwischen privat und öffentlich zu regeln. Zu
diesem Zweck eben entwerfen sie Mauern, Fenster und Türen, und Straßen, Plätze und Tore. Privat und öffentlich sind die beiden großen Lebensraumkategorien, und alle übrigen Räume sind dort einzuräumen.“4
Dieser Feststellung Vilém Flussers folgt seine auch auf L/Bs Installationen umlegbare Forderung an die Raumgestaltung, Räume zu öffnen und
nicht mehr auf ein starres Achsenkreuz zu reduzieren. „Da wir bisher den
Raum vom Boden her, also geometrisch, erlebt und verstanden haben,
war bisher das Merkmal alles Räumlichen die Definition, die Grenze. Und
jetzt, da wir den Raum von innen her, also topologisch, zu erleben und zu
verstehen beginnen, wird das Merkmal alles Räumlichen das Überschneiden, das Überdecken, das Ineinandergreifen werden.“5
Das Künstler/innen-Paar erzwingt eine völlig neue Auseinandersetzung
und stellt den ursprünglichen Architekturgedanken infrage. Sie vermeiden
es dabei, den Besucherinnen und Besuchern vorzuschreiben, was sie zu
sehen oder zu denken haben und machen deutlich, „dass es nicht um den
Raum an sich geht, sondern um Raumkonzepte und Raumvorstellungen,
wie man den Raum denken kann.“3 Nicht aufgezwungene Erklärungen über
Benutzbarkeit, Funktion und Bedeutung schaffen ausreichend Platz für
Fantasie, sodass ganz unterschiedliche Sichtweisen gepaart mit Geschichten entstehen können (vgl. unten). Die Besucher/innen werden durch die
„erzwungene“ aktive Beschäftigung Teile des Kunstwerkes.
Generell sei festgehalten, dass bei der klassischen Definition eines Raumes
beziehungsweise eines Gebäudes auch der gesamte Kontext berücksichtigt werden muss: zum Beispiel das äußere Umfeld, die politischen Bedingungen, Funktionen aber natürlich auch ästhetische Belange. Auch ein als
Museum adaptiertes Schloss wird anders zu behandeln sein als ein eigens
geschaffener Museumsbau. Architektur zieht allgemein eine Grenze zwischen innen und außen und definiert den umliegenden Landschaftsraum
beziehungsweise die vorgegebene Fläche. Dabei fügt sich ein Bauwerk
entweder harmonisch in die Umgebung ein oder bildet einen bewussten
Kontrast. Hat sich ein Gebäude hingegen etabliert und werden nachträgliche und/oder temporäre Eingriffe wie die den Innen- und Außenraum des
Schlosses betreffenden Interventionen von L/B aufgenommen, ist eine
gewohnte Sichtweise nicht mehr möglich. Ablehnung, Unverständnis und
Irritation, aber auch Neugierde, Wissensdrang und Interesse entstehen, da
die vermeintlich bekannte Lesbarkeit des Gebäudes, welche sich mitunter
bereits an der Fassade ausdrückt, aufgehoben und infrage gestellt wird.
Die uns umgebende Architektur, sei es im städtischen oder ländlichen
Durch die Schaffung von Übergängen von innen nach außen und der
damit verbundenen Auflösung des Raumes verliert folglich auch „Architektur“ ihre unbewegliche Körperhaftigkeit und ein Gebäude, in unserem
Fall das Schloss, verliert an Massivität. Die gezielt platzierten Eingriffe
von Lang und Baumann lassen bewusst geschaffene neue Blickwinkel
und Sichtweisen entstehen, welche von den Betrachterinnen und Betrachtern subjektiv wahrgenommen und interpretiert werden.
4
Vilém Flusser: Räume.
In: Jörg Dünne, Stephan
Günzel (Hg.): Raumtheorie. Grundlagentexte
aus Philosophie und
Kulturwissenschaften.
Frankfurt am Main:
Suhrkamp 2006, S. 279.
5
Ebda, S. 283 f
Dabei wird ein unbefangener Blick nötig sein, um auf das in diesem Zusammenhang noch nie Gesehene reagieren zu können. Unter anderen
Vorzeichen wurde bereits vor der Eröffnung der Sonderausstellung mit
einer Volksschulklasse ähnliches erprobt. Im Rahmen einer gezielten
Führung konnten die Schüler/innen Räumlichkeiten des Schlosses betreten, die im Normalfall nicht öffentlich zugänglich sind. Ihre Reaktionen
auf Unbekanntes lösten unterschiedliche Fantasien und Geschichten
aus und sorgten für neue Blickwinkel, die während der Führung mit Einwegkameras festgehalten wurden. Die verschiedenen Eindrücke wurden
nachträglich in einer Unterrichtsstunde niedergeschrieben und sind am
Ende dieses Beitrags nachzulesen.
So wie bei den Schülerinnen und Schülern beim Anblick von Unbekanntem
258 — 259
Gernot Rabl
Fantasien frei wurden, sollen diese auch durch die Eingriffe von Sabina
Lang und Daniel Baumann entstehen, sodass die von ihnen geschaffenen
Installationen bald ihre eigene Geschichte erzählen, gemeinsam mit oder
losgelöst von jener des Schlosses.
Abenteuer auf Burg Neuhaus
Vor langer Zeit lebte auf Burg Neuhaus ein tapferer Ritter namens Adula.
Adula war stark und gescheit. Eines Tages sah er, dass Feinde kommen
und er rief: „Feinde! Feiiinde!“, und lief den Turm hinunter. Die Armee von
Burg Neuhaus stand mit Ritter Adula bereit. Dann riefen sie: „Angriff!“,
und sie rannten aus der Burg, und da kamen auch schon die Feinde und
auf einmal krachte es. Die Schlacht begann. Adula kämpfte gegen einen
anderen Ritter und verletzte den Ritter so viel, dass er nicht mehr kämpfen konnte. Die Ritter von Burg Neuhaus gewannen die Schlacht und
gingen in die Burg zurück und feierten noch viel wegen der gewonnen
Schlacht.
Burg Neuhaus
Es war früh am Morgen, und das Telefon klingelte. Mein Vater wachte auf
und sagte: „Was ist passiert?“ Ich wachte auf und sagte: „Vater, bitte
geht nicht schon wieder in den Kampf.“ Mein Vater legte den Hörer auf
das Telefon und sagte zu mir: „Mein Schatz, ich verspreche dir, dass ich
zurückkommen werde.“ Nun wachte auch meine Mutter auf und sagte:
„Schatz, dein Vater muss kämpfen, sonst wird unsere Burg zerstört.“
Dann sagte sie noch: „Warum bist du eigentlich in unserem Schlafgemach?“ Dann sagte ich: „Mir war so kalt und ich hatte einen Albtraum,
deswegen bin ich bei dir.“ Dann sagte unsere Hausmagd: „Prinzessin Lilli,
hilfst du mir das Frühstück zubereiten?“ Ich sagte: „Natürlich Greta.“
Nach dem Frühstück zog mein Vater in den Kampf und schrie laut: „Für
Troja!“ Nach dem Mittagessen bekamen wir einen Anruf, der mein Leben
veränderte. Meine Mutter sagte schluchzend: „Dein Vater ist im Kampf
gefallen.“ Ich fing laut zu schreien an und schrie: „Ihr blöden Briten, ich
nehme Rache!“ Dann fing ich zu weinen an und lief in mein Zimmer. Meine
Mutter kam zu mir und tröstete mich. Dann sagte ich: „Oh Mutter, ich
werde Rache nehmen.“ Und das tat ich auch. Sechs Jahre später war ich
sechzehn, und mir passte die erste Ritterrüstung. Ich zog in den Kampf.
Meine Mutter wollte mich aufhalten und sagte: „Bleib hier oder willst du
auch ermordet werden?“ Aber ich sagte: „Mein Pferd und ich sind bereit,
wir nehmen Rache.“ Dann zog ich los, und ich war fast am Ziel. Doch
dann kamen feindliche Ritter und sagten: „Sieh mal Franz, da will ein
kleines Mädchen gegen uns kämpfen.“ Ich sagte: „Ich bin kein kleines
Mädchen, ihr habt mir etwas weggenommen, was mir sehr wichtig war.“
Dann spuckte ich ihnen ins Gesicht. Ein Ritter sagte: „Komm Kleine, wir
Katharina Jos, Schloss Trautenfels 2010
bringen dich nach Hause.“ Aber ich schrie: „Hüa, Lissi!“ Mein Pferd ritt
los, ich drehte mich um und schrie laut: „Ich lasse mich doch nicht von
euch schmierigen Banausen herumkommandieren!“ Die Ritter lachten
und ritten weiter. Ich stürmte die Burg und stach alles nieder, was mir in
den Weg kam. Doch dann passierte es, ich wurde erstochen. Ich wachte
auf und merkte, dass es nur ein Traum gewesen ist. Aber ich war wirklich
im Mittelalter. Ich ging ganz langsam zum Schlafgemach von meinen Eltern, ich öffnete ganz langsam und leise die Türe. Mein Vater lebte noch,
ich war heilfroh, dann kroch ich unter die Decke von meiner Mutter und
träumte etwas ganz Schönes. So ist es passiert oder so ähnlich. Und das
war die Geschichte von Burg Neuhaus. Dann merkte ich, dass ich eigentlich in der Schule bin. Mein Lehrer klatschte und sagte: „Bravo, bravo.
Das war mit Abstand die beste Geschichte.“
Abenteuer auf Burg Neuhaus
Vor langer Zeit lebte auf Burg Neuhaus ein tapferer Ritter namens Eisenstein. Er war mein Vater. Als ich früh am Morgen aufwachte, sah ich
meinen Vater, er war schon in der Ritterrüstung. Er sagte: „Morgen, mein
Prinzesschen!“ Ich fragte ganz verschlafen: „Was machst du denn schon
wieder?“ Er sagte: „Ach Lala, das ist eine lange Geschichte. Ich erzähle es
dir später. Ich habe es eilig!“ Als ich noch etwas sagen wollte, war er auch
schon weg. Meine Mutter wachte auch schon auf. Und fragte mich: „Wo
ist Papa?“ Ich sagte traurig: „Er ist schon wieder in den Kampf gegangen!“ Meine Mutter sagte zu mir: „Sei nicht traurig, Papa macht das nur
für uns.“ Nach einer Weile kam Papa wieder in die Burg zurück. Ich fragte:
260 — 261
Fotos links:
Sara Egger, Schloss Trautenfels
2010
Fotos rechts (i.U.):
Julian Schmied, Annika Hofer,
Alois Brettschuh, Alexandra
Schirl, Ramona Eingang,
Schloss Trautenfels 2010
262 — 263
Gernot Rabl
„Bist du verletzt?“ Er sagte ganz traurig: „Nein, aber wir haben alles verloren!“ Ich sagte ganz verweint: „Auch die Burg?“ Papa sagte: „Ja, auch
die Burg!“ Ich sagte: „Aber wo sollen wir jetzt wohnen?“ Er hatte mich
nicht mehr gehört, weil er schon in ein anderes Zimmer verschwunden
war. Mir kam eine Idee. Ich wollte für die Burg kämpfen. Ich nahm den
Telefonhörer und rief bei den Kämpfern an. Wir machten einen Termin
aus. Er war heute um 4 Uhr. Es war schon 3:14 Uhr. Ich richtete mich
zusammen. Ich nahm mein Pferd und ritt hinunter in die Kampfstube.
Ich wurde immer nervöser. Es ging los! Ich setzte mich auf mein Pferd.
Ein starker Mann kam mir entgegen. Ich stieß ihn vom Pferd hinunter. Ich
hatte gewonnen!! Wir würden uns die Burg behalten. Wir feierten noch
lange. In der Früh merkte ich, dass alles nur ein schrecklicher Traum war.
Abenteuer auf Burg Neuhaus
Vor langer Zeit lebte auf Burg Neuhaus ein tapferer Ritter namens Peter
Rosegger. Er war bei den Bauern beliebt. Peter Rosegger hatte drei
Frauen, die ihn liebten. Peter Rosegger konnte aber nur eine Frau heiraten. Es griff eine Armee von Burg Lachtal Schloss Trautenfels an. Peter
Rosegger rief: „Wachen auf den Schlossturm! Ritter vor das Burgtor und
die anderen Leute in die Häuser! Die Ritter ohne Ritterrüstung an die
Pechnasen über dem Burgtor.“ Peter Rosegger zog die Ritterrüstung an
und schrie: „Auf zum Krieg gegen die Burg Lachtal!“ Aber die Lachtaler
hatten den Geheimgang gefunden und stürzten in die Grube ab. Burg
Trautenfels hatte nochmal Glück gehabt. Peters Mannen gewannen den
Krieg gegen das Lachtal. Peter Rosegger heiratete eine Frau und die hieß
Johanna Rosegger und sie bekamen ein Kind. Das Kind hieß Verena Rosegger.
Abenteuer auf Burg Neuhaus
Vor langer Zeit lebte auf Burg Neuhaus ein tapferer Ritter namens Reinhold. Er hatte eine bezaubernde Frau namens Michaela und ein Kind, das
hieß Alexandra. Alexandra hatte eine Freundin namens Verena. Sie hatten
schon viele Abenteuer erlebt. Aber heute hatten sie einen Geheimgang
gefunden. Sie untersuchten ihn und gingen hinein. Es war sehr staubig.
Trotzdem wollten sie hinein. Am Ende des Ganges war eine Tür aus Eisen.
Zum Glück war die Tür nicht verschlossen. Die Tür führte ins Dorf. Sie
sahen sich um. Es waren viele Leute, Kinder, Erwachsene aber auch Tiere.
Da kam ein schwarzer Ritter. Alle schrien vor Angst. Der schwarze Ritter
klaute die Sachen von ihnen. Schnell rannten sie hinter eine Mauer und
beobachteten ihn. Es kam Ritter Reinhold und kämpfte mit ihm. Vater
gewann den Kampf. Der schwarze Ritter musste fort. Ende.
6
Auswahl an Schüler/innenArbeiten der VS Unterburg,
4. Klasse: Johannes
Berger, Alois Brettschuh,
Max Brettschuh, Verena
Brettschuh, Sara Egger,
Ramona Eingang, Annika
Hofer, Katharina Jos, AnnaLena Kanzler, Nico Pichler,
Alexandra Schirl, Julian
Schmied, Birgit Steiner;
Klassenlehrerin: Dipl. Päd.
VD Maria Mössner.
Burg Neuhaus
Vor langer Zeit lebte auf der Burg Neuhaus ein tapferer Ritter namens
Baldur. Eines Tages war ein Kampf mit dem König Paul. Er war der stärkste
Ritter auf der Welt. Alle Ritter hatten Angst vor Paul. Eines Tages war
Nina, die Frau von Baldur, sehr enttäuscht, weil er nie da war und immer
was zu erledigen hatte. Und das war kämpfen und kämpfen. „Nie hat er
Zeit für mich. Immer muss er kämpfen“, sagte Nina ganz traurig. Baldur
hatte so etwas wie eine Kämpfkrankheit. Es war am Morgen. Nina schrie:
„Aufstehen, Baldur! Es gibt Frühstück!“ Baldur sagte mit müder Stimme:
„Was gibt es denn?“ „Maisbier, Eier, Erdbeeren, Bananen, Wurst, Bier,
Kaffee, Nutellabrot und Äpfel.“ Baldur erschrak: „So viel?“, “Ja, so viel,
und du musst alles aufessen!“ Da versprach Baldur, dass er wieder mehr
Zeit für Nina hatte. Nina sagte: „Danke, mein Schatz!“ Ende.
Der Ritter Kunibert
Es war einmal vor langer Zeit ein Ritter, der hieß Kunibert. Er war ein tapferer Ritter. Eines Tages gab es auf der Burg Neuhaus ein großes Reitturnier. Dieses Turnier war sehr wichtig für ihn. Denn wenn er es gewinnen
konnte, bekam er eine hohe Prämie. Es waren viele Leute gekommen, um
sich das Turnier anzusehen. Da waren Knappen, Kinder, Frauen, Männer
und viele Ritter. Diese Veranstaltung dauerte 1 Woche lang. Zu essen
gab es Spanferkel und Kalbfleisch und Wasser, Bier und Wein zu trinken.
Kunibert stieß bei einem Kampf den schwarzen Ritter mit seiner Lanze
vom Pferd. Somit hatte er das Turnier gewonnen, und er bekam die Prämie. Endlich konnte er sein Haus fertig bauen. Er war sehr glücklich über
sein fertiges Haus.“6
264 — 265
1
Richtlinie 92/43/EWG zur
Erhaltung der natürlichen
Lebensräume sowie der
wildlebenden Tiere und
Pflanzen, Fauna-FloraHabitat-Richtlinie.
In: http://www.umweltbundesamt.at/umweltschutz/naturschutz/
naturrecht/eu_richtlinien/
ffh_richtlinie/ [Zugriff:
15.3.2010].
2
Richtlinie 79/409/EWG
vom 2. April 1979 über die
Erhaltung der wildlebenden
Vogelarten, Fauna-FloraHabitat-Richtlinie.
In: http://www.umweltbundesamt.at/umweltschutz/naturschutz/
naturrecht/eu_richtlinien/
vogelschutz_rl/ [Zugriff:
15.3.2010].
3
What is Natura 2000?
Environment DirectorateGeneral of the European
Commission.
In: http://ec.europa.eu/
environment/nature/
natura2000/ [Zugriff:
15.3.2010].
4
Ernst Zanini: Natura 2000
in der Steiermark. In:
Bericht. 10. Österreichisches
Botanikertreffen vom 30.
Mai bis 1. Juni 2002 an der
HBLA Raumberg. Irdning
2002, S. 57.
5
Managementplan Kurzfassung. Europaschutzgebiete zwischen Pruggern
und Selzthal, Amt der
Steiermärkischen Landesregierung, Fachabteilung
13C Naturschutz. Gleisdorf
2009, S. 7.
6
Verordnung der Steiermärkischen Landesregierung vom 4. Dezember
2006 über die Erklärung
des Gebietes „Wörschacher
Moos und ennsnahe Bereiche“ (AT 2212000 zum
Europaschutzgebiet Nr. 4,
4.12.2004, 1. In: http://
www.ris.bka.gv.at/Dokument.wxe?Abfrage=LrSt
Das schlechte Gewissen des Homo faber
Standpunkte zur Ausweisung von Natura
2000-Schutzgebieten im steirischen Ennstal
Gundi Jungmeier
Natura 2000 bezeichnet ein EU-weites Netzwerk von Naturschutzgebieten, das sich auf die Fauna-Flora-Habitat-Richtlinie1 (FFH-RL) und die
Vogelschutz-Richtline2 (VS-RL) der EU stützt. Ziel ist nicht die Schaffung
isolierter Naturschutzgebiete, aus denen jegliche menschliche Aktivitäten ausgeschlossen sind, sondern die Handhabung dieser Flächen im
Sinne einer ökologischen und ökonomischen Nachhaltigkeit.3
Mit dem Beitritt zur EU im Jahr 1995 hat sich Österreich verpflichtet,
Rechts- und Verwaltungsvorschriften zu erlassen, um die Natura
2000-Richtlinen umzusetzen. Da in Österreich Natur- und Umweltschutz
in die Kompetenz der Bundesländer fallen, hat der Steiermärkische Landtag im Jahr 2000 eine Novelle zum Steiermärkischen Naturschutzgesetz
erlassen, um den EU-Richtlinien zu entsprechen.4
Mittlerweile sind zwischen Pruggern und Selzthal Flächen entlang der
Enns Flächen von knapp 3.000 ha als Natura 2000-Schutzgebiete nach
der FFH-RL bzw. VS-RL ausgewiesen.5
Auf den betroffenen Grundstücken finden sich zahlreiche Pflanzenarten
und Lebensraumtypen sowie Tierarten, wie z. B. Fischotter, Gelbbauchunken, Uhu, Eisvogel, Neuntöter u. v. m., die als schützenswert gelten.6
Der Crex crex, besser als Wachtelkönig bekannt, wurde schließlich zur
„Galionsfigur“ des Naturschutzes in der Region, da die Population im
steirischen Ennstal als eines der wichtigsten alpinen Vorkommen erachtet wird.7
Ziel der „Europaschutzgebiete“, wie die Natura 2000-Gebiete in der
Steiermark genannt werden, ist die Bewahrung bzw. Wiederherstellung
eines günstigen Erhaltungszustandes für die Schutzgüter.8 Die Grundeigentümer/innen der – in erster Linie landwirtschaftlichen – Nutzflächen
werden für die durch die Umsetzung der Maßnahmen des „Freiwilligen
Vertragsnaturschutzes“9 entstehenden Einschränkungen bei der Bewirtschaftung finanziell entschädigt.
mk&Dokumentnummer=L
RST_5500_028&TabbedMenuSelection=Landesrech
tTab&WxeFunctionToken=c
bb31231-ed42-47ed-b649eeb988e4156b [Zugriff:
15.3.2010].
7
Der Wachtelkönig (Crex
crex) im Ennstal zwischen
Pruggern und dem Gesäuse.
Bestand, Bewertung, Habitate – mit Empfehlungen
zur Abgrenzung und zum
Management des SPA
„Steirisches Ennstal“, Amt
der Steiermärkisch-en
Landesregierung, Fachabteilung 13C Naturschutz, Planungsbüro für Landschafts& Tierökologie–Wolf Lederer.
In: http://www.verwaltung.
steiermark.at/cms/beitrag/10084508/2407657/
[Zugriff: 15.3.2010].
8
Erläuterungen zum Entwurf
einer Verordnung über die
Erklärung des Gebietes
„Ennstal zwischen Liezen
und Niederstuttern“ zum
Europaschutzgebiet Nr. 41.
In: http://www.verwaltung.
steiermark.at/cms/beitrag/10084508/2407657/
[Zugriff: 28.4.2010].
9
Mit der Gebietsbetreuung
bzw. mit der Umsetzung
der für die einzelnen
Schutz-güter ausgearbeiteten Einzelmaßnahmen
beauftragte die zuständige
Fachabteilung 13 C der
Steiermärkischen Landesregierung die Ziviltechnikkanzlei Dr. Hugo Kofler;
Managementplan Kurzfassung. Europaschutzgebiete zwischen Pruggern
und Selzthal. Amt der
Steiermärkischen Landesregierung, Fachabteilung
13C Naturschutz. Gleisdorf
2009, S. 2.
10
Gerald Schlager: Entschädigungen der Forstwirtschaft
in Natura 2000 Gebieten.
In: Ernst Zanini, Barbara
Reithmayr (Hg.): Natura
2000 in Österreich. Wien:
NWV 2004, S. 205.
11
Brigitta Hauser-Schäublin:
Von der Natur in der Kultur
und der Kultur in der Natur.
Werden Grundflächen zur Erreichung eines Schutzzweckes in
ihrer Nutzung eingeschränkt, so haben die Eigentümer sowie
Inhaber sonstiger privater und öffentlicher Rechte grundsätzlich
Anspruch auf die Abgeltung hierdurch entstehender Nachteile
(Schadloshaltung).10
Was genau ist jedoch unter „Natur“ zu verstehen und woher rührt der
Wunsch bzw. die Notwendigkeit, sich in ihr einzurichten und sie trotzdem zu schützen?
Der Begriff „Natur“ ist mit einer Reihe von Werten belegt und umreißt
unterschiedliche Felder, die von der „fundamentalen Kraft, die die Welt
bewegt“ über die „physische Umwelt im Unterschied zur menschlichen
Umwelt“ bzw. die „Ländlichkeit im Unterschied zur Stadt oder das Wesen
bzw. den Charakter einer Person oder Sache“ reichen, um nur einige Beispiele zu nennen.11
Der deutsche Soziologe Hans Paul Bahrdt verortet die Ursache für den
ambivalenten Umgang mit der Natur im rationalen Denken und Handeln,
das beginnend mit dem Zeitalter der Aufklärung stark an Bedeutung
gewann. Die daraus hervorgegangene systematische Beobachtung dieser führte zu einem Bild von Natur als „beherrschbare Struktur“ bzw. zu
einer Vorstellung von Natur als Objekt, aus dem sich der beobachtende
Mensch selbst ausnimmt.12
René Descartes betrachtet Körper und Geist als gegensätzlich bzw. voneinander trennbar, wobei der Körper die Natur darstellt, die dem Geist
untergeordnet ist. Da er den Menschen als einziges Wesen betrachtet,
das über die Fähigkeit zu Denken bzw. über eine Seele verfügt, ist er
allen anderen Wesen übergeordnet.13
Diese distanzierte Betrachtung führte nach Hans Paul Bahrdt in weiterer
Folge zu einem ambivalenten Verhältnis der bürgerlichen Gesellschaft
zu den von ihr verübten Eingriffen in ihre Außenwelt [Natur], das er als
„Enttäuschungen und Schuldgefühle des homo faber“14 bezeichnet. Der
Mensch greift zwar rational in sein Umfeld ein, allerdings handelt es
sich nicht um eine absolute, sondern um eine relative Zweckrationalität,
da nicht alle Konsequenzen dieser Eingriffe kalkulierbar und absehbar
sind. Durch den Einsatz technischer Mittel können Veränderungen bewirkt werden, deren vorausgesehener Effekt zwar einerseits eintritt, die
jedoch andererseits Folgen haben, die schwer oder gar nicht kalkulierbar
sind. Daraus wiederum konnte ein Gesellschaftsbild entstehen, in dem
die menschliche Existenz als „schädlich“ betrachtet wird und Bildern der
„heilenden Natur“ gegenüber steht. In dieser Wahrnehmung bedarf diese
heilende Natur mitunter Schutz und Pflege. In diesem Konzept kommt
der Natur eine ideologische Bedeutung zu. „Natürlich“ ist einerseits z. B.
der Wald, andererseits aber auch die Bäuerin oder der Bauer, wenn diese/r
konservative Agrarpolitik betreibt. „‚Natürlich‘ ist alles, was so alt ist,
dass es den Anschein der Ursprünglichkeit hat […].“15 Als natürlich und
266 — 267
Gundi Jungmeier
Eine kritische Reflexion
dieses Begriffspaars. In:
Rolf Wilhelm Brednich, Annette Schneider, Ute Werner
(Hg.): Natur – Kultur. Volkskundliche Perspektiven
auf Mensch und Umwelt.
Münster (u. a.): Waxmann
2001, S. 11.
12
Hans Paul Bahrdt: „Natur“
und Landschaft als kulturspezifische Deutungsmuster für Teile unserer
Außenwelt. In: Gert Gröning
und Ulfert Herlyn (Hg.):
Landschaftswahrnehmung
und Landschaftserfahrung
(=Arbeiten zur sozialwissenschaftlich orientierten
Freiraumplanung, Bd. 10),
Münster: Lit 1996, S. 168169.
13
Brigitta Hauser-Schäublin,
Von der Natur in der Kultur,
S. 13.
14
Hans Paul Bahrdt: „Natur“
und Landschaft als kulturspezifische Deutungsmuster für Teile unserer Außenwelt, S. 174.
15
Ebda., S. 175.
16
Ebda, S. 176.
17
Ebda., S. 174-176.
18
Michael Huter: Die Idee der
Landschaft. In: Wolfgang
Kos: Die Eroberung der
Landschaft. Semmering –
Rax – Schneeberg. Wien:
Falter 1992, S. 49–53.
damit als berechtigt werden in diesem System auch Rangunterschiede
der sozialen Schichten, Heterosexualität oder Statusunterschiede zwischen Mann und Frau usw. betrachtet. Hinter dem Begriff Natur verbirgt sich demzufolge eine ganze Reihe unterschiedlicher biologischer,
psychologischer und sozialwissenschaftlicher Argumente, Meinungen,
Überzeugungen usw.
Obwohl die Natur in vielen Bereichen des Lebens rationalen Gesichtspunkten untergeordnet wird, erhält sie einen Platz in „unverbindlichen Bereichen“16, z. B. in der Freizeit (Bewegung im Freien, Zeit an der frischen Luft
verbringen) oder auch im Bereich des Wohnens (ein Haus im Grünen). Hier
entsteht ein Wirkungsbereich für das „schlechte Gewissen der bürgerlichen
Gesellschaft“ angesichts der Eingriffe, die aufgrund rationaler Herangehensweise verübt wurden.17
Die Vorstellung von Natur geht zudem oft einher mit der Vorstellung von
Landschaft, jedoch unterscheiden sich diese beiden Begriffe stark voneinander. Landschaft ist vielmehr die subjektive ästhetische Erfahrung der
Betrachterin/des Betrachters. Das bedeutet, dass Landschaft im individuellen Bewusstsein entsteht. Die Interpretation(en) des wahrgenommenen
Außenraumes (des Naturraumes bzw. der menschlich geschaffenen räumlichen Veränderungen darin, z. B. Bauwerke, bewirtschaftete Flächen usw.)
prägen die individuelle Wahrnehmung von Landschaft.18
Die Vermischung des Naturbegriffes mit dem Landschaftsbegriff und
Bahrdts Feststellung, dass kulturelle Gegebenheiten durch das Verstreichen von Zeit als natürlich betrachtet werden, eröffnen eine ganze Reihe
weiterer Interpretationsmöglichkeiten des Begriffs Natur und bedingen unterschiedliche Vorstellungen darüber, wie mit ihr umgegangen werden soll.
Auch im Falle der Natura 2000-Gebiete entlang der steirischen Enns
handelt es sich nicht um unberührte Natur, sondern um Flächen, die für
landwirtschaftliche Nutzung urbar gemacht wurden, also um sogenannte
„Sekundär-Lebensräume“ für darin vorkommende Tier- und Pflanzenarten.19
Ist die heimische Natur auch längst durch vielfältige nachhaltige Eingriffe
in Flora und Fauna drastisch verändert worden, so sind Ängste vor Klimaveränderungen und vor der Störung des biologischen Gleichgewichtes
– das vielerorts durch menschliches Zutun reguliert und stabilisiert wird
bzw. werden muss – fester Bestandteil des heutigen gesellschaftlichen
Bewusstseins. Diese Entwicklung geht in erster Linie auf die sogenannte
„Ökologiebewegung“ zurück.
Denn wenn Naturschutz auch keine Neuerfindung des 20. Jahrhunderts
ist – bereits in vorangegangenen Jahrhunderten gab es Bestrebungen in
diese Richtung, so entstand in den 1960er-Jahren als politisch aktives
Kollektiv die „Ökologiebewegung“20, deren Ursprung eng mit der Studierendenbewegung verknüpft ist und die stark im Bedürfnis bzw. in der
Notwendigkeit des Schutzes und Erhaltens der Natur als menschliche
Lebensgrundlage wurzelt.21
19
Kundmachung zum Entwurf
einer Verordnung über die
Erklärung des Gebietes
„Ennstal zwischen Liezen
und Niederstuttern“ zum
Europaschutzgebiet Nr. 41,
Amt der Steiermärkischen
Landesregierung, Fachabteilung 13 C Naturschutz.
In: http://www.verwaltung.
steiermark.at/cms/beitrag/10084508/2407657/
[Zugriff: 17.3.2010].
20
Thomas Stuhlfauth: Die
Ökologiebewegung aus dem
Blickwinkel der Umweltsoziologie. Norderstedt:
Grin 2000, S. 5-10.
21
Franz-Josef Brüggemeier,
Jens Ivo Engels: Den Kinderschuhen entwachsen:
Einleitende Worte zur
Umweltgeschichte der
zweiten Hälfte des 20.
Jahrhunderts. In: FranzJosef Brüggemeier, Jens Ivo
Engels (Hg.), Natur- und
Umweltschutz nach 1945.
Konzepte, Konflikte, Kompetenzen. Frankfurt am
Main: Campus 2005, S. 11.
22
Michael Jungmeier,
Christina Pichler-Koban:
Natura 2000 und Regionalwirtschaft. In: Ernst Zanini,
Barbara Reithmayr (Hg.):
Natura 2000 in Österreich,
S. 245–255.
23
Interview, Universalmuseum
Joanneum, Multimediale
Sammlungen/Büro der
Erinnerungen (i. d. F.: UMJ),
26.3.2010.
24
Aufruhr gegen „Natura
2000“. Bezirkspolitiker kündigen Marsch nach Brüssel an. In: Der Ennstaler.
Unabhängiges Wochenblatt
für das gesamte Ennstal,
16.9.2004, zit. nach: www.
derennstaler.at/cms/berichte/detail.php?id=2355
[Zugriff: 12.3.2010].
Naturschutz im Sinne der Natura 2000 stellt eine Herangehensweise
dar, die vorsieht, Lebensräume bestimmter Tier- und Pflanzenarten zu
erhalten und gleichzeitig neue Möglichkeiten für die betreffende regionale Wirtschaft zu eröffnen.22
Diese bereits eingangs erwähnte Zielsetzung in der Handhabung der
Natura 2000-Gebiete, nämlich ökologische und ökonomische Interessen
miteinander zu verknüpfen bzw. dadurch neue wirtschaftliche Ressourcen zu erschließen, erweist sich in der Praxis – nicht zuletzt aufgrund
unterschiedlicher Vorstellungen von Natur und divergierenden Anforderungen an diese – als nicht ganz unproblematisch.
Auch im Fall der Schutzgebiete an der Enns trafen unterschiedliche
Meinungen, Bedürfnisse und Interessen der Menschen in der Region
aufeinander. Eine Reihe von Auseinandersetzungen und Konflikten rund
um die Erweiterung der Verkehrsinfrastruktur war den Beschlüssen zur
Natura 2000 zudem seit Jahrzehnten vorausgegangen.
„Der Wachtelkönig war in der breiten Bevölkerung nicht im Bewusstsein. Das haben ein paar Spezialisten gewusst, eben „Die
Vogelwarte“ [Verein „Die Vogelwarte“, Liezen], die sich eigentlich
schon – glaube ich – seit den [19]80er-Jahren mit dem Vogel und
auch mit der Verhinderung einer möglich mehrspurigen Straße
– damals noch S8 – beschäftigt hat; und der Wachtelkönig ist
nachher einfach zur Galionsfigur geworden. Und es sind im Laufe
der Jahre natürlich bei Straßenbefürwortern so heftige Emotionen
gegenüber diesem Vogel, den ganz wenige nur gesehen haben,
entstanden, wo man sich denkt, das gibt es gar nicht, was kann
der Vogel dafür? Und wenn man sich ein bisschen näher damit
beschäftigt, weiß man ja, dass der Vogel nur die Spitze des Eisberges ist. Dass er halt der empfindlichste Teil ist, und [dass]
viele andere Vogelarten und Tiere […] diese Bereiche oder diese
naturräumlichen Voraussetzungen brauchen [..], und das weiß
man, das ist auch nachgewiesen. Aber der Wachtelkönig ist halt
die Leitfigur geworden.“23
„Während die Bezirks-‚Grünen‘ jubeln, zeigen sich die Ortschefs
und Wirtschaftstreibenden der davon betroffenen acht Gemeinden darüber entsetzt. Seitens der Wirtschaftskammer hagelt es
ebenfalls Proteste. ‚Man könne doch eine wirtschaftlich ohnehin
angeschlagene Region mit hoher Arbeitslosigkeit nicht so ohne
weiteres‚ unter einen Glassturz stellen‘, lauten die Kommentare.“24
„Ich sehe die Vorteile [darin], dass bestehende Landschaften
erhalten werden können. Alles was mit der Natura 2000-Aus-
268 — 269
Gundi Jungmeier
25
Interview, UMJ, 26.3.2010.
26
Interview, UMJ, 8.4.2010.
27
Interview, UMJ, 6.4.2010.
28
Interview, UMJ, 26.3.2010.
29
„Natura 2000“ sorgt
weiter für Diskussionen.
Bauernschaft im Ennstal
trotz Information skeptisch. In: Der Ennstaler.
Unabhängiges Wochenblatt
für das gesamte Ennstal,
27.9.2004, zit. nach: http://
www.ennstal.com/derennstaler/ennstaler-archiv.htm
[Zugriff: 15.3.2010].
30
Interview, UMJ, 26.3.2010.
31
Interview, UMJ, 6.4.2010.
weisung zusammenhängt, ist für mich persönlich einfach gut.
Ich möchte in dem Tal wohnen bleiben und nicht irgendwann
einmal draufkommen, dass ich die Belastungen, die zum Beispiel
vom Verkehr ausgehen, nicht mehr aushalte. Und darum tue ich
persönlich etwas, damit das möglichst nicht passiert. Und da gehört es eben dazu, dass man sich engagiert, und dass man sich
halt für die verschiedenen Sachen interessiert und hofft, dass
irgendwann die hohe Politik auch einsieht, dass die Lobbygesellschaft nicht unbedingt das ist, wo man sich total engagieren
soll, sondern [dass es] besser ist, naturräumliche Situationen zu
erhalten, die positiv sind fürs Überleben der Menschheit. [… ] Ich
war immer da, ich bin nie weg gewesen […]. Ich bin auch einer
der […] schon viel auf den Bergen unterwegs ist, und es ist ein
erhebendes Gefühl auf einem Gipfel zu stehen und in die Ferne zu
schauen. Aber wenn man dann hinunter schaut ins Tal, dann ist
einem auch bewusst, wie eng das Tal ist, und wie verdammt gut
[..] man aufpassen muss, dass diese Naturschätze, die da unten
vorherrschen, nicht verloren gehen. Und das ist einfach auch ein
extremes Anliegen für mich. Weil ich, glaube ich halt, nicht nur
für unsere Generation denken will, sondern auch für viele nachfolgende Generationen, und was unsere Generation momentan mit
der Natur macht, das ist eigentlich fürchterlich. Das ist mir halt
total wichtig.“25
[…]. Jetzt haben sie natürlich auch keine Möglichkeit mehr gehabt, mit den Grundbesitzern irgendwelche Sachen auszuverhandeln. Das war natürlich dann auch für den Dr. F. sehr mühsam.
Da sind 20 Bauern dort gesessen, jeder hat geschimpft wie ein
Rohrspatz über die Natura 2000-Ausweisung, und der liebe Dr. F.
hat genau gewusst, er muss das jetzt machen. Er muss zu ihnen
sagen: ‚Leitln, es ist so – und es kann jetzt gar nimmer anders
geschehen.‘“28
„Ich glaube, dass diese besonders schützenswerten Gebiete, wie
es diese Natura 2000- Gebiete sind, dass die nur dadurch ausgewiesen werden konnten, weil die Landwirtschaft da in der Vergangenheit alles so gemacht hat, dass man heute noch so besonders
schützenswerte Gebiete hat. Und ich glaube, das ist auch das
Wichtige für die Zukunft, dass man auf die Bauern schaut, weil
das sind diejenigen, die die Gebiete erhalten.“26
„Der politische Bezirk Liezen ist wahrscheinlich der bestuntersuchteste [Bezirk], den es in der ganzen Steiermark gibt. […]
In etwa 70% der Gesamtfläche ist jetzt von irgendeiner Naturschutzmaßnahme betroffen. Und für uns war immer das Argument
spannend: ‚Man muss die Natur schützen‘. So quasi die Wirtschaft
betreibt sonst Raubbau. Das ist so mehr oder weniger ein bisserl
rübergekommen. Das stimmt insofern nicht, weil wir sehr wohl
wissen, dass wir von einer intakten Natur leben und unsere Schigebiete, speziell im Oberland, sind ja das beste Beispiel dafür,
dass mit der Ressource Natur sehr vorsichtig agiert wird, weil das
letztendlich unser Erwerbskapital ist.“31
„Die Sache ist aus unserer Sicht, also aus der Sicht der Wirtschaft
sehr unglücklich gelaufen. Es hat einen Gebietsvorschlag gegeben, der für die Wirtschaft ein bissl problematisch gewesen ist,
weil er letztendlich den gesamten Talboden mehr oder weniger
in Anspruch genommen hat und wir im Talboden – nachdem wir
sonst keine Ausdehnungsmöglichkeiten mehr haben – die einzige
Chance gesehen haben oder noch immer sehen, dass wir uns wirtschaftlich weiterentwickeln können.“27
„Im Endeffekt hat es [die Gebietsausweisung] unter sehr großem
Zeitdruck passieren müssen. […] Und das ist wirklich im letzten
möglichen Abdruck passiert […]. Das Land Steiermark ist schon
verurteilt gewesen zu dieser Strafzahlung, weil es untätig war
„Grundtenor aus den Reihen der Bauernschaft: Naturschutz ja,
aber nicht um den Preis massiver Nachteile für den Menschen.
Der Mensch, seine rechtlichen Ansprüche und wirtschaftlichen
Bedürfnisse müssen im Vordergrund stehen.“29
„Man kann in dem Sinn nicht eingreifen, dass man das unterstützt
durch irgendwelche Zuchtmaßnahmen. Das Einzige, was man
machen kann ist, dass man die Fläche zur Verfügung stellt, dass
man seinen Lebensraum [den des Wachtelkönigs] erhält. Aber wie
gesagt, Lebensraum nicht nur für den Wachtelkönig. Da gibt es
das Braunkehlchen, den Kiebitz und, und, und. Also da gibt es
Schmetterlinge, die nur da vorkommen und es gibt wirklich keine
Sparte, von der man nicht sagen kann, die profitieren auch davon
[von der Natura 2000].“30
Protest gegen den Bau
der Ennsnahen Trasse
(ORF, 1993)
270 — 271
Glaube oder Aberglaube?
Gernot Rabl
Maria Papadimitriou
Alpine Altar, 2010
(Detail)
Die griechische Künstlerin Maria Papadimitriou hat sich bereits in der
Vergangenheit mit kollektiven Projekten beschäftigt, die neben der Fotografie einen Schwerpunkt ihrer Arbeit bilden. In diesem Zusammenhang
kann vor allem auf ihre unter dem Titel Temporary Autonomous Museum
For All (T.A.M.A.) initiierte Arbeit verwiesen werden.1
Maria Papdimitriou
T.A.M.A., 2005
Wie kam nun Maria Papadimitriou zu den Positionen, die zu ihrem künstlerischen Beitrag in Schloss Trautenfels führten, wie wurde die Bevölkerung eingebunden und welche in unserem Diskurs wesentlichen Überlegungen sind darin auszumachen?
1
www.trans-formers.org/
artists_1/301_papadi_d.htm
[Zugriff: 28.4.2010].
In unserer Zeit stellt sich immer wieder die Frage, inwieweit wir gegenwärtig eigentlich noch „Bilder“ für unseren Glauben und/oder Aberglauben brauchen. „Es gab Zeiten, in denen religiöse Symbole, Bilder und religiöses Brauchtum eine Selbstverständlichkeit waren; Zeiten auch, die in
einer Vielfalt von Zeichen, Bildern und Brauchtum geradezu geschwelgt
haben, so daß man manchmal den Eindruck hat, die Fülle der äußeren
Symbole verstelle fast den Blick auf die gemeinte religiöse Wirklichkeit,
die sie doch zugänglich machen sollte. Wir sind nüchtern geworden.
Viele Symbole und Bilder ebenso wie altvertraute Bräuche haben ihre
Ausdruckskraft eingebüßt und sagen uns nur mehr sehr wenig. Wir orientieren uns nach dem, was wir zählen, wägen und messen können ….“3
Auch im Rahmen ihrer Arbeit für die regionale10 war für die Künstlerin
von Beginn an die Einbindung der Bevölkerung ein primäres Anliegen.
Dies entsprach im Übrigen dem Wunsch der regionale10-Verantwortlichen, die darin – wie in der Schnittstelle zwischen Kunst und Alltagskultur – einen zentralen Punkt des gesamten Festivals für zeitgenössische
Kunst sahen.
Schon Papadimitrious später verworfene Idee mit den das gesamte Landschaftsbild des Ennstals prägenden „Heustadeln“ sah die Einbringung
persönlicher Objekte der hiesigen Menschen vor. Wurden auch die „Heustadeln“ später aus ihrer Arbeit verbannt und durch einen Altar ersetzt,
blieb der ursprüngliche Gedanke in leicht veränderter Weise aufrecht.
Die Räume des Landschaftsmuseums im ersten Stock von Schloss Trautenfels widmen sich in klar strukturierter Weise je eines übergeordneten
Themas, wobei sich Papadimitriou speziell auf den Raum „Vom wahren
Glauben“ konzentrierte. Dieser behandelt nicht nur das Thema Reformation und Gegenreformation – bestimmte Bereiche des Bezirkes Liezen
stellten bis zur gewaltsamen Unterdrückung 1599 Hochburgen für den
protestantischen Glauben dar – sondern zeigt unter anderem auch zahlreiche Votivgaben und Wachsvotive, in welche die Menschen ihre Hoffnungen und Wünsche legten. Eine beispielsweise aus Wachs hergestellte
Kröte soll Fruchtbarkeit herbeiführen, ein Wickelkind dem Neugeborenen
Schutz bescheren sowie Füße, Hände oder Zahnreihen eine Heilung der
entsprechenden Körperteile erbitten oder Dank sagen. Votivgaben sind
ganz allgemein Zeichen eines Gelübdes oder Gnadenerweises einer/
eines angerufenen Heiligen – bei den Exponaten im Landschaftsmuseum
vertrauten die Gläubigen häufig auf die Muttergottes. Während die genannten Objekte in einem klaren Bezug zum Glauben und Gebet stehen –
Tausende von Votivgaben in Kirchen bezeugen übrigens, „dass Vertrauen
und Kommunikation mit dem Höheren erfolgreich zur Heilung beigetragen haben“2 –, geht Maria Papadimitriou einen Schritt weiter, indem sie
die Symbole und Objekte unserer Ängste zu ergründen sucht.
2
Eva Kreissl: heilsam.
Volksmedizin zwischen
Erfahrung und Glauben.
Katalog zur gleichnamigen
Sonderausstellung des
Volkskundemuseums am
Landesmuseum Joanneum.
Graz 2006, S. 13.
3
Klaus Beitl: Volksglaube.
Zeugnisse religiöser
Volkskunst. München:
Hugendubel 1983, S. 5.
4
Vgl. Martin Urban: Wer
leichter glaubt, wird
schwerer klug. Wie man das
Zweifeln lernen und den
Glauben bewahren kann.
Frankfurt a. M.: Eichborn
2007.
5
Vgl. den Beitrag von Jennifer Allen in diesem Band.
Ungeachtet dessen lässt sich der Mensch in seinem Wunsch nach Sicherheit immer wieder überlisten, denn neurologisch gesehen ist der Homo
sapiens nach wie vor mit einem Gehirn ausgestattet, welches sich seit
der Steinzeit nicht verändert hat und vor allem auf das Überleben hin
ausgerichtet ist. So werden unvollständige Informationen, also Dinge,
die wir nicht beeinflussen oder uns erklären können, ergänzt, indem
das Unbekannte in bekannte Bilder oder Objekte eingeordnet wird. Aus
diesem Grund bestimmt weniger das Wissen, als vielmehr der Wunsch
nach Schutz und Überschaubarkeit der eigenen Welt das menschliche
Handeln. Eine immer komplexer werdende Wirklichkeit erfordert neue
Zugänge.4
Maria Papadimitriou5 schuf für die Sonderausstellung einen Altar nach
dem Vorbild altgriechischer Opferaltäre und forderte die Bewohner/innen
des Bezirkes Liezen auf, persönliche Schutzobjekte (symbolhaft verdichten sich diese bei Papadimitriou zu kleinen „Wünsch-Dir-Was-Glücksschafen“), welche über die erwähnten Votivgaben, Amulette oder Talismane
hinausgehen, am Altar darzubringen, um die wie immer gearteten Ängste
272 — 273
Gernot Rabl
abzulegen. Vor allem die Gruppierung der unterschiedlichsten Objekte in
und außerhalb der Einfamilienhäuser und den damit verbundenen Funktionen (zum Beispiel Unwetter abhaltende „Sonnwendbüscherln“), weckten bereits im Vorfeld Papadimitrious Interesse und trugen wesentlich zu
ihrer späteren Arbeit bei. Durch die nun neue und aus dem Zusammenhang gerissene Form der Präsentation rückt folglich auch ein scheinbar
materiell wertloses Objekt, jedoch mit klarem persönlichem Bezug, in
den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Weiter gefasst kann auch an die
mit Opfergaben verbundenen Rituale erinnert werden – Opfergaben als
Darbringung an eine übergeordnete, übernatürliche Kraft.
Vom Aberglauben selbst ist jedoch ein Großteil der Menschen – ob im
ländlichen oder städtischen Raum – betroffen, wenn beispielsweise mit
gewissen Gegenständen, der Verknüpfung bestimmter Handlungen oder
mit täglichen kleinen Riten ein wie immer gearteter Erfolg verbunden
wird. Einfache Symbole werden zu Glücksbringern und halten imaginäres
Unheil von uns fern. In der psychologischen Funktion verschaffen sowohl
Glaube als auch Aberglaube den Menschen Sicherheit. Berufsgruppen
mit zeitweilig riskanten Tätigkeiten, wie zum Beispiel Seeleute, Bergknappen oder auch Bäuerinnen und Bauern, waren und sind aus diesem
Grund abergläubischen Riten wesentlich stärker zugetan.
Aus dieser Motivation heraus ergab sich die Überlegung, die Bevölkerung
„ihre“ Bräuche, Symbole oder Schutzobjekte selbst definieren zu lassen
und zu ergründen, was sie bereit wären für die eigene Sicherheit zu „opfern“. Diesen und ähnlichen Fragen versuchte am zweitägigen 20. Schafbauerntag (vom 19. bis 20. März 2010) ein Team von Kulturwissenschaftlerinnen und -wissenschaftlern nachzugehen. Papadimitriou wählte,
nachdem bei einem ihrer ersten Aufenthalte im Ennstal der Kontakt zu
den Verantwortlichen hergestellt und ein Interesse geweckt worden war,
bewusst diese Veranstaltung aus. Aufgrund der zu erwartenden breiten
Streuung der Besucher/innen schienen auch begleitende Recherchen
Sinn zu machen. Mit der Bitte um eine aktive Beteiligung der Besucher/
innen erfolgte unter dem Titel „regionale10 und Schafbauerntag“ über
die Presse folgender Aufruf: An beiden Tagen besteht die Möglichkeit,
„sich in Interviewform den gezielten Fragen der regionale 10 Mitarbeiter
zu stellen und somit selbst Teil der Sonderausstellung Der schaffende
Mensch. Welten des Eigensinns im Schloss Trautenfels zu werden …. Auf
rege Beteiligung und Schilderungen der unterschiedlichsten Art – von
lustig über spannend bis berührend – freut sich das regionale10-Team.“6
Jene Rituale und Gegenstände, die nun im Diskurs von „Aberglaube“ oder
„Volksglaube“ betrachtet werden, befinden sich aber in einem Grenzbereich populärer Religiosität. So weiß man von zahlreichen Objekten,
„deren Materialien über den religiösen Gebrauchswert hinausgehen,
denen übernatürliche Wirkungen zugeschrieben wurden und die dem
christlich legitimierten Wunderglauben zuzuordnen sind.“7
Ausgerüstet mit einfachen Aufnahmegeräten wurden sowohl Besucher/
innen wie Teilnehmer/innen mit Fragen unter anderem zu den oben genannten Themen spontan interviewt.
6
Der Ennstaler, Nr. 10, 105.
Jg., 12. März 2010, S. 24.
Erwartungsgemäß spielte in der Einschätzung über schutzbietende
Objekte auch der Aberglaube eine zentrale Rolle (hierbei wurden häufig
Silvesterglücksbringer genannt). Kennzeichnet der Begriff des „Aberglaubens“ auch nichtchristliche Religionen, gilt er auch als Abweichung von der
Vernunft über etwas nicht zu bestätigendes oder belegbares, ist auf der
anderen Seite die Grenze zum „anerkannten“ Volksglauben sehr schmal.
So kann dabei an die zahlreichen Bauernregeln erinnert werden, die auf
langjährigen, oft über Generationen weitergegebenen Erfahrungen beruhen. Die dadurch ableitbaren Wettervorhersagen spielen, wenn man
etwa der Profession einer Landwirtin bzw. eines Landwirtes nachgeht
und in vielen Belangen von der Natur abhängig ist, eine wichtige Rolle.
7
Helmut Groschwitz: Anmerkungen zum Verhältnis
populärer Esoterik und
popularer Religiosität als
Ausstellungsthema. In:
Anja Schöne (Hg.): Dinge
– Räume – Zeiten. Religion
und Frömmigkeit als Ausstellungsthema. Münster:
Waxmann 2009, S. 41.
8
Christoph Daxelmüller:
Vorwort. In: Hanns
Bächtold-Stäubli (Hg.):
Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens, Bd. 1.
Berlin u.a.: De Gruyter 1987,
S. XXIII ff.
9
Hannah Arendt: Vita activa
oder Vom tätigen Leben.
München: Piper 2010, S. 33.
Die Grenzen sind somit fließend, und scheinbar festgeschriebene Formen
führen durch individuelle Abweichungen und Auslegungen, die nicht einer
gesellschaftlichen und/oder wissenschaftlichen Idee folgen (zum Beispiel
Naturdeutung), zu eigenen, magischen Kausalitäten. Es kommt zu Abund Ausgrenzung von kirchlichen und naturwissenschaftlichen Dogmen.
Eine allgemeingültige Definition von Aberglaube und dem damit verbundenen oben erwähnten Sicherheitsbedürfnis ist somit unmöglich, da eine
subjektive Auslegung, heute wie damals und unabhängig vom ländlichen
oder urbanen Bereich, dominiert. Letztlich sind eine dem Aberglauben
zweifelsfrei innewohnende magische Komponente und die Überzeugung,
dass sich, neben physikalisch erklärbaren Gesetzmäßigkeiten, eine darin
verborgene okkulte Wirklichkeit befindet, die Garanten dafür, dass diese
Form der Schutzsuche auch in Zukunft seine Faszination beibehält.8
Untrennbar verbunden mit den wie immer gearteten Handlungen ist
dabei die Tatsache, dass jeder Mensch durch die eigene Umgebung,
Landschaft, Erziehung oder Erfahrung geprägt wird. Aus diesem Grund
bewegt sich auch die „Vita activa, menschliches Leben, sofern es sich auf
Tätigsein eingelassen hat, … in einer Menschen- und Dingwelt, aus der
es sich niemals entfernt und die es nirgends transzendiert. Jede menschliche Tätigkeit spielt in einer Umgebung von Dingen und Menschen; in ihr
ist sie lokalisiert und ohne sie verlöre sie jeden Sinn. Diese umgebende
Welt wiederum, in die ein jeder hineingeboren ist, verdankt wesentlich
dem Menschen ihre Existenz, seinem Herstellen von Dingen, seiner pflegenden Fürsorge des Bodens und der Landschaft, seinem handelnden
Organisieren der politischen Bezüge in menschlichen Gemeinschaften.“9
Folglich befinden sich auch Glaube und Aberglaube – gebunden eben
274 — 275
Gernot Rabl
an feste Orte und Rituale – in einem stetigen Wandel. Aufgrund der soziokulturellen Entwicklungen und den immer komplexer werdenden Anforderungen suchen Menschen somit nicht nur in der Religion (Glaube),
sondern auch – und dies mitunter durchaus ergänzend – Zuflucht in der
Esoterik („Aberglaube“ im weitesten Sinn). Allen damit verbundenen
Objekten, wie eben Amuletten, Pendeln, Traumfängern, Talismanen usw.
ist eines gemeinsam: Aus dem ursprünglichen Zusammenhang gerissen
erschließen sie sich den Betrachter/innen nicht ohne entsprechende Kontextualisierung.10 Aus diesem Grund versuchte ein (auch nicht immunes)
Team von Kulturwissenschaftlerinnen und -wissenschaftlern während
des Schafbauerntages, Hintergründe und Beweggründe zu erfragen. Offene Schilderungen über Ängste und Sehnsüchte machten letztlich vieles
begreifbarer und verdeutlichen, wie viel „Tiefe“ in scheinbar bedeutungslosen Dingen steckt. Maria Papadimitriou holte diese „Tiefe“ ins Museum
und sorgt mit ihrem Altar und den scheinbar naiv beigegebenen kleinen
Schafen für eine gänzlich neue Raumwirkung.
Wie bereits in dieser kurzen Abhandlung deutlich wird, handelt es sich bei
diesem letztlich auch heiklen Thema um ein sehr komplexes Feld. Die Abhandlungen und Meinungen dazu sind vielfältig und individuell. Dennoch
lässt sich resümierend und vereinfacht feststellen, dass die Grenzen zwischen Glaube und Aberglaube häufig ineinander übergehen – dient doch
jede Form der Ausübung (vgl. Interviews im Anschluss) nur dem zutiefst
menschlichen Wunsch nach Schutz und Sicherheit.
10
Helmut Groschwitz: Anmerkungen zum Verhältnis
populärer Esoterik und
popularer Religiosität als
Ausstellungsthema. In:
Anja Schöne (Hg.): Dinge
– Räume – Zeiten. Religion
und Frömmigkeit als Ausstellungsthema. Münster:
Waxmann 2009, S. 46.
„Die Trud’ ist angeblich – laut der Überlieferung – eine alte Frau,
die mit den Kindern herumzieht, die keine Namen erhalten haben,
die gestorben sind, während der Geburt, vor der Geburt, wie auch
immer. Und da sagt man, das ist immer in der Walpurgisnacht, da
geht sie immer mit den Kindern herum und da stellt man entweder
Zuckerl hinaus oder man richtet ein paar Apferl hinaus. Und man
sagt einfach Namen so hinaus, in die Luft. Irgendwelche Namen
die einem gerade einfallen, damit die Kinder Namen erhalten. Und
sobald ein Kind einen Namen hat, kann es weitergehen. Das ist ein
ganz alter Brauch, der stammt noch aus – sie vermuten – aus der
Zeit der Kelten. […] Für mich ist das eigentlich ein Glücksbringer,
weil […] es heißt ja du sollst jeden mit [seinem] Namen ansprechen, und damit gibst du ihm eine Persönlichkeit, eine Wichtigkeit, und mir kommt vor, dadurch kommt Segen auf den Betrieb
zurück.“
„Ich glaube Angst ist ein schlechter Ratgeber. Man soll also vor
solchen Ereignissen [Wetterschäden] keine Angst haben. Das
gehört einfach zur Landwirtschaft dazu.“
11
Interviews, Universalmuseum
Joanneum, Multimediale
Sammlungen/Büro der
Erinnerungen, 20.3.2010.
„Ich glaube das Wichtigste ist der Glaube an die Zukunft. Und
wenn man einen Weg in Zukunft begehen will, dann ist das keine
Einbahnstraße, sondern man muss Rückschläge zur Kenntnis
nehmen. Und wie gesagt, so ein Rückschlag ist zum Beispiel auch
der Hagel oder sonst irgendeine Sache. Aber das sind Dinge, die
man eben im Leben mitmachen muss. […] Klar, ist ein christlicher
Glaube hier von Vorteil und macht einem auch wieder Mut. Ich
muss aber sagen, an sonstige Glücksbringer, irgendwelche Spielzeuge oder sowas, glaube ich nicht.“
„Früher wenn man ein Haus gebaut hat, [hat man] unter dem
Haus beim Eingang vorne ein lebendes Tier begraben. Das war ein
uralter Brauch, um das Böse abzuhalten. Das ist uralt, das macht
heute niemand mehr.“
„Ich glaube, wenn man daran glaubt [an schützende Bräuche],
dann wird es etwas bringen. Ich glaube nicht daran, mir bringt
es nichts, und ich nehme auch in Kauf, was auf mich zukommt –
[damit ist es für mich] erledigt.“
„Wir weihen auch unsere Autos immer, damit wir keinen Unfall
haben – das ganze Jahr. Und die Haube tut man auch einweihen,
dass man nicht krank wird.“
„Das ist das Räuchern […] das ist so eine Rauchpfanne mit Weihrauch, Kranewitter [Wacholder], Gras, Palmzweigerl von der Palmprozession, die kommen in einen Topf hinein – mit einer Glut und
dann gehen wir alles durch – Haus, Garage, Stall, alles. In jeden
Raum wo gearbeitet wird gehen wir hinein und dahinter geht einer
[Weihwasser] versprengen. Und für mich ist das eigentlich – ich
gehe da mit seit ich ein kleiner Bub war, und ich möchte das auch
weiterhin so machen.“11
276 — 277
Wetterfest in die Globalisierung
Notizen zur unverwüstlichen
Karriere des Lodens
Günther Marchner
Das Ding aus einer anderen Zeit
Die „zweite Haut“ der schaffenden Menschen wurde in den Gegenden des
Bezirks Liezen – wie in anderen alpinen Räumen – aus Tierhäuten, Wolle
und Flachs zu Loden, Leder und Leinen und schließlich zur Kleidung lokal
verarbeitet. Dieses „G’wand“ für Alltag und Arbeit ist im Prozess von
Industrialisierung und Globalisierung unserer Arbeits-, Wirtschafts- und
Lebensverhältnisse als „Mainstream-Kleidung“ beinahe bedeutungslos
geworden. Aber vielleicht nur vorläufig.
1
Eine eindrückliche Darstellung zur Technikgeschichte
der Lodenwalken liefert
Johann Schwertner: Der Lodenwalker in der Ramsau.
Ein Beitrag zur Volkskunde
des steirischen Handwerks.
Phil. Diss., Graz 1988;
Johann Schwertner: „…von
einem guoten stampfhart.
Loden im Wandel der
Zeit (=Schriftenreihe des
Kärntner Freilichtmuseums
in Maria Saal). Klagenfurt
1996.
2
Siehe dazu die aus der
Region (Ennstal, Steirisches
Salzkammergut) stammenden Mitgliedsbetriebe
der Meisterstrasse (www.
meisterstrasse.at).
Zum Teil bis in die 1950er- und 1960er-Jahre hat sich die historische
Funktion von Loden-, Leder- oder Leinenbekleidung und damit verbundener Gewerbe erhalten: Loden als Wollprodukt schützte vor den Elementen
der „verschärften“ alpinen Natur und war Material für die Arbeitskleidung
von Bauern oder Holzknechten. Bauern tauschten die Wolle ihrer Schafe
gegen gewalkte Wolle (Loden) ein. Historisch wurde Lodenwalken in den
meisten Fällen als Nebengewerbe und Dienstleistung für den Bedarf des
lokalen Umfeldes betrieben.1 Störschneider zogen von Hof zu Hof und
erzeugten bzw. richteten bis in die Zeit der Textilhandelsgeschäfte das
„Jahresg’wand“ für die bäuerliche Bevölkerung.
Nun sind Schneider beinahe ausgestorben, außer sie schaffen es, in
einem Exklusivbereich mit hochpreisigen Qualitätsprodukten für einen
spezifischen Markt zu operieren.2 Ebenso sind die meisten Lodenwalken
im alpinen Raum verschwunden, wie insgesamt der größte Teil des europäischen Textilgewerbes. Textilwirtschaft ist – als erste Branche – Teil
einer globalisierten Industrie geworden.
Die Erzeugung, Verarbeitung und Vermarktung „regionaler“ Textilprodukte und „traditioneller“ Kleidung wie im Besonderen des Lodenge-
3
In den folgenden Ausführungen beziehe ich mich
auf folgender Literatur:
Franz Lipp (Hg.): Trachten
in Österreich. Wien 1984;
Franz Lipp: Das Ausseer
G’wand (Neuauflage).
Bad Ausseee 1997; Ulrike
Kammerhofer-Aggermann:
Dirndl, Lederhose und
Sommerfrischenidylle.
In: Robert Kriechbaumer
(Hg.): Der Geschmack der
Vergänglichkeit. Jüdische
Sommerfrische in Salzburg
(=Schriftenreihe des Forschungsinstitutes für Politisch-Historische Studien
der Dr.-Wilfried-HaslauerBibliothek, Salzburg 14).
Wien (u.a.): Böhlau 2002;
Salzburger Landesinstitut
für Volkskunde (Hg.): Trachten nicht für jedermann?
Heimatideologie und Festspieltourismus dargestellt
am Kleidungsverhalten in
Salzburg zwischen 1922
und 1938. (=Salzburger Beiträge zur Volkskunde, Bd.
6). Salzburg 1993; Bernhard
Tschofen: „Urtracht“ als
Touristenkostüm. Ein
moderner Alpenmythos
zwischen Volkskunde und
Alpinismus. In: Tradition
Nr. 57/Frühling & Sommer
2001, S. 78-81. ders.:
Trachtengrün. Berufsgewand – Gesinnungsmode
– Alltagskleid. In: Tradition
Nr. 63/Frühling & Sommer
2004, S. 8-12.; ders.:
Lebensgefühl Tracht. Wege
aus der Verkrampfung. In:
Nora Schönfellinger, Lutz
Maurer (Red.): Tracht –
Landschaft – Musik. Forum
Aussee 2001, Abschlussbericht. Bad Aussee 2001,
S. 10-20. Zusätzliche Informationen verdanke ich den
Gesprächen mit Vertretern
der Ennstaler Lodenwalken,
mit zwei Schneidermeistern
aus der Region sowie einem
Ausseer Lederhosenmacher.
wandes erfuhr einen enormen Funktions- und Bedeutungswandel: Aus
dem historischen „G’wand“ der Leute entstand die „Tracht“ und die
„Trachtenmode“. Der frühere Einsatz von Loden als wetterfestes Material (feuchtigkeits- und schmutzabweisend, wärmend, strapazfähig) für
alpines Leben und Arbeiten wurde zunehmend von seiner Rolle als Basismaterial für Trachtenbekleidung abgelöst. Aber auf den in den letzten
Jahrzehnten abnehmenden Markt für „Wetterflecke“ und Lodenmäntel
folgt auf leisen Sohlen die Renaissance des Lodens als Naturprodukt für
qualitätsvolle Sport- und Modebekleidung sowie dessen subtiler Einsatz
in der internationalen Mode und als edler Bezugsstoff.
Vom G’wand zur vieldeutigen Tracht
Aus dem historischen „G’wand“ der schaffenden Menschen entwickelte sich die Tracht bzw. die Trachtenmode.3 Denn dieses „G’wand“
war immer auch „Kommunikationsfläche“, verbunden mit Bedeutungen
und Zuschreibungen: Sei es aufgrund von „Kleiderordnungen“, die den
Menschen per Kleidung den richtigen „Stand“ zuwiesen. Oder sei es als
„Mode“, die zum Beispiel Bürgern, Hammerherren oder großen Bauern
zur Präsentation von Reichtum und von sozialem Status diente oder besondere Individualität ausdrücken sollte.
Im Zeitalter von Aufklärung und Romantik (18. auf 19. Jahrhundert) entdeckten Adel und Bürgertum die Natur und das „einfache Volk“. Mit dieser sehnsüchtigen Hinwendung zu einer heil erscheinenden ländlichen
Welt machten sie jenes alte, regional und sozial begrenzte bäuerliche
Gewand, das zu Beginn des 19. Jahrhunderts als Relikt einer ständischen
Gesellschaft galt und nur in stadtfernen, alpinen Regionen überdauerte,
salonfähig – wie im Besonderen im Salzkammergut und in der Obersteiermark.
Die Entwicklung von Trachten, deren heute bekannte Formen großteils im
ausgehenden 18. und im 19. Jahrhundert entstanden, ist auch Ausdruck
der Zunahme an bürgerlicher Freiheit und Individualität. In Verbindung
mit ihrer Natur- und Heimatsehnsucht begannen städtisch-bürgerliche
Schichten und Adelige, sich im Gewand des einfachen Volkes zu kleiden – im Gegensatz zu den abwandernden „proletarischen Massen“ aus
ländlichen Regionen – und machten es als Tracht in stilisierten Formen
und Verfeinerungen populär. Dies hatte aber auch Auswirkungen auf das
Selbstverständnis und die kollektive Identität von ländlichen Bevölkerungsgruppen und letztlich auf ihre Kleidungsideale, da dem verblassenden alten Gewand wieder ein Wert gegeben wurde.
Ein wichtiges Beispiel für die Entwicklung und Verbreitung von Tracht im
19. Jahrhundert bildet der populäre graugrüne Lodenrock (der spätere
Farbproben Loden Steiner 1988
In der Lodenwalke Ramsau, 2010
280 — 281
Günther Marchner
Steireranzug), forciert im Besonderen von Erzherzog Johann. Dieser
graugrüne Rock wird zum besonderen, vielschichtigen Symbol – mit der
Farbe Grün für Natur- und Heimatverbundenheit, aber auch als Absage
an feudale Werte und als Bekenntnis zum neuen Staatsbürgertum (so
propagierte Erzherzog Johann eine graugrüne Landwehruniform), gleichzeitig auch „rationaleren“ Vorstellungen von Kleidung entsprechend:
Abgesehen vom dezent eingesetzten Grün ist er einfärbig grau, einfach,
klar, schnörkellos.
stellt das Steirische Trachtenbuch von Konrad Mautner, des regelmäßig
in Gössl verweilenden Sprosses einer Industriellenfamilie, dar. 4
In der Ersten Republik war Tracht nicht nur Freizeitbekleidung für die
Sommerfrische und die neuen Salzburger Festspiele, sondern auch Symbol eines Bekenntnisses zu Österreich als Staat, „den keiner wollte“ und
als nostalgische Hinwendung zur versunkenen „Welt von gestern“, der
k.k. Monarchie.5 Dirndl und Lederhose avancierten zur schicken Sommermode – wie zum Beispiel im Falle von vielen Künstlern und Prominenten in
der Festspielstadt Salzburg (auch ein eigener Salzburger Trachten-Look
wird kreiert). Der Ständestaat progagierte in seinem Identitätsbemühen
im neuen, kleineren Österreich die Einführung von Landestrachten.
Über städtische Schichten, Adel und Bürgertum ist somit aus dem alten
„G’wand“ die „Tracht“ geworden. Und immer weniger dient sie dem Alltagsgebrauch, sondern vermehrt als Kleidung für festliche Anlässe und
für Zwecke der Präsentation.
Völkisch-nationale Gruppierungen instrumentalisierten Tracht für Agitation und Ausgrenzung und machten sie zur „heiligen, ererbten Vätertracht“ als Symbol für völkischen Heimatschutz. Die antisemitische
Programmatik dieser Strömungen sprach den jüdischen Mitbürgerinnen
und Mitbürgern, darunter auch vielen begeisterten Sommerfrischlern,
das Recht ab, Tracht zu tragen – eine Entwicklung, die im Trachtenverbot
für Juden im nationalsozialistischen Staat mündete.
Tracht zu tragen entwickelte sich seit dem 19. Jahrhundert insgesamt zu
einer komplexen und vielschichtigen Angelegenheit: Als gewohnheitsmäßiges und „selbstverständliches“ Tragen von Loden in bäuerlich-ländlichen Milieus im Alltag. Als Bekenntnis zur „Tradition“ einer Gruppe oder
einer Region, der man sich mit Stolz zugehörig fühlt. Als Lust auf die besondere Ästhetik von Formen und Stoffen und des Sich-Bewegens in den
Sehnsuchtsräumen des städtischen Großbürgertums („Leichtigkeit des
Seins in der Sommerfrische“). Darüber hinaus wird Tracht auch Ausdruck
für kulturelle und politische Werthaltungen (Ablehnung der industrialisierten, urbanen und modernen Welt, Bekenntnis zu einer überlieferten
ländlichen Welt, Heimat- und Naturverbundenheit). Mit dem beginnenden 20. Jahrhundert avancierte Tracht auch zum Objekt völkischer und
nationaler Strömungen.
Einen besonderen Höhepunkt der Adaptierung der Kleidung der Einheimischen für ein neues Lebensgefühl städtisch-bürgerlicher Schichten in
Verbindung mit Freizeit und Jagd bildet die im auslaufenden Zeitalter
von Romantik und Historismus aufkeimende Sommerfrische. So ist zum
Beispiel das „Dirndl“ eine Erfindung bürgerlicher Sommerfrischlerinnen,
die in das „Stallg’wand“ der Almerinnen schlüpften. Über Erzherzog Johann hinaus setzten auch die Habsburger das Trachtentragen fort, wie
zum Beispiel Kaiser Franz Josef, der in Lederhosen auf die Ischler Jagd
ging und damit starke Signale („Natursehnsucht“, „Volksnähe“, „Heimatverbundenheit“) setzte.
Gegen die Auswüchse der „X-Beliebigkeit“ von Trachtenmode seit dem
Ende des 19. Jahrhunderts bemühte sich die im Kontext von Heimatbewegungen und Liebe zur Volkskultur entstandene Volkskunde um die
Aufarbeitung der Trachtenentwicklung sowie auch um Maßstäbe für „korrekte“ Tracht. So entstanden mehrere Trachtensammlungen. Ein besonderes Beispiel für eine umfangreiche und nachhaltig wirksame Sammlung
Nach 1945 wurde das Tragen von Tracht in vielen Kreisen desavouiert. Einerseits ist dies jenem „Graben“ zu verdanken, den die völkisch-nationale
und nationalsozialistische Vereinnahmung von Trachten hinterlassen
hatte. Andererseits hat diese Ablehnung von Tracht auch mit der (linken)
Populärkultur seit den 1960er-Jahren zu tun. Tracht zu tragen unterliegt
seither – auch aufgrund politischer Vereinnahmungen – Vorurteilen und
damit verbundenen Zuweisungen (Tracht = rückständig, bürgerlich, traditionell, konservativ, rechts usw.).
4
Konrad Mautner: Steirisches Trachtenbuch.
Weitergeführt und
herausgegeben von
Viktor Geramb. 2 Bde.
Graz 1932 und 1935 (eigentlich abgeschlossen
1939); vgl. dazu: Nora
Schönfellinger (Hg.):
„Conrad Mautner, großes
Talent“. Ein Wiener
Volkskundler aus dem
Ausseerland. Grundlsee
1999.
5
So der Titel eines Klassikers von Stefan Zweig.
Zurück zum Loden: Ab den 1960er-Jahren wurde Loden (oder auch Leinen) durch neue Stoffe ersetzt. Insbesondere der traditionelle Einsatz
des Lodens als funktionales Material für Arbeits- und Sportbekleidung
verschwand zugunsten der Verwendung von Kunstfaser. Noch bis in die
1950er-Jahre war Loden aufgrund seiner besonderen Qualitäten (feuchtigkeits- und schmutzabweisend, wärmend, strapazfähig) von Bergsteigern genutzt worden.
Abgesehen von alpinen Regionen – wo Trachten verbreitet bei festlichen
Anlässen getragen werden – verschwand die Tracht in den letzten Jahrzehnten aus dem Alltag, besteht jedoch in spezifischem Rahmen weiter,
zum Beispiel im Rahmen von Trachten- und Heimatpflegeaktivitäten.
Im Besonderen wurden örtliche Musikkapellen zu Repräsentanten von
Tracht, die sich zusehends von militärischen Formationen zu kollektiv
marschierenden Trachtenkörpern verwandeln. In Verbindung mit Touris-
282 — 283
Günther Marchner
musregionen und populärer Volkskultur wird Trachtenmode für manche
Bevölkerungsschichten in Österreich, in der Schweiz, in Südtirol sowie im
süddeutschen Raum zum Ausdruck eines Lebensgefühls.
Heute gehört vor allem das Ausseerland – wie andere Teile des Salzkammergutes – zu jenen besonderen „Trachteninseln“, die sich im
Wechselspiel des eigensinnigen Stolzes der Bewohner/innen mit dem
städtisch-bürgerlichen „Sommerfrische-Import“ erhalten haben. Wo sich
andernorts Trachtenvereine bemühen, „bedrohte“ Tracht zu bewahren
und zu repräsentieren, zählt sie hier zur alltäglichen Selbstverständlichkeit – quer durch alle Bevölkerungsschichten. Als typisch „ausseerisch“
und „steirisch“ gilt das typische Ausrüstungsset: wie zum Beispiel die
Lederhose (eng und lang bis oberhalb des Knies), der Gamslrock, grüne
Stutzen mit der eingemusterten „brennaden Liab“ oder anderen Motiven,
der Ausseer, bzw. der Steirerhut oder das Seidenbindl. Oder eben der
graugrüne Steieranzug. Oder das Dirndl.
Eine besondere Variante des graugrünen Rocks ist der „Schladminger“:
als „schwerwiegender“ Überrock in der Regel aus besonderem Loden
(Perlloden) hergestellt, der zwar weit über die Region hinaus bekannt ist,
doch überwiegend im oberen Ennstal von Einheimischen wie zunehmend
von langjährigen Gästen und zugezogenen „Zweiheimischen“ getragen
wird. Im Zusammenhang mit einem „Trachtenboom“ in den 1990er-Jahren, der 10 Jahre später ebenso rasch wieder zusammengebrochen ist,6
wurde der „Schladminger“ zum besonderen Kult- und Werbeobjekt des
boomenden Wintersportortes Schladming. Er avancierte vom Bauernund Holzknechtgwand zum „Bürgermeisterjanker“, der Exilschladmingern zu ehrenhaften Anlässen oder Verwandten zum „50er“ geschenkt
wird, oder auch Prominenten wie Arnold Schwarzenegger verpasst wird,
durch welchen der Schladminger zum besonders „massiven“ Werbeträger
wurde.
6
Aus einem Gespräch mit
einem Lodenproduzenten.
Erfolgreiche Nischen- und Qualitätsprodukte
für einen überregionalen Markt
7
Ich beziehe mich dabei auf
Aussagen und Informationen aus den Gesprächen
mit Vertretern der Ennstaler
Lodenwalken, mit zwei
Schneidermeistern aus der
Region sowie einem Ausseer Lederhosenmacher.
Alpines Textilgewerbe ist angesichts einer globalisierten Textilindustrie
zu einer Besonderheit geworden. Aber hat Lodenproduktion überhaupt
eine Zukunft? Kann Trachtenhandwerk überleben? Beispiele aus dem
Ennstal und dem Ausseerland zeigen sehr wohl Beispiele für erfolgreiche
Nischen- und Qualitätsstrategien7:
8
Dieser Ursprungsstandort
in Rössing in der Ramsau
ist eine der ältesten Lodenwalken im Alpenraum (über
500 Jahre).
Im Ennstal bestehen derzeit zwei Lodenwalken, die familiengeschichtlich
aus einem Standort hervorgehen.8 Beide Betriebe (mit durchschnittlich
25 bzw. 60 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern) haben es geschafft, dem
Wandel von Produktionsbedingungen, Modeströmungen und Globalisie-
Lederhosenstilleben,
Was man nicht sieht
284 — 285
Günther Marchner
rung zum Trotz erfolgreich zu bestehen. Im Gegensatz dazu sind viele
andere kleine Lodenwalken in den letzten Jahrzehnten verschwunden.
Beide Ennstaler Betriebe produzieren Loden zwar auch für Trachtenkleidung (zu ca. 50%), wie auch den berühmten „Schladminger“. Allerdings
sind Trachten nicht der einzige und vor allem nicht der entscheidende
Markt, der das Überleben dieser Betriebe sichert.
Dafür haben diese Betriebe unterschiedliche Spezialisierungs- und
Nischenstrategien entwickelt:9
→ Die Lodenwalke in Ramsau/Rössing setzt auf „Tradition“: Bis
auf notwendige Modernisierungen (Maschinen für Spinnerei und
Weberei) ist vieles unverändert geblieben. Loden wird naturnahe
und schonend erzeugt, der Betrieb überzeugend als transparentes
und ehrliches „Erlebnis“ inszeniert. Zu dieser Authentizität gehört auch, dass die Konfektionierung des Lodenstoffes für Tracht
und Mode zu 100% durch steirische Schneidereien erfolgt. Eine
Besonderheit, die zum Markenzeichen des Betriebes zählt: Die
Produkte dieser Lodenwalke gibt es nur „vor Ort“ zu kaufen bzw.
zu bestellen. Entscheidend für den Betrieb ist jedoch, dass eine
Kombination aus traditionellen mit neuen modischen Produkten
gelingt und damit ein erweitertes Publikum anzieht. Zunehmend
wird von einer neuen Kundschaft die besondere Qualität des
Lodens wahrgenommen und geschätzt, die er zum Beispiel für
Sportbekleidung hat (feuchtigkeits- und schmutzabweisend, wärmend, geruchsabsorbierend). Allerdings wird von diesem Betrieb
schon lange nicht mehr heimische Wolle verwendet. Diese ist aufgrund des Klimas zu hart und zu kratzig. Loden aus der Ramsau
wird aus feinerer, überseeischer Wolle erzeugt. Heute bildet die
Lodenwalke in Rössing einen originellen handwerksorientierten
Herzeigebetrieb mit hoher Produktqualität und besonderem Erlebniswert in einer Tourismusregion.
9
Informationen aus Gesprächen mit Vertretern
der beiden Betriebe im
März 2010 sowie verfügbaren Unterlagen.
→ Loden Steiner in Mandling ist seit dem Rückgang traditioneller
Lodenkleidung in den 1980er-Jahren zunehmend innovativ auf
neue Märkte ausgerichtet. Im Besonderen der früher weit verbreitete Lodenmantel ist, so ein Vertreter des Unternehmens, „quasi
ausgestorben und müsste unter Artenschutz gestellt werden“. Mit
der Neuausrichtung des Unternehmens wurden die Lodenstoffe
bunter und vielfältiger. Internationale Marken werden mit ausgewählten Stoffen beliefert, die flexibel und in kleinen Mengen
erzeugt werden. Die Firma ist auf Modemessen in Paris vertreten
und inzwischen dort „in den Köpfen verankert“. Zusätzlich wird mit
Innendekoration (Decken, Bezugsstoffe wie zum Beispiel für Hoteleinrichtungen) eine neue und wachsende Schiene aufgebaut.
Entscheidend ist: Beide Betriebe verbinden Tradition und Erfahrungswissen mit neuen Strategien (Nischen- und Qualitätsproduktion für einen
überregionalen Markt) und tragen quasi als identitätsstiftende „LeitKMUs“ zur Wertschöpfung in der Region bei.
Darüber hinaus gibt es in der Region erfolgreiche Handwerksbetriebe im
Bereich der Verarbeitung und Vermarktung von Trachten. Dazu zählt zum
Beispiel der einzige Lederhosenmacher im Ausseerland, der Lederhosen
nur auf Maß erzeugt (Kostenpunkt: zwischen 1000 bis 2000 Euro pro
Stück, mit durchschnittlich einem ¾ Jahr Wartezeit), der zwischendurch
für Kundinnen und Kunden auch eine Blue Jeans richtet, mit einer Werkstatt als gleichzeitigem Verkaufs-, Verhandlungs- und Anproberaum
sowie einem Werbebudget von Null Euro. Und es gibt Schneidereibetriebe
im Ausseerland oder in der Ramsau, die Tracht, auch in eigenständiger
Weiterentwicklung und in Maßarbeit für ein ausgewähltes Publikum erzeugen – und dies mit dem Handel von Trachten- und Modebekleidung
„von der Stange“ in allen Lagen und Preisklassen verbinden. Entscheidend für ihren Erfolg ist ihre Positionierung in einer Tourismusregion, aus
denen sich auch ein überregionales Publikum erschließt.
Wetterfest in die Globalisierung
Loden wird überwiegend mit „Tracht“, „grün“ oder „grau“ und „konservativ“ assoziiert. Aber das stimmt schon lange nicht mehr. Traditionelle
Lodenkleidung wie der „Wetterfleck“ ist nicht ausgestorben. Aber der
Wetterfleck ist zu etwas Besonderem geworden, getragen „von Individualisten“, so ein Lodenproduzent.
Der Alltagseinsatz des „Schladmingers“ ist nicht nur bei Prominenten zu
bewundern, sondern auch bei Skiliften der Region, wo er den Bauern, die
dort im Neben- oder Zuerwerb tätig sind, jenen besonderen Schutz bietet, wie er es früher immer schon getan hat.
Einer tendenziell statisch-konservierenden Trachtenpflege durch Volkskunde, Museen und Trachtenvereinen ist eine dynamische Seite gegenüberzustellen: Zum Beispiel jene cool-bunten Trachtenträger/innen, die
beim „Weaner Seertag“ alljährlich das Altausseer Bierzelt heimsuchen
oder jene Schneider, die mit viel Kompetenz und Behutsamkeit Trachtenkleidung in Maßarbeit durch eigene Kreationen weiterentwickeln und sich
nicht gerne vorschreiben lassen möchten, wie Tracht auszusehen hat.
286 — 287
Schöne Ferienwohnung in ruhiger Lage
Einblicke in die Gestaltung von Privaträumen
auf der Sonnenalm in Bad Mitterndorf
Gundi Jungmeier
1
Ortsplan von Bad Mitterndorf, http://www.badmitterndorf.at/OrtsplanBad-Mitterndorf.577.0.html
[Zugriff: 31.3.2010].
2
Walter Kiwit: 40 Jahre Sonnenalm in Bad Mitterndorf
im steirischen Salzkammergut. Bad Mitterndorf
2005, S. 4.
3
http://www.sonnenalm.
net/3.html [Zugriff:
14.4.2010].
4
Hermine Vidovic: Wirtschaftliche, soziale und
räumliche Auswirkungen
von Zweitwohnsitzen.
Fallstudie Bad Mitterndorf.
Dipl.-Arb., Wien 1982, S.
54–55.
5
Ebda., S. 93–95.
6
Ralph Weiß: Vom gewandelten Sinn für das Private.
In: Ralph Weiß, Jo Groebel:
Privatheit im öffentlichen
Raum. Medienhandel
zwischen Individualisierung
und Entgrenzung (=Schriftenreihe Medienforschung,
Bd. 43). Opladen: Leske und
Budrich 2002, S. 31.
Gute drei Kilometer vom Ortskern von Bad Mitterndorf, nordöstlich der
Salzkammergut-Bundesstraße, liegt die Sonnenalm, eine Ansiedlung
von Ferienwohnbauten.1
Zwischen 1964 und 1974 wurden acht Appartementhäuser sowie eine
Reihe von Bungalows und kleineren Freizeitwohnanlagen errichtet, die
insgesamt 609 Wohneinheiten umfassen.2 Diese werden von ihren Besitzerinnen und Besitzern teilweise auch anderen Erholungssuchenden
zur Miete angeboten.3
Der Bau dieser Anlage ging einher mit einem in den 1960er-Jahren einsetzenden gesamtösterreichischen Trend, Freizeitwohnraum für (in erster Linie ausländische) Erholungs- und Erlebnissuchende zu schaffen,
um so die regionale Wirtschaft anzukurbeln.4
Worin liegt jedoch der Reiz, sich am Urlaubsort einen Zweitwohnsitz
einzurichten, anstatt den Service eines Hotels oder die Gemütlichkeit
einer Frühstückspension zu genießen?
Neben finanziellen Überlegungen (z. B. um sich längere Aufenthalte
in einer Ferienwohnung besser leisten zu können oder den Ankauf der
Wohnung auch als Wertanlage zu betrachten) ist dies auch eine Frage
von Prioritäten in punkto „Wohnen am Urlaubsort“.5 Im Gegensatz zu
Beherbergungsbetrieben bieten Ferienwohnungen ein hohes Maß an
privater Atmosphäre.
Was aber genau ist unter „privat“ zu verstehen?
Privatheit bedeutet einerseits Schutz vor Eingriffen durch öffentliche
Gewalt – also staatliche Kontrolle und Überwachung – wodurch persönliche Autonomie gewährleistet wird. Andererseits schließt Privatheit
auch Freiheit vor Übergriffen anderer Privatpersonen und die Sicherung
materieller und sozialer Voraussetzungen für persönliche Freiheit ein.
Letzteres wird wiederum von der öffentlichen Gewalt gewährleistet.6
7
Hans Erich Bödeker: Die
bürgerliche Literatur- und
Mediengesellschaft. In:
Notker Hammerstein, Ulrich
Herrmann: Handbuch der
deutschen Bildungsgeschichte. 18. Jahrhundert.
Vom späten 17. Jahrhundert
bis zur Neuordnung
Deutschlands um 1800, Bd.
2. München: Beck 2005, S.
516–517.
8
Helgard Mahrdt: Öffentlichkeit, Gender und Moral. Von
der Aufklärung zu Ingeborg
Bachmann (=Palaestra.
Untersuchungen aus der
deutschen und skandinavischen Philologie, Bd. 304).
Göttingen: Vandenhoeck &
Ruprecht 1998, S. 12.
9
Werner Faulstich: Die
bürgerliche Mediengesellschaft (1700–1830).
Göttingen: Vandenhoeck &
Ruprecht 2002, S. 22.
10
Ebda., S. 21–22.
11
Ralph Weiß: Vom gewandelten Sinn für das Private,
S. 34.
12
Siegfried Lamnek: Die Ambivalenz von Öffentlichkeit
und Privatheit, von Nähe
und Distanz. In: Siegfried
Lamnek, Marie-Theres Tinnefeld: Privatheit, Garten
und politische Kultur. Von
kommunikativen Zwischenräumen. Opladen: Leske u.
Budrich 2003, S. 40.
13
Ebda., S. 40.
14
Marie-Theres Tinnefeld:
Privatheit: Garten und politische Kultur. Einführende
Gedanken. In: Siegfried
Lamnek: Marie-Theres Tinnefeld, Privatheit, Garten
und politische Kultur, S. 18.
Die Idee der Privatheit steht außerdem in engem Zusammenhang mit
der Entwicklung der „bürgerlichen Öffentlichkeit“ im 18. Jahrhundert.
Diese stellt eine Teilöffentlichkeit mit eigenen Werten und Medien
dar, welche ihren Protagonistinnen und Protagonisten die Möglichkeit
zur Kommunikation eröffnet. Dadurch werden Privatpersonen – die ursprünglich das Publikum bildeten – zu Akteurinnen und Akteuren.7 Voraussetzung für diese Entwicklung ist die Trennung von Staat und bürgerlicher Gesellschaft, wobei die bürgerliche Öffentlichkeit eine eigene,
vom herrschaftlich-öffentlichen und vom privaten Bereich getrennte
Sphäre darstellt.8 Im Verlauf des 18. Jahrhunderts vollzieht sich auch
im wirtschaftlichen bzw. familiären Bereich ein Strukturwandel. Die privatwirtschaftliche Sphäre büßt beispielsweise an privatem Charakter
ein und erhält stärkere öffentliche Relevanz. Analog zur bürgerlichen
Öffentlichkeit entwickelt sich bis zur Wende zum 19. Jahrhundert die
sogenannte „bürgerliche Privatheit“, die z. B. durch Veränderungen in
Familienstrukturen (bürgerliche Kleinfamilie) gekennzeichnet ist. Zudem
kommt es, so Werner Faulstich, zu einer „Isolation von Familie als programmatische Abgrenzung von der ökonomisch bestimmten neuen
Öffentlichkeit“.9 Vor dem Hintergrund der neu entstandenen kommerziellen Öffentlichkeit bildet die Familie somit einen Ort der Regeneration
außerhalb eines leistungs- und gewinnorientierten Umfelds.10
Innerhalb des sehr komplexen Themas der Privatheit und in Zusammenhang mit der starken Abgrenzung der Familie bzw. des Familienlebens
kann der Begriff „Häuslichkeit“ ausgemacht werden. Dieser kennzeichnet einen Bereich, in dem sich eingegangene soziale Beziehungen auf
Übereinkunft gründen und davon bestimmt sein sollen. Hier können sich
Menschen – zumindest der Idee nach – ohne Rücksichtnahme auf Konventionen, die bestimmend für ihr öffentliches Leben sind, offenbaren
und werden um ihrer selbst willen anerkannt. Die häusliche Atmosphäre
bietet Möglichkeiten für Selbstausdruck und Selbstverwirklichung und
garantiert die Sphäre der Intimität.11
In den letzten Jahren verschwimmen wiederum die Grenzen zwischen
häuslicher Privatheit und Öffentlichkeit, da persönliche Aspekte zunehmend in öffentlichen Räumen sichtbar werden. Siegfried Lamnek
sieht darin die „schleichende Privatisierung der Öffentlichkeit“12 und
führt dabei Argumente wie mobile Kommunikation auf offener Straße
und neue Unterhaltungsformate, in denen Intimitäten und persönliche
Schicksale im Fernsehen gezeigt bzw. beobachtet werden, ins Treffen.13
Umgekehrt kommt es auch zu einer stärkeren Durchdringung des privaten Raumes durch Aspekte des öffentlichen Lebens, die stark von
neuen Kommunikationstechnologien, wie z. B. dem Internet, ermöglicht
werden. „Staatliche und private Akteure suchen Zugang zu den Interaktionsprozessen in der digitalisierten Wirklichkeitsschicht und erfassen
sie datenmäßig, um sie abzubilden und für verschiedene Zwecke zu
nutzen.“14
288 — 289
Gundi Jungmeier
15
Mathias Stock: Polytopisches Wohnen – ein
phänomenologisch-prozessorientierter Zugang
(=Informationen zur
Raumentwicklung, Heft
1/2.2009). Bonn 2009,
S. 107.
16
Ebda., S. 111.
17
Rainer Maderthaner:
Wohlbefinden, Lebensqualität und Umwelt. In:
http://homepage.univie.
ac.at/rainer.maderthaner/
Wohlbefinden%20LQ%20
Umwelt%20(Kryspin)%20
Reprint.pdf [Zugriff:
14.4.2010], S. 6–10.
18
Burkhard Pöttler: Der
Urlaub im Wohnzimmer.
Dinge als symbolische
Repräsentation von
Reisen – Reiseandenken
und Souvenirs. In: Johannes
Moser, Daniella Seidl (Hg.):
Dinge auf Reisen. Materielle Kultur und Tourismus.
Münster: Waxmann 2009,
S. 120–121.
19
Rainer Maderthaner: Wohlbefinden, Lebensqualität
und Umwelt, S. 6–10.
20
Marie-Theres Tinnefeld:
Privatheit, Garten und
politische Kultur, S. 18.
Die Grenzen zwischen Privatheit und Öffentlichkeit sowie deren Durchdringbarkeit variieren also und unterliegen je nach kulturellem, politischem und zeitlichem Kontext Veränderungen.
Im Hinblick auf den Ort, an dem sich Menschen häuslich einrichten,
lässt sich seit einigen Jahrzehnten der Trend zu höherer Mobilität feststellen. Der Begriff „Wohnen“ impliziert Werte wie Verbundenheit oder
Ortsansässigkeit, die im Gegensatz zu Mobilität stehen. Die Nutzung
von Zweitwohnsitzen, Pendeln zum Arbeitsplatz über große Distanzen,
Studienaufenthalte usw. sind Mobilitätserscheinungen, die sich nicht
mehr mit ortsgebundenem Leben, in dem alle Erledigungen des Alltags
im näheren Umfeld des Wohnraumes erfolgen, verbinden lassen.15
Touristische Mobilität wiederum ist gekennzeichnet vom Unterschied
zwischen Alltagsort und Urlaubsort. Im Falle der Nutzung einer Zweitwohnung löst sich diese Differenz teilweise durch die Vertrautheit mit
der Wohnung am Urlaubsort auf.16
Was die Wahl des Ortes bzw. der Immobilie einerseits und die Gestaltung
des Wohnraumes sowie des Lebens in diesem Umfeld andererseits betrifft, so müssen Architektinnen bzw. Architekten und Bewohner/innen
ein geeignetes Maß an Privatheit, Sicherheit, Funktionalität, Ordnung,
Möglichkeiten zu Kommunikation und Regeneration, Aneignung, Partizipation und Ästhetik finden. 17
Durch die sich laufend ändernden wirtschaftlichen und sozialen Rahmenbedingungen ändern sich auch die Anforderungen im Bereich der
Wohnraumschaffung.
Eine besondere Bedeutung spielen – besonders auch im Hinblick auf
die Gestaltung von Wohnräumen – Objekte, mit denen sich Menschen
umgeben, denn diese bestätigen deren soziale Identität. Ebenso von
Bedeutung sind persönliche Gegenstände und Andenken, über die sich
ebenfalls die Identität ausdrückt. Immaterieller Besitz bzw. sogenanntes
„kulturelles Kapital“ findet daher sehr oft in Form symbolischer Objekte
Eingang in den alltäglichen Lebensraum und wird häufig dekorativ platziert oder an weniger prominenten Orten aufbewahrt.18
Durch die Aneignung von Räumen, das heißt durch deren Adaption
als Teil des eigenen Lebensraums, z.B. durch das Schmücken von Eingangstüren, Anlegen von Vorgärten usw. wird die Verbundenheit und
Identifikation mit der näheren Umgebung erhöht. Mit der ästhetischen
Bewertung des eigenen Wohn- und Lebensumfeldes werden neben einer
höheren Wohnzufriedenheit, bzw. einem höheren Wohnprestige, auch die
Ortsverbundenheit und die Einsatzbereitschaft für gemeinschaftliche
bzw. kommunale Angelegenheiten gesteigert.19
Die Vorstellung von häuslicher Privatheit schließt Balkone, zum Haus gehörende Gärten usw. mit ein.20 Dennoch handelt es sich dabei um Räume,
deren Grenzen (im Sinne häuslicher Zurückgezogenheit) durchlässig
sind. Sie stellen eine Verbindung zur Außenwelt her und ermöglichen
Lukas Kogler,
Johannes Pötscher
Einblicke in die Gestaltung
von Privaträumen auf
der Sonnenalm in
Bad Mitterndorf
(von oben nach unten):
Andenken am Kachelofen,
Hummelfiguren am
Zierboard, Selbstgefertigte
Schnitzerei, Andenken, 2010
290 — 291
Gundi Jungmeier
Interaktion. Hier sind die Bewohner/innen vor die Aufgabe gestellt, ein
für sie passendes Maß zwischen Transparenz und Abgeschlossenheit aus
einem breiten Feld von Möglichkeiten – zwischen symbolischen Grenzen
in Form von optisch wahrnehmbaren Umrandungen (z. B. Blumenrabatten) und tatsächlichen Barrieren (z. B. Zäune oder Hecken) – zu wählen.
Die Gestaltung von Gärten, Balkonen usw. bestimmt zu einem Teil die
Möglichkeiten bzw. die Intensität der Interaktion mit der Öffentlichkeit.
Mittlerweile haben mehrere Besitzer/innen von Ferienwohnungen die
Sonnenalm als permanenten Wohnsitz auserkoren und wollen ihren Lebensabend ganz oder zumindest zu einem großen Teil dort verbringen.
Einige von ihnen haben für das vorliegende Projekt ihre Türen geöffnet
und Einblicke in ihre Wohnräume und Gärten ermöglicht.21
21
Interviews mit Besitzerinnen und Besitzern von
Immobilien der Sonnenalm, Universalmuseum
Joanneum, Multimediale
Sammlungen, Büro
der Erinnerungen (i. d.
F.: UMJ), 31.3.2010,
1.4.2010, 2.4.2010.
22
Interview, UMJ,
31.3.2010.
23
Interview, UMJ,
1.4.2010.
24
Interview, UMJ,
31.3.2010.
25
Interview, UMJ,
1.4.2010.
26
Interview, UMJ,
31.3.2010.
„Wir sind keine Hotelmenschen in dem Sinn. Beide nicht. Sondern
wir waren immer [darauf] bedacht, dass man etwas besitzt, wo
man hin kann und gleich wieder zuhause ist. Mit seinen eigenen
Möbeln, auch mit der Kleidung etc. Das hat eben besser gepasst,
als wenn man dann mit dem Koffer jedes Mal anreisen muss. Also
wir gehen nicht gerne ins Hotel.“22
Lukas Kogler, Johannes Pötscher
Sonnenalm, 2010
„Wir brauchen keine Vorhänge oder sonst etwas, bei uns ist es
immer offen. Es kann niemand hereinschauen, es scheint den
ganzen Tag die Sonne herein. Wir können uns frei bewegen, das
ist super.“23
„Das ist der hintere Garten. Der ist ostseitig, den nutzen wir sehr
viel. Im Sommer schon beim Frühstück, weil da die Sonne aufgeht. Und dann kann man hier an unserem Tisch wunderschön
frühstücken. Das ist wie so ein Atrium als Innenhof, da schaut
kaum jemand rein.“24
„Wir wissen oft nicht, kommt es von da oder kommt es von da
oder von oben, das kann man nicht feststellen. Wenn man einen
Fernseher oder Musik hört. Das kann man nicht recht feststellen,
wo das herkommt. Aber es ist nicht störend, es ist ganz leise,
wenn man ab und zu etwas hört.“25
„Wir haben es uns halt in der Zeit unseres Hierseins so angenehm
wie möglich gemacht, haben uns gemütlich – so wie wir uns
wohl fühlen – eingerichtet. Unter anderem haben wir dann auch
so Sachen wie die Wandverkleidung und die Deckenverkleidung
in Eigenarbeit montiert und in den Räumen, wo es nötig war das
anzubringen, angebracht. […] Und dazu gehören halt die kleinen
Dinge, die oben auf dem Board stehen, wie die Hummelfiguren.
Auf der anderen Seite haben wir noch ein paar Geweihe. Wir versuchen das halt mit so viel Liebe wie möglich einzurichten. […]
Da sind so urige Häferl hier mit ganz netten Sprüchen drauf, die
haben wir uns mal angeschafft. Wenn es mal Glühwein gibt im
Winter, dann werden die auch wieder benutzt.“26
Biografien
PAWEL ALTHAMER
Franz Kapfer
Geboren 1967 in Warschau
(PL), lebt in Warschau (PL)
Museum of Contemporary
Art, Chicago (US)
Einzelausstellungen
(Auswahl):
2000
Bródno 2000 (Projekt im
öffentlichen Raum),
Warschau (PL)
2009
Pawel Althamer und Andere,
Secession, Wien (AT)
Frühling, Kunsthalle Frideri- Gruppenausstellungen
cianum, Kassel (DE)
(Auswahl):
(mit Nowolipie Group)
2010
2007
Les Promesses du Passé,
One of Many, Fondazione
Centre Pompidou, Paris
Nicola Trussardi, Mailand
(FR)
(IT)
black market, neugerriem- 2009
schneider, Berlin (DE)
Shifting Identities. Art
Now, Contemporary Art
2006
Center Vilnius (LT)
In the Centre Pompidou,
Espace 315, Musée National 2008
d’Art Moderne, Centre
Art Comes Before Gold,
Pompidou, Paris (FR)
Museum of Modern Art
Warsaw, Warschau (PL)
2005
After Nature, New
Paweł Althamer zachęca,
Museum, New York (US)
Zacheta National Gallery of Periphere Blicke und
Art, Warschau (PL)
kollektive Körper, Museion,
Bozen (IT)
2004
Shifting Identities,
Pawel and Vincent, The
Kunsthaus Zürich, Zürich
Vincent Van Gogh Bi-annual (CH)
Award for Contemporary Art Double Agent, ICA, London
in Europe, Bonnefantenmu- (UK)
seum Maastricht (NL)
2007
2003
The World as a Stage, Tate
The Wrong Gallery, New
Modern, London (UK)
York (US)
Volksgarten: Politik der
Zugehörigkeit, Kunsthaus
Graz (AT)
2002
Skulptur Projekte Münster,
Unsichtbar, Alexanderplatz,
Münster (DE)
Berlin (DE, Projekt im
öffentlichen Raum)
2006
Prisoners, Kunstverein
The exotic journey ends,
Münster, Münster (DE)
Foksal Gallery Foundation,
Warschau (PL)
2001
Of mice and men, Berlin
Weronika, Amden (CH, ProBiennale 4, Berlin (DE)
jekt im öffentlichen Raum)
Sculptures in the Park,
The Collective UnconsciousVilla Manin, Udine (IT)
ness, migros museum,
Zürich (CH)
2005
9. Istanbul Biennale,
Istanbul (TR)
Kollektive Kreativität
(zusammen mit Artur
Zmijewski), Kunsthalle
Fridericianum, Kassel (DE)
1. Moskau Biennale,
Moskau (RU)
2004
Utopia Station, Haus der
Kunst, München (DE)
54th Carnegie International, Carnegie Museum
of Art, Pittsburgh (US)
Artists’ Favourites, ICA
Institute of Contemporary
Art Gallery, London (UK)
Dreaming of a Better
World in Six Parts, BAK,
Utrecht (NL)
2003
Art Focus 4 (zusammen
mit Artur Żmijewski), Israel
Museum, Jerusalem (IL)
Bring on the Clowns,
Frieze Art Fair Projects,
London (UK)
Dreams and Conflicts-The
Viewer’s Dictatorship,
Biennale di Venezia,
Venedig (IT)
2002
Warum, Martin Gropius
Bau, Berlin (DE)
„I promise it’s political”,
Museum Ludwig, Köln (DE)
The Collective Unconsciousness, migros
museum, Zürich (CH)
2001
„Ausgeträumt...”,
Secession, Wien (AT)
Abbild, Landesmuseum
Joanneum, Graz (AT)
2000
Manifesta 3, Ljubljana
(SLO)
1997
Documenta X, Kassel (DE)
geboren 1971 in
Fürstenfeld (AT), lebt in
Wien (AT)
Einzelausstellungen
(Auswahl):
2009
In the shadow
of Skanderbeg.
Lichtinstallation, Oper
Tirana, TICA Tirana (AL)
Für Gott, Kaiser und
Vaterland, Kunstpavillon,
Innsbruck (AT)
2008
Zur Errettung des
Christentums, Traklhaus,
Salzburg (AT)
Wunderwürdiges Kriegsund Siegs-Lager, Oberes
Belvedere, Wien (AT)
2007
Zur Errettung des
Christentums, MMK
Stiftung Wörlen, Passau
(DE)
2006
Franz Kapfer, Salzburger
Kunstverein, Salzburg (AT)
Zur Errettung des
Christentums, Galerie
Hohenlohe, Wien (AT)
2004
Rom 2003, Galerie
Hohenlohe & Kalb, Wien
(AT)
Franz Kapfer 2002-03,
Studio, Neue Galerie, Graz
(AT)
2003
Der Einzug König Etzels in
Wien, MAK NITE, Wien (AT)
Gruppenausstellungen
(Auswahl):
2010
tanzimat, Augarten
Contemporary, Wien (AT)
Triennale Linz 1.0, OK
Offenes Kulturhaus
Oberösterreich, Linz (AT)
2009
Because it’s Like That
Now, it Won’t Stay That
Way, Galeria Arsenal,
Bialystok (PL)
Rewind / Fast Forward.
Die Videosammlung, Neue
Galerie Graz, Graz (AT)
Einführung in die
Kunstgeschichte 6,
Landesgalerie Linz (AT)
Schönheit des Hässlichen,
Forum Frohner, Krems (AT)
2008
Rückblende, Neue Galerie,
Graz (AT)
Sexy Sexism, Galerie
Václava Špály, Prag (CZ)
Open Sky, regionale08,
Schloss Kalsdorf,
Kalsdorf (AT),
Another Tomorrow,
Slought Foundation,
Philadelphia (US)
2007
Scheitern, Landesgalerie,
Linz (AT)
Soufflé, Kunstraum
Innsbruck (AT)
Objekthaftes, MdM
Rupertinum, Salzburg (AT)
Exitus, Künstlerhaus Wien,
Wien (AT)
Einführung in die
Kunstgeschichte, Ursula
Blickle Stiftung, KraichtalUnteröwisheim (AT)
2005
Das Neue 2, Atelier
Augarten, Wien (AT)
2004
Lost Eight, Museum
Moderner Kunst Stiftung
Wörlen, Passau (DE)
2002
Ines Doujak / Franz
Kapfer, Galerie Hohenlohe
& Kalb, Wien (AT)
2001
The Subject and the
Power, Central House of
Artists, Moskau (RU)
Le Tribù dell’Arte,
Galeria Communale
d’Arte Moderna e
Contemporanea, Rom (IT)
2000
Gouvernementalität, Expo
2000, Hannover (DE)
CHRISTIAN PHILIPP
MÜLLER
L/B
Sabina Lang , geboren
1972 in Bern (CH), Daniel
Baumann, geboren 1967 in
San Francisco (US),
leben in Burgdorf (CH),
Zusammenarbeit seit 1990
Einzelausstellungen
(Auswahl):
2009
Le Bel Accident. Vincent
Ganivet, Lang/Baumann,
Le Confort Moderne,
Poitiers (FR)
I’m Real, Galerie Urs Meile,
Beijing (CN)
2008
More is More, Galerie
Loevenbruck, Paris (FR)
2007
Pocket Stadium, Locust
Projects, Miami (US)
Hotel Everland, Palais de
Tokyo, Paris (FR)
Comfort #4, Villa du Parc,
Annemasse (FR)
2006
Lumps and Bumps, Spiral/
Wacoal Art Center,
Tokio (JP)
Hotel Everland, Galerie für
Zeitgenössische Kunst,
Leipzig (DE)
2005
Diving Platform, Marks
Blond Project, Bern (CH)
2004
Perfect #2, Stage,
Bern (CH)
Lobby, Kunsthalle,
St.Gallen (CH)
2003
L/B, Bell-Roberts Gallery,
Cape Town (ZA)
2002
Duell, Galerie Urs Meile,
Luzern (CH)
Hotel Everland, Expo.02,
Yverdon (CH)
2001
Window 002, Kunstraum
Walcheturm, Zürich (CH)
Transit, eine Navigation,
Kunstverein, Freiburg (DE)
Beautiful Entrance #3,
Swiss Institute,
New York (US)
2007
Môtiers 2007, Art en plein
Air, Môtiers (CH)
The Memory of this
Moment from the
Distance of Years, Former
Schindler’s Factory,
Krakau (PL)
2000
L/B, Josh Blackwell, Hot
Coco Lab,
Los Angeles (US)
2006
5 Milliards d’années,
Palais de Tokyo, Paris (FR)
Trial Baloons, Canal
Musac, León (ES)
Space Boomerang, Swiss
Institute, New York (US)
1999
Au dernier cri, Galerie Urs
Meile, Luzern (CH)
Inforaum, Kunsthalle,
Bern (CH)
SAT 2, migros museum für
gegenwartskunst,
Zürich (CH)
Gruppenausstellungen
(Auswahl):
2010
Fukutake House, Art
Setouchi 2010,
Kagawa (JP)
Portrait de l’artiste en
motocycliste. Olivier
Mosset, Musée des
beaux-arts, La Chaux-deFonds (CH)
2009
WolaArt, Warschau (PL)
Portrait de l‘artiste en
motocycliste. Olivier
Mosset, Magasin,
Grenoble (FR)
Utopics. 11.
Schweizerische Plastikausstellung, Stadt,
Biel-Bienne (CH)
2008
Nationale
Kunstausstellung,
Autofriedhof,
Kaufdorf (CH)
Balls and Brains,
Helmhaus, Zürich (CH)
2005
Rundlederwelten, MartinGropius-Bau, Berlin (DE)
Focus Switzerland, KBB,
Barcelona (ES)
Malereiräume, Helmhaus,
Zürich (CH)
2004
Design? Kunst, Kunsthaus,
Langenthal (CH)
2003
Floating Land, L’art sur
place, Biennale de Lyon,
Lyon (FR)
Lee 3 Tau Ceti Central
Armory Show, Villa Arson,
Nizza (FR)
Môtiers 2003, Art en plein
Air, Môtiers (CH)
2002
Sweet Nothing, Kunsthaus
Baselland, Basel (CH)
Balsam - Exhibition der
Fussballseele, Helmhaus,
Zürich (CH)
Cape Town Festival, SA
National Gallery, Cape
Town (ZA)
2001
Dreamgames, Stadion
Dynamo Kiev, Kiew (UA)
70s versus 80s, Museum
Bellerive, Zürich (CH)
migros museum für
gegenwartskunst,
Zürich (CH)
Geboren 1957 in Biel (CH),
lebt in Berlin (DE) und
New York (US)
Einzelausstellungen
(Auswahl):
2008
Resolutions, Galerie
Christian Nagel,
Berlin (DE)
cookie-cutter, 47 Orchard,
New York (US)
2007
Basics, Kunstmuseum
Basel, Museum für
Gegenwartskunst,
Basel (CH)
Passé immediate: [plug.in],
Kunst und Neue Medien,
Basel (CH)
2006
Mozart Was Here
(permanent, mit Roman
Ondak), Benediktinerstift
Melk, Melk (AT)
2005
Berlin, Deutschland und
die Welt, Galerie Christian
Nagel, Berlin (DE)
2004
Im Geschmack der
Zeit. Das Werk von
Hans und Marlene
Poelzig aus heutiger
Sicht, IG-Hochhaus
der Johann Wolfgang
Goethe Universität,
Frankfurt am Main (DE);
Architekturmuseum Basel,
Basel (CH)
2003
Im Geschmack der Zeit.
Das Werk von Hans und
Marlene Poelzig aus
heutiger Sicht, Weydinger
Strasse 20, Berlin (DE)
Spice up Powdermaker
Hall, Social Sciences,
Queens College,
New York (US)
2002
A Taste for Money, Galerie
Christian Nagel, Köln (DE)
2001
Humus. Kulturelle
Bodenprobe aus Hamburg,
Köln und Luzern,
Hochschule für Gestaltung
und Kunst, Luzern (CH)
2000
A Sense of Place,
American Fine Arts, Co.,
New York (US)
Gruppenausstellungen
(Auswahl):
2010
Modernologies, Muzeum
Sztuki Nowoczesnej,
Warschau (PL)
Under one Umbrella,
Silberkuppe at Bergen
Kunsthall, Bergen (NW)
2009
TOHUWABOHU. Spirit
of the Haus, Haus der
Kulturen der Welt,
Berlin (DE)
Modernologies, MACBA,
Barcelona (ES)
See this Sound, Lentos
Kunstmuseum Linz,
Linz (AT)
Fifty Fifty. Kunst im Dialog
mit den 50er-Jahren, Wien
Museum, Wien (AT)
C’era una volta un anello,
Galleria d’arte moderna,
Palazzo Margerita,
Modena (IT)
2008
Recollecting. Raub und
Restitution, MAK,
Wien (AT)
Manifesta 7. The European
Biennal of Contemporary
Art, Rovereto (IT)
2007
Rückblende, Neue Galerie
am Landesmuseum
Joanneum, Graz (AT)
Helmut Draxler:
Shandyismus, Kunsthaus
Dresden, Dresden (DE)
The Price of Everything...
Perspectives on the Art
Market, präsentiert vom
Whitney Museum of
American Art Independent
Study Program, The Art
Gallery, CUNY Graduate
Center, New York
Shandyismus. Autorschaft
als Genre, Secession,
Wien (AT)
2006
Sammlung Grässlin, St.
Georgen (CH)
Heard Not Seen, Orchard,
New York (US)
Make Your Own Life:
Artists In & Out of
Cologne, ICA Philadelphia;
The Power Plant,
Toronto (CA)
2005
Projekt Migration,
Kölnischer Kunstverein,
Köln (DE)
Icestorm, Kunstverein
München, München (DE)
In den Wäldern, Kunsthaus
Mürz, Mürzzuschlag (AT)
2004
Election, American Fine
Arts, Co., New York (US)
2003
Watershed, The Hudson
Valley Art Project, Bard
College, Annandale-onHudson, New York (US)
2002
Ökonomien der Zeit,
Museum Ludwig, Cologne
(DE); Akademie der
Künste, Berlin (DE);
migros museum für
gegenwartskunst,
Zürich (CH)
Minimal Maximal, National
Museum of Contemporary
Art, Seoul (KO)
MARIA PAPADIMITRIOU
geboren 1957 in Athen
(GR), lebt in Volos und
Athen (GR)
Einzelausstellungen
(Auswahl):
2010
Hotel Balkan, Haifa
Mediterranean Biennial,
Haifa (ISR)
2009
The Party, öffentliches
Event, Aliveri, Volos (GR)
Infinito fa rumore eternita
fa Silenzio, Mercato
Coperto, Regio Emillia (IT)
2008
Corbu, Zina Athnasiadou
Gallery, Thessaloniki (GR)
2007
Sa Ma Khol Truck – a City
Tour, öffentliches Event,
Teseco Foundation,
Pisa (IT)
Novocomum on Wheels,
Direct Architecture,
Politics and Space,
Borgovico33, Como (IT)
2006
Hotel Plug-Inn, Castillo
de San Gabriel, Lanzarote,
1st Bienal de Arquitectura,
Arte y Paisaje de Canarias,
Kanaren (ES)
2005
Screening at the Kinitron
Gas Station, National
Road Larissa-Trikala,
Larissa Contemporary Art
Center, Thessaly (GR)
Two or Three Things
I Know About him,
Riflemaker Gallery,
London (UK)
KATEŘINA ŠEDÁ
Gruppenausstellungen
(Auswahl):
2010
Hotel Balkan, Haifa
Mediterranean Biennial,
Haifa (ISR)
Mute Signs –
Contemporary approaches
to (in)tolerance,
Hungarian University
of Fine Arts Budapest,
Budapest (HU)
2009
T.A.M.A. Side Effects, 10th
Lyon Biennial, Lyon (FR)
We do it, Kunstraum
Lakeside, Klagenfurt (AT)
The First Image, Center
of Contemporary Art
Sete, (FR)
Naughtiness, Beltsios
Collection, Margari
Foundation, Amfilohia (GR)
Amateur Bicyclism,
ReMap2, Locus, Athen (GR)
The 2nd Gypsy Roma
Traveller Month Screening, Autograph ABP,
London (UK)
EU-Roma Dwelling, RIBA,
London (UK)
2008
Nothing is Happening,
Common View, National
Theater, Athen (GR)
National Museum of
Contemporary Art,
Thessaloniki (GR)
Material Links: A Dialogue
Between Greek and
Chinese Artists,
Museum of Contemporary
Art, Shanghai (CN)
Women Only, Beltsios
Collection, Margaris
Foundation, Amfilohia (GR)
Ideal Homes, Casa del
Lago, Mexico City (MX)
Sũeno de casa propia,
VIMCORSA, Cordoba (ES)
Games Without Frontiers,
Zoumboulaki Gallery,
Athen (GR)
2007
Volksgarten Orchestra,
Volksgarten: Politik der
Zugehörigkeit, Kunsthaus
Graz, Graz (AT)
TAMAhouse, Sueňo de
Casa Propia, La Casa
Encendida, Madrid (ES)
Luv car, 7th Gwangju
Biennale, Gwangju (CO)
Topoi, Benaki Museum,
Athens (GR)
Who’s There, Macedonian
Museum of Contemporary
Art, Thessaloniki (GR)
Two or three things I know
about him, Photosynkyria
19, International festival
of Photography, Museum
of Contemporary Art,
Thessaloniki (GR)
2006
The Athens Effect,
Mudima Foundation,
Mailand (IT)
What Remains is Future,
European Cultural Capital
2006, Patras (GR)
Check in Europe, EPO,
München (DE)
Less: Alternative Living
Strategies, Pavillion of
Contemporary Art,
Mailand (IT)
The People’s Choice, Isola,
Mailand (IT)
2005
The Rolling Billboard Art
Project euroPART,
Wien (AT)
Myths / AntiMyths, Forum
Plus, Wroclaw (PL)
Gesture, Quarter, Centro
Produzione Arte,
Florenz (IT)
Biennial on the
Mediterranean Landscape,
Pescara (IT)
Mira como se mueven,
Telefonica Foundation,
Madrid (ES)
Geboren 1977 in Brno (CZ),
lebt in Brno - Líšeň und
Prag (CZ)
Einzelausstellungen
(Auswahl):
2010
From Morning Till Night,
Tate Modern, London (UK)
2009
Der Geist von Uhyst, Über
Tage, Uhyst (DE)
Česky snadno a rychle
(Tschechisch schnell und
mühelos), mit Rolf Simmen,
Deutsches Radio (DE)
2008
1+1+1 =3, Culturgest,
Lissabon (PO), mit Robert
MacPherson und Manfred
Pernice
Kateřina Šedá (Colocation
n. 4), La box, Bourges (FR)
Kateřina Šedá, The
Renaissance Society,
Chicago (US)
2007
Sweden, mit Fritz
Quasthoff, 1+1, galerie
Arratia/Beer, Berlin (DE)
Vnučka (The Granddaughter), Czech Center,
New York (US)
2006
Kateřina Šedá *1977, etc.
Galerie, Prag (CZ)
Kateřina Šedá, Cultural
House, Brno – Líšeň (CZ)
Kateřina Šedá x 3,
Francosoffiantino
Artecontemporanea,
Turin (IT)
Arrivals > Czech Republic,
Modern Art Oxford,
Oxford (UK)
Gruppenausstellungen
(Auswahl):
2010
Video Drawing, The Israel
Museum, Jerusalem (ISR)
Jeden na jednoho/ ONE ON
ONE, The Brno House of
Arts, Brno (CZ)
Les Promesses du
passé, Centre Pompidou,
Musée National d´Art
Moderne, Paris (FR)
2009
Video Drawing, The Ticho
House, Jerusalem (ISR)
Radio D-CZ, Tranzitdisplay,
Prag (CZ)
Po sametu / After Velvet,
City Gallery Prague,
Prag (CZ)
Formáty transformace
/ Formats of
Transformation, The Brno
House Of Arts, Brno (CZ)
Na okraji zájmu / On the
Periphery of Concern, Emil
Filla Gallery, Ústí nad
Labem (CZ)
Fri Porto, Den Frie Centre
of Contemporary Art
Copenhagen, (DK)
After The Final
Simplification Od Ruins,
Montehermoso Cultural
Center in Vitoria (ES)
10th Lyon Biennial,
Lyon (FR)
Der Geist von Uhyst, Über
Tage, Uhyst (DE)
Time out of Joint: Recall
a Evocation in Recent Art,
Kitchen, New York (US)
Monument transformace,
City Gallery Prague,
Prag (CZ)
Younger than Jesus, New
Museum, New York (US)
2008
The Green Room, CCA,
Bard Center, New York (US)
Cutting Realities. Gender
Strategies in Art, Austrian
Cultural Forum NYC,
New York (US)
La Petite Histoire,
Kunstraum
Niederösterreich,
Wien (AT)
Average, Kunsthaus
Langenthal,
Langenthal (CH)
Manifesta 7, Bozen (IT)
Social Diagrams,
Künstlerhaus Stuttgart,
Stuttgart (DE)
Sixth Biennial of Young
Artists, Zvon 2005 (Bell
2005), City Gallery Prague,
Prag (CZ)
Where Are Lions Are, Para/
Site Art Space,
Hong Kong (CN)
5th Berlin Biennial,
Berlin (DE)
No Borders, AICA,
Brüssel (BE),
Close Encounters, Fine
Arts Center Galleries,
University of Rhode
Island (US)
2007
Documenta 12, Aue
pavillon, Kassel (DE)
Dazwischen (INGENDWO),
Museum Sammlung in
Friedrichshof (AT)
Asia Europe Meditation,
National Museum of Art,
Poznan (PL)
Facelift: 3 Contemporary
Czech and Slovak Artists,
A.I. R. Gallery,
New York, (US)
As In Real Life, Gallery P
74, Ljubljana (SLO)
Auditorium, Stage,
Backstage. An Exposure
In 32 Acts, Frankfurter
Kunstverein,
Frankfurt (DE)
2006
Gray Zones, Dům umění,
Brno and Galerie für
Zeitgenössische Kunst,
Leipzig (DE)
Shadows of Humor, BWA
Wrocław (PL)
Local Stories, Modern Art
Oxford (UK)
Autoren
Jennifer Allen
lebt als Kunstkritikerin
in Berlin.
Hannah Arendt
Gesellschafts- und politikwissenschaftliche Theoretikerin, geboren 1906 in
Hannover, gestorben 1975
in New York, studierte
Philosophie, Theologie und
Griechisch unter anderem
bei Martin Heidegger,
Edmund Husserl und Karl
Jaspers, bei dem sie 1928
promovierte. Nach einer kurzen Inhaftierung
durch die Gestapo 1933
Emigration nach Paris,
Sozialarbeiterin bei jüdischen Einrichtungen,
1940 Verschleppung in
das Internierungslager
Gurs, ab 1941 in New York,
1944-46 Forschungsleiterin der Conference on
Jewish Relations, 1946-49
Cheflektorin im Salman
Schocken Verlag, 194852 Direktorin der Jewish
Cultural Reconstruction
Organization zur Rettung
jüdischen Kulturguts,
1953 nach mehreren Gastvorlesungen u. a. in Princeton und Harvard Professur am Brooklyn College in
New York, 1959 als erste
Frau Gastprofessur an der
Princeton University, 1963
Professorin an der Universität von Chicago, ab
1967 an der New School
for Social Research in New
York.
Publikationen (Auswahl):
Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft,
1955; Rahel Varnhagen.
Lebensgeschichte einer
deutschen Jüdin aus der
Romantik, 1958; Vita
activa oder Vom tätigen
Leben, 1958; Eichmann in
Jerusalem. Ein Bericht von
der Banalität des Bösen,
1963; Über die Revolution,
1963; Macht und Gewalt,
1970; Das Urteilen. Texte
zu Kants politischer Philosophie,1982.
Christoph Doswald
Freier Kurator, Publizist
und Kritiker in Zürich.
Vorsitzender der Arbeitsgruppe Kunst im öffentlichen Raum, AG KiöR der
Stadt Zürich und Kurator
diverser Ausstellungen,
u.a. Press Art (Kunstmuseum St.Gallen/Museum der
Moderne, Salzburg),
Hanspeter Hofmann
(Kunsthaus Graz/Villa
Arson, Nizza), Konkret
Megamopp (Seedamm Kulturzentrum, Pfäffikon),
Missing Link: MenschenBilder in der Fotografie
(Kunstmuseum, Bern/
Kunst Haus, Dresden),
Nonchalance (Centre
Pasquart, Biel/Akademie
der Künste, Berlin).
Peter Gruber
1955 geboren, aufgewachsen im Ennstal, Steiermark, auf dem Bergbauernhof seiner Eltern. Lebt
als Autor (Textwerkstätte)
in Wien, im Ennstal und
als Hirte am Dachstein.
Seit 1981 literarische
Veröffentlichungen: Naturfeuilletons, Lyrik, Sagen,
Märchen, Wildererspiel,
Bauernspiel, Adventspiel.
Texte für Fotobände,
Anthologien, Symposien,
Literaturzeitschriften und
Schreibwerkstätten.
Publikationen (Auswahl):
Sommerschnee (mit Fotos
von Kurt Hörbst), 2008;
Tod am Stein, 2006;
Schattenkreuz, 2001;
Notgasse, 1998.
Christof Huemer
1972 geboren, lebt als
Literat und Journalist in
Graz. Sein Erstlingsroman
Zweifellos erschien 2008
in der Edition Keiper.
Günther Marchner
Als Organisationsentwickler, Sozialwissenschafter und Historiker
tätig, Mitbegründer des
sozialwissenschaftlichen
Netzwerks b.a.s.e. (www.
base-salzburg.at) und von
conSalis - Entwicklungsberatung (www.consalis.
at). Er lebt und arbeitet in
Salzburg und in Bad
Mitterndorf.
Tomáš Pospiszyl
Lebt als Kritiker, Kurator
und Kunsthistoriker in
Prag. Er arbeitete als Kurator in der Nationalgalerie
in Prag (1997-2002) und
war Forschungsstipendiat
im Museum of Modern
Art in New York (2000).
Seit 2003 unterrichtet
er an der Film- und Fernsehschule der Akademie
für darstellende Kunst in
Prag.
Publikationen (Auswahl):
Primary Documents; A
Sourcebook for Eastern
and Central European Art
since the 1950s (hrsg. mit
Laura Hoptman), 2002;
Octobrianaa ruský underground, 2004, sowie
zahlreiche Katalogbeiträge
und Zeitschriftenartikel.
Martin Prinzhorn
Linguist an der Universität
Wien, daneben Veröffentlichungen zu Kunst
und Architektur.
André Rottmann
1977 geboren, ab 1998
Studium der Kunstgeschichte, Neueren deutschen Literatur, Politikwissenschaft, Philosophie
und Allgemeinen und
Vergleichenden Literaturwissenschaft an der
Humboldt-Universität zu
Berlin, der Tufts University Boston und an der
Freien Universität Berlin.
Seit 2005 Chefredakteur
der Zeitschrift Texte zur
Kunst, Berlin. Seit 2007
Korrespondent in Berlin
für Artforum International, New York. Arbeitet
an seiner Promotion zur
Geschichte und Ästhetik
institutionskritischer
Kunst nach 1970. Richard Sennett
1943 geboren in Chicago,
Illinois, lehrt Soziologie
und Geschichte an der
New York University und
an der London School of
Economics and Political
Science. Seine Hauptforschungsgebiete sind
Städte, Arbeit und Kultursoziologie.
Publikationen (Auswahl):
Verfall und Ende des
öffentlichen Lebens, 1977;
How I write: Sociology as
Literature, 2009; Der flexible Mensch. Die Kultur des
Neuen, 1998.
Das kulturwissenschaftliche Team unter der Leitung von Elke Murlasits
(Historikerin, Graz) setzt
sich aus Gundi Jungmeier
(Historikerin, Graz),
Günther Marchner (Historiker, Salzburg) und Gernot
Rabl (Kunsthistoriker,
Trautenfels) zusammen
und bildet seit 2009 eine
Arbeitsgruppe.
Index
Copyrights
Werke der Ausstellung
L/B
Beautiful Steps #5,
2010 Holz, laminiert und
lackiert; Durchmesser 8 m,
Stegbreite 70 cm,
Höhe 110 cm
Courtesy der Künstler
Beautiful Steps #3, 2009
Holz, Farbe;
11,5 x 5 x 4,3 m
Courtesy Le Confort
Moderne, Poitiers
→ S. 32ff
Kateřina Šedá
Es ist kein Licht am Ende
des Tunnels, 2010
203 Zeichnungen
(Ölkreide) und Faksimile
der Zeichnungen in
verschiedenen Versionen;
je 51 x 73 cm
Courtesy der Künstlerin
und Franco Soffiantino
Gallery
→ S. 48ff
Maria Papadimitriou
Alpine Altar, 2010
Installation, verschiedene
Materialen; Maße variabel
Courtesy der Künstlerin
→ S. 64ff
Christian Philipp Müller
Burning Love
(Lodenfüßler), 2010
Installation bestehend
aus ca. 50 m Loden,
20 Schrangen aus
Lärchenholz, Projektion,
4 Ölgemälden und 3
s/w-Fotos aus diversen
Sammlungen, 3 Farbfotos;
Maße variabel
Courtesy des Künstlers
→ S. 80ff
Pawel Althamer mit
seiner Klasse für
Objektbildhauerei der
Akademie der Bildenden
Künste, Wien
Coach: Donat Grzechowiak
Baptiste Elbaz, Luka
Berchtold, Matthias
Böhler, Hannah Breitfuss,
Ida Divinzenz, Batiste
Elbaz, Pauline Fauchour,
Roland Gaberz, Johanna
Guggenberger, Veronika
Gahmel, Johannes
Hoffmann, Konrad Kager,
Matthias Kendler, Stefan
Klampfer, Tonio Kröner,
Bettina Mangold, Andrea
Maurer, Tobias Nagiller,
Nanna Nordström,
Andreas Nutz, Noële
Ody, Lukas Oppenauer,
Michéle Pagel, Sabrina
Peer, Heidi Rada, Johanna
Reiner, Roland X. Roland,
Eva Seiler, Dominika
Soran, Stefan Stecher,
Fabian Störk, Mario Strk,
Klemens Waldhuber, Julian
Wallrath, Benjamin Zuber
Things You Can Walk Into,
2010
Verschiedene Materialien;
Maße variabel
Courtesy der Künstler
→ S. 98ff
Franz Kapfer
Sieh-Dich-Für, 2010
Holz, Lack,
Halogenscheinwerfer;
295 x 388 x 100 cm;
332 x 115 x 130 cm;
256 x 127 x 100 cm
Courtesy des Künstlers
Sieh-Dich-Für, 2010
Holz, Beton, Lack;
12 x 15 x 5,7 m
Courtesy des Künstlers
→ S. 120ff
© Universalmuseum
Joanneum
© für die abgebildeten
Werke bei den
Künstlerinnen und
Künstlern
© für die Texte bei
den AutorInnen,
ÜbersetzerInnen
oder deren
RechtsnachfolgerInnen
© für die Fotografien
bei den FotografInnen
oder deren
RechtsnachfolgerInnen
Cover: © Maria
Papadimitriou
Archiv Schloss Trautenfels
→ S. 7, 9-11, 35
Courtesy Pawel Althamer
und Open Art Projects
→ S. 22
David Kranzelbinder
→ S. 84
Mike Hall → S. 20
François Charrière, Môtiers
→ S. 44
KBB → S. 44
Oliver Heissner → S. 47
L/B → S. 20, 21, 33, 3842, 45
Wolfgang Otte → S. 11, 36
Paul Ott → S. 37
Michal Hladík → S. 28, 49,
51, 52, 56-58, 62/63
Courtesy Fondazione
Adriano Olivetti → S. 68
Contemporary Art Center
→ S. 67, 71
Courtesy PAC, Milano →
S. 71
Courtesy Thessaly
University → S. 69
Maria Papadimitriou
→ S. 17-19, 65, 68, 74-76,
78/79, 270
John Yancy → S. 97
Gundi Jungmeier → S. 97
Christian Philipp Müller
→ S. 24, 25, 27, 85, 8995, 138/139, 220/221,
248/249, 278, 279, 283
Franz Kapfer → S. 29-31,
121, 123, 125-131, 133,
135, 137
Nicole Siegel → S. 271
Kurt Hörbst → S. 155, 159
Stefan Emsenhuber
→ S. 164, 169, 177, 182,
189
Pawel Althamer mit
seiner Klasse für
Objektbildhauerei der
Akademie der Bildenden
Künste, Wien → S. 23,
100-119
Kateřina Šedá → S. 27
Lukas Kogler, Johannes
Pötscher → S. 289, 291
Quellenverzeichnis und
Übersetzungen
Adam Budak
Die Performance des
einheimischen Lebens,
oder: Die Herstellung der
Welt in der Landschaft der
Selbstbedingtheit
(übersetzt von Otmar
Lichtenwörther, textkultur)
Wir haben uns bemüht,
sämtliche Rechtsinhaber
ausfindig zu machen.
Sollte es uns im Einzelfall
nicht gelungen sein, so
bitten wir diese, sich an
das Universalmuseum
Joanneum zu wenden.
Jennifer Allen
Für immer Parken
(übersetzt von
Christof Huemer)
Tomáš Pospiszyl
Ein Grashügel und beleuchtete Kreuzungen
(übersetzt von
Dan Morgan und
Christof Huemer)
Pierre Bourdieu (u.a.):
Der Einzige und sein
Eigenheim. Erweiterte
Neuausgabe der Schriften
zu Politik & Kultur 3,
herausgegeben von
Margareta Steinrücke.
Hamburg: VSA 2002.
Übersetzung des Textauszugs: Jürgen Bolder
Hannah Arendt: Vita
activa oder Vom tätigen
Leben. Ungekürzte
Taschenbuchausgabe,
8. Aufl., München: Piper
2010.
Richard Sennett:
Handwerk. Aus dem
Amerikanischen von
Michael Bischoff. Berlin:
BvT 2009.
Dieser Katalog erscheint
anlässlich der Ausstellung
Der schaffende Mensch
Welten des Eigensinns
Schloss Trautenfels
Universalmuseum Joanneum
03. Juni bis 31.Oktober 2010
Kurator
Adam Budak
Herausgeber
Adam Budak, Peter Pakesch
Universalmuseum Joanneum
Redaktion
Katia Schurl
Lektorat
Jörg Eipper Kaiser
Grafische Gestaltung
Michael Posch
ISBN
978–3–90209–530–5
© Universalmuseum Joanneum
Mariahilferstraße 2-4, A-8020 Graz
www.museum-joanneum.at
Mit Unterstützung von
Land Steiermark
Wir danken
Gerhard Abel
Richard Aigner
Jennifer Allen
Anna Baldinger
Helga Baldinger
Rita Bender
Bezirkspolizeikommando
Liezen
Binder & Krieglstein
Andrea Binder, Piper
Verlag
Helmut Blaser
Dieter Boyer
Christian Brugger,
Bundesdenkmalamt
Perry Cartwright,
University of Chicago
Press
Christine Czaika
Sarah Dodgson, Polity
Press
Christoph Doswald
Maria Düregger
Stephan Egger
Stefan Emsenhuber
Marion Fisch, VSA-Verlag
Josefine Flöß
Freiwillige Feuerwehr
Mitterberg
Maria Froihofer
Gerhard Grill
Peter Gruber
Otto Habermayer
Handarbeitsrunde Schloss
Trautenfels
Kathrin Hartenberger
Georg Haselnus
Anton Hausleitner
Michal Hladík
Ondřej Hladík
Günther Holler-Schuster
Kurt Hörbst
Nada Huber
Christof Huemer
Bert Jüngermann
Isle Jury
Jiří Kadlec
Ulrike KammerhoferAggermann
Grete Karner
Peter Kettner
Julie Klusáková
Lukas Kogler
Margret Kohlberger
Alois Kölbl
Jiří Kovář
David Kranzelbinder
Christa und Franz Kraus
Heinz Leuner
Andrea Liebenberger
Gernot Lux
Anja Mallmann, Berlin
Verlag
Birgit Marcher
Heimo Marcher
Günther Marchner
Cyril Marounek
Daniela Matlschweiger
Maria Mössner
Alois Murnig,
Bundesdenkmalamt
Karin und Frieder
Nischwitz
Österreichisches Rotes
Kreuz/LV-Steiermark/
Bezirksstelle Liezen
Pauline Perrignon, Yale
University Press
Roswitha Planitzer
Rosina Plattner
Karel Poneš
Tomas Pospiszyl
Johannes Pötscher
Karl Pucher
Christian Raich
Johannes Rauchenberger
Peter Regner
Yorgos Rimenidis
Eva Rossian
André Rottmann
Birgit Schachner
Trixi Schlömmer
Christian Schmid
Christine Schmiedhofer
Gerhard Schmiedhofer
Josef Schmiedhofer
Walter Schmiedhofer
Mathias Schrempf
Norbert Schrempf
Rudolf Schwarz
Hana Šedá
Josef Šedý
Herbert Seiberl
August Singer
Franco Soffiantino Gallery
Herbert Steiner
Johannes Steiner
Jörg Steiner
Karl Stocker
Markus Straber
Eva Taxacher
Ingeborg Trink
Anna Vasof
Markéta Venclů
Verein Schloss Trautenfels
Marianne Winkler
Wollkönigin Martina II
Grete Zeiler
Wir danken den
Bewohnerinnen
und Bewohnern der
Gemeinden Ramsau
am Dachstein, Haus im
Ennstal, Aich-Assach,
Pruggern, Michaelerberg,
Mitterberg, Großsölk,
Öblarn, Niederöblarn,
Pürgg-Trautenfels und
deren Bürgermeisterinnen
und Bürgermeistern
und insbesondere allen
Menschen, die sich an den
künstlerischen Projekten
ehrenamtlich beteiligt
haben.
Besonderer Dank gilt
den Künstlerinnen und
Künstler der Ausstellung,
die ihre Projekte mit
außergewöhnlichem
Engagement und Einsatz
realisiert haben.
Leihgeber
Kammerhofmuseum
Bad Aussee
Gasthof Pension Veit,
Gössl/Grundlsee
Neue Galerie Graz,
Universalmuseum
Joanneum
Gestaltung und Grafik
Kulturwissenschaftlicher
Raum
Marianne Winkler
Mitarbeiterinnen
und Mitarbeiter der
Ausstellung,
Universalmuseum
Joanneum
Peter Pakesch,
Intendant
Adam Budak,
Kurator
Katia Schurl,
Projektleitung
Katharina Krenn,
Leitung Schloss
Trautenfels
Elke Murlasits,
Leitung Kulturwissenschaftliches Team
Gundi Jungmeier, Gernot
Rabl, Günther Marchner,
Kulturwissenschaftliche
Mitarbeit
Wolfgang Otte,
Wissenschaftliche
Mitarbeit, Schloss
Trautenfels
Michael Posch,
Grafik
Jörg Eipper Kaiser,
Lektorat
Nicole Siegel,
Office Management,
Schloss Trautenfels
Teresa Ruff,
Office Management,
Kunsthaus Graz
Robert Bodlos,
Leitung Zentralwerkstatt,
Graz
Michael Huber,
Haustechnik Schloss
Trautenfels
Werner Wihan,
Werkstatt Schloss
Trautenfels
Erich Aellinger, Walter
Ertl, Markus Ettinger,
Bernd Klinger, Klaus
Riegler, Michael Saupper,
Stefan Savič, Peter
Semlitsch, Andreas
Zerawa, Zentralwerkstatt
Margit Eingang, Josefine
Eichtinger, Sabine Geier,
Ursula Hänsel, Johanna
Köberl, Ingeborg Schranz,
Unterstützung Aufbau
Schloss Trautenfels
Der schaffende Mensch
Welten des Eigensinns
Wir sind die schaffenden Menschen, Schmiede der
Wirklichkeiten, Produzenten des Alltags, Schöpfer noch
kommender Zukunften und Bildhauer von Orten. Als
Studie performativer Zugehörigkeit geht der Katalog zur
Ausstellung der Frage nach, ob der Homo Faber in der
Welt des Eigensinns überhaupt möglich ist.
Leben, Arbeit und die Leidenschaft, die beidem
innewohnt, stehen dabei im Zentrum. Wie der Mensch
lebt, wird hier durch ein Vergrößerungsglas gesehen,
porträtiert und als autonomes und emanzipiertes Selbst
dargestellt. Eigensinn erscheint dabei als ein mentaler
und physikalischer Mechanismus, der die Identität
eines sozialen und kulturellen Mikrokosmos formt
und bedingt. Es ist ein vager Zwischenraum, in dem
das Kleine und Intime, das Persönliche und Exklusive
das unausweichlich Globale und Kosmopolitische der
heutigen Gesellschaft herausfordert. Eigensinn ist das
beschwerliche Territorium, auf dem Gemeinschaft und
Zusammengehörigkeitsempfinden mit der Sturheit
der Singularität und des selbstzentrierten Universums
kämpfen.
In sechs partizipativen Kunstprojekten, die von einem
kulturwissenschaftlichen Beitrag begleitet werden, stellen
sich internationale Künstlerinnen und Künstler mit völlig
unterschiedlichen Herangehensweisen lokalen Themen.
Künstlerinnen und Künstler der Ausstellung:
Pawel Althamer (PL) mit Studierenden der Akademie der
Bildenden Künste Wien (AT), Franz Kapfer (AT), L/B (CH),
Christian Philipp Müller (CH), Maria Papadimitriou (GR),
Kateřina Šedá (CZ)

Documentos relacionados