Heiß oder kühl, stinkig oder an
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Heiß oder kühl, stinkig oder an
FUNKTIONSUNTERHEMDEN Heiß oder kühl, stinkig oder angenehm? Kein Funktionsunterhemd ist wie das andere. Mit einem Dutzend Freiwilliger und aufwändigen Labortests hat TOUR herausgefunden, welche der Wunderfasern für Rennradler taugen HAUT COUTURE D as Unterhemd ist die wichtigste Bekleidungsschicht. Wenn die nicht funktioniert, können die anderen Schichten noch so gut sein – das Gesamtergebnis wird nie befriedigen!“ Markus Weder weiß genau, wovon er spricht. Der Testleiter der „Eidgenössischen Materialprüfungs- und Forschungsanstalt“ (EMPA) in St. Gallen hat schon kubikmeterweise Funktionskleidung durch die Labore geschleust. Acht Sportunterhemden für TOUR waren es dieses Mal, jedes aus einer anderen Faser-Art. Das Untersuchungsziel: Herauszubekommen, welche der vielen Kunst- oder Naturfasern die richtigen Eigenschaften für den Einsatz unter dem Radtrikot hat. Stünde das fest, würde der Blick aufs Etikett bei der Kaufentscheidung helfen. Dort steht, aus welchem Stoff die Hemden sind. Doch was sind die „richtigen“ Materialeigenschaften? Ganz einfach: Die Faser muss den Körper bei dem unterstützen, was er erreichen will. Das Unterhemd als „zweite Haut“ hilft der „ersten Haut“ bei ihrem Job. Bei Anstrengung schwitzt man, um die Abwärme (75 Prozent des Energieumsatzes) möglichst rasch loszuwerden. Der Körper würde sonst überhitzen und seine Leistungsfähigkeit verlieren. Die Aufgabe des Hemdes ist es dann, den Schweiß hautnah verdunsten zu lassen. Ohne die Faser würde er in Bächen den Körper hinunterrinnen, ohne besonders zu kühlen. Doch die Haut hat auch die entgegengesetzte Aufgabe, den Körper vor Auskühlung zu schützen. Ein Funktionshemd sollte dann besser wärmen als es die bloße Haut täte. Viele Hersteller versprechen, dass ihre Funktionshemden genau das tun. Nur: So richtig zu funktionieren scheint das nicht immer. Unsere aufwändige Fahndung nach der perfekten Radlerfaser führte zu Ergebnissen, die in ihrer DER FUNKTIONS-TEST Von Menschen und Maschinen D ie „Eidgenössische tung und erhöhter MaterialprüfungsWindgeschwindigund Forschungsanstalt“ im keit an. Die Werte schweizerischen St. Gallen dieser „orientierenhat einen „Schwitztorso“ den Messung“ entkonstruiert, der ähnlich eisprechen den Gegenem menschlichen Oberbenheiten von Hobkörper funktioniert. Er hat bysportlern, sind in Schwitzdüsen, Temperaihrer Tendenz aber turfühler und eine innere Simulierter Mensch: auf LeistungssportHeizung, welche die sport- Schwitztorso im Labor ler übertragbar. liche Anstrengung simuZum Abgleich mit liert. Ein Windgenerator besorgt den der Radler-Wirklichkeit trugen routi„Fahrtwind“. Um praxisnahe Ergeb- nierte Sportler die Hemden während nisse zu erhalten – wer fährt schon im einer mehrmonatigen Testphase und Unterhemd? – trug er über den füllten Fragebögen aus. Aufgabe war Testhemden ein Radtrikot aus einem unter anderem, jedem Hemd einen verbreiteten Polyester-Material. Rangplatz von „1“ bis „8“ zuzuweiDer Test: An eine „Bergauffahrt“ mit sen. Dabei zeigte sich, dass Labor und 500 Watt Heizleistung (was einer Tret- Praxis beim Klima-Urteil (bis auf Ausleistung von etwa 125 Watt ent- reißer wie Gores „next-to-skin“) eng spricht) schloss sich eine rollende zusammenliegen. Gleichzeitig ergän„Abfahrt“ mit geringerer Heizleis- zen die Praxis-Wertungen den Test. SEITZ TE X T: J Ö R G S PA N I O L ; F OTO S : DA N I E L S I M O N Tendenz auch auf nicht getestete Marken anwendbar sind, die mit verwandten Materialien arbeiten. Andere gebräuchliche Oberflächenbehandlungen, Materialstärken und Strickverfahren können zwar leicht abweichende, aber keine völlig anderen Resultate für ein Material ergeben. KÜHLEN UND WÄRMEN IM WECHSEL Den größten „Absturz“ vollführt die gelbe Linie, ein Unterhemd aus „Meryl“. Diese griffsympathische Fasermischung aus Polyamid und Elasthan wird as ist besser: Wolle, eine Kunstfaser oder nation. Erst in der Abfahrt zeigt sich, warum ein Un- bei vielen Damentrikots verwendet. Das Material das Gore-Laminat? Die neun farbigen Kur- terhemd sinnvoll ist: Das dünne Trikot trocknet kühlt bergauf gut, trocknet aber so langsam, dass ven zeigen, wie heiß oder kalt es am Oberkörper rasch (nach zwei Minuten Abfahrt steigt die Linie es als Funktionslage für Radsport mit wechselnden mit welchem Hemd wird. Nach dem Einpegeln der wieder an), doch es ist so dünn, dass der Fahrtwind Intensitäten nicht taugt. Messapparatur (Phase 1) ging das Rennen los. die Hauttemperatur auch bei trockenem Hemd in Viel besser sieht es mit dem Craft-Hemd aus PolyWährend der simulierten 40-minütigen Bergfahrt den Keller treibt. ester aus, das die Testfahrer lobten, auch wenn es (Phase 2) öffnet sich die Schere zwischen für den Hochsommer zu warm ist. Bergauf Temperaturen auf dem Test-Torso wärmenden und kühlenden Materialien. kühlt es und bergab sackt die Linie nur kurz 37 In der folgenden „Abfahrt“ (Phase 3) durch: Nachdem das Hemd schnell trocknet, Phase 1 Phase 2 Phase 3 36 nach 1:40 Stunden zeigt sich beispielskann es während der Abfahrt wieder wärweise, ob das bergauf kühlende Material men. Einen Extremfall markiert das Polypro35 so gut ist, dass es seinen Träger bergab pylen-Netzhemd von Brynje. Sein Material Trikot vor dem Auskühlen schützt. Greift man leitet den Schweiß so schnell an das Trikot 34 Craft vier auffallende Musterkurven heraus, darüber ab, dass es trotz seiner luftigen Gonso 33 sind die übrigen leicht zu verstehen. Struktur wärmt, weil es Luftkammern bildet. Odlo Die unterste, schwarze Kurve zeigt das Positiv ist die extrem kurze Trockenzeit in 32 Ortovox Trikot ohne Unterhemd. Während der der „Abfahrt“ und ein Umstand, den der LaHelly H. 32 mäßig schnellen Bergauffahrt kühlt das bortest nicht berücksichtigen kann: Öffnet Löffler eng anliegende Polyester-Trikot durch man Trikot oder Jacke während der Fahrt, 30 Verdunstung die Hautoberfläche um kann bei keinem anderen Gestrick der Wind Gore 00:50 01:00 01:10 01:20 01:30 01:40 01:50 zwei Grad ab. So viel schafft keine Kombiso gut kühlen. Zeit [Stunden] Brynje Der Kampf um die Ideal-Linie Temperatur [°C] W T O U R 6/2004 57 EINZELBESCHREIBUNGEN FUNKTIONSUNTERHEMDEN TIPP Preis/ BRYNJE SUPER THERMO CRAFT PRO LAYER 1 Preis: 32,90 Euro Vertrieb: Ciclosport, Telefon 01 80/5 00 47 43; www.brynje.no Material: Polypropylen Die Kunstfaser Polypropylen leitet Schweiß sofort von der Haut weg. Doch was nach garantiertem Wohlgefühl klingt, hat einen Haken: Unterhemden aus diesem Material können praktisch nicht kühlen, da die Verdunstungskälte erst weiter außen, in der nächsten Schicht, entsteht. Und diese kann die angesammelte Schweißmenge bei „Starkschwitzern“ nicht ausreichend verdunsten. Wird die Faser jedoch als luftiges Netzhemd verarbeitet, ist reichlich Fahrtwindkühlung möglich. Anmerkungen: Mehrere Tester beklagten wulstartiges Hochrollen des unteren Saumes. Nicht zu empfehlen, wenn ein Rucksack getragen wird. Rad-Schnitt: sehr gut Subjektiver Rangplatz: 4 Einsatzempfehlung: Winter, Frühjahr/Herbst Sportliche Intensität: niedrig bis mittel Fazit: Gute Kombination aus radtauglichem Schnitt, schneller Trocknung und variablem Temperaturausgleich. Preis: 30 Euro Leistun g Vertrieb: New Wave, Telefon 0 80 33/97 91 10; www.craft.se Material: Polyester Polyester ist das Material fast aller Radtrikots und vieler Funktions-Unterhemden. Polyester nimmt kaum Feuchtigkeit auf – aber trotzdem genug, um als hautnächste Schicht eine angemessene Verdunstungskälte zu erzeugen. Die Trocknungszeit ist sehr gering. Polyester-Gestricke können wie bei Craft sehr elastisch sein. Sie sind problemlos (Craft: 95 Grad) waschbar. In diesem Test erzielten die Polyester-Hemden von Craft und Odlo sehr gute Laborergebnisse. Anmerkungen: Der untere Saum leiert aus, die Oberfläche verschleißt etwas, der hohe Kragen ist Geschmackssache. Zwei Tester erwähnten unangenehmen Geruch. Rad-Schnitt: sehr gut Subjektiver Rangplatz: 1 Einsatzempfehlung: Winter, Frühjahr/Herbst Sportliche Intensität: niedrig bis hoch Fazit: Perfektes Rad-Unterhemd mit komplett anliegendem Sitz; im Hochsommer aber zu warm. Testurteil: GUT Testurteil: SEHR GUT 58 T O U R 6/2004 GONSO U-SHIRT BASIC GORE RIVA SHIRT Preis: 33,95 Euro Vertrieb: Gonso, Telefon 0 74 32/20 90; www.gonso.de Material: Polyamid/ Elasthan (Meryl) Das aufgeraute, samtig schimmernde Gestrick ist Dank hohem Elasthan-Anteil sehr geschmeidig. Doch im Labor bewies diese Lycra-artige Mischung in negativer Hinsicht, dass Kunstfaser nicht gleich Kunstfaser ist: Der Hautschmeichler fühlt sich sofort kühl an und trocknet langsam. Seine technische Funktion ist insofern nicht viel besser als die eines Baumwoll-TShirts. In der Summe der Eigenschaften empfiehlt es sich mehr fürs Joggen an heißen Tagen als für den Radsport. Anmerkungen: Neigt beim Kontakt mit Ausrüstung oder anderen Textilien (wie Sport-BH) zum Fädenziehen. Preis: 52,90 Euro Vertrieb: www.gorebikewear.de Material: Windstopper (Polyester/PTFE) Mit der „next-to-skin“-Produktlinie bringt Gore seine Membrantechnik direkt auf die Haut. Auf die Außen- und Innenseite einer absolut winddichten Membran sind Polyester-Gestricke laminiert. Der hervorragende Laborbefund resultiert aus dem faltenfreien Sitz des Hemdes am Schwitztorso. Bei unseren Testern landete das wenig elastische und deshalb fast nie perfekt sitzende Material auf dem letzten Rang. Es störte das Tragegefühl winddichter Unterwäsche, die selbst bei geöffnetem Trikot nicht spürbar kühlt. Anmerkungen: Dieses Unterhemd spaltete die Probanden extrem in Anhänger und Gegner. Rad-Schnitt: gut bis befriedigend Subjektiver Rangplatz: 7 Einsatzempfehlung: Sommer Sportliche Intensität: niedrig Fazit: Das figurbetonende Shirt eignet sich aufgrund der Materialeigenschaften eher als Oberteil für die Freizeit. Rad-Schnitt: gut bis befriedigend Subjektiver Rangplatz: 8 Einsatzempfehlung: Winter, Frühjahr/Herbst Sportliche Intensität: niedrig bis mittel Fazit: Bei perfektem Sitz – und nur dann – gute Funktion zu hohem Preis. Derartiger Windschutz ist in zweiter oder dritter Lage sinnvoller. Testurteil: FÜR INTENSIVEN SPORT NICHT GEEIGNET Testurteil: BEFRIEDIGEND T O U R 6/2004 59 EINZELBESCHREIBUNGEN FUNKTIONSUNTERHEMDEN HELLY HANSEN STRIPE T V-NECK LÖFFLER UNTERHEMD TRANSTEX Preis: 28,95 Euro Vertrieb: Helly Hansen, Telefon 089/67349620; www.hellyhansen.com Material: Polypropylen Genau wie bei Brynjes Netzhemd leitet Polypropylen auch hier den Schweiß zu schnell von der Haut ab, um ihn kühlend wirken zu lassen. Der steile Anstieg der Torso-Temperaturkurve aus dem EMPA-Labor belegt das. Trotz seines dünnen Materials ist das HellyHansen-Hemd daher nicht besonders geeignet, um im Sommer Pässe zu erklimmen. Die freundlichere Kehrseite der Medaille: Ist man im Winter bei geringer Intensität unterwegs, hält Polypropylen auch unter mehreren Schichten feuchter Kleidung die Haut warm. Anmerkungen: Viele Tester lobten die Robustheit und den angenehmen Griff des Materials. Subjektiver Rangplatz: 3 Rad-Schnitt: gut Einsatzempfehlung: Winter, Frühjahr/Herbst Sportliche Intensität: niedrig bis mittel Fazit: Angenehm zu tragen, zivile Optik – aber für den Rennrad-Sommereinsatz nicht das beste Material. Preis: 35 Euro Vertrieb: Löffler, Telefon 00 43/77 52/84 42 10; www.loeffler.at Material: Polypropylen/Baumwolle (Transtex) Einzeln wärmt Polypropylen zu sehr, Baumwolle kühlt zu stark. Zusammen erzeugen sie aber offenbar ein fast ideales Rad-Klima. Die KunstfaserInnenseite in Frotteestruktur ist so eng mit der dünnen äußeren Baumwollschicht verzahnt, dass deren Löschblatt-Eigenschaften wirken können. Bei starkem Schweißfluss stößt die Naturfaser jedoch an ihre Grenzen – sie trennt sich dann zu langsam vom kühlenden Nass. Für perfekte Rad-Funktion (hautenger Sitz) dürfte die Elastizität höher sein. Anmerkungen: Sichtbarer Oberflächenverschleiß; die Tester lobten die geringere Geruchsentwicklung. Subjektiver Rangplatz: 2 Rad-Schnitt: befriedigend Einsatzempfehlung: Winter, Frühjahr/Herbst Sportliche Intensität: niedrig bis hoch Fazit: Sehr universelles Material mit guten Laborwerten und SympathieBonus der Probanden. Leichte Schwächen beim Schnitt. Testurteil: BEFRIEDIGEND Testurteil: SEHR GUT ODLO LIGHT EFFECT ORTOVOX BERGEN Preis: 40 Euro Vertrieb: Odlo, Telefon 0 21 63/9 57 70; www.odlo.com Material: Polyester/Silber-Ionen Wie Crafts wärmender FeinrippSchlauch besteht auch das viel dünnere Odlo-Hemd aus dem Grundmaterial Polyester . Im Labor überzeugen beide. Doch Odlo mischt dem Polyester SilberIonen bei, die den Schweißgeruch verhindern sollen. Zwar ist unbestritten, das Silber-Ionen antibakteriell wirken, aber im Textilbereich stehen Großversuche zum Geruchsstopper Silber noch aus. Die Test-Träger des Odlo-Hemdes jedenfalls wussten nicht, womit sie es zu tun hatten – und gaben dem Hemd teilweise schlechtere Duft-Noten als anderen. Bemängelt wurde auch der etwas legere Sitz. Anmerkungen: Leiert nach mehreren Wäschen geringfügig aus. Subjektiver Rangplatz: 5 Rad-Schnitt: gut bis befriedigend Einsatzempfehlung: Frühjahr/Herbst, Sommer Sportliche Intensität: mittel bis sehr hoch Fazit: Funktionelles Polyester-Hemd, auch für den Sommer, mit sehr guten Laborwerten. Die Wirkung der Silber-Ionen bleibt unbewiesen. Preis: 48 Euro Vertrieb: Ortovox, Telefon 0 89/66 67 40; www.ortovox.com Material: Merinowolle Kratzen, Handwäsche, Verfilzen? Nein, Wolle ist zeitgemäß weiterentwickelt worden. Maschinenwäsche bei 40 Grad machte dem „superwash“-behandelten Wollunterhemd nichts aus, und unangenehmes Kratzen verspüren bei feiner Merino-Wolle nur Wenige. Die Klima-Eigenschaften von Wolle prädestinieren sie für den Einsatz bei feucht-kühler Witterung. Interessant: Wenn Wolle vom Schwitzen feucht wird, heizt sie sich zunächst auf (siehe Messkurve auf Seite 57), dann regelt sie aber das Klima besser als Polypropylen. Wolle wärmt auch feucht, trocknet aber eher langsam. Anmerkungen: Mit Abstand die geringste Geruchsentwicklung im Test. Subjektiver Rangplatz: 6 Rad-Schnitt: befriedigend Einsatzempfehlung: Winter Sportliche Intensität: niedrig bis mittel Fazit: Ein Material mit Stärken beim Grundlagentraining im Winter, aber Schwächen im intensiven Bereich. Nicht radspezifisch geschnitten. Testurteil: GUT BIS SEHR GUT Testurteil: BEFRIEDIGEND BIS GUT BEWERTUNG Rad-Schnitt: Die Bewertung von „sehr gut“ bis „mangelhaft“ orientiert sich an schlanken Fahrern, die gestreckt auf dem Rad sitzen und ein anliegendes Trikot tragen. Subjektiver Rangplatz: Durchschnittswert aus den Urteilen der bis zu zwölf Tester pro Hemdenmodell. Da der Praxistest in der kühlen Jahreszeit stattfand, werden wärmende Modelle tendenziell überbewertet. Einsatzempfehlung: Beurteilt, in welcher Jah- reszeit das Hemd seine temperaturausgleichenden Eigenschaften am besten ausspielt. Sportliche Intensität: Der Grad der Aktivität, bis zu dem das Hemd für durchschnittlich Schwitzende empfehlenswert ist. Je höher die mögliche Intensität, desto vielseitiger das Hemd.