usi k -Konzepte Gustav Mahler: Lieder

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usi k -Konzepte Gustav Mahler: Lieder
Bisher sind in der Reihe Musik-Konzepte erschienen:
Sonderbände
Alban Berg, Wozzeck
306 Seiten
ISBN
978-3-88377-214-1
John Cagei
2. Auf!, 162 Seiten
978-3-88377-296-7
ISBN
John Cagell
2. Auf!, 361 Seiten
978-3-88377-315-5
Der späte Sehnmann
223 Seiten
ISBN 978-3-88377-842-6
Anton Webern I
ISBN
315 Seiten
978-3-88377-151-9
Anton Webern II
427 Seiten
ISBN 978-3-88377-187-8
ISBN
Bernd Alois Zimmermann
Drumstadt-Dokumente I
ISBN
ISBN
363 Seiten
978-3-88377-487-9
Geschichte der
Sonderdruck aus:
usi k-Konzepte
Neue Folge
183 Seiten
978-3-88377-808-2
Gustav Mahler: Lieder
Musik als Gegenwru·t.
Hans Heinlieh Eggebrecht
und Mathias Spahlinger
im Gespräch
141 Seiten
ISBN 978-3-88377-655-2
Gustav Mahlet
ISBN
Herausgegeben von
Ulrich Tadday
Heft 136
362 Seiten
978-3-88377-241-7
Mozart
Die Da Ponte-.Opem
ISBN
360 Seiten
978-3-88377-397-1
Musik der anderen Tradition
Mikrotonale Tonwelten
ISBN
297 Seiten
978-3-88377-702-3
Wolfgang Rihm
ISBN
163 Seiten
978-3-88377-782-5
Amold Schönberg
-vergriffenFranz Sehnbett
ISBN
305 Seiten
978-3-88377-019-2
Robert Sehnmann I
ISBN
346 Seiten
978-3-88377-070-3
Robert Sehnmann II
390 Seiten
ISBN 978-3-88377-102-1
edition text
+
kritik
MUSIK-KONZEPTE Neue Folge
Die Reihe über Komponisten
Herausgegeben von Ulrich Tadday
Heft 136
Gustav Mahler: Lieder
April 2007
ISSN 0931-3311
ISBN 978-3-88377-856-3
usik-Konzepte
136
Neue Folge
Gustav Mahler: Lieder
Wissenschaftlicher Beirat
Ludger Engels (Berlin, Regisseur)
Detlev Glanert (Berlin, Komponist)
Birgit Lodes (Universität Wien)
Laurenz Lütteken (Universität Zürich)
Georg Mohr (Universität Bremen)
Wolfgang Rathert (Universität München)
3
Vorwort
GeorgMohr
»Rücksichtslose Polyphonie« oder: Was geschah unter dem
Der Abdruck der Notenbeispiele bzw. Abbildungen erfolgt mit
freundlicher Genehmigung der Internationalen Gustav Mahler
Lindenbaum?
Gustav Mahlers Lieder eine!fahrenden Gelellen
5
Gesellschaft Wien
Günter Schnitz/er
Gustav Mahler und die Romantik in
Die Reihe MUSIK-KONZEPTE erscheint mit vier Nummern im Jahr.
Die Hefte können einzeln oder im vergünstigten Abonnement bezogen werden.
Die Kündigung des Abonnements ist bis zum Oktober eines jeden Jahres
für den folgenden Jahrgang möglich ..
Die Hefte 1 bis 122 und die Sonderbände dieses Zeitraums wurden
von Heinz-Klaus Metzger und Rainer Riehn herausgegeben.
Zu beziehen durch jede Buch- und Musikalienhandlung
oder über den Verlag
Preis für dieses Heft € 16,-Umschlagentwurf: Thomas Scheer
lngoMüller
Unmittelbarkeit
Gustav Mahlers FünfLieder nach Texten von Friedrich Rückert
51
Alexander Odefey
»... von Gottes Hand bedecket«
Mahlers Kindertotenlieder als Ausdruck seiner Religiosität
77
Peter Revers
»Duft lyrischer Versgebilde«
Stimme und Klavier"Begleitung, Verlag Weinherger 1917 (Archiv der Internationalen Gustav
Musik und Lyrik in Gustav Mahlers
Die BildniBe von Gustav Mahler; Leipzig- Wien 1922 (Montage)
27
Dichtung und Musik im Spannungsfeld von Vermittlung und
Umschlagabbildung: Gustav Mahlet; Lieder eines fahrenden Gesellen.. Für eine tieft
Mahler Gesellschaft Wien) und Gustav Mahler, Foto, Amsterdam 1909, aus: Alfred Roller;
DeJ Knaben Wunderhorn
Das Lied von der Erde
95
Abstracts
1 13
.
Bibliografische Hinweise
1 15
Zeittafel
1 17
Autoren
1 19
Satz: Fotosatz Schwarzenböck, Hohenlinden
Druck und Buchbinder: Bosch-Druck, Landshut
© edition text
+
ktitik in Richard Bootberg Verlag GmbH & Co KG
Postfach 80 05 29, D-81605 München
Informationen über alle Bücher des Verlags im Internet unter
www.etk-muenchen.de
GeorgMohr
»Rücksichtslose Polyphonie« oder:
Was geschah unter dem Lindenbaum?
GustavMahlers Lieder eines fahrenden (;esellen1
»Am Anfang war das Lied«- so lautet die erste Kapitelüberschrift, die Das klei­
ne GustavMahler-Buch (1972) von Karl Schumann eröffnet. »Die ersten Klän­
ge hörte das Kind Gustav Mahler draußen, auf der böhmischen Landstraße,
aus den W irtsgärten und von der nahen Kaserne her..«2 Zwar habe der 1 0-Jähri-·
ge bei seinem ersten öffentlichen Konzert am Iglauer T heater als »künftiger
Klaviervirtuose« beeindruckt, aber noch mehr Aufsehen erregte das Kind Mah­
ler durch das »schier unübersehbare Repertoire von Volks- und Soldatenlie­
dern, die es in der Stadt aufgeschnappt hatte und aus dem Gedächtnis wie­
dergab. Sogleich, als Mahler mit Musik in Berührung kam, zeigten sich seine
Affinität zum Lied und die Merkmale einer Interpretenbegabung: Gehör, Auf­
fassungsgabe und Gedächtnis«3•
Dass dieser Anfang lebenslange W irkung im musikalischen Schaffen Mah­
lers entfalten sollte, hat eindrücklich Dieter Sehnebel 1966 in seinem Beitrag
»Das Spätwerk als Neue Musik« gezeigt. Die Pointe seiner Darlegungen besteht
darin, dass die Bedeutung des Liedes für Mahlers Werk sich keineswegs nur in
der Zahl der von Mahler komponierten Lieder manifestiert und auch nicht
nur in der häufigen Verwendung von Liedern oder Liedsätzen in seinen Sin­
fonien. Es ist nicht nur die lebenslange wechselseitige Dynamik der beiden
Gattungen Lied und Sinfonie, die für Mahlers Werk so charakteristisch ist und die seither von zwei Generationen Mahler-Forschung detailliert belegt
und analysiert worden ist. Sehnebels T hese geht weiter: Er beschreibt sogar die
rein instrumentale und auf kein Lied explizit rekurrierende Neunte Sinfonie
als ein Lied, als eine Musik, die »nur aus Ansätzen besteht«, die »wie Bruch-
2
3
Im Zusammenhang mit der Entstehung dieses Aufsatzes bin ich zu Dank verpflichten: Jin Won
Yang, Bariton (der gerade am selben Tag sein Konzertexamen an der Bremer Musikhochschule
abgelegt hatte), und Ji Won Ryo, Klavier, für ihre Auffuhrung der Klavierfassung der Gesellen­
Lieder am 7 . Juli 2006; Myoung-Hwa Scherr fur die Vermittlung ihrer Studienkollegen; B ärbel
Frischmann für die Idee zu dieser Auffuhrung und für viele erhellende Gespräche über Ironie und
Romantik; Ulrich Tadday für weiterhelfende Gespräche über die Partituren sowie Probleme des
Verständnisses romantischer Musikästhetik; sowie Wolfgang Hohlfeldt, dem langjährigen musi­
kalischen Gesellen für viele gemeinsame Mahler-Stunden
K ar! Schumann, Da> kleine Gwtav Mahler-Buch, L Auflage, Salzburg 1972, 2 Auflage, Reinbek
bei Harnburg 1982, S. 7.
Ebenda, S .. 10 .
6
Georg Mohr
stücke eines Lieds<< wirken4. Selbst in den letzten rein instrumental-sinfoni­
schen Kompositionen Mahlers ist das Lied ein bestimmendes Moment: »In
der 9 . und 1 0 . . Sinfonie werden Instrumentalpartien zuweilen vollends zur
Stimme .. Manche Melodien in den Ecksätzen der Neunten oder das große Brat­
schensolo aus dem Adagio der Zehnten sind so beredt wie nur die großen Lie­
der Mahlers .. «s
Diesen Befund sieht Sehnebel als das späte Produkt eines langen, in sich
konsequenten Prozesses, der mit dem ersten Liederzyklus und der Ersten Sin­
fonie als solcher klar erkennbar einsetzt: »Im Gesamtwerk Mahlers sind die
erste Sinfonie und die Lieder eines fahrenden Gesellen das Vorspiel, Exposi­
tion der beiden Formen, die gleichsam die Themen seines Kompanierens bil­
den. Die eine ist von Sprache geprägt, die andere impliziert autonome Musik.
Die beiden Formen werden im Prozeß des CEuvres vielfältig und differenziert
vermittelt, so daß schließlich ein Liederzyklus zur Sinfonie wird - Das Lied
von der Erde-, umgekehrt eine Sinfonie eine Art Liederzyklus werden möch­
te- die Neunte tendiert dahin, wie früher schon die Dritte, wo die Sätze der
zweiten Abteilung6 gleichsam konzentrisch um den ersten gruppiert sind; auch
die Binnensätze der Siebenten sind ein kleiner Liederzyklus. Lieder aber beglei­
ten das ganze Werk Mahlers, setzen auch Zäsuren, wie die Kinder totenlieder
nach dem zweiten Zyklus der Sinfonien ..«7
Das Lied bildet demnach die Klammer um das Lebenswerk Mahlers, und es
ist gleichzeitig seine Keimzelle, die musikalische Substanz seines Kompanie-·
rens. Dies gilt nicht nur für die explizit mit Liedformen arbeitenden Werke
wie die ersten vier Sinfonien, die instrumentale und gesungene Liedsätze nach
Dichtungen aus Des Knaben Wunderhorn und eigenen davon inspirierten Tex­
ten enthalten, sowie die »Symphonie für eine Tenor- und eine Alt- (oder Bari­
ton-)Stimme und Orchester« mit dem Titel Das Lied von der Erde, sondern
auch diejenigen rein instrumentalen Sinfonien, die, wie die Fünfte, Sätze mit
großer Nähe zu Liedern Mahlers enthalten: Das Adagietto ist mit dem Rückert­
Lied Ich bin der 'Welt abhanden gekommen verwandt. Mahlers gesamtes Werk
lässt sich hören als ein Transformationsprozess des Liedes . .
Was geschah unter dem Lindenbawn?
I Lied und Sinfonie- Vereinigung von Gegensätzen
Es ist jedoch nicht das im 1 9 . Jahrhundert insbesondere mit Schubert, Schu­
mann und Löwe extensiv zur Gattung gewordene Kunstlied, um dessen Fort­
setzung es Mahler geht. Schon das Spektrum der fiühen Kompositionen, der
Klavierlieder der Jahre 1 880 bis 1 888 (Lieder und Gesänge aus der]ugendzeit)
aufder einen Seite und der Kantate Das klagende Lied von 1 8 78 bis 1 880 auf
der anderen Seite zeigt, dass er sich von Anfang an in einem Spannungsraum
gegensätzlich dimensionierter Gattungen bewegt. Er verwendet Gattungen von
vornherein zu eigenen Zwecken, denen diese Gattungen jeweils für sich allein
nicht adäquat sind, statt sie nur um ihrer Tradition und Eigengesetzlichkeit
willen fortzuführen . Die Lieder einesfahrenden Gesellen, obzwar der Chrono­
logie nach zunächst zwischen Dezember 1 884 und Januar 1 885 als Klavierlie­
der niedergeschrieben8, sind, wie verschiedentlich überzeugend dargelegt wur­
de9, ihrer musikalischen Substanz nach als Orchesterlieder konzipiert, als die
Mahler sie tatsächlich erst 1 8 9 1 /92 und/oder 1 896 bearbeitet hat10• Die Instru­
mentation ist bei Mahler von Beginn an neben dem Tonsatz gleichberechtigt,
wie Elisabeth Schmierer belegt: »Zum einen verweisen Instrumentationsanga­
ben in den ein frühes Kompositionsstadium repräsentierenden Autographen
auf eine intendierte Instrumentation bereits bei der Entstehung; zudem zeigt
die Umarbeitung der Instrumentation bereits in Mahlers frühesten Orches··
terliedern-die für die Konzeption des Gesellenzyklus so bedeutende Kontrast­
anlage des ersten Liedes wurde in den Unterschieden in den Quellen offen­
sichtlich - eine ähnliche Verfahrensweise wie in der Symphonik an . «11 Laut
Hermann Danuser lässt sich die Klavierfassung als »scheinorchestral gesetzt«
hören; in diesem Fall »wäre die entstehungsgeschichtlich frühere Klavierfas­
sung, ähnlich wie bei Berlioz' >Nuit[s] d' ete< , nichts als die ästhetisch sekun­
däre Bearbeitung der erst später eingelösten, doch ästhetisch primären Orches-
8
9
4
5
6
7
Dieter Schnebel, »Das Spätwerk als Neue Musik<<, in: Arnold Schönberg, Arnold Schönberg, Ernst
Bloch, Otto Klemperer, Erwin Ratz, Hans Mayer, Dieter Schnebel, Theodor W. Adorno über Gustav
Mahler; Tübingen 1966, S . 172.
Ebenda, S .. 162
Die zweite Abteilung umfasst neben zwei instrumentalen Sinfoniesätzen (zweiter und sechster
Satz) einen instrumentalen Liedsatz (Ablösung im Sommer) und zwei Lieder, das »Nachtwandler­
lied<< Oh Memch' Gieb Acht! aus Friedrich Nietzsches Also rprach Zarathustra und Es sungen drei
Engel aus Des Knaben Wunderhorn. Zur Dritten Sinfonie vgL Georg Mohr, >>Das Gehör als Tor
zur Welt . Mahlers >Dritte Symphonie< als Musik über Musik<< , in: Nachrichten zur Mahler-For­
schung, hrsg. von der Internationalen Gustav Mahler Gesellschaft, W ien, Nr. . 48, 2003, S . 3-22.
Schnebel, »Das Spätwerk, als Neue Musik« (s Anm. 4), S . 158 f.
7
10
11
Gustav Mahler; Lieder einesfahrenden Gesellen für eine Singstimme mit Klavier, hrsg . von Zo!tan
Roman, (= Kritische Gesamtausgabe, Bd . XIII, Teilband 1, hrsg. von der Internationalen Gustav
Mahler Gesellschaft, Wien u. a. 1982, S . V- XII. Vgl . Mahlers Brief an Ferdinand L öhr vom 1 .
Januar 1885, in: Gustav Mahler, Briefe, hrsg . von Herta Blaukopf, Wien, 2 .. , nochmals revidierte
Auflage 1996, S. 57 .
.
Zur Entstehung der Lieder eines fahrenden Gerellen vgl. auch Herta Blaukopf, »Wann entstanden
die >Gesellen< -Lieder? - Ein Diskussionsbeitrag<<, in: Nachrichten zur Mahler-Forschung 12, Okto­
ber 1983, S .. 3-7; Renate Hilmar-Voit, Im Wunderhorn-Ton Gustav Mahlers sprachliches Kompo­
sitionrmaterial bir 1900, Tutzing 1988; Elisabeth Schmieret, Die Orchesterlieder Gustav Mahlers,
Kassel u. a. 1991 (= Kieler Schriften zur Musikwissenschaft 38), Kap . II: Ȇrchestergesang 1;1 nd
zyklische Konzeption: Die >Lieder eines fahrenden Gesellen<<< , S . 28-94; Monika Tibbe, Über
die Verwendung von Liedern und Liedelementen in instrumentalen Symphomesätzen Gu.stav Mah­
lers, München - Salzburg 1971, 2 . , verbesserte Auflage 1977 (= Berliner Musikwissenschaftliche
Arbeiten 1), S. 20 -25 (LfG2), 75-85 (LfG4), 125-134; Mathias Hansen, Gu.rtavMahler, Stutt­
gart 1996, insbes . S.. 210 -228; Peter Revers, Mahlers Lieder; �ünchen 2000, S. 56-68
.
Mahler, Briefe (s. Anm. 8), S. 6, bzw . Natalie Bauer-L� c�ner m: Gustav Mahler tn den Ermne­
rungen von Natalie Bauer-Lechner; hrsg . von Herben Kilhan, re'l . u. erw . Aus_g ., H� burg 1984,
S 39. Die Urauffuhmng fand unter Mahlers Leitungarn 16 . März 1896
Solist war Anton Sistermans
Schmieret; Die Orchesterlieder Gu.rtav Mahlers (s. Anm 9), S.. 275
m
Berlm statt. Der
8
terversion«12. Und in dieser »ästhetisch primären<< Version sind die Gesellen­
Lieder; wie bei Sehnebel angedeutet, ein Vorstoß in ein musikalisches Lebens­
projekt: das der Vereinigung von Gegensätzen, von gegensätzlichen Gattun­
gen, von gegensätzlichen Formen und Gehalten. Vermeintlich gegensätzlich,
möchte man sagen in Anbetracht der epochalen Leistung des Komponisten
Mahler; der die Musik nach ihm auf neue Wege gefuhrt hat.
Die Verbindung von Lied und Orchesterklang ist keine Erfindung Mahlers..
In historischer und sachlicher Nähe ist hier neben Les nuits dete von Hector Ber­
lioz, die zwischen 1 838 und 1 841 als Klavierliederzyklus entstanden und über
den langen Zeitraum von 1 843 bis 1 856 von ihm für Orchester bearbeitet wur­
den 13, das Poeme de l'amour et de la mer op . 1 9 von Ernest Chausson zu nennen,
drei Orchesterlieder, die jedoch erst 1 882 bis 1 890 entstanden sind und von
denen Mahler mit Sicherheit keines bekannt war. Auch sind beide keine Zyklen
im strengeren Sinne. Mahler kann sich hier in keine etablierte Tradition stellen
und geht auch in dieser Gatrung, dem Orchestergesang, eigene Wege.. Die Ge­
sellen-Lieder stehen ganz im Zeichen des Kontrastprinzips, sogar eines vor­
dergründig respektlosen, substanziell aber Geschichte schreibenden Kontrasts
tradierter Gattungen .
Dies hat schon Paul Bekker 1 92 1 im ersten Kapitel seines damals bahnbre­
chenden und bis heute aufschlussreichen Buches Gustav Mahler.r Sinfonien14
gezeigt: >>Merkwürdig: die Sinfonik Mahlers, in ihrer organischen Erscheinung
bestimmt durch den ins Weite und Gewaltige bauenden Monumentaltrieb,
findet ihre gefühlsmäßigen Quellen in den kleinsten musikalischen Erschei­
nungsformen, im Lied. Lied und Monumentaltrieb streben in Mahler zueinan­
der. Das Lied wird aus der Enge subjektiven Gefuhlsausdruckes hinaufgeho­
ben in die weithin leuchtende, klingende Sphäre des sinfonischen Stiles. Dieser
wiederum bereichert seine nach außen drängende Kraft an der Intimität per­
sönlichsten Empfindens . I Dies scheint paradox«, heißt es weiter bei Bekker,
»und doch liegt in solcher Vereinigung der Gegensätze eine Erklärung für das
seltsame, Innen- und Außenwelt umspannende, Persönlichstes und Fernstes
in sein(en) Ausdrucksbereich einbeziehende Wesen Gustav Mahlers. Eine
Erklärung für seine äußerlich oft so widerspruchsvolle Kunst, die scheinbar
hererogenste Stilelemente wahllos durcheinander würfelt. (. . . ) Die Lieder bil­
den nicht nur den gefühlsmäßigen Kern der meisten sinfonischen Werke.. Sie
geben auch die stilistischen Grundlagen . «15
12
13
14
15
Was geschah unter dem Lindenbaum?
GeorgMolu
Hermann Danuser, »Der Orchestergesang des Fin de siede . Eine historische und ästhetische
Skizze«, in: Die Murikfomhung.30 (1977), S.. 440.
N ach Danuser trägt dieses Werk, obwohl auch zunächst als Klavierliederzyklus komponiert, >>in
seiner nachträglichen Orchesterfassung den ästhetischenMöglichkeiten und Grundsätzen der
Gattung Orchestergesang in weit höheremMaße Rechnung( . . ) als mancher originärer Orches­
tergesang<<, ebenda, S. 438 .
Paul Bekker, Gustav Mahlers Sinfonien, 2 . Auflage Tutzing 1969 .
Ebenda, S. 33: »(. . . ) innere Norwendigkeit einer Vereinigung scheinbar schroffster Gegensätze:
der Liedmelodik und der sinfonischen Gestaltung. Jedes der beiden brachte das mit, dessen das
andere bedurfte: das Lied die innerlich quellende melodische Kraft, der sinfonische Organismus
die spannungsfähige Form.(..) Lied und Sinfonie fließen zusammen in ein einziges Neues.<<
9
Es ist bezeichnend, dass gerade das Kontrast-Prinzip und das Prinzip der
Gattungs-Kontrastierung gleich zu Beginn der Mahler-Rezeption die stärkste
Wirkung hatten, freilich zunächst negativ:. Hugo Riemann macht es 1 9 1 3 an
prominenter Stelle, ini Handbuch der Musikgeschichte, Mahler zum Vorwurf;
dass er »mit skrupellosem Eklektizismus (.. . .. ) Elemente heterogenster Art
zusammengetragen« habe16 . Bekker ist nur wenige Jahre später ungleich weit­
sichtiger: »Der Begriff des Kunstmäßigen, streng in sich Abgeschlossenen,
hoheitvoll dem Gewöhnlichen Abgewendeten zerfaJlt, wird nirgends als ein
Besonderes, Wichtiges hervorgehoben . ( . . . ) Man fühlt, daß in diesen Klängen
und Satzgebilden ein anderes Lebensprinzip waltet und wirkt, als man es bis­
her gewohnt war.«I7
II Kontraste
Kontrast ist in mehrfacher Hinsicht ein Charakteristikum der Lieder eines. fah­
renden Gesellen (im Folgenden ist, wenn nicht ausdrücklich anders vermerkt,
stets von der Orchesterfassung die Rede). . Zum Kontrast zwischen traditionell
lyrischem Lied und epischer Sinfonik kommt als ein weiterer der zwischen arti­
fizieller Kunstmusik durch subtile Orchesterinstrumentation und Tonsatz auf
der einen Seite sowie vordergründig schlicht wirkenden, volkstümlich oder na­
tudauthaften Elementen auf der anderen Seite hinzu. Dieser geht einher mit
scharfen Kontrasten im Text zwischen leidvollen Stimmungen des Protago­
nisten und gleichgültig munterem Gebaren der ihn umgebenden Natur, der
unbekümmerten P flanzen und Tiere.. Auch kontrastieren gelegentlich Text und
Musik und verkomplizieren die erzählte Geschichte subjekt- und zeitperspek­
tivisch. Harte Kontraste gibt es auch zwischen den Teilen der einzelnen Lieder
sowie zwischen den Liedern des Zyklus.
Ein sich durch den Gesellen-Zyklus durchziehender Kontrast lässt sich durch
einen Vergleich mit Schuberts Winterreise illustrieren, zu der Mahlers Zyklus
vordergründig auffällige Affinitäten aufzuweisen scheint.18 In der Winterreise
spiegelt die Kälte, das Eis, das den Boden nicht sehen noch berühren lässt, das
Erstarren in abweisender Natur, die innere Befindlichkeit des unter dem Ver-·
lust der Liebe leidenden Gesellen direkt wider. Die äußere Unwirtlichkeit wird
textlich und musikalisch als Spiegel-Bild oder Abbild innerer Vedorenheit, Ver-
16
17
18
Hugo Riemann, Handbuch der Musikgerchichte, 2 Bde.. in 5 Teilen, Leipzig 1904-1 3, Bd. 2,
3 . Teil, S.240 .
Bekker, Gustav Mahlers Sinfonien, S . 25.
Zu den Bezügen vonMahlers Gesellen-Liedern zu Schuberts Winterreise vgL Susan Youens,
»Schubert,Mahler, and the Weight of the Past: >Lieder eines fahrenden Gesellen< and >Winter­
reise<<<, in: Mu.sic and Letters, Vol.. 67, No. 3, 1986, S .. 256-268 . Weitere Bezüge zu Schuberts
Mainacht und auch zu Richard Wagners Ring des Nibelungen bei Alexander L Ringer; >»Lieder
eines fahrenden Gesellen<. Allusion und Zitat in der musikalischen Erzählung GustavMahlers<<,
in: Das musikali>che Kunstwerk Gerchichte- Ärthetik - Theorie, Festschrift Carl Dahlhaus zum
60. Geburtstag, hrsg. von Hermann Danuser u a , Laaber 1988, S 589-602.
.
10
GeorgMohr
lassenheit, Fremdheit gestaltet.. Es wird ein Gefühl der Befremdung artikuliert,
dem der Sachverhalt direkt entspricht, dass sein >>lieber Schatz« mit einem an-·
deren fremdgeht und Hochzeit feiert.. Bei Schubert wird demnach eine Art
Kongruenz zwischen Text und Musik realisiert, so wie auch in der Dichtung
Müllers eine semantische, allegorische Kongruenz zwischen dem inneren
Zustand des Wander-Gesellen und dem äußeren Erscheinungsbild der Welt
besteht..
Bei Mahler hingegen ist die Natur das Gegen-Bild der Innenwelt: bunte,
sanft-beglückend wehende Blumen, höhlich singende Vögel; strahlende,
blühende Frühlingslandschaft, sonnige schöne Welt Dagegen erscheint der
Schmerz des Unglücklichen umso schwärzer und trostloser. Das heißt, Mah­
ler erreicht eine Verstärkung der musikalischen Darstellung nicht durch ton­
malerische, musikalisch-kongruente Verstärkung der Worttext-Semantik, son­
dern durch Kontrastierung, durch Gegen-Semantik. Und diese Verstärkung
durch Kontrastierung ist ungleich gewaltiger als die durch Kongruenz . Eine
Leidschilderung, bei der die verbal-poetische Beschreibung durch divergente,
kontrastierende Musik »begleitet« wird, steigert den Verlustschmerz um so
mehr; als unbeteiligt fröhlich singende Vögel und blühende Blumen eben nicht
als »Begleitung« von seelischem Leid erfahren werden. Der Schauer ist hier
größer, als wenn das Leidempfinden, die Ent-Fremdung durch kongruente
Musik, durch Kälte- und Eis-Symbolik begleitet würde. Durch Mahlers Kon­
trastierung wird mehr gesagt als durch Abbildung. Allerdings sind diese Inkon­
gruenzen (Humor, Ironie, Verfremdung) bei Mahler auch in den Text selbst
eingeschrieben.
III »Erlebte Musik«- »Zu viel Reflexion«
Nach Mahlers eigener Auskunft steht die Niederschrift der Lieder eines fah­
renden Gesellen in einem engen biografischen Zusammenhang mit einem Er­
lebnis: der gescheiterten Liebe zu der Sängerirr Johanna Richter. An Ferdinand
Löhr schreibt Mahler arn L Januar 1 885 aus Kassel: »Ich habe einen Zyklus
Lieder geschrieben, vorderhand sechs19, die alle ihr gewidmet sind .. Sie kennt
sie nicht. Was können sie ihr anders sagen, als was sie weiß. Das Schlußlied
will ich mitschicken, obwohl die dürftigen Worte nicht einmal einen kleinen
Teil geben können. - Die Lieder sind so zusammengedacht, als ob ein fahren­
der Gesell, der ein Schicksal gehabt, nun in die Welt hinauszieht, und so vor
sich hin wandert.« 20 Diese Auskunft legt den Schluss nahe, es könnte sich um
»begleitende Musik« handeln, die ein allgemein menschliches Erlebnis in illus-
Was geschah unter dem Lindenbaum?
trierende, »tonmalende« Melodien kleidet.. Mahler wendet sich jedoch in einer
kritischen Bemerkung über Hugo Wolf vehement gegen ein solches Liedver­
ständnis: »Ach was, ich weiß! Tonmalen kann jeder! Aber ich verlange von
einem Lied nicht, daß es klingelt, wenn ein Vogel kommt, und im Baß herum­
brummt, wenn der Wind geht-ich verlange: Thema, Durchführung des The­
mas, thematische Arbeit, Gesang, nicht De-kla-ma-tion!« 21 Dabei spielt das
Wort-Ton-Verhältnis für Mahler dennoch eine wesentliche Rolle .. Gegenüber
Natalie Bauer-Lechner erläutert er: »Hast du bemerkt, daß bei mir immer die
Melodie vom Worte ausgeht, das sich jene gleichsam schafft, nie umgekehrt?
(. ... ) nur so ist es aus einem Gusse, ist das, was man die Identität von Ton und
Wort nennen möchte, vorhanden.. Das Entgegengesetzte, wo irgendwelche
Worte willkürlich zu einer Melodie sich fügen müssen, ist eine konventionel­
le Verbindung, aber keine organische Verschmelzung beider.. « 22
Den komplexen Anforderungen entsprechend sind Aufführungen der Ge­
sellen-Lieder nach dem Bericht von Natalie Bauer-Lechner nicht verstanden
worden. Oder anders: An dem Unverständnis zeigte sich, dass die Neuerung
des Liedes in Mahlers Konzeption von Orchestergesang sehr wohl bemerkt,
aber nicht begriffen wurde .. »Die Aufnahme, welche die Lieder (scil. die Gesel­
len-Lieder) im Konzerte fanden, war ungemein warm.. ( . . .. ) Nur die Kritik war
natürlich wieder nicht einverstanden. Fast alle fanden zu viel Reflexion darin
und einen Widerspruch zwischen der Form der Orchesterkomposition und der
Einfachheit des Volksliedes. (Als ob ein Volkslied nicht den tiefsten und reichs­
ten Inhalt haben könnte und gerade durch das Umrißhafte, Andeutungswei­
se seiner wenigen Worte der alles sagenden, die verborgensten Geheimnisse
enthüllenden Musik mehr vorbehielte als jedes ganz ausgeführte Kunstlied!).«23
Bei allem Unverständnis gleichwohl treffsicher wird »ZU viel Reflexion« und
»Widerspruch« zwischen gegensätzlichen Gattungen bemängelt.
Eine wesentliche und damals offenbar irritierende Abweichung vom kano­
nisierten Lied, zumal vom Volkslied, besteht in Mahlers Anwendung des bis
dato in Instrumentalmusik und insbesondere in Sinfonien, nicht aber in der
Lied-Gattung bekannten Prinzips des Durchkompanierens im variierten Stro­
phenlied.. Natalie Bauer-Lechner erläutert er; diesmal kritisch gegen Carl Löwe
gewandt: »Auch kann er sich von der alten Form noch nicht befreien, wieder­
holt die einzelnen Strophen, während ich ein ewiges Weiterlaufen mit dem
Inhalt des Liedes, das Durchkomponieren, als das wahre Prinzip der Musik
erkenne. Bei mir findest Du von allem Anfang an keine Wiederholung bei
wechselnden Strophen mehr, eben weil in der Musik das Gesetz des ewigen
Werdens, ewiger Entwicklung liegt- wie die Welt, selbst am gleichen Ort, eine
21
19
20
Vier Lieder hatMahler tatsächlich vertont . Zur Frage, welche seiner fiühen überlieferten Dich­
tungen die Vmlagen für die nicht komponierten Lieder sein könnten, siehe Hilmar-Voit, Im
Wunderhorn -.Jim(s. Anm. 9), S. 142 ff
GustavMahler, Briefe(s. Anm. 8), S. 57
11
Überliefert von Ernst Decsey, »Stunden mitMahlen<, in: Die Musik 1 0 (1911), 5. 144; zitiert
nach Elisabeth Schmierer; »Liedästhetik im 19 . Jahrhundert und GustavMahlers Orchester Iie­
der«, in: Die Geschichte derMusik, hrsg. vonMatthias Brzoska undMichael Heinemann, Bd 3:
DieMusik derModerne, Laaber 200 1, 22004, S . 99.
GustavMahler in den Erinnerungen von Natalie Bauer-Lechner(s.. Anm. 10), 546 .
Eben da, S . 152(Hervorhebung des Autors).
.
22
23
12
immer andere, ewig wechselnde und neue ist. <<24 Mit diesem Prinzip ist im und
dmch das Lied selbst, das traditionell den exemplarischen Fall »begleitender
Musik« darstellte, die Grenze zm »absoluten Musik« dmchbrochen. Bei Mah­
ler wird das Lied mit dem Prinzip der Durchkomposition Medium »absoluter
musikalischer Gestaltung«.. Diese ist »durch einen entwickelnden Charakter
bestimmt, der ( . . .. .. ) mit kompositionstechnischen Verfahren der Instrumen­
talmusik wie der thematischen Arbeit erzielt wird«25. Die musikalische Struk­
tm wird, statt >>Sklavin des textlich getragenen Gehalts« zu sein, zur »Gehalt
selbständig gestaltenden Instanz«26. Dieses Verfahren hat später Amold Schön­
berg in seinem Beitrag zum Blauen Reiter; »Das Verhältnis zum Text«, empha­
tisch auch für sein eigenes kompositorisches Selbstverständnis reklamiert 27
IV Ambivalenz, »rücksichtslose Polyphonie«, Ironie
Herausstehende syntaktische und semantische Effekte von Mahlers Anwen­
dung dieser in erheblichem Maße durch den Gattungskontrast getragenen
Struktur sind »Ambivalenz«, »Polyphonie« und »Ironie«. 28 Ambivalenz erzeugt
Mahler durch das Übereinanderlegen oder wechselseitige Unterbrechen von
gegensätzlichen Stimmungen oder Aussagen, deren eine vom Text übernom­
men wird, während die andere in der Musik zum Ausdruck kommt. Gerade­
zu programmatisch für den gesamten Zyklus ist in dieser Hinsicht der Beginn
des ersten Liedes Wenn mein Schatz Hochzeit macht. Gemäß einem kontras­
tierenden Prinzip der wechselnden Tempogestaltung (die Anweisung in der
Klavierfassung lautete: »Auf den fortwährenden Tempowechsel ist genau zu
achten«) werden in kurzer Folge gegeneinandergestellt: schnelle Sechzehntel
im hellen Klang zweier in Terzen gesetzter Klarinetten mit Triangel und in
Oktaven springender Harfe, mit der Tempoangabe Schneller (in der Orches­
terfassung) gegen langsame Achtel der Gesangsstimme (Leise und traurig bis
zum Schluß>29 mit gedämpften Violinen, gedämpfte Violen spielen einen Hal­
teton und die Celli einen Glissando-Halbton-Vorschlag, mit der Tempoan24
25
26
27
28
29
Was geschah unter dem L indenbaum?
Georg Mohr
Ebenda, S. 136
Schmieret; »Liedästhetik« (s Anm. 2 1), S. 99 f.
Michael Oltmanns, Strophische Strukturen im TI!erk GustavMahlen Untersuchungen zum Lied­
werk und zur Symphonik, Pfaffenweiler 1988, S . 4.
Arnold Schönberg, >>Das Verhältnis zum Text«, in: Der Blaue Reiter; München 1965, S. 60-75
Jedoch begibt sich Schönberg in einem Punkt in diametralen Gegensatz zu Mahler (und wohl auch
zu einem nicht unerheblichen T eil seines eigenen Werks), wenn er behauptet, dass das unmittel­
bare Erfassen eines Schubert-Liedes ohne Kenntnis des Gedichtinhalts möglich und sogar tref
fender sei; durch das Lesen der Gedichte sei »für das Verständnis dieser Lieder gar nichts gewon­
nen<<; ohne Textkenntnis könne er den >>wirklichen Inhalt sogar vielleicht tiefer erfass(en)<< (S. 66).
Zu Ambivalenz und Ironie bei Mahler vgl. Constantin Floros, GustavMahler. Visionär und Des­
pot, Zürich- Harnburg 1998, S.. 168- 199
Diese Vortragsanweisung findet sich lediglich in der Weinberger-Ausgabe von 1897; in der Kri­
tischen Gesamtausgabe von 1982 , Bd. XIV/1, mit Revisionsbericht von Zoltan Roman, wurde
sie mit dem Argument, die Vortragsanweisung sei in der Ausgabe für Singstimme und Klavier
sowie deren Quellen nicht enthalten, weggelassen (Abb. 1, S . 14 f). Diese editorische Entschei­
dung erscheint wenig plausibel.
13
gabeLangsamer (Augmentation).. Die Musik verläuft auf zwei verschiedenen
Ebenen . Sie ist ambivalent, geht unvermittelt von einer Stimmung in die ent­
gegengesetzte. Die Ebenen stehen nicht nur durch die Tempi, sondern vor
allem auch durch die Instrumentierung und den Ausdruck in e�tremem Kon­
trast. Der einsam Trauemde wird harsch konfrontiert mit der fröhlichen, volks­
tümlichen Hochzeitsgesellschaft.. Die Musiken prallen aufeinander und fallen
sich wechselseitig ins Wort wie »rücksichtslose Polyphonie«30• Rücksichtslos
ist dabei vor allem das »Hineinspielen« von kontrastierenden Musiken in noch
nicht abgeschlossene Musiken: » Fünfmal im A-Teil und zweimal im Schluß­
teil des Liedes springen die Klarinetten beim letzten Sängerton wieder in ihr
fröhliches Tempo derselben Melodie hinein .. «31 (Abb. 1 , S. 1 4 f.) .
Die offen relativen Tempobezeichnungen Schneller und Langsamer (in der
Klavierfassung stand noch Allegro und Andante) sind ihrerseits dazu geeignet,
den Kontrast zwischen den beiden Musiken in den Vordergrund zu stellen.
Die Klarinetten spielen schneller als der Sänger singen wird, schneller als
seinem Gesang angemessen wäre; sie spielen ihm gegenüber geradezu im
»falschen« Tempo . Und dies ganz präzise bezogen auf die Funktion der vier­
taktigen Eröffnung des Liedes: Es führt nach tr aditionellem Formverständnis
den Sänger ein, ist sein Vorspiel. Aber hier führt es an ihm vorbei, es entspricht
ihm nicht, ist ihm zu schnelL »Die Klarinetten eröffnen also >schneller als< das
Eigentliche, das folgen wird: Der >tramige Tag< des Sängers, der Tag, an dem
sein Schatz Hochzeit macht.«32 »Langsamer« heißt hier »trauriger als«.. Und
dieses »trauriger als« des Sängers ist im Kontrast zum »heiterer als« der »Schnel-·
ler« spielenden Hochzeitsklarinetten um so vieles tramiget, als es schlicht das
musikalisch »direkte« Zum-Ausdruck-Bringen von Tramigkeit wäre.. Umge­
kehrt wird der Sänger der Hochzeits-Stimmung nicht gerecht.. Auch er singt
im »falschen« Tempo, »Langsamer«. Er kann in seiner Verfassung keine Rück­
sicht nehmen aufdie Folklore der Vermählung, die Ausdruck gerade von Natm
(Liebe) und Volkstümlichkeit ist. Hier zeigt sich, dass sich Mahler von Anfang
an von einem schlichten »heile Natur«-»böse Menschenwelt«-Dualismus dis-·
tanziert. Er ist kein »Natm-Romantiker« im Sinne des Klischees.
Durch diese polyphonen Kontrastanlagen wird eine Wirkung erzeugt, die
Mahler selbst verschiedentlich als »Ironie« bezeichnet hat 33 Diese Wirkung
.30
31
32
33
So Mahler zu Natalie Bauer-Lechner in einem Kommentar zum Hauermarsch des »Bruder Mar­
tin<< im dritten Satz der Ersten Sinfonie,. in: Gurtav Mah!er in den Erinnerungen von Natalie
Bauer -Lechner (s. Anm. 10), S . 174.
Diether de Ia Motte, »Gustav Mahlers fahrender Geselle<<, in: Nachrichten zurMahler -Fomhung
40, April 1999, S . 12 .
Ebenda, S. 12. Hermann Danuser interpretiert die offenen Tempobezeichnungen im Sinne seiner
Auslegung des »Aufführungssinns<< ; vgL ders , Mahler und reine Zeit, Laaber 1996, S . 1 1 3 - 1 19.
Mahlers eigener Verweis aufAristoteles in seinen Ausführungen zur »ironisch brütenden Schw üle
des Trauermarsches<< im dritten Satz der Ersten Sinfonie in seinem Briefan Max Marschalk vom
20 . März 1896 (Brieft, S . 169): »Ironisch im Sinne des Aristoteles eironeia<<, lässt sich allerdings
nicht stringent philologisch stützen .. Zum Ironie-Begriff' allgemein vgL B ärbel Frischrnann, Ar·t.
»Ironie<<, in: Enzyklopädie Philosophie, Bd . 1, hrsg. von Hans J örg Sandkühler, Harnburg 1999,
s 665-669
14
Was geschah unter dem Lindenbaum?
Georg Mohr
Lieder eines fahrenden Gesellen
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Wenn mein Schatz Hochzeit macht
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Singstimme:
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Violoncdli
mein
Schatz
Hoch-zeit
macht,
.....
Singst
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fröh - li-ehe Hoch-zeit macht.
hab ich
mei-nen
Vlc.
Kontrabässe
mit Dampfer gc;.,.-
Abb. 1: Gustav Mahler, Lieder einesfohrenden Gesellen, Nr. 1 WCnn mein Schatz Hochzeit macht, T. 1-18
kann man als eine höherstufige, eben durch eine Syntax der Überlagerung
und/oder unvermittelten Sukzedierung kontrastierender Semantiken »super­
venierende«34, reflexive musikalisch-textliche »Aussage« verstehen .. Es wird de­
zidiert und nachdrücklich nicht Bilanz gezogen, es wird nicht aufgelöst, in34
Ich übernage hier den in der gegenwärtigen Philosophie des Geistes (»philosophy ofmind«) pro­
minenten Begriff der Supervenienz auf Effekte der Generierung >> höherstufg
i en ästhetischer
Gehalte
tr<1u- ri-gcn lag!
.,.----
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Kb
PP
einander überführt zu einem Fazit. Die musikalischen »Welten<< ereignen sich
neben- und gegeneinander, obgleich aufeinander bezogen - immerhin sind
beide alternierenden Welten aus demselben musikalischen Material: Der lang­
samere Sänger singt dieselben Noten wie die schnelleren Klarinetten - aller­
dings durch Raum-Zeit-Parameter, in denen die kontrastierenden Elemente
neben- und gegeneinanderklingen können, sie nicht durch semantische Syn­
thesen vermengend.
16
Georg Mohr
Was geschah unter dem Lindenbaum?
Damit entsteht zugleich auch wieder ein binnenmusikalischer Kommentar
Die »Rücksichtslosigkeit« der Polyphonie, einer Polyphonie, die wiederum
nichts zu tun hat mit dem Komrapunkt der Kunstmusik, tritt auf im Modus
des »Ursprünglichen«, »Natürlichen«, »Volkstümlichen<< . Sie ist »spontan<< ,
unabhängig von und ganz in Unkenntnis der artifiziellen Konventionen der
Kunstmusik, wie ungebändigt natürliches Leben .. Während Adorno Naturlaut
und Volksmusik als Einbrechen in und Einspruch gegen die musikalische
Kunstsprache deutet35, sieht Eggebrecht keinen Bruch, sondern ein Zusam­
menwirken beider Musikarten: »(. . .. ) beide zusammen, auch in ihrer Ge­
genanigkeit, sind Mahlers Art von Musik, zu der es gehört, daß sie - in Be­
nennungsakten (um die Welt zu benennen, wie Mahler sie sieht) - mit Arten
von Musik zu arbeiten vermag so wie die sonstige Musik mit Themen und
Techniken .. Nicht verspricht Mahlers Musik eine zukünftige, die anders wäre,
sondern sie ist ihre eigene Erfüllung darin, daß sie dem Kriterium des musi­
kalischen Immanenzzusammenhangs als oberstem aufgekündigt hat zugunsren
eines Zusammenhangs der Aussage-hierin aller zukünftigen Musik voraus..<<36
Das Gegen- und Ineinanderspielen kontrastierender Musikarten und differen­
ter Konventionen wird selbst zum musikalischen Ereignis. »Durch die Orien­
tierung an traditionellen Normen (gemeint sind hier Schuhen, Schumann,
Löwe) war jedoch eine Liedkomposition möglich, die ihre Veränderungen eben
gerade auf der Basis des Traditionellen schuf.: Das Spiel mit den Normen und
die Abweichung von den Normen konnte so aber zum entscheidenden Faktor
der Komposition werden.. <<37 Dies lässt sich durchaus auf eine von Kam inspi­
rierte Ästhetik beziehen: Das Ästhetische und seine Autonomie gegenüber dem
Epistemischen (Erkenntnis) und Praktischen (moralisches Urteilen) besteht
wesentlich im Entwer fen von und dem spielerischen Umgang mit Regeln..38
»Polyphone<< Musik im Mahler'schen Sinne erhebt die immanente Reflexivität
von Musik zum musikalischen Inhalt .. Sie macht das Potenzial von Musik, sich
implizit auch als Musik zu kommentieren, zum musikalischen Ereignis ..
17
lus werden sie wirksam. Was zu Beginn des ersten Liedes im Lied geschieht,
setzt sich auch fort als Kontrastbeziehung zwischen den Liedern .. Jeder Lied­
anfang steht zum Schluss des jeweils vorangehenden Liedes in scharfem Kon­
trast: Auf den abendlichen Leidens-Schluss von Wenn mein Schatz Hochzeit
macht, der mit einem »lang haltenden<< Ton im pppp »erlöscht<< , folgt »In
gemächlicher Bewegung<< eine unbekümmerte frühmorgendliche Naturidylle:
Ging heut' morgen über:s Feld mit der Hochstimmung in den Worten »Wird's
nicht eine schöne Welt?<< .. Ab Ziffer 1 7 jedoch wechselt das Geschehen in ein
»Zurückhaltend<<, Zweifel nehmen überhand und enden über einem unheim­
lichen, nichts Gutes verheißenden düsteren Paukenwirbel in der Hoffnungs­
losigkeit der Worte »Nein! Nein! Das ich mein' , mir nimmer, nimmer blühen
kann<< . Wieder schließt das Lied im ppp. Auch gegenüber diesem Schluss ist
der Beginn des dritten Liedes Ich hab' ein glühendMesser ein scharfer Kontrast:
»Stürmisch, wild<< im jJsetzt das volle Orchester ein, und die Singstimme schreit
den Schmerz der Wunde heraus, prägnant in den chromatisch fallenden Tönen
des »0 weh! 0 weh!«.. Dieses dritte Lied wirkt wie ein Höhepunkt, eine Kli­
max der Leidensgeschichte, es ist das einzige in exaltiertem Ausdruck. Da-·
rüber hinaus hat es eine zentrale Stellung im Zyklus als semantisch verknüp-­
fender Wendepunkt zwischen den Liedern. . Aus dem zweiten Lied nimmt es
das »Feld<< und in T. 45 die repetitiven Achtel wieder auf. Auf das vierte Lied
weist es voraus durch das Erblicken der »zwei blauen Augen<<. Auch durch die
Schlussszene der Todessehnsucht »>ch wollt', ich läg' auf der schwarzen Bahr',
könnt' nimmer, nimmer die Augen aufmachen!<< ist ein Bezug zur Schluss­
szene des vierten Liedes antizipiert, allerdings wieder kontrastierend: Während
im dritten Lied der »böse Gast<< den Gesellen keine Ruhe im Schlaf finden
lässt, wird dieser im vierten Lied »zum ersten Mal im Schlaf [ruhen] << . Das vier­
te Lied beginnt als einziges direkt mit der Singstimme, ohne jedes Vorspiel und
nur durch Flöte und Englischhorn begleitet 39
VI Wandernde Musik: Die Musik als fahrender Geselle
V Zyklus
Aber nicht nur in den Liedern, und tatsächlich insbesondere im ersten Lied,
inszeniert Mahler Ambivalenz, Polyphonie und Ironie. Auch in den Bezie­
hungen zwischen den Liedern wie auch in der Gesamtstruktur des Liederzyk-
.35
36
37
.38
VgL Theodor W Adorno, Mahler. Eine m usikalische Physiognomik (1960), Frankfurt/M . 1978,
z. B. S. 26, 48, 54-55 (zur Posthornepisode in der Dritten Sinfonie)
Hans Heinrich Eggebrecht, DieMusik GustavMahlers; München 1986, S. 197; hier gegen Ador­
nos Deutung der Posthornepisode.
Schmierer; Die Orchesterlieder GustavMahlers (s. Anm . 9), S . 7 6
Gerhard See!, >>Über den Grund der Lust an schönen Gegenständen . Kritische Fragen an die
Ästhetik Kants<<, in: Hariolf Oberer I Gerhard See! (Hrsg.), Kant. Analysen -Probleme - Kritik,
Würzburg 1988, S . 317-356
.
Mit Bezug auf Mahlers Orchesterlieder insgesamt stellt Adorno fest: »Sie rea­
lisieren den strophischen Charakter und wandeln doch die Strophen mit fort­
schreitender Erzählung ab. Was sie erzählen, ist der musikalische Inhalt selber;
ihn tragen sie vor.« Bei Mahler gelte, dass »Musik sich selber vortrage, sich
selbst zum Inhalt habe«40• Eine harmonische Analyse der Lieder des gesamten
Zyklus ergibt, dass der Gedanke Adornos sich auch an der harmonischen Bezie­
hungsstruktur des Zyklus exemplifizieren lässt. Diether de la Motte hat gezeigt,
39
Weitere Hinweise zum Zusammenhang der Lieder bei Revers, Mahlers Lieder (s. Anm. 9),
S. 56-68, und Schmierer, Die Orchesterlieder Gustav Mahlers (s. Anm. 9), Kap. II: »Orches­
tergesang und zyklische Konzeption: Die >Lieder eines fahrenden Gesellen<<<, S . 28-94 .
Adomo, Mahler (s Anm.. 35), S . 1 0 6.
.
40
.
lll
Was geschah unter dem Lindenbaum?
Georg Mohr
Fall nur das nach, was schon in den Noten steht. Was dabei fortfällt, ist wahr­
dass die Lieder eines fahrenden Gesellen gerade in harmonischer Hinsicht
scheinlich das Wichtigste, nämlich der Ausdruck, der semantische Gehalt, der
»wandernde Musik« sind mit einem »tonalen >nirgends zu Hause<«41 .. So bil­
bei Mahler fast die Form sprengt.«44 Dennoch ist festzuhalten, dass Ausdruck
den die chromatisch fallenden zehn »0 weh« und ein »so tief« im dritten Lied
und semantischer Gehalt, selbst das, was nicht in den Noten steht, gerade auch
bis aufzwei fehlende T öne eine Zwölfronreihe.. Der Zyklus als ganzer schließt
in völlig anderer Tonart als er beginnt. Keines der Lieder findet am Ende sei­
nen ha1monischen Ausgmgspunkt wieder. Nr. 1 beginnt in d-Moll und endet
in g-·Moll, Nr. 2 beginnt in D-Dur und geht über H-Dur nach Fis-Dur; Nr. 3
beginnt in d-Moll und steigt chromatisch über es-Moll und e-Moll nach
f-Moll, Nr:. 4 beginnt in e-Moll und endet einen Halbton höher in f�Moll. Ein
genauerer Nachvollzug aller Hauptstationen der ha1monischen Progression
ergibt, dass von den zwölf möglichen Tonalitätsregionen nur drei fehlen, »der
Kreis aber voll geschlossen ist«.
19
durch die Polyphonie der musikalischen »Gegenarten«, durch Gattungskon•
traste und Ambivalenzen sowie durch die Zyklen-Gesamtstruktur und externe
musikalische Allusionen generiert werden. Dabei können auch Bedeutungs­
offenheiten entstehen, die dazu herausfordern sollten, den hermeneutischen
Zirkel produktiv weiter zu treiben. Mahlers Lieder einesfahrenden Gesellen ber­
gen einige solcher hermeneutisch produktiven Ambivalenzen. Dazu gehören
so grundlegende Aspekte wie die zum Teil »antizyklische« Chronologie der
erzählten Ereignisse, Szenen und Gedanken, die uneindeutige Ordnungs. struktur der Zeitebenen im Zyklus sowie das Oszillieren zwischen Realität,
Traum und Wahn .. Eine zunächst vielleicht etwas schlicht, gar unpoetisch klin­
V II Was geschah unter dem Lindenbaum?
gende Frage ist die, wie die Geschichte denn nun »ausgeht«. Was widerfalut
Es ist kein Zufall, wenn von Musikwissenschaftlern eingeräumt wird, dass sich
denbaum? Die letzte Strophe lautet:
dem Ich-Erzähler am Schluss des vierten Liedes? Was geschah unter dem Lin­
Mahlers Musik in gewissem Sinne nicht in einem Gegenstand musikwissen­
Auf der Straße steht (stand45) ein Lindenbaum,
schaftlicher Analyse erschöpfe In dem 1 977, im Zuge der sich verdichtenden
da hab' ich zum ersten Mal im Schlaf geruht!
Hochkonjunktur der Mahler-Rezeption erschienenen Symposiums-Band
Unter dem Lindenbaum!
Mahler - Eine Herausforderung eröffnet Hans-Wilhelm Kulenkampff seinen
Der hat seine Blüten über mich geschneit.
Beitrag mit der Feststellung (die sich zugleich wie eine Mahnung, eine »He­
Da wußt ich nicht, wie das Leben tut,
rausforderung« liest): »Was Mahler hervorgebracht hat, ist musikalisch allein
war alles, alles wieder gut!
nicht zu entschlüsseln. Freilich auch nicht bei Übergehung des Musikalischen,
Ach, alles wieder gut!
präsentiert sich doch die Produktion zunächst und anscheinend vollständig als
Alles! Alles! Lieb' und Leid,
Ton-Kunst. Jedoch nur zunächst; denn schon während des ersten Hinhörens
und Welt, und Traum!
spürt man, daß Elemente anderer Abkunft hier mit den gewohnten der Musik
auf gleichsam chemische Weise in eine noch unbekannte Verbindung einge­
treten sind.«42
Dies ist keineswegs nur ein Eingeständnis an die expressive, emotionale Wir­
kung der Musik Mahlers. Obwohl auch dieses Eingeständnis legitim, da der
Musik Mahlers angemessen ist, entgegen anders lautenden Vorbehalten eini­
ger akademischer Mahler-Anhänger. 43 Monika T ibbe ist durchaus zuzustim­
men, wenn sie in ihren »Anmerkungen zur Mahler-Rezeption« zu dem Fazit
gelangt: »Mahlers Musik macht extrem deutlich, was für andere in ähnlicher
Weise gilt, daß nämlich das Verfahren der technisch-formalen Analyse unzu-·
reichend und gewissermaßen tautologisch ist: sie vollzieht nämlich im besten
Die Musik zu diesen Zeilen ist sehr sanglich, harmonisch, wie ein gutes Ende.
Erlösung vom Leid, innerer Frieden und neues Glück kehren wieder ein. Das
Lied, das in e--Moll begonnen hatte, ist mit den letzten Worten des Helden in
F-Dur angelangt (Abb. 2, S . 20). Alles scheint damit abgeschlossen und end­
.
gültig zum Guten gewendet .. Doch unmittelbar nach dem Verstummen des
Gesangs wechseln die Instrumente (Flöten, Klarinette, Bassklarinette, Harfe
und Kontrabass-Pizzicati) in die Varianttonart f-Moll, was als Trübung wahr­
genommen wird, und es erklingt erneut der Trauermarsch vom Beginn der
ersten Strophe des Liedes .. Dieser instrumentale Schluss und seine interpreta­
tionsbedürftige Semantik werfen die Frage auf: Wie ist dieses musikalische
Ende zu deuten? Was ist die Botschaft der Musik am Ende, nachdem Text und
41
42
d e I a Motte, >>Gustav Mahleis fahrender Geselle« (s. Anm . 3 1), S.. 9-12 .
Hans-Wilhelm Kulenkampff, >>Widerbild der Welt. Totalität und Einspruch bei Gustav Mah­
ler«, in: Peter Ruzicka (Hg ..), Mahler-eine HeraUJforderung.. Ein Symporion, Wiesbaden 1977,
S. . 15-49, hier 5. 15 .
Siehe dazu einige k urze Bemerkungen in: Georg Moh1; >>Auf der Suche nach Gustav Mahler<<
(zu: Jens Malte Fischer, Gustav Mahler. Der frem_t/e Vertraute, und: Wolfgang Johannes Bekh,
GustavMahler oder die letzten Dinge), in:Musik&Asthetik, 10 .. Jg., Heft 39,Juli 2006, S . 97- 102.
.
43
Stimme schon verstummt sind?
44
45
Monika Tibbe, >>Anmerkungen zur Mahler-Rezeption«, in: Ruzicka, Mahler-eine Herausforde­
rung (s. Anm. 42), S .. 85-100, hier S .. 97 .
In der Weinberger-Ausgabe von 18971autet es >>stand«..
20
Was geschah unter dem Lindenbaum?
Georg Mohr
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T 5 6 - 67
Abb . 2: Gustav Mahler, Lieder ein e; fa hrenden Gesellen, Nr.. 4 Di e zwei blauen Augen,
Eine von der Symbolik des Trauermarsches her nahe liegende und oft ver­
tretene Deutung versteht diesen als Zeichen des Todes des Protagoni_sten. Das
Blütenschneien unter dem Lindenbaum wäre dann der Weg, der Ubergang
von der Verklärung in den Tod. Der Verlust der Differenzierungsfähigkeit zwi­
schen Welt und Traum, das Ineinanderfließen von Liebe und Leid, die Unter­
schiedslosigkeit der Gegensätze: Das ist der Tod. Eine andere Deutung ver-·
steht die Dichtung als Sphäre des Tr aums. Sobald die Dichtung endet, endet
21
auch der Tra,um. Wenn der Marsch mit Kontrabass-Pizzicati und Trübung von
F-Dur in fMoll einsetzt, dann wird damit an den Anfang des Liedes und sei­
nen Text erinnert: an »die zwei blauen Augen« und somit an die Metaphern
von Schmerz und Leiderfahrung. Das heißt: Der Traum endet mit dem Wie­
dererwachen in Schmerz und Leid..
Beide Deutungen haben eine gewisse innere Stimmigkeit. Aber beide führen
sie zu Perspektiven des Scheiterns, die mit den oben skizzierten musikalischen
Charakteristika der Ambivalenz und Ironie nicht gut vereinbar sind: Die eine
Perspektive wäre der Tod als Scheitern am Leben; die andere Perspektive wäre
das endlose Leiden als Scheitern an den Gegensätzen des Lebens. Ich möchte
an dieser Stelle eine andere Deutung vorschlagen . Dazu erfolgt zunächst ein
vergleichender Blick aufdie Lindenbaum-Episoden in Müller/ Schuberts "W'in­
terreise und in Mahlers viertem Gesellen-Lied:46 Bei Müller / Schubert hatte der
Gesell unter dem Lindenbaum bereits mehrfach von Liebe geträumt: »>ch
träumt' in seinem Schatten I So manchen süßen Traum.« Auch er verband damit
»Freud' und Leide« und fühlte sich lange immer wieder zu diesem Ort hinge­
zogen: »Ich schnitt in seine Rinde I So manches liebe Wort; I Es zog in Freud'
und Leide / Zu ihm mich immer fort.« Jetzt aber will er sich dem nicht hinge­
ben, die erneute tiefe Enttäuschung führ t zur Abwendung von diesem Ort der
Hoffnung auf Liebe. Dieser das Leben ausmachenden Verbindung der
Gegensätze von »Freud' und Leide« will er sich nicht mehr stellen. Daher flieht
er den Lindenbaum, flieht jene »süßen Träume«: »Da hab' ich noch im Dun­
keln I die Augen zugemacht I ( . . . ) I Ich wendete mich nicht..«
Mahlers Gesell hingegen legt sich unter den Lindenbaum, dessen Blüten über
ihn schneien. Er kommt zur Ruhe mit sich und der Welt, indem er die Gegensät­
ze des Lebens akzeptiert. Er lässt es geschehen. Er lässt »Lieb' und Leide« gesche­
hen und akzeptiert damit auch den Verlust der Geliebten, den Verlust der Lie­
be. Er lässt sie gehen. Mit der in Lindenblüten über ihn schneienden Einsicht
löst er sich von ihr und vertraut sich erneut dem Leben an: »War alles, alles
wieder gut« . Es erklingt eine erlöste Musik in F-Dur. Diese bricht unmittelbar
nach dem Verklingen der Dichtung (T. 64-67) weg nach f�Moll und in den
Trauermarsch, mit dem das Lied begonnen hatte .. Worüber aber trauert dieser
Trauermarsch? Es läge in der Tat nahe, hier an den Tod des Gesellen zu denken.
Der Gesell stürbe nach einem letzten, unmittelbar todesnahen Moment der Ver­
klärung, der friedlich- euphorischen Beglückung des letzten Atemzuges, bevor
der Tod eintritt. Da aber »Tod« häufig auch metaphorisch verwendet wird,
kämen auch andere D eutungen in Frage, selbst wenn man es für ausgemacht
hält, dass der Trauermarsch auf den Tod verweist. Es könnte bedeuten, dass
nun ein Liebestraum, der zu Ende geträumt und endgültig gestorben ist, »begra­
ben« wird. Dieser Deutung zufolge ist das Ende des Liedes eine Schilderung
des subjektiven (vielleicht verträumten) Befindens des Gesellen, und die folgen46
Zu der folgenden Analyse haben Gespräche mit Steffi Schadow wichtige Anstöße gegeben. Ihr
danke ich auch für ein kritisches Lesen des ganzen Aufsatzes
22
de textfreie Musik, der wieder erklingende Trauermarsch, wäre dann die objek­
tive, realitätsbezogene Voraussage des unausweichlichen, notwendigen ewigen
Wiederbeginns der Bewegungen des Lebens in der Spannung der Gegensätze.
Vor allem wird durch die Musik, ob nun Tod vermeldender Trauermarsch
oder nicht, auch die Frage in Erinnerung gerufen: Ȇ Augen blau, warull). habt
ihr mich angeblickt?« Damit wird an den Auslöser der Geschichte erinnert,
und der Zyklus kommt in der Chronologie der erzählten Geschichte wieder
an den Anfang zurück. Das vierte Lied erzählt vom Auslöser der Geschichte:
vom Augen-Blick, der wie eine unwiderstehliche Kraft in eine Liebe schickt
und damit auf einen neuen, unbekannten Weg. Mahler selbst schreibt, der
Geselle habe »ein Schicksal«.. Er hat den Protagonisten zum fahrenden Gesel­
len gemacht und scheint mit der Etymologie von »Schicksal« und »schicken«
zu spielen: »Die haben mich in die weite Welt geschickt<<. Damit löst der Zyklus
auch seinen Titel ein: Die zuletzt erklingende Musik führt zurück auf das
»Schick-sal<< des fahrenden Gesellen. Indem die Musik am Ende den Anfang
in Erinnerung bringt, erinnert sie daran, dass jede Erlösung nur wieder ein
neuer Beginn eines Weges durch die unhintergehbaren Verstrickungen von
Lieb und Leide sein kann. Und damit erhält die Geschichte einen über diesen
Gesellen hinausreichende universelle Bedeutung. Der »fahrende Geselle<< wird
zur Metapher für das menschliche Leben, das immer wieder in die ihm eige­
nen Gegensätze »geschickt<< wird.
Und was für ein Schlafist das, den der Geselle unter dem Lindenbaum schläft?
Die Dichtung sagt: »Da wusst' ich nicht, wie das Leben tut, war alles, alles wie­
der gut<<. Die Musik klingt nach Heilung, Erlösung. Aber was für eine Hei­
lung? Erlösung vom Leid? In welchem Sinne? Darüber gibt eine Äußerung
Mahlers über eine andere Verwendung der Linden-Metapher weiteren Auf­
schluss.. Mit Bezug auf das Rückert-Lied Ich atmet' einen finden Duft ( 1 90 1 )
erläutert Mahler; dass im »Lindenzweig (.. . . ) die verhaltene, glückliche Emp­
findung (stecke), wie wenn man in der Gegenwart eines lieben Menschen weilt,
dessen man ganz sicher ist, ohne daß es auch nur eines Wortes zwischen den
beiden Seelen bedürfte«47• Die Linde stünde also auch für wortlose Liebe, wort­
loses Verständnis zwischen zwei Menschen, für das instantane Verstehen eines
menschlichen Erlebnisses, einer menschlichen Erfahrung. Bezogen aufdas vier­
te Gesellen-Lied ginge es an dessen Ende um eine tiefere Einsicht, die eben
nicht durch Worte zu begreifen ist.. Der Geselle wird gewahr, dass das, was ihm
widerfährt, keine Frage des Wissens, des Auf-Begriffe-Bringens ist. Es geht um
das Fassen einer umfassenderen Einsicht, die nicht in übliche Wissensbegriffe
zu klassifizieren ist . Die Dichtung sagt es: » ( . . . ) war Alles wieder gut, Lieb' und
Leid! Und Welt und Traum!«. Es ist die Einsicht in die unausweichlichen Ge­
gensätze dieser Welt und in die unaufhebbare Notwendigkeit, diese als imma­
nente Spannung unseres Lebens anzuerkennen, hinzunehmen, mit ihnen und
durch sie hindurch zu leben - oder an ihnen zu scheitern, zu sterben..
47
Was geschah unter dem Lindenbaum?
Georg Mohr
GustavMahler in den Erinnerungen von Natalie Bauer"Lechner (s. Anm 1 0), S 193 f.. (10 . August
190 1) .
23
Dass unter dem Lindenbaum etwas geschah, was nicht schlicht Scheitern,
Aufgeben, Tod sein konnte, ist schon aus dem harmonischen Verlaufklar: Das
vierte Lied endet in f�Moll, einen Halbton höher als es begonnen hat (e-Moll).
Die Musik bringt hier zum Ausdruck, was die Worte nicht mehr sagen
Müsste die Titelhage nicht eigentlich im Präsens stehen: Was geschieht unter
dem Lindenbaum? Es ist ja immerhin ein bemerkenswerter Umstand, dass Mah­
lers Textzeile in beiden Tempi überliefert ist: »Auf der Straße steht/ stand ein
Lindenbaum«. - Ja und Nein. Ja, insofern es sich nicht um eine in der Zeit, im
Leben ein Mal stattfindende und dann abgeschlossene, singuläre Geschichte han­
delt. Was dort geschieht, ist das Leben selbst, das Annehmen des Lebens als ein
permanenter Akt, als implizite Einstellung eines Lebenden .. Schon als knapp
1 9�Jähriger; im Juni 1 8 79, schreibt Mahler an Josef Steiner; in einer Art poeti­
scher Selbstbeschreibung, die bereits verblüffend von der Bilder-Sprache und
Metaphorik der Wunderhorn- und Gesellen-Lieder durchzogen ist (Heide, Lin­
denbaum, Blüten)48, dass er durch eine konstitutive Zerrissenheit zwischen
»höchste(r) Glut der freudigsten Lebenskraft« und »verzehrendste(r) Todes­
sehnsucht« geprägt ist. Immer wieder findet er aus Erfahrungen von »Heuche­
lei und Lügenhaftigkeit«, »Ekel<< und Drang zu »Selbstvemichtung« heraus .. »Da
lacht die Sonne mich an - weg ist das Eis von meinem Herzen, ich sehe den
blauen Himmel wieder und die schwankende Blume, und mein Hohnlachen
löst sich in das Weinen der Liebe auf. Und ich muß sie lieben, diese Welt mit
ihrem Trug und Leichtsinn und mit dem ewigen Lachen.«49 Als solche ständig
wiederkehrend präsente Grunderfahrung wäre sie im Präsens zu schildern.
Nein, insofern es sich um eine Grunderfahrung handelt, die immer hinter
einem liegt - sonst würde man nicht mehr leben - oder vor einem - sie kommt
mit Lebensnotwendigkeit wieder. Sie ist eine Erfahrung in der Zeit, sie hat
insofern ein Tempus .. Sie ist eine Erfahrung, die man sich erzählen muss, um
sie sich als konstitutives Moment des eigenen Lebens anzueignen. Das Präteritum ist die Erzählzeit.
Welt und Traum, Lieb' und Leid sollten daher nicht in einem dualistischen
Sinne als »Welt und Gegenwelt« verstanden werden .. Hans Heinrich Eggebrecht
hat vorgeschlagen, Mahler vor dem Hintergrund und in Abgrenzung gegen ein
der Romantik zugeschriebenes »Welt-Gegenwelt-Modell« zu deuten. so Egge­
brecht nimmt als Ausgangspunkt seines bedeutenden Mahler-Buches51 den
Jugendbriefan JosefSteiner von 1 8 79, um an diesem die Eckpunkte des Welt­
Gegenwelt-Modells abzustecken. Zwar weiß er (ergänzend in den Mahler­
Kapiteln seines Musikgeschichtswerks52) Mahlers Musik-Auffassung in Bezug
··
48
49
50
51
52
VgL dazu Hilmar-Voit, Im Wunderhorn-Ton (s. Anm. 9), 5 . 142- 155
Mahler, Briefe (s.. Anm. 8), S 30.
Für die aktuelle musikästhetische Romantik-Debatte, die stark von Carl Dahlhaus geprägt ist,
vgl . kritisch und ausführlich dokumentiert Ulrich Tadday, Das j c höne UnendliC he.. Ästhetik, Kri­
tik, Ges chichte der rom antis chenMusikanschauung, Stuttgart- Weimar 1999
Hans Heinrich Eggebrecht, DieMw ik GustavMahlm , München 1986.
Ders , Muj ik i m Abendland. Prozesse und Stationen v o mMittelalter bir zur Gegenwart, München
1998 (L AufL 1991) .
.
24
Was geschah unter dem Lindenbaum?
Georg Mohr
aufdieses Modell aufschlussreich zu differenzieren: »Der senkrechte Strich, der
beim Sich-Ereignen von Musik die Welt von der Gegenwelt abtrennt, sollte
verschwinden, oder auch so: es sollte in der Symphonie selbst aktualisiert wer­
den. Auch die Wirklichkeit, die Weltmisere, sollte musikalisch benannt wer­
den und erscheinen .. «53 Aber dennoch: Statt des tendenziell einsinnigen, mora­
lisch-sentimentalen Dualismus der »Zwei-Welten-Gespaltenheit«, bei der die
»Kunst als Gegenwelt zu einer als negativ empfundenen Wirklichkeitswelt fun­
giert«54, laut Eggebrecht das Merkmal der Romantik, scheint mir die von Mah­
ler selbst gewählte Metapher der »Polyphonie« angemessener. Sie lässt offen,
wie viele Schichten, wie viele Kontraste, Inkongruenzen, Disparitäten, Anta­
gonismen erscheinen, vor allem auch: woher sie kommen .. Kontingenz, abso­
lutes Widerfahren treten in den Vordergrund.. Mahler nennt es >>Schicksal« - in
Erläuterungen zur Ersten Sinfonie in Gesprächen vom November 1 900 mit
Natalie Bauer-Lechner. 55
Das gilt auch schon für die Gesellen-Lieder. Deren Ende zwischen Welt und
Traum ist das Hinnehmen der absoluten WiderEJunis des Scheiterns der Lie­
be, ohne transzendente Erlösung, allein in der gelösten Annahme der Wider­
sprüche des Lebens. Die Idee vom Gottsucher Mahler kommt vielleicht daher,
dass es nur ein Hauch von einem (bequemenden) Gedanken ist vom Traum
von der Erlösung zum Personifizieren eines erlösenden Gottes. In späteren Wer-·
ken scheint Mahler dieser Versuchung tatsächlich zeitweise erlegen zu sein .
1 895/96 identifiziert er im Kontext der Dritten Sinfonie Gott mit der Liebe,
die im Finalsatz »erzählt<<.. Die Achte scheint geradezu Gottesdienst zu sein.
Die Neunte aber kann wieder als ein Sich-Zurücknehmen und Zurücktreten
hinter alle fadenscheinigen, bequemenden Transzendenz-Illusionen verstan­
den werden. Sterben ist dort Rückkehr zu sich, nicht Auferstehung- im Gegen­
satz zur Zweiten. Von daher kämen die Neunte Sinfonie, Da.s Lied von der Erde
und die Zehnte den Liedern einesfahrenden Gesellen in der Distanznahme von
der Gottsuche und dem vollständig sich auf sich Wenden und in die unauf�
löslichen Gegensätze der Welt Hineinfinden wieder näher als einige Werke auf
dem Weg dahin. Die Gesellen-Lieder und auch die Erste Sinfonie haben viel-·
leicht auch gerade darin ihren unüberholbaren Reiz, dass sie noch nicht die
Flucht in ein vermeintlich erlösendes Jenseits, eine Weltflucht in eine Gegen­
welt, Zuflucht bei einem rettenden Gott suchen, sondern sich der Welt in der
Schwebe ihrer Gegensätze stellen: als Auszuhaltendes zwischen Lieb' und Leid,
Welt und Traum; Sehnsucht nach Liebe im Angesicht ihrer Verlierbarkeit und
ihrer konstitutiven Unerschöpflichkeit, denn wäre sie ganz zu erfüllen, würde
die Sehnsucht getilgt und damit die Liebe; als Suche nach Glück im Wissen
um seine Verfehlbarkeit und um seine konstitutive Vorläufigkeit. Es geht darum,
diese lebenswesentliche Spannung und den Wunsch nach ihrer Überwindung
gleichermaßen anzunehmen als das, was ein menschliches Wesen ausmacht..
.
53
54
55
Ebenda, S . 620 .
Ebenda, S. 713.
GustavMahfer in den Erinnerungen von Nata lie Bauer-Lechner (s . Anm. 10), S . 174 f
25
Man kann nicht sagen, dass die Lieder einesfahrenden Gerellen nur ein fiühes
Stadium repräsentierten, ein später nicht mehr gültiges Komponieren.. Sehne­
bels Charakterisierung als »work in progress« ist mit aller Konsequenz zu neh­
men: Auch die Neurite und Zehnte sind keine letzten Errungenschaften .. Und
in ihnen scheinen die fiühen Werke immer wieder mit auf; auch die Gesellen­
Lieder in der Neunten.. Sie bleiben ein Hauptwerk56 bis zum Schluss.
Was sich unter den hier skizzierten Perspektiven aus den Gesellen-Liedern
ergibt, ist vielleicht dies: Das Kontrastieren, das Gegeneinanderantreten-Las­
sen, Aufeinanderprallen-Lassen der Ausdruckswelten, Schmerz und Lustigkeit,
Ambivalenz und Ironie ist insofern »tönende Metaphysik«, als darin eine Visi­
on von der »Stellung des Menschen im Kosmos« aufscheint.. Die Lieder eines
fahrenden Gesellen erzählen keine (zumindest nicht nur eine) Liebesgeschich­
te, auch nicht (nur) die Enttäuschung über das Scheitern der Liebe, über die
Frustration des Liebeswunsches, sondern geben eine letztlich metaphysische
Charakterisierung der Situation des Menschen in einer Welt und entlarven die
romantische Naturidylle als naiv:. Die vermeintliche Naivität der Mahler'schen
Texte und Musik ist gerade eine Entlarvung der Naivität durch musikalische
Verfremdung und ironische Ambivalenz.
Ein wichtiger semantischer Aspekt der Anlage als Zyklus ist der, dass die
Antwort nicht der Abschluss ist, es gibt keine abschließende Antwort. Die Ant­
wort signalisiert vielmehr, dass es keinen Abschluss gibt, sondern nur die Not­
wendigkeit des Unabschließbaren .. Das Leben wird immer wieder mit dem
nächsten Blick in die nächsten blauen Augen in dieselbe, eben für das Leben
konstitutive Spannung eintreten.. Daher verweist das Ende des letzten Liedes
auf den Anfang der Geschichte zurück. Das wäre eine Deutung dessen, was
unter dem Lindenbaum geschah, die mit der Bedeutung, die Mahler dem Iro­
niebegriff einräumte, am besten vereinbar wäre . Mahlers Zyklus Lieder eines
fahrenden Gesellen könnte sogar als philosophisch-romantische Ironie in actu57
betrachtet werden: Durch die Musik wird die Wechselspannung mit dem Text
ins Transkonzeptuelle, in das weder wortsprachlich noch begrifflich Fixierba­
re gehoben.. Was in und über der Spannung zwischen Lieb' und Leid, Welt und
Traum gedacht, vielleicht nur »geahnt« oder »ausgehalten« werden kann, kann
nicht mehr »gesagt«, begriffen werden. Es ist in der Sphäre des Ungegenständ­
lichen angesiedelt. Das Überwinden und Involviertbleiben, das Auflösen und
Beibehalten der Spannung kann nicht beschrieben, formuliert werden . Es kann
nur in das Spannungsfeld »hineingezeichnet« werden. Das Projekt der Poeti-·
56
57
Vgl. Mahler, Briefe (s Anm. 8), S. 20 6.
Zu Schlegels frühromantisch-philosophischem Ironie-Konzept siehe Bärbel Frischmann, Vt>m
tra nszendentalen zum frühromant ischen Idealismus.. I G. Fichte und Fr. Schlegel, Paderborn u.. a.
2005, insbes. Kap.. 6 >>Ironie als philosophisches Konzept«, S.. .329-369. Dies . , »Vom guten Sinn
der Ironie<<, in: Bremer Philosophica, Heft 1999/7, Universität Bremen, Institut für Philosophie;
dies., »Personale Identität und Ironie. ET.A Hoffmanns >Prinzessin Brambilla<, Fichtes Philo­
sophie und Friedrich Schlegels Ironie«, in: Colloquia Germanica Internationale Zeitschrift for
Germanis tik, Bd. 38, 2005/2, Tübingen - Basel, S .. 93- 122; dies ., »Ironie als philosophische
Methode . Schlegel, Nietzsche, Rorty«, unveröff. Vomag, Seoul 2004
26
Georg Mohr
sierung der Philosophie in philosophischer Poesie, das Projekt des Zeigens statt
Begreifens käme erst in der Musik in das ihm adäquate Medium..
eine s fahre ndenN�. 1 .
Gustav Mahler.
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1
Abb. 3: Gustav Mahler, Lieder eines fohrmden Gesellen. Für eine tiefo Stim me und KlaviereBegleitung,
Verlag Weinherger 1917 (Archiv der Internationalen Gustav Mahler Gesellschaft Wien)

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