Der Meisterdieb
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Der Meisterdieb
Der Meisterdieb Was tut ein Pharao, dem die angesammelten Schätze alle Truhen und Kammern sprengen? Nun, er baut ein neues Schatzhaus, in dem die Erträge des reichen Landes vor allen habgierigen Fingern sicher sind. Was tut ein Baumeister, der für den Pharao einen solchen Tresor entwirft und seinen Bau beaufsichtigt? Nun, er könnte sich der Ehre und des Vertrauens bewusst und damit zufrieden sein. Aber Gold und Edelsteine haben einen verführerischen Glanz Ägyptens Steinmetze sind berühmt für die Genauigkeit und Sauberkeit ihrer Arbeiten. Mauern aus ihren Steinen fügen sich nahtlos ineinander, nur eine hauchdünne Mörtelschicht ist zur Befestigung nötig, so dünn, dass niemand ihr Fehlen bemerken wird. Als Baumeister Amenenhep dem Pharao die neue Schatzkammer vorstellte und dafür großes Lob und reiche Anerkennung erhielt, wusste nur er, dass ein Quader der scheinbar so soliden Außenwand spielend leicht zu entfernen war. Der Pharao wundert sich Wahrscheinlich hatte Amenenhep nur die technische Seite dieses Tricks fasziniert, die neugierige Frage: „Ist es möglich?“ Denn solange er lebte, machte er von seiner Geheimtüre niemals Gebrauch, sein bescheidener Wohlstand genügte ihm. Als er aber einige Jahre später die lange Reise in den Westen mit - fast - reinem Gewissen antrat, weihte er seine Söhne Anefer und Mereruka in das Geheimnis ein. Er schilderte ihnen genau die Lage des bewussten Steines und wie er zu bewegen war. Anefer und Mereruka hätten keine jungen Männer sein müssen, um dieses Geheimnis nicht sofort auszuprobieren. Und da sie schon einmal in der Schatzkammer standen, nahmen sie sich natürlich ein paar kleine, kostbare Andenken mit. Die Besuche beim „großzügigen Pharao“, wie sie es nannten, wurden ihnen rasch zur lieben Gewohnheit - mit so einem regelmäßigen Taschengeld ließ es sich in der verwöhnten Hauptstadt sehr viel besser leben. Zwar hatten es sich die Söhne zur klugen Regel gemacht, nur kleine Mengen der Schätze zu entwenden, aber ihre regelmäßige „Selbstbedienung“ hinterließ schließlich doch unübersehbare Spuren. Da sich keinerlei Anhaltspunkte für einen Einbruch fanden, dachten der Pharao und der Schatzmeister zunächst an eine Sinnestäuschung. Aber als eines Tages ein kostbarer Ring fehlte, konnte es keinen Zweifel mehr geben: Die Schatzkammer wurde von Dieben heimgesucht, die entweder unsichtbar waren oder durch feste Mauern gehen konnten! Die Falle schnappt zu Der Pharao war außer sich, als seine Schätze immer mehr geschröpft wurden, und er begann bereits an Geister zu glauben. Der Schatzmeister dachte nüchterner und ließ von einem geschickten Mechaniker Fallen anfertigen, die im Schatzhaus versteckt wurden und die ihr Opfer unerbittlich festhielten. Der Meisterdieb 1 Als Anefer und Mereruka einige Tage später ihren gewohnten Besuch abstatteten, dauerte es gar nicht lange, und Mereruka war gefangen. Die Brüder bemühten sich verzweifelt, die Falle zu lösen. Als sie die Vergeblichkeit ihrer Bemühungen einsahen, sagte Mereruka: „Bruder, ich bin verloren. Hier komme ich nicht mehr heraus, und wenn man mich morgen findet, wirft man mich den Krokodilen vor. Aber noch schlimmer ist, dass man mich erkennen wird, und dann wirst du, womöglich sogar unsere Mutter, mir zu den Krokodilen folgen. Es gibt nur eine Möglichkeit: Nimm dein Schwert, schlag mir den Kopf ab, und mach' dich mit ihm aus dem Staub!“ Anefer wehrte sich zwar lange gegen eine so schreckliche Lösung, aber schließlich musste er sich der grausamen Notwendigkeit beugen und tat, was ihm der Bruder befohlen hatte. Den Pharao und seinen Hofstaat überfiel am nächsten Morgen das nackte Entsetzen, als sie einen kopflosen Leichnam in der unversehrten Schatzkammer fanden. Ein Dieb war zwar gefasst und hatte auch sein verdientes Ende gefunden, aber es war offensichtlich, dass er Komplizen hatte, vor denen auch in Zukunft die königlichen Schätze nicht sicher waren. Wie sollte man sie aufspüren? Der Schatzmeister wusste auch hier Rat: Der kopflose Körper wurde über dem Eingang des Palastes aufgehängt, und die Wächter bekamen strengen Befehl, auf jede Person zu achten, die bei diesem Anblick etwa Zeichen von Trauer erkennen ließ. Trauer erfüllte freilich das Herz von Anefer, und noch unglücklicher war seine Mutter. Die grausame Notwendigkeit, mit der sich Mereruka für sie und seinen Bruder geopfert hatte, verstand sie zwar, aber zu wissen, dass sein Leichnam am Palasttor verfaulte, ging über ihre Kraft: Wenn der Körper des Toten nicht bewahrt wurde, würde Mereruka niemals in das Totenreich eingehen können. Sie drohte Anefer, dass sie dem Pharao alles bekennen würde, sollte er seinen Bruder nicht vor dem ewigen Vergessen bewahren. So verkleidete sich Anefer als Weinhändler und zog mit einem Esel, auf dem zwei Weinschläuche befestigt waren, vor den Palast. Unmittelbar vor dem Tor öffnete er mit einer geschickten Handbewegung die beiden Schläuche und das kostbare Nass verspritzte auf dem Pflaster. Laut zeternd beklagte Anefer sein Unglück, und prompt eilten die Wächter herbei, um ihm zu „helfen", indem sie den Wein in ihre Kehlen umleiteten. Anefer spielte den Trottel überzeugend genug, dass ihm die Wächter einen der halb leeren Schläuche als Dankgeschenk abnahmen. Wenig später waren sie im schönsten Rausch eingedämmert, und Mererukas Leichnam war verschwunden. Liebe für ein Geständnis Der Pharao tobte vor Zorn. Wie sollte er nun auf die Spur des Diebes kommen, der seine Schätze bedrohte? Eine letzte Möglichkeit kam ihm in den Sinn: Er besaß eine sehr schöne Tochter, und so ließ er verkünden, dass diese Tochter dem Mann ihre Liebe schenken werde, der ihr den tollkühnsten und klügsten Streich seines Lebens erzählen würde. Der Meisterdieb 2 Anefer durchschaute zwar die Falle, die ihm hier gestellt wurde, aber der Schönheit der Prinzessin konnte und wollte er doch nicht widerstehen. Er machte sich auf den Weg, doch schlüpfte er rasch noch in die Werkstatt eines Einbalsamierers, wo er einer der Leichen, die dort auf die Vorbereitungen zur letzten Reise warteten, einen Arm abhackte - mit vielen Entschuldigungen, versteht sich. Der Prinzessin erzählte er ungerührt von seinen Taten, aber als die junge Dame aufsprang, seine Hand ergriff und laut nach den wartenden Soldaten rief, hielt sie den Arm des Toten in der Hand, während Anefer längst in Sicherheit war. Da wusste der Pharao, dass er diesen klugen und gefährlichen Menschen niemals würde fangen können. Aber wenn er ihn nicht unschädlich machen konnte, so musste er ihn gewinnen - sonst waren seine Schätze verloren. Er ließ also dem unbekannten Dieb Straffreiheit zusichern, dazu die Hand seiner Tochter und eine hohe Stellung am königlichen Hof. Anefer zögerte lange, da er immer noch eine Falle befürchten musste. Aber hatte er nicht bisher alles durch Tollkühnheit gewonnen? So trat er mit einem Geständnis vor den Pharao, und der König hielt tatsächlich Wort. Auch die Prinzessin hatte ihm den Schrecken mit der toten Hand vergeben und wurde nur zu gerne seine Frau. Anefer wurde zum neuen Schatzmeister ernannt und sorgte als erstes dafür, dass eine wirklich einbruchsichere Schatzkammer errichtet wurde. (nach Herodot) Der Meisterdieb 3