Altersbedingte Taubheit: Mäuse als Modell

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Altersbedingte Taubheit: Mäuse als Modell
Institut für Experimentelle Genetik
Martin Hrabé de Angelis
AKTUELLE
THEMEN
Altersbedingte Taubheit:
Mäuse als Modell
Age-related Loss of
Hearing: the Mouse as a
Model System
m die Funktionen von Genen zu
analysieren, ist das Studium von
Modellorganismen ein international
anerkannter und praktizierter Ansatz. Die
Erkenntnisse aus diesen Tiermodellen lassen sich häufig unmittelbar auf den Menschen übertragen. Im Rahmen des vom
Deutschen Humangenomprojekt (DHGP)
und vom Nationalen Genomforschungsnetz (NGFN) geförderten, groß angelegten
ENU-Mutagenese-Vorhabens suchen die
beteiligten Wissenschaftler gezielt nach
Mausmutanten mit erblich bedingten Erkrankungen. Mäuse eignen sich als Modelltiere besonders gut, weil ihre Genetik –
ebenso wie Entwicklungsvorgänge und
Physiologie – den Gegebenheiten beim
Menschen stark ähneln. Darum können
Maus-Modelle dazu beitragen, die molekularen Grundlagen menschlicher Krankheiten besser zu verstehen.
Im ENU-Mutagenese-Projekt, dessen Federführung beim Institut für Experimentelle Genetik liegt, werden mit Hilfe von Ethylnitrosoharnstoff (ENU), dem für Säugetiere
stärksten Mutagen, Veränderungen im Erbgut herbeigeführt. Bis heute wurden im
Rahmen des ENU-Vorhabens rund 30.000
Tiere auf eine Vielfalt von medizinisch relevanten Parametern untersucht. In Abbildung 1a und 1 b sind die Zuchtschemata
für den dominanten und den ressesiven
U
nvestigations using model organisms
are an internationally recognised and
commonly practised approach to studying gene function. The results obtained
using animal models can often be directly
extrapolated to humans. Scientists in the
large-scale ENU mutagenesis project,
which is supported by the National Genome
Research Network (NGFN) under the
German Human Genome Project (DHGP),
are looking for mouse mutants with
hereditary diseases. Mice are particularly
well suited as animal models because their
genetics – as well as their developmental
processes and physiology – are very
similar to the situation in man. Thus
mouse models can contribute to understanding of the molecular basis of human
disease.
In the ENU Mutagenesis Project, for
which the Institute of Experimental Genetics is the coordinator, genetic changes are
induced by means of ethylnitrosourea
(ENU), the strongest mammalian mutagen.
So far some 30,000 animals have been investigated for a whole range of medically
relevant parameters. A total of 442 new
mutant mouse lines have been established,
including more than 45 lines with a recessive phenotype. Among others there are
now models for rheumatoid arthritis and
various neurodegenerative diseases.
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(Semi-) Dominante Allele
Rezessive Allele
Abb. 1a: Zuchtschema für den dominanten Screen.
Screen dargestellt. Dabei konnten bereits
442 neue mutante Mauslinien etabliert
werden, darunter mehr als 45 Linien mit
rezessivem Phänotyp. So gibt es unter
anderem auch Mausmodelle für rheumatoide Arthritis und verschiedene neurodegenerative Erkrankungen.
Ein beispielhaftes spektakuläres Ergebnis
des Projekts ist ein Mausmodell, mit dem
sich ein weit verbreitetes Altersphänomen
genauer untersuchen lässt: der progressive
Gehörverlust. Diese Form der altersbedingten Taubheit, verursacht durch eine zunehmende Degeneration von Haarsinnes-
40–50%
10–20%
+/+
Bth/+
80–90%
Abb. 1b: Zuchtschema für den rezessiven Screen.
Abb. 2: REM-Aufnahmen der Haarzellen des Innenohrs von 30 Tage alten Beethoven-Mäusen
(obere Bildreihe). Im Vergleich zu Wildtyp-Mäusen im selben Alter (untere Bildreihe).
Haarzell-Degenerationen der inneren und äußeren Haarzellen sind in Beethoven-Mäusen deutlich
sichtbar und durch Pfeile gekennzeichnet.
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a
b
c
One spectacular result of the project is a
mouse model which allows investigation
of a widespread phenomenon of old age,
progressive loss of hearing. The specialist
term for this form of age-related deafness,
caused by progressive degeneration of
the sensory cells of the inner ear, is
presbyacusis.
The mouse mutant Beethoven (Bth) is
the first animal model for this special form
of progressive hearing loss. The special
characteristics of this mouse are the result
of a miniscule change in the bases of the
genetic code of the mouse gene Tmc1:
one thymine is replaced by adenine. The
resultant amino acid exchange leads to a
new protein variant, which in turn leads to
progressive hearing loss in the Bth mice
from the age of 30 days. The Bth mice were
investigated in more detail in collaboration
with the University in Tel Aviv, Israel, and
the MRC Institute of Hearing Research In
Nottingham, UK. Clear signs of progressive
degeneration can be seen in the inner ear
of 20 day old mice in both the inner and
outer hair cells. Beethoven mice can be
differentiated from all other mouse models
for deafness in that the hair cells appear to
function completely normally until they
start to degenerate. The Bth mutant allows
us for the first time to take a deeper look at
the factors that are necessary for the longterm survival of hair cells. Furthermore,
these mice can make a decisive contribution
to improving our understanding of hair cell
degeneration in age-related progressive
hearing loss, as changes in the Tcm1 gene
are also associated with age-related
deafness in humans, as shown by Andrew
Griffith’s research group in America.
AKTUELLE
THEMEN
zellen im Innenohr, wird in der Fachterminologie auch als Presbyacusis bezeichnet
(Abb. 2).
Mit der Mausmutante Beethoven (Bth)
konnte nun erstmals ein Tiermodell für diese spezielle Form des fortschreitenden Gehörverlusts isoliert werden. Die Besonderheit der Beethoven-Mäuse beruht auf einer
winzigen Veränderung im Buchstabencode
eines Gens der Maus Tmc1: Ein Thymin
d
Abb. 3: Genetische Kartierung (a) und Sequenzierung (b) der Punktmutation der Beethoven-Mutante
sowie Expression des Tmc1-Genes (c + d).
wird durch ein Adenin ersetzt (Abb. 3).
Der resultierende Aminosäureaustausch
lässt eine neue Proteinvariante entstehen,
und diese Variante führt dazu, dass bei
Beethoven-Mäusen erst ab einem Alter von
etwa 30 Tagen ein zunehmender Gehörverlust eintritt. In Zusammenarbeit mit der
Universität in Tel Aviv, Israel, und dem MRCInstitut für Hörforschung in Nottingham,
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Großbritannien, wurden Bth-Mäuse genauer untersucht. Im Innenohr etwa
20 Tage alter Tiere ließen sich deutliche Anzeichen einer progressiven Degeneration
sowohl innerer als auch äußerer Haarzellen
diagnostizieren. Beethoven-Mäuse unterscheiden sich von allen anderen Mausmodellen für Taubheit dadurch, dass ihre
Haarzellen offensichtlich völlig normal
arbeiten, bevor sie beginnen zu degenerieren. Die Beethoven-Mutante ermöglicht
Ausgewählte Veröffentlichungen
Hrabé de Angelis, M. et al.: Genome wide large scale
production of mutant mice by ENU mutagenesis.
Nature Genetics 25(4), 444–447 (2000)
Nadeau, J. H. et al.: Sequence interpretation. Functional
annotation of mouse genome sequences. Science 291,
1251–1255 (2001)
Vreugde, S. et al.: Beethoven, a mouse model for
dominant, progressive hearing loss DFNA36. Nature
Genetics 30(3), 257–258 (2002)
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erstmals einen tieferen Einblick in die
Faktoren, die für ein langes Überleben von
Haarzellen notwendig sind. Darüber hinaus
können diese Mäuse dazu beitragen, unser
Verständnis der Haarzell-Degeneration
bei altersbedingtem progressivem Gehörverlust entscheidend zu verbessern. Denn
auch beim Menschen sind Veränderungen
im tcm1-Gen mit altersbedingter Taubheit
verbunden, wie eine amerikanische
Arbeitsgruppe um Andrew Griffith zeigte.

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