We Are Legion (USA/2012) The Story of the Hacktivists

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We Are Legion (USA/2012) The Story of the Hacktivists
Screening Infosheet 2013/03/04
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We Are Legion (USA/2012)
The Story of the Hacktivists
ENG OV; 93 min; Buch/Regie: Brian Knappenberger
Sie wurden als Kriminelle, „Hackers on Steroids“ oder
sogar Terroristen bezeichnet, aber die Mehrzahl der
Hacktivist*innen bricht kein Gesetz. We Are Legion
beleuchtet die Geschichte und Kultur der AnonymousBewegung seit ihren Anfängen: Von den Hackergruppen der
ersten Stunde wie Cult of the Dead Cow oder Electronic
Disturbance Theater bis zu den ursprünglichen
Treffpunkten auf Websites wie 4Chan.
Die Entwicklung von einer digitalen Spaßguerrilla hin zu
einer globalen Bewegung zivilen Widerstands, bewaffnet
mit neuen Tools aus der Online-Welt, wird durch zahlreiche
Interviews mit Protagonist*innen der Szene erforscht.
Einige dieser „Hacktivist*innen“ kommen frisch aus dem
Gefängnis, andere wiederum warten noch auf ihren Prozess.
weitere Information:
wearelegionthefilm.com
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Gabriella Coleman, http://gabriellacoleman.org – von Der Freitag, März 2012
Gabriella Coleman ist Sozial- und Kulturanthropologin an der McGill-Universität in Montreal. Sie
forscht seit Jahren über Hacking und ethische Fragen im Netz und gilt weltweit als die intimste
Kennerin der Anonymous-Bewegung. Ihre Einschätzung der Gruppe twitterte sie kürzlich: „boy,
when you combine sociopaths with pissed off altruists, get the fuck out of the way.“
Übersetzung: Holger Hutt
Was will Anonymous?
Wie aus einer kleinen Gruppe pubertärer Hacker-Jungs eine weltweit agierende, politische
Bewegung geworden ist
Was ist Anonymous eigentlich? Eine terroristische Vereinigung? Eine Ansammlung harmloser
Hacker? Eine neue anarchistische Kraft? Der Name ist zunächst einmal ein Schutzschild, eine Art
Banner für kollektive Aktionen. Er wird von verschiedenen Hackern, IT-Experten, Aktivisten,
Menschenrechtsanwälten und ja, auch Spinnern verwendet und steht für eine Reihe von Ideen und
Idealen, die um das Prinzip der Anonymität herum angeordnet sind. Niemand weiß, wie groß die
Gruppe dieser Aktivisten ist, die allein durch ihre Aktionen miteinander verbunden sind. Aktionen,
die von beängstigenden, manchmal aber auch banalen Streichen bis zur Unterstützung von
Revolutionären reichen.
Allein in den vergangenen Monaten hat Anonymous die mexikanischen Drogenkartelle ins Visier
genommen, die Occupy-Bewegung angefeuert und den Vatikan angegriffen. Die Aktionen sind
spektakulär. Anonymous blockiert Webseiten, hackt scheinbar mühelos Kreditkarten und geheimste
Daten (siehe Zeitleiste). Mal sind die Aktionen friedlich und legal, mal destruktiv und jenseits des
Erlaubten, oft finden sie in einer moralischen und juristischen Grauzone statt.
2008 begann ich, mich intensiv mit dem Phänomen zu beschäftigen. Ich wollte wissen: Wie wurde
aus einer Gruppe harmloser Hacker eine der geschicktesten und wirkungsvollsten politischen
Betriebe der Gegenwart?
2008 war das Jahr, als Anonymous erstmals öffentlich in Erscheinung trat. Die Bewegung griff mit
der „Operation Chanology“ Scientology an und löste eine Demonstrationswelle gegen die Sekte aus.
Zwei Jahre später erreichte sie mit der „Operation Payback“ sogar Weltruhm, als sie mit einem
Hackerangriff die Server großer Finanzdienstleister wie MasterCard, Visa oder PayPal lahmlegte,
weil diese Zahlungen an WikiLeaks blockiert hatten. Es war ein sogenannter DDoS-Hacker-Angriff
(Distributed Denial of Service, deutsch: Überlastungsangriff), der zu einer Blockade der
Infrastruktur führt. Mit einem Schlag war Anonymous bekannt. Die Medien sprachen von
„Onlineaktivisten“ oder „globalen Cyberterroristen“. Aber traf das zu? Wer oder was ist
Anonymous? Und wie wurden sie, was sie mittlerweile sind?
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Obwohl Anonymous heute durch ihre respektlose und rebellische Art mit politischen Aktionen in
Verbindung gebracht wird, ging es einmal ganz anders und nicht gerade heroisch los. Bis Ende 2007
wurde unter dem Label mit sogenanntem Trollen fast ausschließlich Schaden angerichtet. Trollen
bedeutet in Foren, Blogs und sozialen Netzwerken ständig und überall destruktive und
provozierende Inhalte zu schreiben. Genau das tat Anonymous. Man schädigte oder zerstörte den
Ruf von Organisationen und Einzelpersonen, indem man erniedrigende Informationen über sie
enthüllte – einfach aus Spaß.
Dieses von heute aus betrachtet scheinbar paradoxe Verhalten der Gruppe hat viel mit ihrem
Ursprung auf 4chan.org zu tun. Diese Webseite gilt vielen als einer der anstößigsten Orte im
Internet. Sie besteht aus 150 themenbezogenen Foren. Am brisantesten ist das sogenannte /b/, ein
nicht zensiertes Forum voller Pornografie, rassistischer Beschimpfungen und Beleidigungen. Alle
kommunizieren hier in einem kryptischen Code, der das Englische auf eine Reihe von
Schimpfwörtern und SMS-Abkürzungen reduziert.
Was auf Außenstehende verstörend wirkt, ist für Insider normal. Es stellt sogar eine der
wesentlichen und meistgeschätzten Qualitäten von 4chan.org dar. Als 2007 der erzkonservative USFernsehsender Fox News die Webseite als „Hassmaschine“ bezeichnete, nahm Anonymous die
Bezeichnung auf und veröffentlichte ein düsteres Video, in dem man sich selbst als „Face of chaos“
bezeichnete, das „über Tragödien lache“.
Auf 4chan.org legten die Hacker sich zum Beispiel mit Jessi Slaughter an. Das damals elfjährige
Mädchen hatte selbstgedrehte Video-Monologe ins Netz gestellt. Anonymous postete das zur
allgemeinen Belustigung auf 4chan.org. Als das Mädchen sich mit solchen unglücklichen Sätzen
wie „I will pop a glock (Pistole) in your mouth and make a brain slushie (Brei)“ versuchte, dagegen
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zu wehren, wurde plötzlich ihr Name, die Adresse und Telefonnummer veröffentlicht. Und das
Mädchen unter anderem mit Hass-Emails terrorisiert. Anonymous, das ist auch immer ein etwas
geschmacklos wirkender Jungshumor auf Kosten anderer.
Solcher Zynismus ist Anonymous heute eher fremd. In den vergangenen Jahren wurde die Strategie
des Trollens als Bestandteil einer sehr direkten Form des Protestes etabliert.
In den endlosen Monaten, die ich in Foren verbrachte, um den Wandel vom spätpubertären
Jungshumor zum politischem Aktivismus zu verstehen, wurde mir klar, dass die Gruppe jenseits des
Bekenntnisses zu Anonymität und freiem Informationsfluss weder eine zusammenhängende
Philosophie noch ein politisches Programm hat. Manchmal neckisch und verspielt, manchmal
makaber und unheimlich, wird die Bewegung immer noch von der Lust angetrieben, Schaden oder
Unfug anzurichten. Wenn es einen Begriff gibt, der diesen Charakterzug beschreibt, dann ist es das
kleine Wort lulz. Lulz ist eine Spielart des Netzjargons LOL („laugh out loud“, „laut lachen“). Und
es bedeutet so viel wie „Lachen auf Kosten anderer“.
Die Logik der Trolle
Die vier Buchstaben sind ein Symbol dafür, wie leicht und beiläufig Trolls das Sicherheitsgefühl
sorgloser Bewohner der „wirklichen Welt“ untergraben können, indem sie zum Beispiel Unmengen
von Pizzen plus Rechnung an eine einzige Adresse bestellen oder Telefonnummern,
Kreditkartennummern oder Festplatteninhalte einer Privatperson öffentlich machen. Dinge, die man
für gewöhnlich als persönlich oder sicher betrachtet.
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Das Entscheidende ist vielleicht, dass Aktionen, die auf lulz aus sind, den Konsens brüchig machen,
den wir in Bezug auf Politik, Ethik und sozialen Zusammenhalt teilen. Trolle stellen diese Welt
infrage, denn sie signalisieren, dass sie uns jederzeit ohne Vorwarnung den Teppich unter den Füßen
wegziehen können. Wenn ihnen gerade danach ist.
Der Geist von lulz ist aber nichts, was nur typisch für Anonymous ist. Schon Dadaisten und Hippies
legten eine ähnlich Haltung an den Tag, ebenso die Situationisten oder zuletzt die Yes Men mit
ihren Spaßguerrilla-Aktionen. Sie alle versuchten die Verabredungen des politischen Systems auf
den Kopf zu stellen und Aufmerksamkeit zu erregen, damit Mainstreammedien über ihre Anliegen
berichten. Anonymous ist ähnlich und doch ganz anders. Die Gruppe hat eine wechselnde
Mitgliedschaft, sie politisiert sich zunehmend, sie unternimmt illegale Aktionen, und sie ist
hervorragend im Netz organisiert.
Diese Netzstruktur ist einer der Schlüssel zu Anonymous. Die Gruppe hat viele Anhänger, Anons
genannt. Manche sind leidenschaftliche Hacker, andere bloß Sympathisanten. Manche arbeiten rund
um die Uhr, andere beteiligen sich nur sporadisch. Die Strukturen sind lose, der Austausch
sporadisch. Sie kommunizieren über ein Chatprogramm namens IRC (Internet Relay Chat), das von
einer kleinen Elite gesteuert wird. Interessanterweise hat diese Elite aber keine Zugangsbarrieren
errichtet und verlangt auch keine Aufnahmeprüfungen. Der Zugang steht allen offen.
Hat die Gruppe eine übergeordnete Strategie? Nein. Die Taktik ihrer Operationen orientiert sich an
den Vorschlägen des französischen Jesuiten Michel de Certeau: „Da sie keinen Ort hat, ist eine
Taktik an die Zeit gebunden – sie hält immer Ausschau nach Gelegenheiten, die ‚im Fluge‘ ergriffen
werden müssen“, schreibt dieser in Die Kunst des Handelns (1980). „Im Fluge“ zu handeln kommt
der flüssigen Struktur von Anonymous entgegen und verschafft der Organisation einen Vorteil
gegenüber ihren Angriffszielen: den zentral geführten und programmatisch ausgerichteten
Unternehmen, Staaten und politischen Parteien.
Ein Beispiel für eine Operation „im Fluge“ war der berüchtigte Angriff auf die Sicherheitsfirma
HBGary, die zusammen mit mehreren Sicherheitsfirmen WikiLeaks schwächen und dessen
Unterstützer diskreditieren wollte. Anfangs schien der Angriff harmlos. Aber plötzlich nahm er
Fahrt auf, als von überall mehr Hacker dazustießen. Da jeder den Namen Anonymous benutzen darf
– was auch schon viele verschiedene, anscheinend nicht in Verbindung stehende Gruppen getan
haben –, können Aktionen schnell intensiviert werden, wenn beim Gegner plötzlich eine Schwäche
sichtbar wird, oder auch sofort abgebrochen werden, wenn Schwierigkeiten auftreten oder es zu
internen Kontroversen kommt.
Die sozialen Banditen
Auf diese Weise bleibt die Gesamtausrichtung der Gruppe selbst für ihre Mitglieder undurchsichtig.
Niemand scheint wirklich zu wissen, was als nächstes kommt. Es gibt kein Kommando. Und es
braucht auch keines. Vielmehr vereint die Akteure eine tiefe Unzufriedenheit mit der politischen
Gegenwart. Mit ihren Aktionen verzichten sie aber darauf – anders als andere politische Akteure –,
eine utopische Vision anzubieten.
Anonymous agieren respektlos, oft destruktiv, gelegentlich rachsüchtig, und missachten
grundsätzlich das Gesetz. Die Gruppe ist aber ein Musterbeispiel für das, was der deutsche
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Philosoph Ernst Bloch das „Prinzip Hoffnung“ nannte. In seinem gleichnamigen Werk befasste er
sich mit Zeichen, Symbolen und Kunstwerken aus verschiedenen historischen Epochen. Er wollte
zeigen, dass der Traum von einer besseren Welt uns ständig begleitet. Der Traum repräsentiert
Hoffnung nicht in einem religiösen Sinne, aber enthält Möglichkeiten, die unter bestimmten
Bedingungen aktiviert werden und zu neuen politischen Realitäten führen können.
Die Entstehung von Anonymous an einem der anrüchigsten Orte des Netzes – 4chan.org – ist ein
Beispiel für dieses „Prinzip Hoffnung“. Was als ein Netzwerk von Trollen auf einer schmierigen
Website begann, ist zu einer Kraft geworden, die für das Gute auf der Welt kämpft.
Die Bereitschaft, einfach aus lulz aber auch zur Verteidigung der Redefreiheit Verwirrung zu stiften,
erinnert mich an die „sozialen Banditen“ aus dem Europa des 19. Jahrhunderts, die der Historiker
Eric Hobsbawm bereits 1959 in seinem Buch Primitive Rebels beschrieben hat. Diese Banditen
waren in mafiösen Strukturen, Geheimgesellschaften, religiösen Sekten, urbanen Mobs und Gangs
organisiert. Sie waren Verbrecher, aber Hobsbawm zufolge befeuerten sie auch einen gewissen
revolutionären Geist: Wenn sie plünderten, verteilten sie oft etwas an die Armen oder boten Schutz
vor anderen Banditen. Hobsbawm beschrieb die Banditen als „vor-politische“ Figuren, die noch
keine eigene Sprache gefunden hatten, um auszudrücken, was sie von der Welt erwarten.
Anonymous haben mit erstaunlicher Schnelligkeit darauf hingearbeitet, ihre Sprache zu finden.
Schon bald nach den Angriffen auf Scientology haben sie ihre Taktik geändert und belastende
Informationen über die Sekte verbreitet, Bündnisse mit älteren Dissidenten der Organisation
geschmiedet und auf deren Menschenrechtsverletzungen aufmerksam gemacht. Aus spontanen
Trollen wurden ernsthafte politische Aktivisten. Anonymous machten sich daran, die Welt zu
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verändern. Nach Hobsbawm ist dieser Weg für Banditen und Revolutionäre gleichermaßen typisch:
„Die Erkenntnis, dass in der Gesellschaft grundsätzliche und fundamentale Veränderungen vor sich
gehen, ist nicht an den Glauben gebunden, dass eine Utopie realisierbar ist“, schrieb er.
Die Wege der Maske
Und so gingen am 10. Februar 2008 auf der ganzen Welt Tausende Anons und Unterstützer auf die
Straße, um gegen Scientology zu demonstrieren. Die Veranstaltungen reichten dabei von
ernsthaftem politischem Protest bis hin zu karnevaleskem Mummenschanz. Sechs Monate nachdem
Fox News sie die „Hassmaschine“ getauft hatte, verfügte Anonymous plötzlich über Legionen von
Anhängern in der realen Welt. An jenem Abend tauchten zum ersten Mal auch Protestanten in den
inzwischen berühmten Guy-Fawkes-Masken auf.
Die Guy-Fawkes-Maske bildet in meinen Augen das Gegenstück zum kommerzialisierten,
„transparenten“ Social Networking bei Facebook. Denn sie bedeutet, Individualismus gegen
kollektives Handeln einzutauschen. Ursprünglich wurde sie für den Film „V for Vendetta“ entworfen
und ist eine Hommage an den katholischen Revoluzzer Guy Fawkes, der 1605 das englische
Parlament in die Luft sprengen und den König ermorden wollte. Fawkes kämpften für seinen
Glauben. Anonymous kämpft für die Freiheit des Internets. Die Demonstranten in den Guy-FawkesMasken trugen Schilder, auf denen zu lesen war: „We Are the Internet” oder „At least our weirdness
is free” („Wenigstens unsere Andersartigkeit ist frei“).
Zwei Jahre nach dem Scientology-Angriff initiierte eine andere Anon-Gruppe die Operation
Payback – den Angriff auf Visa, Mastercard und andere Finanzinstitute. Die Operation begann
wieder ohne viel Voraussicht oder Planung. Einer Anonymous-Quelle zufolge wurde sie von der
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Untergruppe AnonOps ins Leben gerufen, per IR-Chat kommuniziert, auf 4chan.org und Twitter
veröffentlicht und schließlich von den Medien aufgegriffen. Der politische Aufschrei, den die
Veröffentlichung geheimer diplomatischer Depeschen durch WikiLeaks auslöste, machte es
AnonOps möglich, eine tausend Mann starke Hacker-Infanterie in den Kampf zu schicken, um Visa
und PayPal lahmzulegen.
Ende 2010 schien also eine neue Anonymous-Armee entstanden zu sein. In den folgenden Monaten
hackten sich AnonOps im Namen des Umweltschutzes bei dem Landwirtschafts- und
Biotechnologie-Giganten Monsanto ein. Die Operationen liefen in immer dichteren Intervallen.
Ungefähr zu diesem Zeitpunkt begann ich, mich regelmäßig in den IR-Chat von Anonymous
einzuloggen und vorsichtig Kontakte zu den Mitgliedern zu knüpfen. Die nächsten neun Monate
verbrachte ich wie gefesselt vor meinem Computer.
Alle Macht für niemand
Anfang 2011 schien die Bewegung das Quatsch-Machen und Trollen endgültig gegen Engagement
in politischen Kampagnen eingetauscht zu haben. Einige beklagten das, die meisten aber begrüßten
den Umstand, dass sie unter anderem auch zum Sturz diktatorischer Regime im Nahen Osten
beigetragen hatten: Nachdem die tunesische Regierung WikiLeaks gesperrt hatte, gaben
Anonymous am 2. Januar 2011 die Einrichtung des Tweets OpTunisia bekannt.
Zunächst griffen Anonymous die Internetauftritte arabischer Regierungen an, verhielten sich aber
bald eher wie eine Menschenrechtsgruppe und halfen bei der Umgehung von Zensur und
elektronischer Überwachung, indem man Care-Pakete mit Hacker-Tipps und Sicherheits-Software
verschickte. Alle Pakete enthielten den dringenden Rat, sich nicht auf die sozialen Netzwerke zu
konzentrieren: „Das ist *eure* Revolution. Sie wird weder auf Twitter noch im Fernsehen oder in
irgendeinem Chat übertragen werden. Ihr *müsst* auf die Straße gehen oder ihr *werdet* den
Kampf verlieren.“ Dann kam die Operation HBGary.
Im Februar 2011 behauptete der CEO des Sicherheitsunternehmens HBGary, Aaron Barr,
Anonymous zur Strecke gebracht und die wahren Identitäten führender Aktivisten aufgedeckt zu
haben. Die Anons hackten daraufhin seinen Twitter-Account und verschickten darüber rassistische
Beschimpfungen. Firmen-Server wurden gehackt und 70.000 E-Mails und bereits gelöschte Dateien
heruntergeladen. Man legte Barrs iPhone und iPad lahm und veröffentlichte seinen privaten E-MailVerkehr.
Bemerkenswert an der Aktion war vor allem die Entdeckung eines brisanten Dokuments: „Die
WikiLeaks-Bedrohung“. Es beschrieb ein PR-Szenario. Wikileaks sollte durch eine Tochterfirma
(nämlich HBGary Federal) und andere Sicherheitsunternehmen durch den Schmutz gezogen
werden. Der Enthüllungs-Plattform sollten gefälschte Dokumente zugespielt werden, damit diese
sich diskreditiert. Offenbar wurde auch darüber nachgedacht, prominente Wikileaks-Unterstützer
wie den Publizisten Glenn Greenwald beruflich zu ruinieren.
Was die Hacker aufdeckten, grenzte an eine Verschwörung. Es brachte sogar Kongress-Abgeordnete
auf den Plan, die einen Untersuchungsausschuss forderten.
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Die investigative Leistung der Hacker war erstaunlich – da es sich um ein Privatunternehmen
handelte, hätten solche Informationen niemals auf legalem Wege erlangt werden können. Mit der
Operation HBGary hatten Anonymous zum ersten Mal auf Sicherheitsmängel bei Unternehmen
hingewiesen und politisch sensible Informationen veröffentlicht.
Der Erfolg spornte an. Plötzlich verlegten sich neue, kleinere und exklusivere Hacker-Gruppen
darauf, mit ähnlichen Aktionen fortzufahren und die Bewegung noch enger mit den Zielen von
WikiLeaks zusammenzubringen. Der Erfolg dieser Angriffe beruhte auch darauf, dass Anonymous
tatsächlich anonym waren. Man wusste nicht, wer und wie viele angreifen.
Während die Anons ihre Identitäten verschleiern und ihre Aktionen oft verheimlichen, verlangen sie
gleichzeitig von Staat und Unternehmen Transparenz. Für Facebook-Gründer Mark Zuckerberg
bedeutet Transparenz, persönliche Informationen permanent mit anderen zu teilen. Er ging sogar so
weit, vom Ende der Privatsphäre zu sprechen. Anonymous bieten eine provokante Antithese zu der
Logik der permanenten Selbstpublikation und dem Bedürfnis nach Aufmerksamkeit. In einer Welt,
in der wir die meisten unserer persönlichen Daten ins Netz stellen und Staaten wie Unternehmen
massiven Aufwand betreiben, um auch noch unsere restlichen Daten zu sammeln und zu
vermarkten, ist Anonymous’ Auslöschung des Selbst ein Hoffnungsschimmer (auch wenn etwas
zutiefst Ironisches und Beunruhigendes darin liegt, dies durch Hacking zu zeigen).
Das Label Anonymous ermöglicht es den Teilnehmern, eine Art von Individualität zu praktizieren,
die jenseits dessen liegt, was der Anthropologe David Graeber als „besitzergreifenden
Individualismus“ bezeichnet hat. Der Begriff, das Gefühl und die Denkgewohnheit – alles um uns
herum für „tatsächliches oder potenzielles kommerzielles Eigentum“ zu halten.
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Aber auch wenn die Anons sich kollektiv gegen die Suche nach persönlichem Ruhm aussprechen, so
unterdrücken sie doch nicht die Individualität. Anonymous sind keine Einheitsfront, sondern eine
Hydra, ein Rhizom. Die Organisation umfasst mehrere verschiedene Netzwerke und
Arbeitsgruppen, die sich oft nicht einig sind. Zum Beispiel waren nur sehr wenige Anons, die am
Project Chanology teilnahmen, begeistert von den DDoS-Aktionen, die zunächst die politische
Hauptwaffe von AnonOps waren. Einige, wenn nicht sogar alle im AnonOps-Network halten
Chanology für zu klein, um wirkungsvoll sein zu können. Das Interessante ist aber: Auch wenn
nicht immer alle Anons damit einverstanden sind, was im Namen von Anonymous vonstatten geht,
respektieren sie doch, dass jeder den Namen aufnehmen kann.
Bis zu den Verhaftungen des Top-Hackers Hector Xavier Monsegur alias „Sabu“ zu Beginn dieses
Monats hatten Anonymous es geschafft, der Staatsgewalt aus dem Weg zu gehen. Während die
Hacker sich erfolgreich staatlicher Überwachung entzogen, zeigten sie gleichzeitig, wie unsere
persönlichen Informationen von Regierungen und Unternehmen gesammelt und ausgebeutet
werden. Damit haben sie die Vorstellung zunichtegemacht, es gebe so etwas wie „private
Informationen“. Diese Unterscheidung zwischen privat und öffentlich ist einer der Grundpfeiler des
neoliberalen Staates. Sie ist das eigentliche Mittel, mit der Individualität überhaupt erst konstituiert
wird – um dann verfolgt werden zu können.
Anonymous zeigen, dass es keinen Unterschied zwischen dem gibt, was wir für unser privates und
unser öffentliches Selbst halten. Und dass der Schutz unserer Informationen durch einen
wohlwollenden Sicherheitsapparat ein Mythos ist.
Was Anonymous eigentlich ist? Ein umfassendes und konsistentes Bild der Bewegung zu zeichnen,
ist unmöglich. Und vielleicht ist genau das der Grund, warum die Gruppe so gefürchtet ist. Und so
heftig bekämpft wird.
Quelle: http://www.freitag.de/autoren/der-freitag/was-will-anonymous
Im Original und mehr im Detail: http://canopycanopycanopy.com/15/our_weirdness_is_free
www.agit-doc.org
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Nächstes Screening am Mo.08.04.2013: The Ambassador (DK/2011)
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