Erinnerungsberichte ehemaliger JenaplanschülerInnen (PDF, 297.5
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Erinnerungsberichte ehemaliger JenaplanschülerInnen (PDF, 297.5
I.) Ellen Eppenstein: Die Jenaer Universitätsübungsschule (Nach einem von Frau E. Eppenstein vor den demokratischen Frauen gehaltenen Vortrage), in: Jenaer Volksblatt vom 22. Dezember 1925 Wenn man das pädagogische System der Universitätsübungsschule verstehen will, ist es notwendig, ein paar Worte vorauszuschicken über die psychologischen Erkenntnisse, die ihm entsprechen. Der Begründer der Schule, Professor Petersen, stellt die Entwicklung folgenderweise dar: Die neue Pädagogik ist nicht aus einem philosophischen System hervorgegangen, aber der Bewegung, die wir innerhalb der pädagogischen Kreise erleben, entspricht eine gleichlaufende in der Psychologie. Die alte Pädagogik entsprach der Auffassung Herbarts, daß die menschliche Seele ein Komplex von Assoziationen ist und daß sich in ihr nichts befindet, was nicht durch die Sinne von außen hineingetragen worden ist. Das Neugeborene, das noch keine Eindrücke gehabt haben kann, nähert sich also dem Nichts, und es liegt in unserer Hand, dadurch daß wir die Zufuhr an Eindrücken regulieren und kontrollieren, die kindliche Seele nach unserm Wunsch aufzubauen. Daraus erklärt sich dann die Bestrebung der alten Schule, die Schüler für die Dauer des Unterrichts ganz abzusondern und von allen anderen Eindrücken als den erwünschten, und durch graue Wände, matte Scheiben, gleichmäßige Plazierung in Bänken, korrekte Haltung, ununterbrochene regelmäßig eingeteilte Stunden die Aufmerksamkeit der Kinder von allem anderen abzuhalten und nur auf die Person des Lehrers und auf das, was er vortragen wollte, hinzulenken. Daraus [erklärt sich] auch der Wunsch, so viel Gedächtnisstoff wie möglich in den Kindern aufzuhäufen, denn wer viel weiß, hat viele Assoziationen, ist also eine reiche Persönlichkeit. Der Lehrer baute aus dem Wissensstoff gleichsam wie ein Architekt die Kinder auf, und wenn der Versuch gut gelang, entstand der Musterschüler, der alles sofort auf Anhieb wußte, vor der Klasse gern ausgezeichnet wurde, immer seine höhere Nummer in der Klasse mit dem Gefühl, etwas Besonderes zu sein, tragen durfte und von dem man nun erwartete, daß er später den Staat als ein Volksführer beglücken würde. Von oben herab. Die Gedanken der neuen Richtung der Erziehung stehen eher in dem Zeichen der Philosophie Wundts. Das seelische Leben läßt sich demnach nicht in Assoziationen wie in Atome auflösen, sondern (ich zitiere Prof. Petersen): „Es ist jeweils ein Ganzes, ein in sich zusammenhängendes Seelisches vorhanden, und in ihm in unlöslicher Einheit auch das, was wir als Vorstellen, Streben, Fühlen, Wollen unterscheiden.“ Ich kann folgende Beispiele für die erzieherischen Folgen hier nennen: Der Pädagoge, der von Kindern eine starke Energieentfaltung verlangt, ohne etwa das mangelnde Lustgefühl zu berücksichtigen, würde ungefähr wie der Arzt handeln, der bei schwacher Herztätigkeit Bergsteigen verordnen würde. Wenn es aber einmal gelingt, die geistige Anteilnahme oder das Gefühl der Kinder zu steigern, folgt auch eine erhöhte Leistung des Gedächtnisses. Wenn die Phantasie und der Arbeitstrieb der Kinder befriedigt werden, erübrigt sich eine Kräftigung der Moral durch die „Disziplin“ des alten Systems. Die Kinder sind dann auch gut, wenn sie nicht etwa krank sind. Während ferner für Herbart die Menschheit nur in den Individuen existiert, sieht die neue Erziehung die Menschheit als eine lebendige Einheit, wo Religion, Recht, Sprache reine Gemeinschaftsgüter sind, und wo der einzelne eng mit dem Ganzen Seite 1/32 verwoben ist. Es ist da eine verschiedene Grundeinstellung vorhanden, eine individuelle und soziale. Die neue Schule nennt sich eine Lebensgemeinschaftschule; sie führt auf ihrem Schilde das doppelte Motto: Vom Kinde aus und von den gemeinsamen Kulturgütern aus. Die neue Erziehungslehre ist ferner überzeugt, daß es ein Eigenleben des Kindes gibt, daß die Kindesseele genauso ein Ganzes ist, wenn auch in manchem ein Andersartiges wie die Seele des Erwachsenen, und sie befindet sich in Übereinstimmung mit der neueren Psychologie, wenn sie Rousseaus Worte wiederholt: „Laßt die Kindheit in den Kindern reif werden!“ Auch die medizinische Wissenschaft ist ja der Ansicht, daß die Kinder nicht etwa als kleine Erwachsene zu betrachten sind. Sie hat längst auch festgestellt, daß im Pubertätsalter etwas ganz Neues in der körperlichen und seelischen Struktur zum Vorschein kommt, und es gibt uns zu denken, in wie hohem Grad sie Gesundheit im Kindesalter für grundlegend für das ganze spätere Leben hält. Ja es gibt eine letzte Gelegenheit, im Übergangsalter Schäden auszubessern, die sonst im Leben nicht mehr verschwinden. In der Kindheit wird der Nährboden für das spätere Blühen der Menschen gelegt, auf körperlichem wie auf geistigem Gebiet. Laßt uns nicht zu früh Raubbau treiben mit den Kräften des Kindes. Laßt uns nicht gleich die kleinen Seelen auf den Konkurrenzkampf im Leben einstellen, gönnen wir ihnen Zeit zum Spielen, ehe die Arbeit anfängt, gönnen wir ihnen Zeit zum Träumen, ehe daß Denken anfängt, gönnen wir ihnen Zeit zum friedlichen, eigengesetzlichen Wachstum, ehe der Kampf ums Dasein anfängt. Dann werden sie erst recht imstande sein, aus einer vollen, gesunden Seele zu schöpfen beim späteren Arbeiten, Denken, Kämpfen. Die Universitätsübungsschule ist ein Glied einer internationalen pädagogischen Bewegung, die als Reaktion zu der Systematisierung der Schulen, zu der Auffassung der Menschen als Masse, zu dem pädagogischen Drill nach dem Muster des Militarismus entstanden ist. Wir waren doch mit der alten Methode so weit gekommen, daß ein französischer Unterrichtsminister meinen konnte, das Ideal erreicht zu haben, als er um ½12 Uhr in seinem Büro in Paris imstande war zu sagen: „Jetzt lesen sämtliche Volksschulkinder in Frankreich den ersten Abschnitt der 31. Seite des autorisierten Geschichtsbuches!“ Die Schule war einer großen Wurstmaschine ähnlich geworden, wo man an einem Ende die kleinen Seelen hineinsteckte und am anderen die fertigen Bürger erhielt, und zwar gleich mit Preisen versehen, sozusagen, das wurde ja im Examen besorgt. Es ist eine bekannte Tatsache, daß die Grundschulkinder schon im 2. Schuljahr anfangen, „wurstig“ zu sein, die Lehrer können meist nichts dagegen machen, sie sollen ja gut zugeschnittene Zahnräder in der großen Maschine sein, sonst entsteht zuviel Reibung. Daß dieses System jetzt hier und da durchlöchert wird, verdanken wir den Gedanken von der Montessori, von Kerschensteiner, Decroly, Berthold Otto u.a. In England, in Belgien, in Dänemark, vor allem aber in Amerika, schreitet die Bewegung vorwärts. Gedanken sind frei und fliegen von einem Land zum anderen, und jedes sucht aus den Erfahrungen der anderen Nutzen zu ziehen. Die Bewegung ist überall friedensfreundlich, denn der geschärfte Blick für die Bedeutung der Gemeinschaft der Kinder unter sich und für die kulturelle Gemeinschaft des Vaterlandes führt weiter zur Erkenntnis des Wertes der Völkergemeinschaft. Überall ist die Bewegung nach dem Kriege gewachsen, denn das Gefühl, daß in der Kindererziehung etwas falsch war, wenn sogenannte Kulturvölker sich mit einer solchen Blindheit ins Verderben stürzen konnten, veranlaßte die Frage: Wie bilden wir Führer aus, die sich verantwortlich fühlen für die Zustände in den Völkern und die, von der Gemeinschaft im Kleinen ausgehend, imstande sind, für viele zu denken und zu handeln? Die sogenannte Petersen-Schule geht mit recht bescheidenen Mitteln an die Aufgabe heran, auf diesen Seite 2/32 Gedanken eine Schulgemeinde aufzubauen. Es ist noch vieles im Werden, vieles was noch nicht fertig sein kann nach der kurzen Zeit. Hier ist der deutsche Schulmeister mal wieder am Werk, um mit seiner Gründlichkeit von neuen Voraussetzungen aus etwas Mustergültiges zu leisten. Die Ausländer, die herkommen, äußern ihre Bewunderung und ihr lebhaftes Interesse. Ein Amerikaner, weil er erkannte, wie sehr diese Erziehung die Fähigkeit der Kinder, eine Arbeit selbständig anzupacken und durchzuführen, steigert; die Kinder werden gewissermaßen kleine „self-made-men“. Ein Inder, weil er hier etwas von dem Ausreifen der Seele fand, daß ihm so wichtig erscheint. Das stille Wachsen aus Beschauen und Besinnen von innen nach außen. Hier fand er ein sichtbares Zurücktreten des materiellen Strebens vor den wahren Werten der Kultur der Seele. Die Universitätsversuchsschule ist eine Volksschule. Nachdem Amtsantritt von Professor Petersen wurde die alte Reinsche Seminarschule umgewandelt, und im April 1924 entstand die jetzige Schule als eine kleine Vorschule mit vier Jahrgängen, Kinder[n] vom ersten bis vierten Schuljahr. Im Winter 1924/25 trat ein Kreis von interessierten Eltern an Professor Petersen mit der Bitte heran, diese Schule nun weiter auszubauen und höhere Jahrgänge anzugliedern. In dieser Weise wurden der Schule im April 1925 50 neue Kinder zugeführt. Die Schule hat jetzt eine Gesamtschülerzahl von 72 Kindern. Sie verteilen sich auf drei Gruppen unter Leitung von drei Gruppenlehrern. Die erste Gruppe umfaßt jetzt Kinder vom ersten bis zum dritten Schuljahr, die zweite Gruppe das vierte bis sechste Schuljahr, und die dritte Gruppe hat Kinder vom sechsten bis achten Schuljahr. Das neunte Schuljahr ist nicht repräsentiert, da Professor Petersen es ablehnen mußte, Kinder von höherem Alter aufzunehmen. Die Kinder sind dann nicht mehr imstande, sich umzustellen nach dem neuen Schulsystem. Wenn genügend Raum und Lehrkräfte vorhanden wären, könnte die Schule heute leicht doppelt so groß sein, denn zahlreiche Anmeldungen sind eingegangen und mußten abgewiesen werden. Doch besteht eine stille Hoffnung, daß diese Schwierigkeiten einmal behoben werden. Ich muß aber hier gleich hinzufügen, daß es für die neue Richtung gar kein Ideal darstellt, große Massenschulen zu gründen. Schulen mit 100 bis 200 Kindern stellen vielmehr das Ideale dar, wo es noch möglich ist, aus der ganzen Schule mit Kindern, Lehrern und Eltern eine wahre Schulgemeinde aufzubauen. Es stehen der Schule vier Schulräume zur Verfügung. Jede Gruppe hat also ihren Arbeitsraum, und der vierte dient für den Handfertigkeitsunterricht und ist reich ausgestattet mit Drehbänken, dem Werkzeug des Tischlers, des Buchbinders, des Mechanikers usw. Die Arbeitsräume der drei Gruppen haben äußerlich keine Ähnlichkeit mit den uns so vertrauten egalisierten Schulräumen. Sie sind von den Kindern selbst ausgestattet mit dem, was den Kinderherzen lieb ist. An den Wänden entlang laufen schwarz lackierte Flächen, die mit bunter Kreide bemalt werden. Bald ist es ein Hafen mit Schiffen und Molen, bald ein Kohlenbergwerk, bald das Leben der Fische. Die Zeichnungen sind bald vom Lehrer kunstvoll ausgeführt, bald von den Schülern. Sie bleiben oft wochenlang stehen, erfüllen die Phantasie der Kinder und regen zur Nachahmung an. Schulbänke sind unbekannt. Kleine leichte Stühle, der Größe der Kinder angepaßt und leicht verstellbar, ja zusammenklappbar, ermöglichen, daß das Zimmer immer neue Gestalt annehmen kann, je nachdem nun an den langen Tischen gearbeitet oder „ein Kreis“ gebildet werden soll. Die Arbeitstische sind mit Blumen in hübschen einfachen Vasen, die Kinder selbst in Bürgel geholt haben, geschmückt. Die Blumen schaffen die Kinder selbst herbei, wie auch die vielen Fische, Frösche, Eidechsen, Schlangen und sonstigen Naturphänomene, die die Fensterbretter ausfüllen. Ja, eines Tages fand sich in dem Schubkasten eines Kindes Seite 3/32 ein Kaninchen, das jetzt im Hof treulich weitergefüttert wird. In den großen Schränken werden die schönsten Arbeiten der Kinder aufgehoben, vor allem die „Mappen“, wo die ins reine geschriebenen Arbeiten zum Schluß eingetragen werden, mit vielen bunten Zeichnungen verziert und liebevoll eingebunden. Daß die Eltern in wochenlanger Arbeit eigenhändig die Wände der Gruppenzimmer gestrichen haben, zeigt, daß in der Schule eine gewisse „Elterngemeinschaft“ schon besteht. Es gilt im Prinzip: Jeder kann irgendwas für die Schule leisten, und wer nicht Sachen oder Geld erübrigen kann, kann jedenfalls seine Kräfte oder seinen Rat zur Verfügung stellen. Ein Vater hat die Kinder bei der Arbeit photographiert, ein anderer ihnen einen Vortrag über sein Handwerk gehalten. Es gibt Mütter, die wöchentlich beim Handarbeitsunterricht mithelfen, und andere helfen bei der Schulspeisung, marschieren mit auf die Ausflüge, um die Bagagetruppe zu bilden, bei der müde oder behinderte Kinder Trost finden. Die Kinder sollen sich also nach eigenem Gefallen in ihrer Klasse zurechtfinden, und von den in ihrer Gemeinschaft entstehenden kleinen Anregungen nimmt der Lehrer Anlaß, den Gesamtunterricht auszugestalten. Daher wird dieser Unterricht vielfach den Rhythmus des Jahres zeigen: im Sommer wird durch den Schulgarten das Naturwissenschaftliche in den Vordergrund gerückt, im Winter konzentriert sich alles mehr um die Fächer Rechnen, Schreiben, Lesen usw. Das Lesen jedoch wird zu jeder Zeit mit geradezu staunenswertem Eifer betrieben. Die Kinder sind darin anderen Schulen voraus. Um Weihnachten geheimnist es natürlich in allen Ecken, und vom Adventskranz ab kündigt die ganze Ausstattung der Räume das nahende Kinderfest. Ostern wiederum zeigt es sich, daß die schulpflichtigen Kinder noch nicht dem Osterhasen entwachsen sind. Er begrüßt die Neuankömmlinge in einer kleinen Dilettantenkomödie zum Empfang. Alles, was die Kinder als Ereignis selbst empfinden, sei es nun ein von der Eidechse gelegtes Ei, Amundsens Expedition, Robinson (ein Kind hat vielleicht das Buch in der Schulbibliothek gefunden), Tutankamen, wovon sie zu Hause haben sprechen hören, oder die Saaletalsperre, alles, was den Kindern von vornherein Interesse ablockt, kann zum Gegenstand der Belehrung gemacht werden, indem der Lehrer erst oft feststellt, was die Kinder selbst beitragen können, und nun die Sache weiterführt durch Erklärungen, Zeichnungen, Lesestücke, Niederschreiben des Gehörten und womöglich Ausrechnen einiger Größen. So gruppiert sich der Unterricht in allen Gruppen um die Stunden des Gesamtunterichts, die in der ersten Gruppe, wie ich oben geschildert habe, mehr frei nach den Erlebnissen der Kinder wechseln, in der höchsten Gruppe einmalig vom Schulleiter festgelegt, sich um ein bestimmtes Thema konzentrieren. Die Kinder der ersten Gruppen müssen ja erst lernen, einen Gedanken festzuhalten und daran logisch weiterzubauen, während man den großen Kindern schon eine Vertiefung in einen bestimmten Stoff zumuten kann. Aber auch in der obersten Gruppe bleibt immer ein Spielraum für plötzlich auftauchende „sensationelle“ Dinge, wie etwa der Vertrag von Locarno oder ein Unglücksfall beim Setzen der Masten für Starkstrom. Absolut verbannt ist aber aus der Schule das Abfragen, das in der alten Schule so viel betrieben wird. Die Kinder sollen nicht die Antwort, die der Lehrer im Kopf hat, erraten, sondern in Ruhe sich in den Lehrstoff vertiefen und dann von sich aus schriftlich oder mündlich das darbieten, was nun in ihnen gewachsen ist, aber nicht auf Kommando, in Aufregung vor der schlechten Zensur oder zu einer Zeit, wo ihr Interesse vielleicht gerade von anderen Dingen durchkreuzt ist. Meist aber ist es so, daß der Lehrstoff von den Kindern in dieser Weise so gierig aufgenommen wird, daß sie weit mehr als erwartet darbieten und mit einer Lust an die Arbeit gehen, die sie nicht ermüden läßt, obwohl 8 Stunden tägliche Seite 4/32 Arbeitszeit für die Kinder der obersten Gruppe keine Seltenheit ist. Die Kinder haben dabei keine Hausaufgaben auf, leisten es eben freiwillig. Gesundheitlich gedeihen die Kinder dabei ausgezeichnet. Das freie Herumgehen, das ungezwungene Sitzen, gibt ihnen eine natürliche, gute Haltung. Im Sommer wird viel im Freien unterrichtet. Vor allem aber macht das Glücksgefühl, das sie bei der Arbeit erfüllt, daß sie auch körperlich gedeihen. In der Schulzeit sind die Kinder viel intensiver beschäftigt als in der alten Schule, denn die toten Stunden, wo sie sonst etwa dasitzen und zuhören, wie den schlechter Begabten die Weisheiten eingeträufelt werden, fallen ja ganz weg. Im großen und ganzen beschäftigt jeder Jahrgang innerhalb einer Gruppe sich mit gemeinsamen Arbeiten, so daß der Lehrer z.B. mit einer Kleingruppe rechnet, während die anderen schreiben, wie es auch in der einklassigen Dorfschule geschieht. Aber es herrscht nirgends ein starres System, Kinder, die schnell Rechnen lernen, gehen weiter und arbeiten vielleicht bald mit der nächsten Gruppe über ihnen zusammen, sie brauchen nicht auf die anderen zu warten. Am Gesamtunterricht nehmen alle teil, und die einzelnen verwerten nun das Gehörte nach ihrer Gabe zu Zeichnungen, Berichten oder dergleichen. Wenn die Kinder verreist gewesen sind, zeichnen sie auch nachher Bilder von dem Gesehenen, das zu einem Allgemeingut für die Gruppe wird. So hat ein Junge wunderbar verschiedene Marterl aus Tirol nachgemacht, ein Mädchen alle vorkommenden Segelschifftypen. Vielleicht bekommen Sie, meine verehrten Damen, am besten ein Bild von dem Gang des Unterrichts, wenn ich Ihnen den Gesamtunterricht in der ältesten Klasse schildere. Es war beschlossen, daß Italien bearbeitet werden sollte. Der Lehrer warf die Frage auf: wie kommen wir nach Italien? Ein Kind weiß von Goethes Reise nach Italien. Literatur wird herbeigeschafft darüber, und dann über Hannibals Zug. Die Alpen werden gezeichnet, graphisch werden die Schräge der Gletscher dargestellt. Die Lage der oberitalienischen Seen wird festgestellt, schöne bunte Übersichtskarten hergestellt, der Rauminhalt der Seen errechnet, ihre Höhenlage. Die Kinder übernehmen besondere Vorträge: Venedig, den Vogelfang, den Schmuggel, die Bevölkerung der Riviera. Andere schreiben besondere Aufsätze: St. Bernhard, Ein Morgen in Genua, Die Vulkane, Das Leben der Lazzaroni. Bald ist die Gesellschaft bis nach Sizilien gekommen, die blaue Grotte auf Capri wird in leuchtenden Farben gemalt, dann sind wir in Rom. Und nun machen wir Halt und fangen an zu erzählen von den ersten Christen, von Kaiser Nero und sind also unmerklich auf den historischen Grund gekommen. Und mit welcher Spannung und Freude am Erlebnis hat nicht jedes Kind diese Reise mitgemacht! Kein Zweifel: das sitzt! Wer war nicht stolz, „einen Vortrag“ halten zu dürfen und nachher wie bei richtigen Vorträgen das Fegefeuer der Diskussion aushalten zu müssen. Was heißt das nicht bei 12-13jährigen Kindern, 10 Minuten oder länger frei zu reden, einen Gedanken weiterzuspinnen ohne Manuskript. Allerdings, das kann nur erreicht werden, wenn der Lehrer weiteste Zurückhaltung übt und nicht mit seiner Kritik mitten hineinplatzt und dem Kinde den Mut nimmt. Oder wenn der Lehrer nicht mit der roten Tinte in das Manuskript hineinfährt, das eben so schön sorgfältig ins Reine geschrieben wurde. Die Fehler, die der Lehrer bemerkt, werden auf die schwarze Tafel gebracht und sachlich von der ganzen Klasse besprochen. In derselben Weise, wie die obere Gruppe den Unterricht um Italien gruppierte, tat es die mittlere um das Saaletal, das zu einem Teil durchwandert wurde. In Rudolstadt wurde das Bauernmuseum besucht, und ich sah, daß ein 11jähriges Mädchen dort etwa 12 verschiedene Typen von alten Lampen abgezeichnet hatte, wiederum ein Beweis für die Geduld und den Arbeitseifer der Kinder, wenn man ihnen ihre Freiheit läßt. Seite 5/32 Da taucht die Frage unwillkürlich auf, was ist wichtiger zu lernen, von den alten Lampen und der Weg der Menschheit vom Kienspan zum elektrischen Licht, oder etwa der Weg vom Punischen Krieg bis zum Weltkrieg. Wessen Geschichte muß man lieber kennen, die des Kaisers Alexander oder die Newtons? Ist es wichtiger, eine Blume zu zerteilen und alle Teile mit einem Namen zu benennen oder die Blume zeichnen zu können mit Farben und Formen? Das ist dieselbe Frage, die nach dem Lehrstoff. Müssen nicht die Menschen von 1925 grundsätzlich andere Dinge lernen als die von 1825? Gewiß, und die ganze Physik und Naturwissenschaft hat ja den Einzug in die Schulen gehalten. Aber sehr viel alter Ballast behindert noch mehr als er fördert. Und wo bleibt die Lehre von den sozialen Verhältnissen, von den großen Männern unserer Zeit? Das und vieles andere bleibt liegen oder wird nur als Nachtisch in der obersten Klasse gereicht. Laßt uns also nicht etwa den alten Lehrstoff mit der vollständigen chronologischen Königsreihe als etwas Heiliges, für die Bildung Unerläßliches betrachten. Für den werdenden Menschen ist ein Unterricht über Italien wie der oben geschilderte wertvoller, bildender als eine vollständige Aufzählung aller Städte, Flüsse und Gebirge sämtlicher Mittelmeerländer, denn er wächst innerlich daran, sich wirklich in einen Stoff zu vertiefen, er faßt Liebe zu dem Schönen, das es in der Welt gibt und weiß sich auch zu helfen, wenn mal später im Leben die Frage an ihn herantritt: was weißt du nun von dieser oder jener Gegend? Da weiß er, wo er sich Wissen holen kann, und er wird für immer einen Appetit auf geistige Nahrung behalten haben. Es liegt auch in der Absicht des Unterrichts, die kleinen Kinder nicht zu sehr schematisch in den Fertigkeiten Schreiben und Rechnen zu fördern. Dem liegen psychologische Erkenntnisse zugrunde. Das Kind hat Entwicklungsperioden, die berücksichtigt werden müssen, doch heute meist gegen den Wunsch der Eltern, die mit Ungeduld darauf warten, daß die Kinder diese Fertigkeiten erreichen, und oft nur danach den Wert der Schule beurteilen. Denn das wichtigste von allem ist ja doch immer im Konkurrenzkampf zu siegen, und zwar muß man schon mit 7 Jahren damit anfangen! Die höchste Steigerung dieser Furcht tritt dann später auf, wenn der Junge vielleicht in einer der oberen Klassen sitzen bleiben muß, und nun sicher ein Jahr „zu spät“ in seinen Beruf eintreten wird, eine Furcht, die ja schließlich das Kind zum Selbstmord treiben kann. Nein, diese Furcht vor einem Zurückbleiben der Kinder in einzelnen Fächern teilt die Schulleitung allerdings nicht. Für ein Kind, das überhaupt lernfähig ist, kommt immer die Zeit, wo es das Fehlende nachholt. Durch die Form der Schule ist es möglich, daß sie sich in hohem Grade um Dinge kümmern kann, die die alte Schule nach ihrer Art gar nicht fördern konnte. Da ist z.B. erst das gebildete, formvollendete, freie Benehmen der Kinder, das erst das freie Zusammenleben in einem Arbeitsraum ermöglicht. Das wird täglich geübt und durch allerlei Sprüche wie durch das Beispiel den Kindern beigebracht. Sie lernen leise gehen, ungezwungen grüßen, höflich zueinander sein, still ihre Zeit zum Reden abwarten können. Und darüber hinaus wird über den Charakter der einzelnen gewacht. Vergeht sich ein Kind gegen die Ordnung oder gegen die Sitte, so wird von seinen Kameraden auf dieses eingewirkt. „Wir bildeten einen Kreis“, sagen dann die Kinder. Wenn etwas die Gemüter ernstlich beschäftigt, setzen sie sich im Kreis und besprechen ungezwungen die Sache mit dem Lehrer, wobei dieser sich auch Kritik muß gefallen lassen, denn er will ja freie kleine Seelen erziehen und freut sich immer, wenn sie aufrichtig zu ihm sind. Das gemeinsame Erleben, das die Kinder in ihrem Kreis haben, entsteht auch bei dem Werkunterricht, wo es ein Stolz der einzelnen ist, den anderen mit Instandsetzungsarbeiten helfen zu können. Oder auf den gemeinsamen Ausflügen, wo auch manche Mutter mitwandert und wo draußen in einer Jugendherberge übernachtet Seite 6/32 wird. Letztes Jahr wanderte die Grundschule nach den Saalehäusern aus und erlebte dort eine Woche lang die Saale, die Rudelsburg, Schulpforta und den landwirtschaftlichen Betrieb der benachbarten Höfe. Mütter waren dabei, die kochten. Diese Teilnahme an den Ausflügen steht allen Eltern offen. So waren auch dieses Jahr, als eine Schar Kinder auf Kosten der Schule nach der Sächsischen Schweiz für drei Wochen in die Sommerfrische gingen, mehrere Eltern dabei, die später von den gemeinsamen Erlebnissen und Eindrücken berichteten. Die neue Schule will mit den Eltern zusammen am Kind arbeiten. Sie wünscht, daß die Eltern mit zu der großen Schulgemeinde gehören sollen. Die Eltern sind deshalb zu jeder Zeit willkommen in der Schule, können unangemeldet in jede Stunde hineintreten, mit dem Lehrer nach vorhergehender Anmeldung über ihr Kind sprechen. Der Lehrer besucht außerdem einmal im Jahre jedes Elternhaus. Manche Mutter kommt schnell noch mit dem Marktkorb vorbei, um sich das neue Schreibheft ihres Sohnes zu besehen oder um bei der Schulspeisung in der großen Pause behilflich zu sein. So haben wir, sobald unsere Zeit es erlaubt, Gelegenheit, das Leben unserer Kinder in der Schule zu verfolgen. Die Eltern sind in einem Elternrat organisiert, dem für jede Gruppe drei Elternpaare angehören. Der Elternrat bespricht mindestens einmal monatlich alle dringenden Schulfragen mit dem Schulleiter und den Lehrern. Sehr oft ist es auch erwünscht gewesen, alle Eltern dabei zu haben, dann wird eine Elternversammlung einberufen. Die Elternversammlungen waren außergewöhnlich gut besucht und die Verhandlungen sehr lebhaft. Am wertvollsten sind wohl aber doch die Gruppenelternabende unter der Leitung des Gruppenlehrers gewesen. Man hat da Gelegenheit, die Arbeit der Gruppe kennenzulernen und die Leistungen der einzelnen Kinder gründlich durch die ausgelegten Mappen und durch die Aussprache kennenzulernen. Da staunt manche Mutter, wenn sie sieht, daß es andere Kinder gibt, die ebenso viel leisten wie ihr Söhnchen, den sie vielleicht für den Begabtesten hielt. Aber man staunt auch, wenn man sieht, wie Verschiedenartiges die Kinder hervorbringen. Der Stempel des Elternhauses ist natürlich erkennbar, aber auch die Eigentümlichkeit der eigenen Veranlagung, die sich nun unter diesen Verhältnissen ungehemmt entwickeln kann und immer etwas von der Persönlichkeit des Kindes aufweist, sowohl in der Zeichnung wie im Inhalt des Referates, aber auch in der Schrift und in der Anordnung der schriftlichen Arbeiten. Jede Woche beginnt mit einer kleinen Schulfeier. Am Schluß des Halbjahres vor einigen Wochen wurde ein Tag bestimmt, an dem sämtliche drei Gruppen voreinander und vor dem Lehrkörper Rechenschaft über die Unterrichtsarbeit seit Ostern ds. Js. ablegen sollten, und ein Programm von über 60 Nummern wurde in gemeinsamer Besprechung mit Professor Petersen und den Beauftragten der Gruppen festgelegt. Es wurde ein wundervoller Tag, als die Kinder nun, um zu zeigen, was sie gelernt hatten, eins nach dem anderen im großen Hörsaal vor dem versammelten Auditorium der anderen Schüler, der Lehrer und einzelner zufällig erschienener Eltern auf das Podium traten, leise einander ablösten und alle etwas darboten, sei es nun Lesestücke oder kleine Referate oder Gedichte oder mehrstimmigen Gesang. Es ging wie am Schnürchen. Atemlose Stille herrscht im großen Saal, es war nicht einmal im Laufe der 5 Stunden nötig, Stille zu gebieten; selbst die ganz Kleinen, die oft weniger von dem Vorgetragenen hatten, saßen mäuschenstill und aufmerksam bis zuletzt. Da sprach z.B. ein Junge 5 Minuten lang vom Pferd und allen seinen Eigenschaften, dann sagte ein anderer ein Gedicht, ein Dritter hatte sich den Ritterschlag als Thema ausgewählt und es wurde lebhaft im Saal, als er eins der ritterlichen Gebote nannte: du sollst die Frauen lieben; aber das Lachen störte ihn nicht, er ging unbefangen weiter im Text. Das war überhaupt das Erstaunlichste: die Kinder sind imstande, sich Seite 7/32 vollkommen auf ihr Thema zu konzentrieren, und in vollkommen freier, oft gewählter poetischer Rede bringen sie ihren Bericht oder etwa ein selbst ausgedachtes kleines Märchen, wie es öfters der Fall war. Und nachher verschwinden sie, ohne erst den scheuen Blick auf den Lehrer zu werfen oder den eiteln Ausdruck aufzuweisen, der für Musterkinder einer alten Schule bezeichnend ist. Schließlich gab es auch eine Kasperle-Aufführung, wozu die Kinder selbst die Puppen hergestellt hatten und die von ihnen selbst nach dem Märchen von „Schneewittchen“ zurechtgelegt war. Es wurde dabei so gut rezitiert, so unbefangen aus der kindlichen Seele heraus, und es waren so hübsche Einfälle (wie z.B., daß die Zwerge mit einem rhythmischen Bergmannslied, das leise verklingt, ins Bergwerk ziehen), daß man kaum glauben möchte, daß es von 11jährigen Kindern gemacht war. Es war ein künstlerischer Genuß. Am Schluß der Feier folgte dann die Kritik von Professor Petersen. Sie ging darauf hinaus, daß noch manche ernstere Kleinarbeit getrieben werden müßte. Im übrigen hätte es wohl niemand fertig gebracht, im einzelnen zu tadeln, was mit solchem Eifer und Liebe zum Werk und in solcher Unbefangenheit geboten worden war. Es war wieder klar ersichtlich gewesen, daß man nur den Kindern ihre Kindheit lassen muß, um die starken, schönen Kräfte, die in ihnen wohnen, sich entfalten zu sehen. II.) Ada Weinel: Aus dem Leben einer Jenaer Schule, in: Kindergarten, Jg. 1926, S. 265-267 Als im Jahre 1923 der Staat Thüringen die Universitätsausbildung der Volksschullehrer einführte und als Nachfolger des weithin bekannten Pädagogen Prof. W. Rein Prof. Petersen, den bisherigen Leiter der Lichtwarkschule in Hamburg, berief, hielt dieser es zur praktisch-pädagogischen Ausbildung der Lehrer für notwendig, die bisherige Reinsche Übungsschule nach seinen Gedanken anders zu gestalten. Ihm schien es erforderlich, statt der drei Übungsklassen einen Schulorganismus zu schaffen, der als Ganzes dem entsprach, an dem ein Lehrer auf dem Lande zu arbeiten hat, einer einklassigen Schule. So wurde im ersten Jahr des Bestehens der neuen „Universitäts-Versuchsschule“ eine „Grundschule“ eingerichtet, an der ein Lehrer etwa 20-40 Kinder der drei ersten Schuljahrgänge im „Gesamtunterricht“ gemeinsam und in einzelnen Fächern in Sonderkursen unterrichtete. Vor Beginn des zweiten Jahres ihres Bestehens traten eine Anzahl Eltern größerer Kinder an Prof. Petersen mit der Bitte heran, schon gleich mehrere Jahrgänge auf diese Grundschule aufzubauen. Er entsprach diesem Wunsche, und die Schule trat in das zweite Jahr ihres Bestehens mit etwa 70 Kindern, die in drei Gruppen: Unterstufe 1.-3. Schuljahr, II. Gruppe 4. und 5. Schuljahr, III. Gruppe 6. und 7. Schuljahr gegliedert waren. Die folgenden Zeilen geben die Eindrücke einer Mutter und das Leben eines Kindes dieser Oberstufe wieder. Rein äußerlich, wenn man hineinkommt, ein ganz anderes Bild als sonst der Schulraum: Keine Bänke, die wie an der Schnur gereiht vor einem Katheder stehen. Stattdessen Klappstühle mit Lehnen, die leicht herumzutragen sind, die in einen Kreis aufgestellt werden beim Gesamtunterricht oder „beim Kreis“, oder an schmale lange Tische, wenn es Schreiben oder freies Arbeiten gibt. Die ganzen Wände sind mit Wandtafeln in Reichhöhe versehen, so daß nicht nach jeder Stunde weggewischt werden muß, sondern schöne Zeichnungen und Schriften wochenlang stehenbleiben Seite 8/32 können. Ein Regal ist da, das die „Mappen“ aufbewahrt, an den Fenstern stehen Blumen, auch ein Aquarium, Regal, Schrank, Schiebwand, Wände, alles farbenfroh größtenteils von der Hand der Kinder selbst bemalt und angestrichen. Kurz, es ist der Eindruck eines hellen, frohen, ordentlich aufgeräumten, behaglichen Kinderzimmers. „In unserer neuen Schule gibt es keinen Stundenplan“, sagte Katharina nach dem ersten Schultag. „Wir bekommen auch nichts auf, wir dürfen tun, was wir wollen. Ob wir wohl dabei auch etwas lernen?“ Nach acht Tagen sagte sie: „Nun habe ich die neue Schule verstanden. Man darf alles, was man will, man darf aber nur wollen, was für alle schön und recht ist.“ Ganz stimmt die Sache ja nicht mit dem Stundenplan. Es ist nur nicht das zerfetzte 45-Minuten-Stundensystem, wo immer wieder ein neuer Gegenstand an die Reihe kommen muß, gleichviel ob man gerade mitten in einer spannenden Erörterung war oder nicht. Hier gibt es Kurse und Gesamtunterricht. Kurse sind Stunden wie in anderen Schulen, Französisch, Latein, Englisch, Geometrie, wo ganz richtig gepaukt wird. Nicht jedes Kind nimmt an jedem Kurs teil. Die nicht für Sprachen begabt sind, oder die auf ihrer früheren Schule keinen Sprachunterricht hatten, haben statt dessen „Werkunterricht“, das heißt Sägen, Schnitzen, Kleben, Basteln, Malen, Kneten usw. Das Herzstück des Betriebs ist aber der Gesamtunterricht. Der findet wohl dreimal die Woche statt und erstreckt sich stets über mehrere Vormittagsstunden hintereinander. In jeder Gruppe der Schule - je zwei oder drei Schuljahre sind zu einer Gruppe von etwa 20 - 25 Kindern zusammengefaßt - wird ein Gegenstand behandelt, in der Mittelgruppe (4. und 5. Schuljahr) dies Jahr das Saaletal, in der Obergruppe (6. und 7. Schuljahr) Italien und die Mittelmeerländer. Das ist nun Arbeitsschulunterricht, d.h. nicht Vorlesungs-, sondern Übungsbetrieb. Die Kinder bringen alles, was sie an Büchern, Bildern oder sonstigen auf den Gegenstand bezüglichen Dingen haben oder bekommen können, mit in die Schule, z.B. die Kinder der Obergruppe eine Menge von „Italienischen Reisen“, Postkarten, Bildern und dgl., der Lehrer bringt andere Bücher, so daß eine ganz nette Arbeitsbibliothek, teils Präsenz-, teils Ausleihebibliothek, zusammenkommt. Die Kinder wählen sich dann Vorträge, z.B. über Luthers, Goethes Romreise, die Alpenpässe, die Alpenflüsse, die Poebene usw. usw. Sie lernen dabei selbständig nach Quellen Wissen erwerben und zugleich eine Form der Darstellung finden, da gibt es Erzählungen, Gedichte, Bilder, je nachdem der Geist sie treibt. Alles Schriftliche wird nicht in ein oder mehrere dazu bestimmte Hefte eingetragen mit Reinschrift und Kladde, sondern auf besondere Bogen, schön verziert, mit Bildern, Zierschrift geschmackvoll angeordnet. Diese Bogen werden in den „Mappen“ gesammelt. Jedes Kind macht sich seine Mappe selbst, die Anfänger einfache Aktendeckelbogen, die sie bemalen oder bekleben, die Großen buchbindern sie sich mit selbstgemachtem Vorsatzpapier, Kalikorücken usw. Korrektur findet so statt, daß jede Arbeit „im Kreis“ vorgelesen und von allen beurteilt wird. Orthographie und Interpunktion sieht der Lehrer an und zeigt, wie vorsichtig verbessert werden kann, ohne die Schönheit des Blattes zu beeinträchtigen. Es ist gar nicht zu sagen, welch ein Rausch von Schöpferfreude und Arbeitseifer über die Kinder kommt und wie in jedem Kinde alle Kräfte wach werden oder sich ungeahnte Talente zeigen. Alles was mit dem Gegenstand zusammenhängt, Erdkunde, Gebirgsarten, Gesteinsschichten, Vulkanismus, Verkehrswege, Pflanzen, Tiere, Kultur des Landes, Wirtschaft, Arbeit der Bewohner, Geschichte, Religion, Kunst, alles kommt zur Sprache und wird originell und verschieden behandelt. Ein vom Lehrer genau ausgewähltes, fest umrissenes Stück Wissensstoff, das mehr oder weniger gut von den Kindern angeeignet wird, ist das natürlich nicht. Sicherlich gibt es bei diesem Arbeitsbetrieb auch Lücken. Aber schadet das etwas, wenn das Kind Seite 9/32 gelernt hat, wie oder wo es Wissenslücken ausfüllen kann? Gibt es in dem „geordneten Normalbetrieb“ keine Lücken? Ich brauche bloß an meine eigenen Unterrichtserfahrungen zu denken, dann imponieren mir die lückenlosen Lehrpläne unserer Normalschulen nicht so arg. Auch wenn man auf dem Standpunkt steht, daß ein gewisser Wissensstoff festes Eigentum des Menschen sein soll als Grundlage für seine eigentliche Bildung, so glaube ich, ein so geschultes Kind kann das leicht nachholen, was ihm die Schule nicht geboten hat. Aber mehr wert als alle Arbeitsfreudigkeit und Frische ist die Selbständigkeit und Kameradschaftlichkeit, die sich in dieser Schule entwickelt. In der gewöhnlichen Schule geht alle Initiative vom Lehrer aus. Hier wird alles darauf angelegt, daß das Kind aus sich herausgeht und von sich aus anregt. Als der Oberstufe nach reichlich einem halben Jahr Italien langweilig wurde, erklärte die Gesellschaft dem Lehrer: „Wir wollen nun mal Indien haben.“ „Gut, aber dann macht's allein.“ Und siehe da, nach dem Muster von Italien suchten sie sich, mit Hilfe der Eltern, die Bücher über Indien zusammen, sammelten Stoff, stellten Themata, erteilten Referate - ganz allein. Es ging ausgezeichnet. Und dabei das Gefühl „wir müssen es ordentlich machen. Der oder die kann das nicht so gut, da müssen wir helfen.“ Und im „freien Arbeiten“ - es gibt besondere Stunden, wo sich die Kinder frei beschäftigen - setzt sich dann eins zum anderen und hilft ihm, den Vortrag vorbereiten. Und zu irgendwelchen Feiern, Geburtstagen, Abschieden, werden Aufführungen selbst gedichtet, gemeinsam, möglichst ohne Lehrerhilfe eingeübt und aufgeführt. Und wenn eines eine Krippe für das Weihnachtsfest, eine Eisenbahn oder ein Puppentheater im „Werkunterricht“ gemacht hat und es ist schön geworden, sind alle anderen auch stolz und entzückt. Und wenn irgend etwas nicht so ist, wie es sein sollte, so bringt man die Sache vor den „Kreis“, da sagt man sich ganz ehrlich die Wahrheit. Strafen von seiten des Lehrers sind nicht nötig. Man hält aufeinander, auf die Gruppe, auf die Schule, Selbständigkeit, Liebe, Gemeinsinn wächst hier. Es sind Kinder aller Schichten, aus den verschiedensten Elternhäusern und Schulen zusammen, und sie fühlen sich als Einheit, obwohl sie erst ein Jahr zusammen sind. Zwei Jahre besteht die Schule. Im ersten nur als Grundschule, die die ersten vier Schuljahre in einer Gruppe zusammenfaßte. Im zweiten wurden 3 weitere Schuljahre hinzugenommen und die drei Gruppen gebildet. Ob die Schule bis zum Ziel des Abiturs weitergehen kann, weiß man nicht. Man hofft und arbeitet dafür. Staats- und städtische Mittel werden kaum zu gewinnen sein. Man hat kein Geld in Thüringen. Aber wenn ein Kind auch nur ein paar Jahre eine solche Schule besucht, so ist das ein Gewinn an Gesundheit, Kraft, Glück und Freude nicht nur für diese Zeit, sondern für das ganze Leben. Wer sich näher für diese Sache interessiert, lese das Buch: Eine Grundschule nach den Grundsätzen der Lebens- und Arbeitsgemeinschaftsschule von Peter Petersen und Hans Wolff. (3. Band der Forschungen und Werke zur Erziehungswissenschaft.) Er enthält nach einer Einleitung über die Grundsätze und Grundlagen dieser Arbeit den schlichten Bericht, Woche für Woche, über das erste Jahr dieser Schule. III.) Katharina Franz, geb. Weinel: Meine Schulzeit in der Universitätsschule Jena. Persönliche Aufzeichnung (1984) Seite 10/32 Ist die Schule das unumgängliche Gefängnis, in dem man Stillsitzen lernt und säuberliche Buchstaben auf eine Tafel und in ein Heft schreiben, dabei gelegentlich mit seine Gedanken zwischen den Wolken im Fenster-Himmel verschwindet und dann vom Lehrer heftig gestört wird? Oder ist sie für den Jugendlichen, der endlich das gedrückte Kind hinter sich gelassen hat, eine hübsche Komödienbühne, wo er mit seinen tollen Einfällen die Regie führt und der Lehrer der geprellte Hanswurst ist oder jedenfalls die komische Figur, die zum richtigen Lustspiel gehört? In den Jugenderinnerungen aus der guten alten Zeit, die sich amüsant und manchmal fast rührend lesen, wird es oft so dargestellt. Die bewährten Erfolgsfilme bestätigen diese Bilderwelt, wie sie noch den älteren Zuschauern vor Augen steht. Aber dieses Feuerzangenbowlen-Gymnasium gibt es gar nicht mehr. Schon längst ist die Schulzeit nicht mehr der beliebte Tummelplatz erheiternder Torheiten, auf die das abgeklärte Alter fast mit Sehnsucht zurückblickt. Als Grund-, Haupt- oder Gesamtschule, als Problem der reformierten oder nochmals zu reformierenden gymnasialen Oberstufe ist die Sache Schule zum großen Thema für nachdenkliches und sorgenerfülltes Reden und Schreiben geworden. „Selbstmord eines Schülers“ hieß eine erfolgreiche Fernsehserie. Die Schule ist ein Sorgenkind der Öffentlichkeit geworden. Aus ihr geht diese schwierige und unverständliche Jugend hervor, die so ganz anders zu sein scheint, als es die Eltern im Rückblick von sich selber annehmen. Heute soll das Schul-Gefängnis noch viel schlimmer sein - wir Älteren wissen das ja nur aus Erzählungen. „Schul-Angst“ ist ein feststehender, weithin bekannter Begriff geworden, der Eltern, Ärzte und Psychologen beschäftigt. Artikel in den verschiedenartigsten Zeitschriften werden ihr gewidmet. Verdanken wir dies Gespenst nun den Schulreformen, die es in den letzten Jahren gab, oder dem Numerus Clausus, der ungefähr gleichzeitig seine Diktatur begann? Sind die Lehrer schuld, die zu ehrgeizig sind, die zu anspruchsvolle Curricula erstellt haben, mit deren Hilfe ein früher nie erreichter Wissensstand unsere Schulabgänger zum Erfolg im Berufsleben führen soll? Oder sind es die Eltern, die schon im ersten Schuljahr auf das Medizinstudium ihres Sprößlings hinzuarbeiten anfangen und dem Kind unaufhörlich auf den Fersen bleiben? Oder ist es einfach unsere „Gesellschaft“, die auf allen Gebieten die höchsten Anforderungen an die Leistungen stellt, die alle diejenigen zu erbringen haben, die in ihr noch Arbeit bekommen und behalten wollen, und Lehrer wie Eltern beugen sich verzweifelt diesem Druck und geben ihn weiter? Jedenfalls sind Angst und Streß zwei Herren, die Erwachsene und Kinder gleichermaßen im geheimen und vor aller Augen beherrschen. In der Schule ist das genauso wie an allen Orten, wo gearbeitet wird. Aber die Schule sollte eben nicht nur auch ein Arbeitsplatz oder der erste unter den derartigen Stätten sein, sondern ein wirkliches Zuhause, in dem man das Zusammenleben mit Gleichaltrigen lernt und eingeführt wird in die Welt, in der wir als Erdbewohner und Staatsbürger existieren. In ihr erwartet uns zwar vor allem Arbeit, aber doch auch mancherlei anderes, auf das wir vorbereitet sein sollten. Und weil die Schule dieser ungeheuren Aufgabe einigermaßen gerecht werden sollte, darum darf sie nicht nur ein Wartesaal voller notwendiger Übel sein, sondern ein Wohnraum, in dem sich ein Kind wohlfühlen kann. Da sollten Kinder erleben, daß „Leistung“, diese heute so umstrittene Sache, nicht nur qualvolle Mühe, sondern auch glückliche Erfüllung eines eigenen Traums sein kann. Spaß sollte die Schule machen, Mißgeschick und Angst sollte die Ausnahme und nicht die Regel sein. Habe ich hier nicht von einer Utopie, einem schwer erreichbaren Ideal gesprochen? Nein, diese Sätze sind mir eingefallen, weil ich an eine Schule dachte, in der ich zwar nur drei Jahre lang gewesen bin, die mir aber für mein ganzes späteres Leben Entscheidendes mitgegeben hat. Seite 11/32 Auch glaube ich, daß sie durchaus nicht nur mir so viel bedeutet hat, sondern all den anderen, die dort mit mir zusammen waren und die zum Teil aus ganz anderen Elternhäusern kamen und ganz andere Lebenswege gegangen sind, genauso viel gewesen ist. Zu vielen von ihnen habe ich keine Verbindung mehr, aber ich bin sicher, daß sie unsere gemeinsame Zeit auf dieser Schule genauso sehen wie ich. Eine Schule, die Freude erleben läßt im selbständigen Einsatz für Sachen, die mir und den anderen wichtig und nötig sind, ebenso die Freude in der Verantwortung für das Miteinander in der Arbeit, läßt mich etwas erfahren, das ich nicht mehr vergesse wie vielleicht die Integralrechnung oder die lateinische Grammatik. Eine Schule, in der die Angst vor dem Versagen verschwindet, weil keine Rangordnung existiert und Konkurrenzdenken bekämpft wird, kann Sicherheit und Mut schaffen, ein bißchen von der Freiheit, von der in unserer Öffentlichkeit nicht weniger die Rede ist wie von der Angst. Von dieser Schule möchte ich ein bißchen erzählen. Ich war zwölf, als meine Eltern mich von meiner bisherigen Schule, dem großen Realgymnasium für Mädchen, abmeldeten, um mich in die Universitätsschule zu schicken. Der Grund für diesen Wechsel war meine „Schul-Angst“. Denn so etwas hat es damals auch schon gegeben, vor mehr als 50 Jahren, wenn es auch nicht so einfach ausgesprochen und mit diesem Begriff dingfest gemacht wurde. Kurz und gut, in meine riesige Klasse, die VI a, ging ich recht ungern. Immer häufiger bekam ich Halsweh oder Bronchitis und konnte dann fehlen. Das Fehlen schlug sich zwar in diesen alten Zeiten nicht gefährdend auf meinem Zeugnis nieder. Es war auch nicht die Angst vor dem Zeugnis, vor den Zensuren überhaupt, auch nicht die Angst vor dem strengen Lehrer, was mich plagte. Mit den Lehrern klappte es leidlich. (Nur der Musiklehrer war schlimm, wenn er seinen großen Kopf mit den schwarzen Kräuselhaaren unter schrecklichem Schnaufen dem kleinen Mädchen an die Brust hielt, um das „Piepsen“ zu hören, das es von sich gab.) Nein, es war diese tobende Masse von anderen Mädchen, die mich erschreckten, wenn sie im Hof oder in der Turnstunde auf mich einbrüllten, weil ich den Ball zu lang in der Hand behielt oder abgetroffen wurde, welche Schande für unserer Mannschaft! Das waren die schlimmsten Augenblicke. Die Hauptanführerin des Geschreis, eine flotte Turnerin, schob mir zwar ihr Aufsatzheft unter der Bank zu, weil ich ihr die Fehler verbessern sollte, aber in der Klassenöffentlichkeit hatte ich nichts mit ihr zu tun. Die „Klasse“ war überhaupt eine fremde Welt, in die ich irgendwie nicht paßte. Nun sollte ich also aus dieser beklemmenden Umwelt heraus in eine ganz neuartige Schule kommen. Es würde alles ganz anders sein als in dem steifen Klassenraum der VI a, wo der Lehrer vorn hinter der Holzwand des Katheders thronte, während die wuselige Mädchenschar sich brav und möglichst lautlos auf ihren Plätzen zu halten hatte. Die ganz neue Schule war dann komischerweise in einem uralten Haus, so einem richtigen wilhelminischen Backsteinbau mit altmodisch eingefaßten Fenstern und verschnörkelten Eisengittern an den verglasten Türen. Es lag ganz versteckt in einem Areal von Höfen und Kleingärten, nur durch eine Art von Pfad zu erreichen, der die kopfsteingepflasterte Grietgasse verließ. Der Schulweg dorthin war weit, denn diese Gegend befand sich in der unteren Stadt. Die Tür, durch die man das rote Gebäude betrat, war eigentlich die Hintertüre, wie oft bei Schulhäusern. Ein hausmeisterlicher Spar- und Ordnungswille gebot das so. Das Innere des Hauses war nicht so unzerstörbar solide durch die Zeiten gekommen wie die Fassaden. Da sah es schäbig und abgenutzt aus. Das Haus war offenbar schon eine Weile aus dem Verkehr gezogen gewesen. Wir sollten es jetzt wieder in Gebrauch Seite 12/32 nehmen. Das für uns bestimmte Klassenzimmer im ersten Stock war sehr verwohnt und hätte dringend einen neuen Anstrich gebraucht. Wir kamen also nicht in einen ordentlichen Saal mit korrekter Ausstattung wie in der früheren Schule, und schon gar nicht in ein kindgerechtes Architektenwunder. Unsere neue Umgebung war äußerst dürftig. Solche uralten Bretterböden und einen so scheußlichen alten Eisenofen hatten wir noch nie gesehen. Aber man konnte so etwas wieder herrichten. Ja, wir hörten mit Staunen, daß man uns Kindern durchaus zutraute, ganz Wesentliches selber zu tun. Wir selbst konnten die Wände neu streichen. Und das war nun wirklich etwas Neues und Unerhörtes, geradezu etwas Verlockendes und Beglückendes. Wir waren erwachsener als wir dachten. Nicht nur helfen sollten wir, nach Anweisung arbeiten, sondern wir durften uns ausdenken, wie alles werden sollte. Eine Tafel gab es nicht im Raum. Aber das machte nichts, man konnte Wände zu Tafeln machen. Das war möglich mit dem richtigen Anstrich, dafür gab es spezielle Farben. Natürlich mußte das vorher alles genau geplant werden, wo Tafel sein sollte und wo wir den alten Schrank hinstellten. Auch der am besten geeignete Farbton für jede Wand mußte überlegt werden. Es waren also Entwürfe nötig. Die wurden mit Eifer angefertigt, und derjenige, der der Mehrzahl von uns am besten gefiel, sollte ausgeführt werden. So wurden die Tafelwände grün und braun. Das sah schön und freundlich aus und gab den alten Wänden einen Schimmer von Natur. Wessen Entwurf da freilich verwirklicht worden war, das kann ich beim besten Willen nicht mehr sagen. Aber daß ich das nicht mehr weiß, spricht dafür, wie selbstverständlich wir vom ersten Augenblick an zu einer Gesinnung hingeführt wurden, für die die Rolle des einzelnen nicht wichtig war, sondern die Übereinkunft aller beim Planen und beim Arbeiten. Heute, im Zeitalter der „Bau-Häuser“ und „Maler-Märkte“, wo jeder Sechstkläßler seinen Vater schon einmal mit der Lammrolle hat hantieren sehen, scheint dieses Doit-yourself-Unterfangen natürlich gar nicht mehr so großartig. Im Jahre 1925 war das aber noch umwerfend kühn, und wir kamen uns vor wie Innenarchitekten im Praktikum. Auch diejenigen, die nur den Dreck wegmachen mußten, waren geschätzte Hilfstruppen, ohne deren unerschütterlichen Einsatz das ganze Unternehmen zum Scheitern verurteilt gewesen wäre. Natürlich wußten wir auch, daß uns das alles nur gelingen konnte, weil unser Werklehrer so von Grund auf Bescheid wußte und durch kein anfängerhaftes Ungeschick der Herumwerkenden aus der Fassung zu bringen war. (Man kann noch heute im „Kleinen Jena-Plan“ lesen, daß die stolze Aktion zum Preise von 8 M. pro qm durchgeführt werden konnte. Sie hatte also auch praktisch-finanziellen Nutzen im Sinne des sicher bescheidenen Budgets, nicht nur moralisch-erzieherischen Sinn.) Jedenfalls waren diese Maler-Tage der Beginn eines ganz und gar neuen Schul-Gefühls. Wir gehörten zu einer völlig neuen Schule, in der alles anders, viel besser nämlich, lief als irgendwo sonst in den vier Wänden eines Klassenzimmers. Und wir, die Obergruppe, konnten den Erfolg unserer gemeinsamen Arbeit schon gleich jedem vorweisen, der zu uns kam oder von uns hörte. Die siebzehn oder achtzehn Kinder, die sich daran gemacht hatten, diesen seelenlosen, aufgegebenen Klassensaal zu einer hellen, ansehnlichen Behausung für fröhliches Drinwohnen zu machen, waren nämlich nicht eine Klasse, die Klasse VI oder VII einer städtischen Bezirksschule, sie waren die „Obergruppe“, die Ältesten und Vernüftigsten in der „Schulgemeinde“, zu der noch eine Mittel- und eine Untergruppe gehörte. Neu war wohl auch für uns alle, daß jetzt Mädchen und Jungen in der Gruppe zusammen waren. Denn viele von uns kamen aus reinen Mädchen- oder Jungenklassen. Seite 13/32 Auch gehörten nicht alle in das gleiche Schuljahr, und schließlich waren wir aus verschiedenen Schulen gekommen. Bei den meisten war zwar die frühere Klasse die Sexta oder Quinta des Gymnasiums gewesen, doch hatten wir auch eine ganze Reihe Volksschüler, die an den Kursen für Fremdsprachen nicht teilnahmen. Aber den größten Teil unserer vormittäglichen Arbeitszeit sollten wir zusammen sein. Diese Zeit war für den „Gesamt-Unterricht“ bestimmt. In den so schön nach frischer Farbe duftenden Raum bekamen wir nun Tische zum Arbeiten gestellt. Unsere Plätze konnten wir uns aussuchen, neben alten, aber auch ganz neu erwählten Freunden. Wir saßen richtig um den Tisch herum. Jeder von uns hatte ein Gegenüber aus der Gruppe. Jeder Tisch ließ eine kleine Arbeitsgemeinschaft entstehen. Es gab jetzt kein Lehrerpult mehr, auf das alle die Kinder von ihren Bänken aus zu schauen gehabt hätten. Der Lehrer hatte keinen festen Platz. Er war immer da, wo er gerade gebraucht wurde. Für die fremdsprachlichen Kurse saß er natürlich am Kopfende des Tisches, an dem sich gerade die Teilnehmer gesammelt hatten. Aber wenn wir als ganze Gruppe zusammenkommen wollten, rückten wir die Tische beiseite und stellten unsere Stühle zu einem Kreis zusammen. Der Lehrer saß dann mitten im Kreis, irgendwo, wie es sich gerade ergab. Die Gruppe begriff sich also nicht mehr als eine Schar von Banksitzern, die auf das Katheder hin orientiert ist, weil von dort alles Geschehen begonnen, gelenkt und beendet wird. Und wer sich außerstande sieht, in dieser Veranstaltung den gewünschten Ort einzunehmen, muß damit rechnen, erwischt zu werden. In diesem üblichen Unterrichtsverlauf kann es ja bekanntlich so weit kommen, daß dieser Außenseiter sich als stärker erweist als der Lehrer, wenn er nämlich ein Gegensystem gegen das des Lehrers aufbringt und mit Erfolg etabliert, das alle aus der Klasse, oder jedenfalls viele, als weit verlockender ansehen als die eigentliche Unterrichtsveranstaltung. Bei uns in der Obergruppe war auch das ganz neu, daß solche Machtkämpfe ausgeschlossen wurden. Es war einfach selbstverständlich, daß Lehrer und Schüler dasselbe wollten. Zuerst hatten wir das Zimmer eingerichtet, wie es uns gefiel, und dann wollten wir wirklich etwas gemeinsam arbeiten. Das, was wir uns für den „Gesamt-Unterricht“ vornehmen wollten, das mußten wir nun planen, genauso wie wir die Farben unseres Raums geplant hatten. Natürlich war es hier noch mehr als beim Anstreichen nötig, daß der Lehrer Möglichkeiten aufzeigte und einen Rahmen absteckte, in dem wir uns bewegen würden. Der Vorschlag, der von uns mit Begeisterung aufgenommen und festgehalten wurde, hieß: Die Mittelmeerländer. Man konnte und durfte dieses Thema geographisch und historisch auffassen. Man durfte überhaupt alles einbringen, was sich noch irgendwie unter dieses Dach stopfen ließ. Was für eine bunte Zauberwelt war das, ein riesiges, fernes Reich, in das wir uns hineinstürzen durften, um es zu entdecken! Alle Wege, die uns einfielen, durften wir benutzen; wir durften völlig selbständig an die Arbeit gehn. Wir fingen also damit an, daß wir alles, was wir zu diesem Thema in den Bücherschränken daheim finden konnten, in die Schule schleppten. Dort wurde es in einem breiten und hohen altertümlichen Schrank im Gruppenraum aufgestellt. Das war freilich ein ganz und gar zufällig zusammengebrachtes Material. Viele dieser Werke waren schon überholt, manche Schwarten auch ganz unergiebig. Aber es war unser erster Schritt in das Reich der Wissenschaft. Wir entdeckten auch bald noch andere Möglichkeiten, in unser Forschungsgebiet einzudringen. Vor allem ging es auch darum, sich alles lebendig zu machen und mit dem Schwung der Phantasie in die Sache hineinzukommen. Wie großartig es sein kann, auf eigene Faust zu forschen - und natürlich auch, wie glücklich der Lehrling der Gelehrsamkeit, wenn er einen so einzigartigen Weg betreten darf - das erlebte ich, als ich, in das Allerheiligste der Wissenschaft eingelassen, Seite 14/32 mich eines schönen Tages in der geheimnisvollen Stille des großen Lesesaals der Universitätsbibliothek befand. Vor mir lag ein Riesenfoliant, ein Zeitungsband von 1911. Diesen schon ehrwürdig vergilbten Blättern durfte ich die schrecklichen Umstände des Erdbebens von Messina entnehmen und für mich und die anderen zu einem bescheidenen Bericht verarbeiten. Das war sicher der Höhepunkt meiner Erlebnisse mit den Mittelmeerländern: Der düster-ernste Saal und die schweigenden Erwachsenen hinter ihren Bücherstößen wurden eine Kulisse, die plötzlich den Ausblick freigab auf das blaue Meer und die weiße Stadt, die dann so schrecklich in Trümmer fiel. Seltsamerweise hatten die staubigen Bände in ihren gealterten brüchigen Blättern das Leben von damals unmittelbar in sich. Geschichte war nicht ein Gefüge von Namen und Daten aus schrecklich farbloser Ferne, sondern anrührende Nähe menschlicher Schicksale. Die auf diese Weise gewonnenen Arbeitsergebnisse waren natürlich kein exaktes Detailwissen. Ob wir die Einfuhr- und Ausfuhrquoten aller beteiligten Länder so mitbekommen haben, wie wenn wir das Erdkundebuch von Seydlitz gepaukt hätten, das kann allerdings bezweifelt werden. Aber wir durften uns ausdenken, wie wir eine Reise nach Italien über die Alpen gestalten, welche Route wir nehmen und welche Sehenswürdigkeiten wir dabei besuchen würden. Einen Beleg darüber auf drei säuberlich gezeichneten Blättern besitze ich heute noch. Es ist eine sehr gründlich entworfene Skizze. (Das einzige, was ich davon in meinem späteren Leben ausführen konnte, war der Aufenthalt in Florenz. Leider war der auch nicht „sehr lang“, wie ich es mit zwölf vorhatte.) Lernen wurde also für uns zur Entdeckungsreise, und das Gelernte festzuhalten wurde ein Spiel mit Einfällen und Plänen. Man durfte sich etwas ausdenken, und das tat man nicht heimlich in der Freizeit, sondern es wurde in der Schule ganz ernst genommen, und alle wollten daran teilnehmen. Deshalb gab es auch nicht die braven Hefte als Gedächtnisstütze, eines wie das andere und alle möglichst genau in der Wiedergabe des Vorgezeichneten und Nachzuahmenden, sondern auch beim Niederschreiben des Erarbeiteten durfte der einzelne frei auswählen. Was wir im „Kreis“ als kleines Referat vorgetragen hatten, konnten wir niederschreiben, aber auch andere Einfälle verwirklichen. Haus- und Klassenarbeiten im früheren Sinne gab es nicht mehr. Jeder durfte selber aussuchen, was er aufschreiben oder darstellen wollte und welche Form dafür die beste war. Jedenfalls verschmähten wir Hefte und fingen an, unsere Niederschriften und Skizzen auf Aktenbogen zu setzen. Da entstanden Karten ebenso wie ausgedachte Geschichten. Sie traten an die Stelle von Aufsätzen und Erdkundearbeiten. Die einzige Bedingung für das Erzeugnis war, daß es zum Gesamtunterrichtsthema gehören mußte. Und diese Freiheit führte keineswegs zur Faulheit oder Nachlässigkeit, sondern sie brachte im Gegenteil einen ungeheuren Ehrgeiz hervor. Jeder wollte zeigen, was er konnte. Und die Gruppe war eine sehr ernsthafte und genaue Jury. Denn der Gesamtheit der Gruppe, wenn sie im „Kreis“ tagte, mußten diese Produkte vorgelegt werden. Diese Texte und Karten oder schematischen Zeichnungen und Bilder, die auch untereinander kombiniert sein konnten, nannten wir „Arbeiten“. Unser Eifer tobte sich anfangs in der Menge der Werke aus, die jeder vorzuführen in der Lage war. Denn sie wurden ja in einer Mappe gesammelt und waren der Stolz der Fleißigen. Eines Tages fing jemand an, diese Arbeiten auf den großen Blättern noch mit einem hübschen Rand zu versehen. Strich - Punkt - Strich - Punkt mit der Redisfeder, das war der erste graphische Versuch. Das Schreiben mit der Redisfeder und das Zeichnen mit der Feder wie das Ausmalen kleiner Zeichnungen hatten wir im Zeichenunterricht Seite 15/32 gelernt. Und nun schritten wir zur Anwendung dieser Künste innerhalb unserer Produktion, für die bald nichts mehr bunt und aufwendig genug sein konnte. Andere hielten freilich an dem Ziel der Massenproduktion fest und brachten riesige Blätterstöße zur Begutachtung. Ich sehe Lotte noch vor mir, wie sie Seite auf Seite vor unseren ungläubigen Augen aufblätterte und vorwies. Da schlug plötzlich unser Quantitätsbedürfnis in Qualitätsbewußtsein um. Die fleißige Schafferin tat mir fast leid, wie sie nun mitanhören mußte, was alles Kritisches gegen ihre Ergüsse auf den zahlreichen Blattfolgen vorgebracht wurde. Sie konnte einfach nicht dem neuen Gruppenmaßstab von Schmuck und Farbigkeit genügen. Wir anderen waren mit vollen Segeln in das Kunstgewerbe-Zeitalter aufgebrochen, und sie hatte den Anschluß noch nicht gefunden und versuchte, mit einer Mischung von Trotz und Scham, sich gegen uns aufrecht zu erhalten. Dieses Gespräch über Quantität und Qualität unserer Arbeiten war ein entscheidender Augenblick in unserer Entwicklung als Arbeits-Gemeinschaft. Wir selber überprüften unsere Ergebnisse und nicht eine übergeordnete Instanz der Lehrer. Wir selber machten uns Gedanken über die Anforderungen, denen wir entsprechen sollten, tauschten sie aus und fanden Maßstäbe für unsere Leistungen. Das gab uns das Gefühl, selbständige und verantwortliche Wesen, so etwas wie Erwachsene zu sein, jedenfalls Menschen, deren Arbeit sich an der Sache orientiert, für die sie sich tätig einsetzen. Eine Aufgabe so gut wie möglich zu lösen, weil das nötig ist und weil nur die bestmögliche Lösung wirklich befriedigt, das war, was wir im Miteinanderarbeiten lernen sollten und wohl auch tatsächlich lernten. Daß das Notensystem der „alten“ Schule bei uns nicht existierte, erfüllte uns mit Stolz. Wir konnten eben eine Arbeit sorgfältig und angemessen ausführen, ohne auf die Zahlen oder sonstige Prädikate hinzustarren, die die Lehrer hätten geben können. Im Grunde verachteten wir solch eine Abhängigkeit von den Noten oder Zeugnissen. Es war einfach besser, wenn man aus Spaß an der Sache etwas Ordentliches zuwegebrachte. Und diese Einstellung zu Noten haben wir, glaube ich, auch später noch irgendwie durchgehalten nach unserer Rückkehr in die alten Schulen, aus denen wir gekommen waren. Nicht mogeln und sich nichts im Verborgenen erschleichen müssen gehörte auch zu dieser Auffassung. Sie gab uns Sicherheit, überhaupt unsere ganze Erfahrung, die uns die drei Jahre in der neuen Schule gebracht hatten, war eine Stärke, die uns viel half, die Anfangsschwierigkeiten der Umstellung zu überwinden. Denn wir hatten Wissenslücken, die erst ausgefüllt werden mußten. Schüler arbeiten mit dem notwendigen Fleiß und wirklicher Ausdauer nur, wenn Ihnen als Belohnung eine gute Zensur winkt. Das ist heute noch eine sehr verbreitete Ansicht, nicht nur von ahnungslosen Eltern, sondern auch unter ausgebildeten Pädagogen. Aber wir waren vor mehr als fünfzig Jahren schon der Meinung, daß das ein überholtes Denken aus pädagogischer Vergangenheit sei. „Altschulig“ nannten wir solche Vorstellungen und fühlten uns als Vorhut des Fortschritts. Langweiligkeit und Trockenheit des Lehrstoffs wird nur überwunden, wenn mir das Sichdurchfressen durch den reizlosen Breiberg etwas „bringt“, so ungefähr könnte man im zeitgemäßen Jargon formulieren. Dieses Etwas ist meine Erhöhung in die Nähe der Spitze oder gar an die Spitze der Konkurrentenschaft, die sich Klasse nennt. Wie drückt es der SPIEGEL-Artikel über das japanische Schulwesen aus? „Dein Mitschüler ist dein natürlicher Feind.“ Waren wir Lottes Feinde? Sie mochte es so empfunden haben zu dem Zeitpunkt, als sie unsere kritischen Angriffe über sich ergehen lassen mußte. Aber wir betrachteten die ganze Sache doch von einem völlig anderen Standpunkt aus. Uns ging in diesem Zusammenhang gerade auf, daß Masse als einziges Ziel einer Produktion die Qualität Seite 16/32 des einzelnen Produkts zwangsläufig senken muß, und auf diese neugewonnene Einsicht legten wir nun allen Nachdruck. Wir wollten unbedingt Qualität - jedenfalls so, wie wir sie verstanden. In dieser Diskussion hatte sich selbstverständlich auch der Lehrer ganz und gar zurückgehalten, obwohl er doch der vorsichtige Leiter des Ganzen war. Unsere Auseinandersetzung bezog sich nicht auf ihn. Nicht um Anerkennung durch ihn ging es, das Tun des einzelnen wurde von der Gesamtgruppe gemessen, bestätigt oder auch einmal zurückgewiesen. Lotte wurde durch dieses Erlebnis auch nicht an den Rand der Gruppe gedrängt, sie wurde nicht zum Außenseiter. So etwas gab es doch nicht bei uns. Das gerade spürten wir alle, daß das Zusammengehören das Entscheidende war, die Sache, auf die es am allermeisten ankam. Im Rückblick wird es mir gar nicht so leicht, das Wort „Gemeinschaft“ an dieser Stelle zu benutzen. Aber es ist eigentlich der richtige Begriff für das, was wir in unserem Gruppenleben verwirklichen wollten. Nur ist er eben in der Zeit der Volks-Gemeinschaft mit Pathos so aufgeblasen worden, bis er, völlig abgewirtschaftet, auf dem Müll von 1945 landen mußte. In dieser Gruppen-Gemeinschaft lebten nun freilich Kinder miteinander, die sich mehr voneinander unterschieden als die Klassenkameraden in normalen, nach Volksschulen und weiterführenden Schulen differenzierten Anstalten. Diese Unterschiede mußten deshalb auch stärker empfunden werden. Dennoch sollten sie ebenso wie die Verschiedenheit in Charakter und Begabung oder in der Fähigkeit, mit dem anderen auszukommen, nicht einfach ohne Überlegung hingenommen werden als ein Teil vom Zustand dieser Welt, sondern es sollte als wesentliche Aufgabe in der Gemeinschaft begriffen werden, Andersartiges nicht einfach zu meiden oder abzulehnen, sondern zu verstehen und zu bejahen. Sicher muß jede Erziehung sich dieses Ziel setzen, aber ich glaube, daß es in unserer Schule sehr viel mehr im Vordergrund stand als anderswo und daß der Eindruck, dieses Lernziel sei eigentlich für den heranwachsenden Menschen das allerwichtigste, sich in der Bedeutung zeigt, die gewisse Erinnerungen für mich gewonnen haben. Wenn ich an das Leben in der Obergruppe zurückdenke, dann stehen mir sofort Hans und Hildegard vor Augen. Sie waren für mich Wesen aus einer Welt, die ich mehr ahnte als kannte. Sie gehörten zu denjenigen in der Gruppe, mit denen ich wenig nähere Berührung hatte. Sie lernten nicht Französisch und Englisch, sie waren nicht in meiner früheren Schule gewesen. Sie kamen aus der Volksschule. Mit Hildegard war es schwieriger für mich, mit Hans einfacher. Und das lag wahrscheinlich vor allem an ihm und an ihr. Auf dem alten Photo, das die Obergruppe im Sommer 1925 in der Pause auf dem Hof zeigt, sitzt Hans ganz vorn. Er beißt ohne jede Verlegenheit in sein großes Butterbrot. Aber das Bild ist ein kleines Amateurphoto mit winzigen Köpfen. Deshalb ist nicht viel zu erkennen von dem Jungen, der unten im Sande sitzt. Immerhin läßt sich feststellen, daß sein erbsengroßer Kopf glattgeschoren ist, so wie man das bei sparsamen Familien in den alten bescheidenen Zeiten zu tun pflegte, um den Friseur nicht so oft zu benötigen. Außerdem hängen dem Jungen dann auch nicht die Haare ins Gesicht, sondern er kann sein Gegenüber geradeheraus anschauen. Und das tat Hans immer. Vielleicht hätte er in die Hilfsschule gemußt, wenn er nicht zu uns gekommen wäre. Doch dieser Hinweis war von Anfang an ein Schutz für ihn. Er war darauf angewiesen, von uns mitgenommen zu werden. Wir würden das schon schaffen, wenn wir ihn gelten ließen, wie er war. Er machte auch nicht den bedrückten Eindruck eines armen Kindes, das nicht recht mitkommt. Und selbstverständlich gab es bei uns im „Kreis“ auch nicht die Situation, wo er vor allen blamiert dargestanden hätte. Seite 17/32 Hans war ein angenommenes Kind. Was sein Vater war, wußten wir nicht. Er tauchte auch bei uns nicht auf wie einige der anderen Väter, wie etwa der Vater von Heinz oder der von Walter, die so gut mit der Drehbank zurechtkamen und das auf ihre Söhne vererbt hatten. (Mein Vater konnte zwar Staubsauger und Jalousien reparieren, worauf ich gewaltig stolz war; denn er war eben nicht ein unpraktischer Professor, der nur in den Wolken schwebte. Aber zum Helfen im Werkraum kam er natürlich nicht vorbei.) Doch die Mutter von Hans, die schaute schon dann und wann einmal in der Schule herein, und es läßt sich vermuten, daß sie keine schlechten Auskünfte über ihren Jungen bekam. Im Werkunterricht am Freitag war Hans durchaus in seinem Element. Wenn er wohl auch nicht so gut war wie Heinz oder Walter, so hatte er jedenfalls bei Metallarbeiten oder beim Holzdrehen keine Schwierigkeiten. Vielleicht hatte er die bei Rechnen oder Rechtschreibung. Aber für diese Künste war er in einer anderen Arbeitsgruppe eingeordnet als die Kinder der Fremdsprachengruppe. Hans kannte wahrscheinlich nicht die Hemmungen des Schüchternen, auf den Mitmenschen einfach zuzugehen. Jedenfalls gab es einen Augenblick, wo er mir das bewiesen und mich damit in eine sehr erfreuliche Lage gebracht hat. Der Anlaß dazu war ein recht harmloser Scherz, wie sie zum normalen Schülerleben gehören und eigentlich keiner Erwähnung wert sind. Daß ich diese Begegnung aber heute noch weiß, zeigt, wie wichtig sie damals für mich war. „Was hat denn der gekriegt, der den Käse zum Bahnhof gerollt hat?“ Mit dieser QuizFrage, die wie ein Schlachtruf klang, kam Hans von hinten und brachte mich dazu, etwas langsamer zu werden und holte mich gänzlich aus den Träumen von eben. Wir waren auf dem Schulweg, das letzte Stück durch die Grietgasse lag noch vor uns. Zum Verständnis dieser verblüffenden Frage muß man natürlich wissen, daß es in jenen Jahren einen beliebten Schlager gab, dessen Anfang lautete: „Wer hat denn den Käse zum Bahnhof gerollt?“ Und Vertrautheit mit dem modischen Unterhaltungsgut gehörte auch damals schon zur Bildung von Zwölfjährigen. Selbstverständlich war er mir bekannt, und trotzdem sah ich mich nicht zur Lösung des Rätsels fähig. Ja, was hatte der Mensch mit dem Käse wohl gekriegt? Eine völlig überwältigende Sache war das, mit keiner Überlegung in den Griff zu bekommen. Das strahlend grinsende, runde Gesicht neben mir würde das Geheimnis aber gleich preisgeben. „Na, stink'ge Pfoten!“ hieß die überraschende Antwort. Wenn ich verblüfft und sprachlos war und er die Lösung wußte, dann machte mir das auf einmal geradezu Spaß. Auch er sollte einmal oben auf der Wippe sein und auf den ahnungslosen anderen herunterschauen dürfen. Das hatte er sich doch immer gewünscht, und nun war die Situation da, und ich ließ ihm gern seine Überlegenheit. Dadurch rückte er mir erstaunlicherweise näher. Das war das, was mich so freute. Was Hildegard betrifft, so muß ich zugeben, daß ich wenig mit ihr zu tun hatte und sie anfangs auch nicht sehr mochte. Sie hatte etwas Verkrampftes und Unnatürliches an sich. Vermutlich lag das aber daran, daß sie schon etwas älter war als wir anderen und damit in die schwierige Phase eingetreten, wo man mit oft wenig glücklichen Mitteln das Erwachsensein zu demonstrieren sucht. Aber das konnten wir anderen damals natürlich nicht merken. Wir verstanden einfach nicht, daß ihre Neigung dazu, sich gekränkt zu fühlen, mit ihrer unbehaglichen Seelenlage zusammenhing, mit der großen Unsicherheit, die sie empfinden mußte, weil sie im Gesamtunterricht wenig hervortrat und ihr Umgang mit ihrer Muttersprache nicht sehr erfolgreich war. Das war ein Handicap, das komischerweise an Hans gar nicht störte. Der wußte seine Unterlegenheitsgefühle, wenn er sie überhaupt je hatte, sehr gut durch seine Munterkeit und Kameradschaftlichkeit zu überspielen. Hildegard hatte aber wohl sehr viel mehr unter diesen Mängeln zu leiden. Zeichnen und malen konnte sie auch nicht. Ihre Seite 18/32 linkischen Verzierungen wurden oft im geheimen doch ein bißchen belächelt. So war sie in der großen Arbeiten-Schau auch nie vorn. Aus all diesen Gründen war das arme Mädchen schon in Gefahr, ein bißchen an den Rand der Gruppe zu geraten. Doch eines Tages änderte sich das. Sie bekam nämlich die Chance, ein bisher verborgenes Talent für alle sichtbar herausstellen zu können. Das war damals, als wir mit Ton modellieren durften. Ich glaube, das war in unserem zweiten Jahr. Dieser Unterricht war schon etwas Besonderes. Wo gab es das sonst, daß man im 7./8. Schuljahr unter der Leitung einer bekannten Bildhauerin in der Schule lernen durfte, mit Ton umzugehn? Wir gingen alle mit großem Spaß an die Arbeit mit diesem neuen Material. Und jetzt war es auf einmal Hildegard, der Erstaunliches gelang. Sie knetete einen Kopf, den wir alle bewundern mußten. Denn er war weit besser als die meisten Erzeugnisse der anderen. Bei dieser Arbeit hatte sie schon Mut bewiesen in der Wahl des Formats. Da war gar nichts Kleinliches und Ängstlich-Verkrampftes mehr, wie sie das in den StrichleinPünktchen-Gänseblümchen am Rand ihrer Arbeiten gezeigt hatte. Nein, sie hatte tief in den Ton hineingegriffen, die Plastik groß angelegt und mit Schwung und Großzügigkeit das Ganze durchgeformt. Auf einmal gab sich da ein Mensch zu erkennen, der uns völlig neu war. Wir spürten dunkel, daß es da nicht nur ums Mehr-Können ging, sondern daß hinter den Fähigkeiten Gefühle steckten, die zum ersten Mal mit großer Stärke herausbrachen. Ich weiß nicht, ob Hildegard mit Ihrem Talent später etwas hat anfangen können. Wahrscheinlich nicht, vermute ich, wenn ich an ihre Umwelt und ihren mutmaßlichen Werdegang denke. Die Verbindung mit ihr ging mir auch gänzlich verloren. Aber die Erfahrung wirkte weiter, jedenfalls bei mir, daß Menschen doch so ganz anders sein können, als es auf den ersten Blick erscheint, daß Begabungen im gewöhnlichen Ablauf der schulischen Vorgänge völlig verborgen bleiben können und besondere Gelegenheiten zu ihrer Offenbarung brauchen. Und das, obwohl die Schule doch eigentlich gerade der Ort sein müßte, um das Verborgene zu entdecken, der Ort, wo man versuchen müßte, dem ganzen Menschen gerecht zu werden. Für mich selbst war der Modellier-Unterricht freilich so etwas wie eine Niederlage. Aber das hat mir nicht geschadet, sondern eher genützt. Geschick und Spaß beim Zeichnen und Malen konnte beim plastischen Arbeiten ein Hindernis sein. Das war die Lektion unserer Bildhauerin für mich. Was ich auch zu modellieren versuchte, es fand wenig Billigung bei ihr. Denn es ging alles von der gesehenen Linie aus, nicht von der im Ton erfühlten Form. Eigentlich war es nicht plastisch, sondern ins Material gezeichnet. Hildegard, dieses komische Wesen, konnte also Dinge, die mir nicht möglich waren. Das war eine tiefgehende Erkenntnis, die nicht im ersten Augenblick zu schlucken war, aber später, als sie verdaut war, wurde sie zu einer bestimmten Einsicht: Menschen sind voller Geheimnisse. Die zu entdecken, oder besser, sie eröffnet zu bekommen gehört zu dem, was immer wieder aufs neue wichtig ist für jeden von uns und uns in der Begegnung mit dem anderen weiterhilft. Wenn das schon eine Erfahrung der Schulzeit sein kann, dann hat uns die Schule doch etwas sehr Notwendiges mitgegeben. Ob jemand einen guten oder nur einen mittelmäßigen Lehrer gehabt hat, vielmehr ob die Lehrer insgesamt mehr erfreuliche Zeitgenossen, gute Freunde oder gar so etwas wie hilfreiche Väter waren oder ein Haufen von schlimmen, menschenfeindlichen Unterdrückern - das pflegt doch in der üblichen Meinung über die Zeit, da man noch auf der Schulbank saß, meist recht ausschlaggebend zu sein. Die Bewertung der eigenen Seite 19/32 Schülerzeit ist für viele an Herrn X. oder Frau Y. gebunden, an die verständnisvolle Person, die er oder sie darstellte oder an die schreckliche Tyrannei des einen oder der anderen. Andererseits glauben wir heute nicht mehr so stark daran, daß das höchste Glück der Erdenkinder die Persönlichkeit sei oder Männer die Geschichte machen. Eher scheint die Überzeugung, daß alles vom „System“ abhänge, weiter um sich zu greifen. Diese Meinung würde dann unsere Pädagogen entlasten, aber auch in eine unbedeutendere Position herabdrücken. Es hängt nicht mehr alles für eine Schulkarriere des Kindes von dem Umstand ab, wer gerade in seiner Klasse unterrichtet. Die erste Jenaplan-Schule sollte natürlich eine Schule im Sinne des richtigen Systems darstellen. Also wäre die jeweilige Lehrerpersönlichkeit nebensächlich gewesen, könnte man meinen. Ich glaube aber, daß beides zusammengehört, wenn das Schulleben gedeihen soll: die richtige Art der Unterrichtsmethode und Organisation und die richtigen Lehrer. Das müssen Lehrer sein, die von ihrer Sache getragen und für ihre Kinder durchs Feuer zu gehn bereit sind. Und das würde ich von unseren Lehrern behaupten. Sie waren keine übermenschlichen Genies, sondern junge Volksschullehrer, die wohl meist schon eine Zeitlang in der Praxis gestanden hatten. Sie sprachen ein mundartlich gefärbtes Deutsch, aber das gehörte durchaus zu dem, was Nähe schuf zwischen ihnen und uns. Zugleich waren sie fast alle Doktoranden von Petersen, jedenfalls Leute mit wissenschaftlichem Interesse, aber eben dem theoretischen Interesse an der rechten Praxis. Herr Reigbert, unser erster Gruppenleiter, arbeitete über Charakterologie und Graphologie im Rahmen der Pädagogik. Er analysierte jedenfalls Schriften und maß Köpfe und Hände. Dabei kam man sich aber überhaupt nicht als Versuchskaninchen vor, sondern eher als kleiner Mitarbeiter, der zwar das Material abgab in seiner Person, aber auch mit gespannter Aufmerksamkeit die Beobachtungen verfolgen durfte und etwas erfahren über Ziel und Methode des Verfahrens. Wir lebten in dem Gefühl, alle voneinander und miteinander zu lernen. Als Gruppenleiter war Herr Reigbert, wie das wohl immer bei guten Lehrern der Fall ist, die Bezugsperson für jeden einzelnen in Nöten und Freuden, aber auch für die Gesamtheit der Gruppe in Aktionen und Schicksalsschlägen. Und da auch der Gesamtunterricht weit mehr umfaßte als nur die Zusammenhänge eines Fachs, war er wirklich trotz seines Waltens im Hintergrund die entscheidende Kraft, auf die man sich verlassen konnte. Er war zwar nur für das erste Jahr bei uns, aber dieses erste Jahr war doch der Einstieg in das neue Leben. Alles Wesentliche im Zusammenleben und beim Arbeiten lernten wir doch in diesem Jahr. Deshalb ist auch dieses Anfangsjahr mir noch besonders lebendig vor Augen. Die verläßliche und freundschaftliche Helfergestalt gab uns Mut zur Selbständigkeit und Zutrauen zu unseren eigenen Kräften. Andere Lehrer, die nur bestimmte Fächer, und das auch nur vorübergehend, unterrichteten, wechselten öfter und hinterließen keine so tiefen Spuren in der Erinnerung. Trotzdem muß ich hier unbedingt Fräulein Blensdorf nennen, die uns wahrscheinlich auch nicht die ganze Zeit begleitet hat. Aber ihre Existenz war wichtig. Sie verkörperte in ihrer Art, was für das ganze weitere Leben bestimmt wurde. Wie lange sie in erster Linie für Gymnastik, aber dann auch für Musik zuständig war, weiß ich nicht mehr. Sie war jung und hübsch. Aber im Gegensatz zu unseren späteren Turnlehrerinnen am Gymnasium, die sich auf ihre Modejournalwirkung verließen, ohne sich um fachliche Profilierung zu bemühen, war sie ein Mensch, der für seine Sache überzeugen konnte. Sie lebte völlig in der Welt ihres Berufs und setzte sich so sehr mit ihrer ganzen Person dafür ein, daß sie jeden von uns mitriß. Seite 20/32 Ich war nicht überdurchschnittlich musikversessen und schon gar keine gute Turnerin. Aber Fräulein Blensdorf vermochte es, uns alle mit Freude und Unbefangenheit zu den Klängen ihres Klavierspiels in Bewegung zu bringen. Es machte einfach Spaß, dabeizusein und mitzumachen. Leistung und Wettbewerb existierten nicht mehr. Alle kamen mit und niemand war linkisch und wurde ausgelacht. Und als sie noch irgendwann einmal den Satz sagte: „Jeder ist musikalisch und kann singen, man muß das nur in ihm aufwecken“, da war ich ganz und gar von der Bedeutung dieses Satzes für die Menschheit gewonnen. Der Musikunterricht ist nicht eine Arena für Stars, sondern Musik eine Gabe Gottes zur Freude für alle Menschen. Das hatten wir bei Fräulein Blensdorf gelernt. Zu denjenigen, von denen wir unterrichtet wurden, mit denen wir immer wieder um den Tisch herum zusammensaßen, gehörte auch ER, „Professor Petersen“, wie das Gruppentagebuch repektvoll notiert. Wenn auch alles, was unser Schulleben so sehr von dem in anderen Schulen unterschied, auf ihn zurückging, so war er doch am meisten von uns entfernt durch die Distanz seines Amtes und seiner Autorität. Von ihm heißt es zum Beispiel im eben erwähnten Tagebuch: „Professor Petersen hielt eine Rede über die Art des Unterrichts und über unsere neue Schule.“ Das war am 27. 4. 1925, neun Tage nach Beginn. Aber was er da gesagt hatte, davon war in den Köpfen der Berichterstatter wenig hängen geblieben, oder es konnte nicht recht in Worten ausgedrückt werden. Auch den Wochenspruch: „So jemand will unter euch gewaltig sein, der sei euer Diener; und wer da will der Vornehmste sein, der sei euer Knecht“ (Mt 20, 26), den er wegweisend an den Anfang hatte setzen wollen, hatte der Schreiber des Berichts nicht richtig behalten. Das war vielleicht doch alles ein bißchen zu abstrakt. Aber was unsere neue Schule konkret für uns war, das erlebten wir, wenn wir Türen anstrichen, Schränke auswuschen und kehrten oder darüber zu Gericht saßen, wenn nicht gekehrt worden war. („Als wir am Montag ... in die Schule kamen, sah es hier aus wie im Saustall.“) Dieser zunächst aus der Distanz mit Ehrfurcht betrachtete große Mann gab uns nun den Religionsunterricht. Er mußte wohl dieses Fach für so wichtig gehalten haben, daß er den Unterricht selbst in die Hand nehmen wollte. Im Gruppentagebuch vom 25.5. heißt es wieder, ähnlich knapp und andeutend wie das erste Mal: „Heute unterhielten wir uns darüber, was Religionsunterricht eigentlich bedeutet. Dann las uns Professor Petersen ein Gedicht vor, aus dem er uns die Bedeutung erklärte.“ Er wagte also durchaus mit den Zwölfjährigen die grundsätzliche Vorüberlegung, die das Ganze in Frage stellte. Diese Erörterung sollte es wohl umso sicherer bei uns verankern. Nachdenkend und kritisch fragend durften wir uns den vertrauten Dingen auf eine ganz neue Weise nähern. Die Bibel war nicht mehr nur das herrliche Geschichtenbuch, wo man als Siebenjähriger sich mit dem kleinen Joseph identifizieren konnte, dem Liebling des Vaters, dem Ziel des Geschwisterneids. Die Bibel wurde zu einer der „ältesten Urkunden der Menschheit“, ein ungeheures Werk antiker Darstellungskunst. Und solche Erlebnisse entsprachen den Bedürfnissen der Dreizehnjährigen nach wissenschaftlichen Entdeckungen, nach Erfassung einer überwältigenden Realität. Hinter der Wirklichkeit und Wahrheit solch alter Texte stand zwar das eigentlich Letzte, aber davon mußte nicht gesprochen werden. Man mußte nicht „fromm“ sein. Aufkeimende, für dieses Alter so charakteristische Zweifel nahmen an Bedeutung ab, während man sich um das Erkennen erstaunlicher Zusammenhänge bemühte, die die Texte darboten. Da gab es also zwei Erzählungen darüber, wie Gott die Welt geschaffen hatte - und das hatten die Leute früher gar nicht gemerkt. Aber wir, wir konnten die Widersprüche herausfinden und die zwei Geschichten gegeneinander Seite 21/32 halten und sie einfach so, wie sie da standen, schön finden als Ausdruck einer früheren und einer späteren Vorstellung von der Entstehung unserer Welt. Und daß es da im Alten Testament ein uraltes Siegeslied gab, das sogar von einer Frau „gesungen“ worden war, von der Richterin Debora, das mußte einen unauslöschlichen Eindruck machen auf das kleine Mädchen, das gerade anfing, sich ein bißchen als zukünftige Frau zu empfinden, das einen gleichberechtigten Platz in der Welt haben möchte. Petersen als Religionslehrer war jedenfalls eine Ermutigung für jeden, der mit dem Gedanken spielte, sich später vielleicht einmal an dieses problematischste aller Unterrichtsfächer heranzutrauen. Wenn die Schule, in der wir die Obergruppe bildeten, nicht nur in ihren Lehr- und Lernmethoden und im Zusammenleben des Klassenverbandes einzigartig sein sollte, dann mußte sich das natürlich auch im Selbstverständnis aller ausprägen, die da zusammenarbeiten, um das Ganze zu gestalten. Das war die Gesamtheit der Kinder, von den ABC-Schützen bis zu denen im Alter des letzten Volksschuljahres, die Lehrer natürlich und schließlich die Eltern. Der Entschluß der Eltern war hier sehr viel entscheidender gewesen als bei einer Einschulung in sonstige öffentliche Schulen. Sie konnten also auch viel stärker teilnehmen an dem, was in der Schule geschah. Diese Gemeinschaft von Menschen, denen die Schule am Herzen lag, war die „Schulgemeinde“. Zwar verwirklichte sich diese Schulgemeinde ganz konkret an jedem Wochenbeginn dann doch nur als Zusammenkommen aller Schüler und Lehrer in dem alten, dürftigen Sälchen im ersten Stock des Hauses, wo man unter dem leeren Blick zweier Gipsbüsten von berühmten Pädagogen - einer davon war Herbart - „Kein Hälmlein wächst auf Erden“ oder ähnlich Geliebtes aus dem Liedgut der Jugendbewegung sang und einen Wochenspruch bekam, der nicht immer ein Bibelspruch sein mußte. Aber im Grunde wollte das feierliche Wort „Gemeinde“, bei dem ein Hintergrund von Kirche und Glaubenswelt spürbar wurde, schon eine innere Gemeinsamkeit als Basis für äußeres Tun andeuten. Wenn wir an Weihnachten das Krippenspiel „das Gotteskind“ in den Rosensälen, den Konzertsälen der Stadt, aufführten, dann kamen die Eltern nicht einfach als genießende Zuschauer. Eine ganze Reihe von ihnen hatten mitgewirkt beim Einstudieren und Kostümieren und fühlte sich mitverantwortlich für das Gelingen des gemeinsamen Werks. Daher war das Ganze weit mehr als nur eine Summe von Schülern, Lehrern und Eltern, geeint im Stolz auf die florierende Anstalt und die herausragenden Einzelleistungen kleiner durch die Schule geförderter Genies, es war das Erlebnis der Gemeinschaft aller, was uns trug. Alle fühlten sich eins im Bewußtsein der Bedeutung dieser Schule, die weit mehr war als nur eine Institution zur Ausbildung in „Allgemeinwissen“. Sie war ein Kreis von Menschen, die sich in ihrer Grundgesinnung zusammengehörig wußten. Diese Mithilfe der Eltern gab es nicht nur bei solchen festlichen Höhepunkten und besonderen Gelegenheiten. Daß im Werkraum manchmal Väter mithalfen, davon war ja schon die Rede. Auch die Mütter sprangen immer wieder ein, Hildegards Mutter als Betreuerin auf Wanderungen, und die Mutter von Ernst hatte sich über viele Wochen hin jeden Morgen die Zeit genommen, um die Schulspeisung, die es auch für uns eine Zeitlang gab, in der Küche einer benachbarten Wohnung vorzubereiten. Unter ihrer Anleitung und ihrem Beistand wurden von jeweils zweien von uns dann die großen Kästen mit den Bechern und Kannen herübergetragen in die Schule. Darum findet man sie auch zu Recht auf dem Bild, das die Schulspeisung in unserer Gruppe zeigt. Vordergrund und Bildmitte werden freilich von den weißgedeckten TiSeite 22/32 schen eingenommen, auf denen die dicken Becher stehen, an denen die fröhlich gespeisten Kinder sitzen. Sie selbst steht ganz im Hintergrund und blickt über das Feld ihrer Tätigkeit mit der gelassenen Selbstverständlichkeit der Pflichterfüllung auf den Photographen. Zwei Kinder haben auch noch keinen Sitzplatz eingenommen, das sind die gerade amtierenden Assistenten. Eines hantiert noch mit einem frisch gefüllten Becher. Dem Schulgemeinde-Gedanken entsprach schließlich auch in besonderer Weise die Einrichtung der Schulpatenschaft. Sie war wohl etwas für unsere Schule Charakteristisches, jedenfalls für die Jenaplan-Schulen überhaupt. Wie die Neugetauften in der christlichen Gemeinde Paten beigegeben bekommen, so sollten auch in unserer Schulgemeinschaft die Anfänger, die Kinder der ersten Grundschulklasse, einen älteren Helfer als besondere Vertrauensperson in ihrer Nähe wissen, jemand, der sich schon mit Schule überhaupt, aber auch speziell in der unseren auskannte. Aber diese bestimmte, vor allen anderen festgelegte Beziehung zwischen einem älteren, nicht der Grundschulgruppe angehörigen Kinde und dem kleinen Neuling konnte auch für die Größeren, die hier beteiligt waren, etwas Wichtiges sein. Hier mußten sie Verantwortung übernehmen. Sie bekamen eine Aufgabe, die nicht den eigenen Absichten und Wünschen diente. Hier sollte man, ohne sich dessen als moralischem Unternehmen bewußt zu werden, für den anderen da sein. Es war so eine Art Geschwister-Spiel. Das war sicher einfach und selbstverständlich für die unter uns, die jüngere Geschwister hatten. Aber für mich als einzigem Kinde bedeutet es etwas völlig Neues und Großartiges, so ein jüngeres Wesen betreuen zu dürfen. In der Pause kamen wir zusammen und sprachen miteinander, aber auch außerhalb der Schulzeit gab es Zusammenkünfte und kleine Feste. Das war alles sehr wichtig und wurde deshalb auch in Photos festgehalten. Zu den ersten bescheidenen Bildern, die ich mit meiner ersten Kamera, einer primitiven Box, geknipst habe, gehören auch die Porträts meines Schulpatenkindes Dorothee und ihrer um ein Jahr älteren Schwester. Man sieht die beiden, ein Blondes und ein Braunes, mit ihren neuen Frühstückstäschchen, die sie stolz auf ihrer Mitte hängen haben, Hand in Hand vor einem schönen, dichten Busch stehen. Alle beide kommen mehrfach, jeweils mit anderen Partnern zusammen, in dem treuherzigen Album vor. Das zeigt deutlich, wie wichtig diese Kinder damals für mich waren, neben den Eltern, der Großmutter und den Schulfreundinnen, die offenbar wichtigsten Personen meines damaligen Lebens. Dorothee war mir besonders anbefohlen, und diese Aufgabe machte mich stolz. Sie war wie etwas, das zu mir besonders gehörte und mich zu einem viel erwachseneren Menschen machte. Diese schöne Betreuungspflicht brachte die Größeren immer wieder in den Raum der Untergruppe und ließ sie ein bißchen Einblick bekommen in das, was dort geschah. Da gab es zum Beispiel eine Menge lebendiger und überraschender Figuren an den Wandtafeln zu bestaunen. Was da alles zu beobachten war, wenn die Kleinen anfingen zu malen! Je öfter man die Häuser, Eisenbahnen, die Kinder, Zwerge und die Vater-Mutter Gestalten betrachtete, desto interessanter wurde es, sie mit den kleinen Künstlern in Beziehung zu setzen. Was sagten solche Kinderzeichnungen nicht alles aus über ihre Urheber! Es mußte schön sein, Kinder sowohl im Lesen und Schreiben, Rechnen oder Erdkunde zu erleben, als auch gleichzeitig ein bißchen vom Unbewußten ihrer Seele in ihren Malereien zu enträtseln. Das Patenverhältnis konnte also dem älteren Kind nicht nur eine neue Freundschaft geben, sondern gleichzeitig auch ein sachliches Interesse an der Entwicklung des jüngeren wecken. Mitmenschen nicht nur als Partner für Unterhaltung erleben, sondern als Wesen entdecken, deren Eigenart und mögliche Andersartigkeit sich vor den staunenden Augen entfaltet, das war eine überraschende Erfahrung. Der ältere Freund erSeite 23/32 lebte einen Prozeß mit, an dessen Fortgang er vielleicht auch ein bißchen mitwirken konnte. Es war dann eigentlich gar nicht überraschend, daß einige von uns davon träumten, eine eigene Schule aufbauen zu können. Wir hatten eben die Schule als beglückende Welt um uns herum erlebt, in der man sehr verschiedenartige Dinge entdecken, beobachten und auch mitgestalten konnte. Hier fühlte man sich glücklich, weil das Arbeiten immer auch ein Gestalten nach eigenen Einfällen war. Kreativität ist in unserer Gesellschaft eine sehr begehrte und hochgepriesene Sache. Verlockend aufgemachte Bücher zu diesem Thema zeigen die Schaufenster von Buchläden. Und eigentlich würden alle, die vor solchen Auslagen stehen bleiben, gern etwas von diesem köstlichen Gut besitzen. Von den Autoritäten unseres öffentlichen Lebens, den großen Managern und bekannten Politikern, wird es geradezu erwartet, daß die es zur Verfügung haben. Sie sollten gute Einfälle, großartige Pläne im Kopf tragen und die Verwirklichung mit der entsprechenden Geschicklichkeit und Tatkraft durchsetzen. In der schwierigen Zukunft, die wir vor uns haben, müßten wir sogar noch viel mehr von dieser Kraft zur Lösung der vor uns liegenden Aufgaben einsetzen können. Aber eine Schule, die vorwiegend abfragbare Ergebnisse meint erzielen zu müssen, weil man heutzutage nur mit einem Riesenvorrat an Fakten und Zahlen, Vokabeln und Formeln den Lebens- bzw. den Konkurrenzkampf bestehen kann, ist doch wohl eigentlich nicht der Ort, wo junge Menschen Einfälle bekommen können, wo sie erfahren können, was es bedeutet, sich mit selbstvergessener Geduld und unter Einsatz aller Kräfte an selbstgewählte Aufgaben zu machen. Meine Erinnerung an die bescheidene kleine Schule in der Jenaer Grietgasse soll nicht eine nostalgische Schwärmerei sein. Ich glaube einfach, daß in vielem die heutige Schule auf dem Holzweg ist. Es kommt gar nicht so sehr auf die Perfektion der Curricula und die Formalisierung der Methoden an, sondern auf viele kleine Momente von Freude an der Arbeit und Zusammengehörigkeit IV.) Rasmus Peichert: Meine Eltern und der Jenaplan: Von der Entlassung in Finsterwalde 1933 bis in die Nachkriegszeit - persönliche Reflexionen (1994) Die letzten Kilometer unserer Reise in den Westen mußten wir, meine Mutter und ich, im Juni 1947 von Börßum nach Schladen zu Fuß gehen. Freunde erwarteten uns, die Familie Behrendt, die es nach dem Krieg hierher verschlagen hatte. Fritz Behrendt, Mutters ehemaliger Rektor an der Jenaplanschule in Finsterwalde, hatte ihr eine Stelle vermittelt, und zwar in Bettmar bei Braunschweig. Dort sollte eine Schule unter der Leitung von Rudolf Ohlendorf nach Peter Petersens Ideen umstrukturiert werden. Unser Wechsel in den Westen war ein Wagnis, aber hatten wir viel zu verlieren? Die Russen hatten 1945 unsere Wohnung in Klettwitz in der Niederlausitz mit allem, was wir besaßen, niedergebrannt, unser Vater war vermißt, und Mutter war in der sowjetischen Zone arbeitslos geworden. Für ihre Entlassung hatte den Behörden dort genügt, daß sie in der Frauenschaft gearbeitet hatte; Parteimitglied war sie nicht gewesen. Auch die Tatsache, daß meine beiden Eltern 1933 durch die Seite 24/32 Nazis strafversetzt worden waren, hatte nichts genützt. Meine Mutter konnte zeit ihres Lebens nur mit Bitterkeit über das „jeweils geltende Recht“ sprechen; denn zu offensichtlich gingen politische Umbrüche in Deutschland immer mit unglaublichen juristischen Widersinnigkeiten einher. Das war nach '33 so, das war nach '45 so, wird es nach '89 anders sein? Heute kann ich leicht sagen: welch ein Glück, daß ich in Braunschweig zur Schule gehen und studieren konnte und nicht wie die meisten meiner Mitschüler in der späteren „DDR“. Im Sommer 1947 war die Zukunft überall ungewiß, ja, uns ging es in der Fremde wegen unserer völligen Mittellosigkeit anfangs sogar schlechter als in der Heimat, wo man uns kannte und wenigstens nicht verhungern oder erfrieren ließ. Behrendts, vor allem Frau Behrendt, unsere „Tante Hanne“, mit der meine Mutter seit der Finsterwalder Zeit eine herzliche Freundschaft verband, machten uns Mut. Wir kamen im Pfarrhaus von Bettmar unter, und Mutter konnte in den Sommerferien auch meine beiden jüngeren Brüder, die zunächst noch drüben geblieben waren, nachholen. Der Zustrom von Heimatvertriebenen nach Bettmar, der noch bis 1948 anhielt, relativierte unsere Not und machte sie dadurch erträglicher. Kinder gab es, die mehrere Jahre lang keine Schule besucht, dafür aber Dinge erlebt hatten, die unser eigenes Schicksal noch harmlos erscheinen ließen. Der Lernhunger dieser Flüchtlingskinder mußte aufgefangen und gesteuert werden; da bot sich der Jenaplan mit seiner flexiblen Organisation förmlich an. Die Kinder gehörten zu der ihrem Alter gemäßen Gruppe, besuchten aber in Deutsch und Rechnen die Kurse, die ihren Kenntnissen entsprachen. Es war also möglich, sie „so zu fördern und zu fordern, daß sie fast alle den Schulabschluß erreichten. In den Kursen teilten wir die Kinder dort noch einmal in 'Abteilungen', ein Wort aus meiner Kindheit, so daß wir mit den älterern schneller im Stoff vorankamen“ (8). Dieses Zitat entstammt einem Brief meiner Mutter, den sie 1982 an Hubert Illig schrieb. Dessen Vater hatten die Nazis 1933 in ein Dorf bei Luckau versetzt, er war Lehrer in der DDR geworden und hatte etwas über die Jenaplan-Arbeit in Finsterwalde erfahren wollen. Da erinnerte er sich an die alte Freundin seiner Eltern und bekam von ihr auch einige Auskünfte. Ich selbst lernte Hubert Illig im März 1994 in Finsterwalde kennen, wohin übrigens auch Jan Peter Behrendt als „Dritter im Bunde der Söhne“ gekommen war. Von unseren Eltern lebt niemand mehr: mein Vater ist 1945 in Gefangenschaft umgekommen, Herbert Illig starb 1961, Fritz Behrendt 1972 und meine Mutter 1989. Da das Schicksal meiner Eltern recht typisch für die zu Beginn des Jahrhunderts geborene Lehrergeneration ist, möchte ich einmal versuchen, anhand der Lebensgeschichte meiner Mutter über die jeweilige Zeit zu berichten. Dabei muß ich hinsichtlich etwaiger Irrtümer um Nachsicht bitten; denn es mischt sich Gehörtes und in früher Jugend Erlebtes mit tatsächlich Belegbarem, und unbefangen bin ich schon gar nicht! Meine Mutter stammt aus einem Försterhaus in der Mark Brandenburg, besuchte eine einklassige Dorfschule (mit „Abteilungen“, s.o.) und dann die Präparande und das Lehrerinnenseminar in Neuzelle bei Frankfurt/Oder. 1924, mit 21 Jahren, legte sie das erste Examen ab, fand aber - wie so viele - keine Anstellung. Als Hauslehrerin auf Rittergütern oder als Aushilfslehrerin während eines fürchterlichen Winters im Netzebruch hielt sie sich über Wasser. Lichtblicke waren pädagogische Tagungen, zu denen auch arbeitslose Lehrer verpflichtet wurden. An die Begegnung in der Tagungsstätte Lagow mit Fritz Peichert, Junglehrer aus Berlin und stellungslos wie sie, erinnerte sie sich genau, als sie sich beide etwa 1928/29 in Finsterwalde an der Gemeindeschule IV auf der ersehnten ersten Stelle Seite 25/32 wiedertrafen. Diese koedukative „weltliche Schule“ (ohne obligatorischen Religionsunterricht) hatte einen solchen Zulauf, daß sie von 83 Kindern im Jahre 1928 auf 494 im Herbst 1930 anwuchs (13). Das auffallend junge Kollegium unter Fritz Behrendts Leitung fand starke Unterstützung durch den sozialistischen Bürgermeister Geist, und es waren viele Eltern, häufig arbeitslose Handwerker, zu praktischer Hilfe bereit. Das waren günstige Voraussetzungen, um reformpädagogische Theorien wie die von Peter Petersen in der Praxis zu erproben. Meine Mutter schreibt (a.a.0.): „Unser ganzes Kollegium fuhr in den Sommerferien 1930 nach Jena, um dort bei Prof. Petersen in seiner Schule zu hospitieren und Vorlesungen an der Uni zu hören ...“ (8). Michaelis 1930 begann die Umgestaltung der Schule: 5 Untergruppen (l. bis 3. Schuljahr), 5 Mittelgruppen (4. bis 6.) und 2 Obergruppen (7./8. Klasse) wurden von zwölf Lehrkräften unterrichtet. Eine strenge weltanschauliche Bindung gab es nicht - so hatte sich meine Mutter beispielsweise vor Dienstantritt versichern lassen, daß sie nicht aus der Kirche auszutreten brauchte (7) -, aber die seit 1928 bestehende örtliche Gruppe der „Arbeitsgemeinschaft sozialdemokratischer Lehrer“ (13), der auch mein Vater angehörte, spielte schon eine Rolle. Im Herbst 1931 besuchte Petersen mit Schulräten aus Wittenberge und Regierungsvertretern aus Frankfurt/Oder die Schule (14), begleitet vermutlich von dem Regierungsdirektor Elsholz, der Finsterwalde sehr unterstützte (8). Im Mai 1932 führte Petersen dort eine „Pädagogische Woche“ durch: Seine Idee war lebendig geworden! Ob wohl einer der Teilnehmer ahnte, daß dieser Schule nur zweieinhalb Jahre Aufbauarbeit, für meine Eltern wohl die glücklichste Zeit ihres Lebens, vergönnt waren? Sechzig Jahre später erinnert sich Frau Gerda Semt, damals Schülerin, an die Abschiedsveranstaltung in Finsterwalde-Süd: „Bei dieser Abschlußfeier haben Kinder, Eltern, Lehrer Tränen vergossen, denn die Jenaplanschule war eine Schule, in der sich jedes Kind wohlfühlte. Es gab keine Schläge, keine Hausaufgaben, keine Zensuren. Die jährlichen Zeugnisse waren Beurteilungen und Einschätzungen...“ (Lausitzer Rundschau, 10.März 1993) (15). Und mir selber berichtete Frau Semt, daß sie nach der Schulschließung in dem leeren Gebäude, übrigens einem gelungenen Zweckbau von Max Taut aus dem Jahre 1913, zufällig „Fräulein Neumann“ traf. Als meine Mutter die kleine Gerda in die Arme nahm und zu trösten versuchte, weinten beide (17). Wie war es zur Auflösung der Schule und zur Entlassung bzw. Zwangsversetzung ihrer Lehrer gekommen? Die Konkurrenz der Schulen (zwei unter einem Dach!), politische und weltanschaulich-kirchliche Polemiken sowie persönliche Animositäten bereiteten vor, was dann die Nazis nach ihrer Machtergreifung durchführten: Die Schule wurde 1933 aufgelöst und die Kinder auf die traditionellen Schulen verteilt. Den Bürgermeister Geist inhaftierte man für Monate im Zuchthaus Sonnenburg, wohin meine Mutter, die zunächst keine Stelle zugewiesen bekam, für Frau Geist oft Kurierdienste leistete (9). Obwohl also das Kollegium in alle Winde verstreut war, ließ Petersen in Jena sich nicht von seinem Vorhaben abbringen, den begonnenen Gesamtbericht über die geleistete Arbeit zu publizieren. Ihm schrieb mein Vater am 6.8.33 aus seinem neuen Dienstort Klettwitz, einem Industriedorf bei Senftenberg: „Mein Aufsatz 'Die Organisation der Kurse' ist im Manuskript fertig. Die letzten Wochen haben nun soviel Unruhe gebracht, daß es mir beim besten Willen nicht möglich war, an die Reinschrift heranzugehen.“ Er berichtete von den Versetzungen der anderen Kollegen und erwähnte insbesondere: „Nur über das Schicksal Behrendts und Böhmfeldts soll das Ministerium entscheiden. Sie wissen sicher, daß der Austritt Seite 26/32 aus der Kirche sie besonders belastet hat“, und fuhr dann fort: „Es heißt nun für jeden von uns, neu anzufangen unter gänzlich veränderten Verhältnissen, mit anderen Mitteln und zu anderen Zielen. Es kann ja nicht anders sein, als daß mit unserer Schularbeit hier ein Stück unseres Lebens zerbrochen ist. Die Zeit wird darüber hinweggehen“ (1). Drei Wochen später waren die Reinschriften fertig, und im Begleitschreiben meines Vaters las Petersen: „Dabei - vor allem auch bei der Zusammensetzung des Kollegiums - habe ich wenig Hoffnung, etwas vom Geiste Ihrer Pädagogik verwirklichen zu können, zum mindesten in absehbarer Zeit. Es sei denn, daß der Jena-Plan in grundsätzlichen Zügen verändert neu erscheint“ (2). Doch nicht nur die geistige Situation war deprimierend, sondern im Sommer 1933 auch die private, welche durch die Mitteilung im selben Brief „Emmi Neumann ist immer noch ohne Beschäftigung. Im Augenblick bin ich zu Besuch in F. (=Finsterwalde)....“ beschrieben wird. Nachdem meine Mutter schließlich der Schule in Dobristroh im Kreis Kalau zugewiesen worden war, muß die Trennung für beide unerträglich gewesen sein. Sie heirateten im April 1934. Für Petersens Glückwünsche bedankte sich mein Vater am 20.4.34 und berichtete detaillierter von seiner neuen Tätigkeit: „So hatte ich als Klassenlehrer des 3. Schuljahres ganze 13 Stunden in der eigenen, 17 in anderen Klassen zu „erteilen“. Übrigens war das mit 16 Sitzenbleibern von 53 Kindern fast eine „Gruppe“ (3). Die Veränderungen im politischen Klima ließ ihn vor allem sein neuer Schulrat spüren, den er a.a.0. zitiert: „So, in Finsterwalde waren Sie? An der Jena-Plan Schule, wo die Kinder machen konnten, was sie wollten? Es hat ja hier im Kreise auch einige verrückt gewordene Pädagogen gegeben, die sich dafür einsetzten. Damit ist ja nun glücklich aufgeräumt worden.“ Fritz Behrendt war wieder eingestellt worden; denn der Brief schloß mit der guten Nachricht: „Heut besuchte uns übrigens ganz überraschend Herr Behrendt ... aus Marga (Anm.: jetzt Brieske bei Senftenberg). Er teilte mir mit, daß gegenwärtig unsere Beiträge gedruckt werden. Wir freuen uns, daß nunmehr unsere Finsterwalder Arbeit doch noch ihren Niederschlag findet...“ (3). Der dritte Band des Jena-Plans (4) erschien noch im selben Jahr. Übrigens: den hochmodern anmutenden Doppelnamen Neumann-Peichert, den der Herausgeber seinerzeit meiner Mutter verlieh, hat sie nie geführt. Erst mit 85 Jahren, als sie noch Mitglied im Arbeitskreis Peter Petersen e.V. geworden war, ließ sie sich vom damaligen Vorsitzenden Reinhard Stach (12) diese Anrede gefallen. Unter dem braunen Regime, das Ehefrauen von Beamten keine berufliche Tätigkeit erlaubte, war meine Mutter wieder arbeitslos, bald aber durch mich (geb. 1935) und meinen zwei Jahre jüngeren Bruder anders ausgelastet. In unserem Dorf durchdrang der nazistische Ungeist allmählich das ganze öffentliche Leben. Mein Vater mußte sich besonders in acht nehmen; denn er besaß ein Berliner Mundwerk und galt als „belastet“. Er hatte sich als Mitglied des Senftenberger Orchesters ein Cello zugelegt, ein jedenfalls politisch unverdächtiges Instrument. Zahlreiche gute Freundschaften meiner Eltern, die ein Leben lang hielten (und heute in der nächsten Generation weiterleben), wurden damals geschlossen. Bereits in Finsterwalde hatten sich meine Eltern intensiv mit dem Bauhaus befaßt; nun richteten sie sich in diesem Stil ein, wobei das verwandte Schicksal der Dessauer Hochschule gewiß zusätzlich motivierte. Man muß sich darüber wundern, daß ein kleines Volksschullehrergehalt die Anschaffung von Einrichtungsgegenständen ermöglichte, die heute ihrer Originalität wegen schier unbezahlbar sind. Eines Tages wurde beschlossen, alle, die für den NSV-Kindergarten tätig waren, in die Partei zu übernehmen; ich denke, es war 1937. Die Betroffenen, so auch mein Seite 27/32 Vater, nannten sich zwar voller Sarkasmus die „Mai-Gefallenen“, aber eine Weigerung, die als „volksfeindliches Verhalten“ angesehen worden wäre, konnten sich viele einfach nicht erlauben. Dann brach der Krieg aus, und die Einberufungen machten die Arbeitskraft meiner Mutter wieder wertvoll: von 1940 bis zur Geburt des dritten Kindes im Jahre 1943 unterrichtete sie wieder. Mein Vater wurde 1941 eingezogen, und ich kam in die Schule. Jene Jahre waren für mich alles andere als eine „unbeschwerte Kindheit“; denn ansteckende Krankheiten verbannten mich 1942 in die Isolierstation in Senftenberg sowie 1944 in ein Behelfskrankenhaus in Nordhausen, und während der Bombenangriffe auf Industrieanlagen in unserer unmittelbaren Nachbarschaft empfanden wir Kinder nichts als Angst. Der Verlauf des Krieges erzeugte ideologische Verhärtungen und ließ Verdächtigungen aufkommen, die auch meinen Eltern galten. Der Rektor der Schule, ein eingefleischter Nazi namens Karsch, verfiel auf die Idee, aus mir in einem Verhör vor der Klasse Belastendes herauszubekommen. Ich weiß noch, wie sich hinterher meine Mutter über diese Gemeinheit aufregte, obwohl sie völlig erfolglos blieb. Statt irgendetwas über das Abhören von Feindsendern oder defätistische Äußerungen meiner Mutter zu verraten, hatte ich, naiv wie ich war, hemmungslos in Durchhalte- und Endsiegparolen geschwelgt. Meine Quelle war u.a. „Der Adler“, ein illustriertes Blatt, das man beim Friseur lesen konnte. Karsch ist 1945 verschwunden; abgetaucht? 1945: Am 13.Februar sahen wir nachts Flammen am Horizont; Dresden brannte. Ende April Flucht zu Fuß im Treck, um nicht den Russen in die Hände zu fallen, vergeblich! Die verrohte Soldateska und die Rache befreiter Zwangsarbeiter an den Deutschen, der Anblick des abgebrannten Hauses bei unserer Rückkehr, die rettende Aufnahme bei unseren Nachbarn und das Überleben dank fremder Hilfe, all das möchte ich nicht schildern, sondern nur eben andeuten, weil es wesentlich für das Verständnis der weiteren Biographie meiner Mutter ist. Nach 1947 hat sie Klettwitz nie wiedergesehen - sie wollte es auch nicht. Die Bettmarer Schularbeit fand insofern Petersens Unterstützung, als er meine Mutter von Jena aus mit pädagogischer Literatur versorgte. Über den Suchdienst war der Tod unseres Vaters, Heimkehrerberichten zufolge, immer wahrscheinlicher geworden. Petersen antwortete am 23.10.1948 auf einen diesbezüglichen Bericht meiner Mutter: „Wenn ich Ihnen sage, daß ich selber seit Februar 1943 auf eine Nachricht, so oder so, von meinem zweiten Sohn warte, dann verstehen Sie auch, daß wir in verwandtem Leid verbunden sind. Ich glaube, es geht Ihnen wie mir, daß man am dankbarsten ist, wenn man aufbauende Arbeit an der Jugend und für die Jugend tun darf“ (5). Ein solcher Brief, mehr noch die Wertschätzung ihrer früheren und ihrer gegenwärtigen Arbeit seitens ihrer Kollegen, letztendlich aber die Verpflichtung, die sie uns Kindern gegenüber empfand, gaben meiner Mutter die Kraft, jene Nachkriegsjahre durchzustehen. Wenn ich heute lese (im SPIEGEL vom 18.7.1994), daß Emmi Bonhoeffer sieben Jahre mit drei Kindern in einer Mansarde von 16 Quadratmetern wohnte und lange nur eine Schüssel hatte, in der sie alles wusch, einschließlich der Heringe, dann klingt das für mich unheimlich vertraut. Unsere analoge „Idylle“ in Bettmar wurde obendrein noch Durchgangsquartier; denn in den 50er Jahren gewährte meine Mutter zuerst einer Freundin aus Klettwitz, dann nacheinander ihren drei Schwestern, alle Lehrerinnen aus der „DDR“, Unterschlupf, bis für jede eine Stelle und ein eigenes Dach über dem Kopf gefunden war. Im Gegensatz zu meinen Brüdern besuchte ich nicht die Bettmarer Schule, sondern wurde sofort Oberschüler in Braunschweig. Der Schulweg mit der Bahn war lang Seite 28/32 und umständlich; ab 1948 zu zweit und ab 1953 zu dritt waren wir morgens und nachmittags je anderthalb Stunden auf Achse. Da entschloß sich 1954 unsere Mutter, an die Schule in Braunschweig-Ölper zu wechseln, die auch nach dem Jena-Plan organisiert war. Es fand sich eine Stadtwohnung am Altewiekring, was eine enorme Bequemlichkeit für uns, aber nunmehr einen langen Schulweg für unsere Mutter bedeutete. Den hat sie noch 13 Jahre lang - bis auch der Jüngste fertig war - auf sich genommen. Die Jenaplan-Interessierten von heute bemerken richtig, daß es aus der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg keine Veröffentlichungen meiner Mutter gibt. Tatsächlich hat sie bei jeder Anregung dieser Art abgewinkt, leider, meine ich; denn sie hätte schon etwas zu sagen gehabt. Kaum eine andere Volksschule im Braunschweiger Bezirk leistete so kindgemäße, abwechslungsreiche Bildungsarbeit, die sich immer wieder auf Schulfesten, durch Ausstellungen von Schülerarbeiten und bei Besuchen von interessierten Lehrern öffentlich darstellte. Meine Mutter konnte deutlich machen, in welchen Punkten die Bettmarer bzw. die Ölpersche Praxis von Petersens „reiner Lehre“ abwich, warum sie abweichen mußte, welches besondere Engagement die Organisationsform Gruppen-/Kursunterricht in jedem Fall von den Lehrkräften verlangte und wie schnell man an eigene Grenzen der Belastbarkeit geriet. Worin sie die Gründe sah, daß letztendlich der Jenaplan ganz aufgegeben wurde, wüßten allenfalls ihre früheren Kollegen zu sagen; mir gegenüber hat sie sich dazu nicht geäußert. Auch ein anderes Thema blieb merkwürdig tabu: Petersens Verhalten während der Nazizeit. Ob die Verehrung für den großen Inspirator der Reformzeit so groß war, daß sich meine Mutter vor unangenehmen Entdeckungen fürchtete? So mancher hatte dem faschistischen Erziehungssystem, nur um wenigstens einige Elemente der eigenen pädagogischen Überzeugung zu retten, seinen Tribut gezahlt. Nach 1949 hatte die Teilung unseres Landes die Kontakte nach Jena zerrissen, und Petersen selbst, der nur noch bis 1952 lebte, konnte nicht mehr gefragt werden. Den Lehrern der Nachkriegszeit fehlte es an Orientierung für die Behandlung der moralischen und ethischen Folgen des „Dritten Reiches“. Die Vorstellungen meiner Mutter von Pflichterfüllung, Achtung und Gehorsam, die zum Teil noch aus dem Seminar in Neuzelle stammten, rieben sich immer häufiger an der Wirklichkeit, die ihr die Kinder in der Schule, die Kollegen und schließlich auch wir Söhne boten. Wundert es da, daß sie damals und auch nach ihrer Pensionierung 1967 das Feld pädagogischer Publizistik lieber anderen wie z.B. Frau Dr. Apel von der KantHochschule oder auch Fritz Behrendt überließ, der Regierungsrat in Hannover geworden und gelegentlich als Gastreferent in Braunschweig zu hören war? In Briefen allerdings hat sie sich manchmal geäußert. Einer seit Klettwitzer Tagen mit ihr befreundeten Dame schrieb sie: „Unser Erziehungsziel ist so hoch gesteckt. Die Nöte der Zeit können nur behoben werden, wenn wir Menschen erziehen mit Initiative, fähig und bereit, die Last auf sich zu nehmen und zu tragen, freundlich, liebenswürdig, rücksichtsvoll, hilfsbereit, Opfer zu bringen, wahrhaft zu sein, schlichten Herzens, ehrlich, selbstlos etc. Wo sind nun dafür die Grundlagen gegeben? Das Leben zeigt, daß die Egoisten mit der Ellbogenfreiheit stets oben schwimmen. Wir verlangen, daß die Kinder Rücksicht aufeinander nehmen. Da ist schon ein Bruch. Sie glauben ja gar nicht, wie schwer die Erziehungsarbeit nach dem verlorenen Kriege ist. Und was sagen Sie, wenn die 14jährigen einem Beispiele aus dem Leben bringen, die im Gegensatz zu unserer Auffassung stehen? Ich komme mir so oft so vor, als riefe ich gegen den Wind.“ (6) Der Brief trägt das Datum 1. Dez. 50, und was sie darin ihren „inneren Kampf“ nannte, hat sie noch 17 Seite 29/32 Dienstjahre durchgestanden! Allerdings: Als die Achtundsechziger, diese sogenannte „Jugend ohne Antworten“, ihre aggressiven Respektlosigkeiten unterschiedslos gegen jeden richteten, der zu Hitlers Zeiten schon erwachsen war, brauchte sie sich dem nicht mehr auszusetzen. Für ihren Ruhestand hatte sie sich eine kleine Wohnung eingerichtet, ihr „Schneckenhaus“. Wir Söhne waren ausgeflogen, und mit ihrem großen Bekanntenkreis blieb sie brieflich, telefonisch oder durch gelegentliche, meist recht kurze Besuche in Kontakt. Ihre innigste Freundschaft, die fast ein halbes Jahrhundert Bestand hatte, nahm durch Hanne Behrendts Tod 1975 ein Ende. Auch ihre eigene Gesundheit bereitete Probleme, und da sie aus Prinzip keiner ihrer drei Schwiegertöchter „zur Last fallen“ wollte, bezog sie mit 80 Jahren das Wohnstift Augustinum. Ihre Schwestern, alle inzwischen pensioniert, lebten in der Nähe und waren schnell zu erreichen. Nach uns Söhnen befragt (z.B. von Hubert Illig, s.o.), konnte sie etwa folgende Auskunft geben: „Mein Ältester ist zum zweitenmal im Ausland. Zuerst war er 6 Jahre in Paris, nach 5 (korrekt wäre 9) Jahren in Bonn ist er nun stellvertr. Schulleiter in Porto in Portugal, also „Geselle“, wie er es ausdrückt. Er hat Mathematik und Chemie studiert, der „Kleine“ Mathematik und Physik. Der war 5 Jahre in Caracas in Venezuela. Das „Weltkind in der Mitten“ ist Dpl.-Bauing., er fliegt tatsächlich in der Welt herum, Stammsitz ist München ...“ (8). So behielt sie uns im Visier. Natürlich gab es auch Entfremdungen; sie war empfindlich geworden, und die Vereinsamung machte sie manchmal recht mutlos. Ein Kreis allerdings ließ derlei nicht gelten und möbelte sie immer wieder auf: die ehemaligen Kollegen. Zwei Damen und zwei Herren, alle deutlich jünger als meine Mutter, waren wie sie von Bettmar nach Ölper gewechselt. Zu diesem alten Stamm kamen einige neue Lehrkräfte, und die Runde traf sich unregelmäßig, so ein/zweimal im Jahr, unter ihrer „Präsidentschaft“ (11). Auch wenn die Gespräche im wesentlichen um Privates kreisten, dürfte unter Schulmeistern die Pädagogik nicht zu kurz gekommen sein. Peter Petersen hätte seine Freude an dieser Form des Gedankenaustauschs gehabt, aber auch sein Sohn, Dr. Uwe K. Petersen, Bremen, der auf der Suche nach Biographischem 1988 die Ölper-Runde kennenlernte, schrieb meiner Mutter nach seinem Besuch: „Vielleicht war es auch ganz gut, in Ruhe über die Begegnung nachzudenken, sich zu freuen, einem Menschen zu begegnen, der schlicht einfach meinen Vater geschätzt hat, dahinter eben auch steht, in sein Inneres geschaut hat und erlebt hat, daß er eben nach seiner Natur für die Kinder, die Schule tätig sein mußte. Ich habe nun wieder in diesem 'Braunschweig'-Kreise gesehen, wie innere Freude und Schwung im Lehrerberuf mächtig werden kann, wenn man ihm die Chance gibt, dieser 'Freiheit in Pflicht' zu genügen“ (10). Und wie wiederum mögen die alten Briefe meiner Eltern (s.o.) aus dem Nachlaß seines Vaters auf meine Mutter gewirkt haben? Welch eine Mischung aus begründeter Freude und der Reminiszenz, wie alles ganz anders verlaufen wäre, wenn nicht..., mag die „alte Dame“ bewegt haben? Dem neuen Interesse an der historischen Entwicklung reformpädagogischer Ideen half sie als einer der letzten Zeitzeugen mit ihrem erstaunlich intakten Gedächtnis gern. Leider war diese Mitarbeit nur von kurzer Dauer. Bei einem operativen Eingriff um die Jahreswende 88/89 wurde bei ihr ein weit fortgeschrittener Leberkrebs entdeckt; danach dauerte ihr Ringen mit dem Tod - unter sehr fürsorglicher Pflege in ihrem Augustinum - noch bis in das Frühjahr hinein. Als ich - wie oft in jenen Wochen - am 8. April 1989 nach Braunschweig fuhr, trieb mich eine seltsame Unruhe zur Eile. Die letzten Stunden neben ihr, die absolute Ruhe bei ihrem Sterben, das wird mir eingeprägt bleiben. Seite 30/32 Unsere Mutter hat ihr Leben, in welchem sie trotz unzähliger Opfer und Entbehrungen soviel Mut und Kraft bewiesen hat, in Würde vollendet. Was sie nicht mehr erlebte: den Zerfall der Sowjetherrschaft und das Ende der Teilung unseres Landes. Auch die Einladung der rührigen Frau Semt zum Treffen der Ehemaligen nach Finsterwalde erreichte sie nicht mehr und wurde von ihrer früheren Nachbarin an mich weitergeleitet (16). Nun sollen wir aus der Nachfolgegeneration Antworten auf die Fragen unserer Zeit finden. Das kann auch der Pädagogik durchaus an die Wurzeln gehen. Hartmut von Hentigs Buchtitel „Die Schule neu denken“ - das mutet fast wie ein Aufruf Peter Petersens an. Wird die richtige Analyse der Probleme gelingen, werden praktikable Konsequenzen für den Schulbereich daraus folgen? Bei der Suche nach orientierenden Hinweisen - mein Bemühen etwa, Spuren des beruflichen Wirkens meiner Eltern zu sichern, ist eine solche Suche - stößt man auf ein Dilemma der Pädagogik überhaupt, nämlich: ihr eigentliches Geschehen und ihr Resultat sperren sich dagegen, festgehalten zu werden. Weder sind die individuellen Prozesse, die während des Unterrichts in den Köpfen ablaufen, genau nachvollziehbar, noch lassen sich diejenigen Prägungen, die ein Mensch allein durch die Schule erfährt, von allen anderen unterscheiden. Es gab - und gibt tausende von Lehrern, die wie meine Mutter in ihrer zweiten, zwanzig Jahre währenden beruflichen Tätigkeit nie ihr eigenes Reflektieren über ihr Tun zu Papier bringen, die jeden Tag pünktlich und zuverlässig ihrer Arbeit nachgehen und allenfalls gelegentlich darüber sprechen, mit Kollegen zum Beispiel. Bei letzteren und selbstverständlich in der Erinnerung aller ihrer Schüler - weiß ich die berufliche Leistung und das pädagogische Vermächtnis meiner Mutter gut aufgehoben. Anmerkungen 1) F. Peichert an P. Petersen, Brief v. 6.8.1933 2) F. Peichert u. E. Neumann an P. Petersen, Brief v. 27.8.1933 3) F. u. E. Peichert an P. Petersen, Brief v. 20.4.1934 4) P. Petersen (Hg.): Die Praxis der Schulen nach dem Jenaplan (Jenaplan Bd.3), Weimar 1934 5) P. Petersen an E. Peichert, Brief v. 23.10.1948 6) E. Peichert an G. Henke, Brief v. 1.12.1950 7) E. Peichert an H. Illig, Brief v. 8.5.1982 8) E. Peichert an H. Illig, Brief v. 10.6.1982 9) E. Peichert an H. Illig, Brief v. 8.12.1982 10) U.-K. Petersen an E. Peichert, Brief v. 26.9.1988 11) G. Wagner an U. Peichert, Brief v. 18.5.1989 12) R. Stach: In memoriam Emmi Peichert; in Heft 11 der Lesehefte zur Jenaplanpädagogik, Arbeitskreis Peter Petersen (Hrsg.) 1989 13) O. Weber: Die Sozialpolitik des sozialdemokratischen Magistrats von Finsterwalde zwischen 1919 und 1933 (Abschlußarbeit), Juni 1992 14) H. Retter an Stadtverwaltung Finsterwalde, Brief v. 19.2.1993 15) G. Semt: Jenaplan - eine Schule, aber ohne Zensuren; Lausitzer Rundschau, 10. März 1993; abgedruckt in H. Retter (Hrsg.): Jenaplan-Pädagogik als Chance, Bad Heilbrunn, Verlag Klinkhardt 1993. 16) G. Semt an E. Peichert (†), Brief v. 27.9.1993 Seite 31/32 17) G. Semt an R. Peichert, Brief v. 30.9.1993 Seite 32/32