Optimierte Prozesskette im Ziehwerkzeugbau
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Optimierte Prozesskette im Ziehwerkzeugbau
Optimierte Prozesskette im Ziehwerkzeugbau Nr. 11 November 2004 Technische Informationsysteme AG Einsteinstr. 39 D-82152 Martinsried/München Telefon 0 89/81 803-0 www.tebis.de CAD/CAM-TECHNOLOGIE Bild 1: Die Vektoren zeigen die Vorgabewerte für die notwendige Überbiegung dieses Werkzeuges und damit die Aufgabenstellung (Bild: Tebis AG, Martinsried). Bild 2: Bei Bauteilen mit großer Krümmung muss darauf geachtet werden, dass keine Hinterschnitte entstehen. Dieser senkrechte Bereich darf nicht weiter überbogen werden (Bild: Tebis AG, Martinsried). Optimierte Prozesskette im Ziehwerkzeugbau Michael Klocke Dr. Wolfgang Schinke Henry Dollmann Martinsried Hamburg Heilbronn enn Karosserieteile aus dem Presswerkzeug geworfen werden, federn diese mehr oder weniger stark zurück. Abhilfe schafft bewusstes Einkalkulieren des Rückfederungseffektes in die CAD-Werkzeugkonstruktion, was als Überbiegen beziehungsweise Überbombieren bezeichnet wird. Der Werkzeugbau nutzt dafür Funktionen W zum vollautomatischen globalen Überbiegen, die sich reibungslos in die gesamte CAD-Prozesskette einfügen müssen. Ein praktisches Beispiel stellt die zeitlichen Vorteile dar, die sich bei einem großen deutschen Werkzeugbauer ergeben, indem diese Aufgabe von bisher drei CAD- und CAM-Systemen auf nur noch ein fertigungsnahes CAD/CAM-System verlagert wurde. Sobald sich nach dem Ziehen die Druck- und Zugbedingungen ändern – das Werkzeug öffnet sich, die Abfallbereiche des Blechs werden vom Artikel geschnitten – ändert sich die Gestalt des Karosserieteils. Keine Eigenschaft des Blechs wird im Werkzeugbau so gefürchtet wie diese Rückfederung. Um den Effekt zu beherrschen, ist einerseits das Wissen erfahrener Werkzeugmacher erforderlich und andererseits ist nach wie vor die Methode »Versuch und Irrtum« die tägliche Praxis. Im Rahmen einer Änderungsschleife werden mit dem Werkzeug einige Bleche geformt, die Werkstücke beschnitten und vermessen. Dann werden die gemessenen Abweichungen von der geforderten Sollgeometrie invertiert. Anschließend bewerten die Umformexperten mit ihrer Erfahrung aus vorangegangenen ähnlichen Werkzeugen die Abweichungen und vergrößern oder verkleinern sie entsprechend. Die bewer teten Abweichungen sind nun die Vorgabewerte für die notwendige konstruktive Veränderung des Werkzeuges (Bild 1). Nachdem das reale Werkzeug frästechnisch entsprechend angepasst worden ist, beginnt die nächste Änderungsschleife, bis das gemessene Blechteil schließlich zur Sollgeometrie passt. Für diesen Prozess sind drei bis fünf Schleifen keine Seltenheit, wobei ein erheblicher Teil des Aufwandes in das Anpassen der CAD-Flächen der Werkzeugoberfläche gesteckt werden muss. Derzeitig genutzte Verfahren beim Überbiegen Wie werden Flächenmodelle in der Praxis überbogen? Im Folgenden sollen einige der derzeitigen Verfahren vorgestellt werden. Diese haben gemeinsam, dass sie auf Vorgabewerten für die Überbiegung in Form von Änderungsvektoren an der Sollgeometrie aufbauen. Bei der Neukonstruktion werden die einzelnen Knotenpunkte des Drahtgitters um die jeweiligen Vorgabewerte verschoben und anschließend ein neues Flächenmodell erstellt. Dieses Vorgehen ist sehr zeitintensiv, da jede Fläche einzeln neu aufgebaut wird. Deshalb werden bei einigen Unternehmen die Daten konstruktion überführt werden. Das gleiche galt für neu zu konstruierende Übergänge und Verrundungen, wenn einzelne Bauteilbereiche unterschiedlich verformt werden sollten. Anschließend mussten die Flächen wieder zurück in die Spezial-Software für die Überbiegung übertragen werden, um den näch- aus dem CAD-System zur Werkzeugkonstruktion an spezielle Software-Pakete übergeben, mit denen sich komplette Oberflächenbeschreibungen anhand von Abbildungsvorschriften überbiegen lassen. Die Algorithmen zur Flächenberechnung verhalten sich jedoch häufig so, dass vor allem bei größeren Deformationen das überbogene Modell nicht mehr stetig und tangential ist. Das heißt, es entstehen Lücken und Knicke in der Werkzeugoberfläche. Bei einem namhaften deutschen Werkzeugbau-Unternehmen war bisher der eben beschriebene Überbiegungsprozess etabliert, um die CAD-Modelle der Werkzeugoberfläche global zu verändern. Da in der Spezial-Software für die Überbiegung jedoch keine geeigneten Funktionalitäten zur Verfügung standen, um die Lücken und Knicke in der Oberfläche zu korrigieren, mussten die Daten wieder in das CAD-System der Werkzeug- Bild 3: Ein einfaches Beispiel für eine Abbildungsvorschrift zum Überbiegen um die Z-Achse (Bild: ThyssenKrupp Drauz GmbH, Heilbronn). sten Verformungsschritt auszuführen. Am Ende aller Anpassungsarbeiten an den CAD-Flächen wurden diese an das CAD/CAM-System für die NC-Programmierung übergeben. Die reale Herstellung der angepassten Werkzeuggeometrie konnte beginnen. Insgesamt waren also an jeder Änderungsschleife drei Systeme beteiligt. Praktische Aufgabenstellung mit hohen Anforderungen Im Rahmen eines Praxistests wurde beschlossen ein Projekt beispielhaft nur im CAD/CAM-System der Fertigung zu bearbeiten. Dies bot sich an, da die Änderungsschleifen in Fertigungsnähe stattfinden, also CAD/CAM-TECHNOLOGIE Bild 4: Die Abstandsanalyse lässt erkennn, dass die geforderte Bauteiländerung aus Bild 3 erreicht wurde. Das Bild zeigt auch die Ist-Fläche (rot) und die Soll-Fläche (grün) in zwanzigfacher Überhöhung (Bild: Tebis AG, Martinsried). Für gute Ergebnisse sollte ein gespannter, glatter Flächenverlauf mit geringem Grad gewählt werden. Dies ist wichtiger, als möglichst genau der Ausgangsgeometrie zu folgen. Solange nur entlang einer Achse modifiziert wird, ist die optimale Ist-Fläche planar. Die Soll-Fläche ergibt sich aus den entsprechenden Vorgabewerten aus der Vermessung. In der Praxis führt dies dazu, dass die gewünschte Gesamtverformung meist in einzelne Teilschritte zerlegt wird. Optimale Flächenqualität durch adaptive Flächenbeschreibung dort, wo das Know-how der Werkzeugmacher ist. Als Blechteil wurde die Verstärkung einer A-Säule aus einem verhältnismäßig schwer ziehbaren Material ausgewählt. Die für das Bauteil notwendigen Werkstoffeigenschaften führen dazu, dass in den Änderungsschleifen eine Vielzahl von unterschiedlichen Anforderungen zu berücksichtigen waren, zum Beispiel das Überbiegen in mehreren Richtungen sowie Verdrehen und Verlängern. In diesem Fall wird die jeweilige Abbildungsvorschrift durch zwei Ersatzflächen (Ist- und Soll-Fläche) beschrieben. Nach dem Überbiegen, muss sich die gesamte Oberfläche zum Ausgangszustand so verhalten, wie die Soll- zur Ist-Fläche (Bild 4). Die Ist-Fläche muss dabei möglichst gut der Charakteristik der Werkzeuggeometrie sowie der geforderten Überbiegung folgen, damit es nicht zu Verzerrungen durch die Abbildung kommt. Da das fer tigungsnahe CAD/ CAM-System ähnliche Möglichkeiten zum Überbiegen komplexer Geometrien mit Hilfe einer vereinfachenden Abbildungsvorschrift bietet wie das bisherige SpezialSystem, lies es sich nahtlos in den bestehenden Ablauf integrieren. Es zeigten sich jedoch weitere entscheidende Vor teile. Um die Soll-Fläche zu konstruieren, können die gewünschten Vorgabewerte für die Überbiegung einfach als Abweichungspunkte senkrecht zur IstFläche angegeben werden. Anschließend wird automatisch ein Bild 5: Skizze mit Werten für eine Überbiegungsvorschrift zum gleichzeitigen Überbiegen und Verdrehen (Bild: ThyssenKrupp Drauz GmbH, Heilbronn). CAD/CAM-TECHNOLOGIE Vorschlag für die Soll-Fläche berechnet (Bild 6). Dabei lässt sich die Flexibilität dieser Fläche genauso beeinflussen wie die Toleranz, mit der die Vorgabewerte eingehalten werden. Auch hier zeigt sich wieder, dass eine glatte gut gespannte Fläche von größerer Bedeutung ist, als die genaue Einhaltung der Vorgabewerte. Ein weiterer Vorteil sorgt für eine spürbare Verbesserung des Ergebnisses. Die neuartige adaptive Flächenbeschreibung passt bei den überbogenen Flächen den Grad und die Segmentierung an, ohne dass der Bediener eingreifen muss. Im Ergebnis hat das neue Flächenmodell in jeder Fläche optimale Eigenschaften. Dabei können Grad und Segmentierung einzelner Flächen durchaus auch geringer ausfallen als bei den Ausgangselementen, je nach den Erfordernissen der aktuellen Bauteilgeometrie. Tangentiale Flächenübergänge bleiben erhalten. Um die Änderungsschleifen ausschließlich im CAD/CAM-System durchführen zu können, sind zusätzlich Analyse-, Konstruktions- und Schnittstellen-Funktionen notwendig. Hierzu zählt eine effektive bauteilweite Abstandsanalyse zwischen Oberflächen, um die Einhaltung der Vorgabewerte nach dem Überbie- Bild 6: Mit Hilfe von Punkten als Vorgabewerte entsteht aus der Ist-Fläche auf Knopfdruck die Soll-Fläche (zehnfach überhöhte Darstellung). Beide Flächen werden benötigt, um dem System die Überbiegevorschrift mitzuteilen (Bild: Tebis AG, Martinsried). gen zu überprüfen (Bild 4) ebenso wie eine Hinterschnitt-Kontrolle (Bild 2). Da beim Überbiegen oft einzelne Bauteilbereiche getrennt zu behandeln sind, werden auch herkömmliche Konstruktionsfunktionen benötigt, beispielsweise Verlängern, Verrunden und tangentiales Verbinden von Flächen. Am Ende der Änderungsschleife muss wieder eine geschlossene, Knick-freie Oberfläche vorliegen. Durch die Bearbeitung Grad und Segmentierung von Flächen Flächen werden in diesem CAD/CAM-System über Polynome berechnet. Die Anzahl der Koeffizienten des Polynoms wird als Grad bezeichnet. Grundsätzlich gilt, je höher der Grad, desto genauer kann das Polynom bestimmte Vorgaben einhalten, beispielsweise vorgegebene Punkte. Gleichzeitig nimmt jedoch die Glätte und Spannung der Fläche ab, die Fläche beginnt zu schwingen. Um kompliziertere Flächen darzustellen, können mehrere dieser Polynome zu einem Flächenverbund zusammengefasst werden. Die einzelnen Flächen des Flächenverbundes werden Segmente genannt. Bild 7: Die in Bild 5 gezeigte Abbildungsvorschrift wird nach dem Überbiegen exakt erreicht (Bild: Tebis AG, Martinsried). im fer tigungsorientier ten CAD/ CAM-System kann der Datensatz unmittelbar nach dem Überbiegen im gleichen System zur NC-Programmierung verwendet und anschließend in der Realität gefräst werden. Die Änderungsschleife ist damit abgeschlossen, und zwar ohne Systemwechsel. Nach der letzten Schleife müssen die Daten dem CAD-System für die Werkzeugkonstruktion wieder zur CAD/CAM-TECHNOLOGIE reiche mit Verrundungs- beziehungsweise Füllflächen. Bild 8: Die Qualitätsanalyse nach dem letzten Überbiegungsschritt zeigt eine geschlossene Oberfläche, geeignet zur Übergabe an andere CADSysteme (Bild: Tebis AG, Martinsried). Verfügung gestellt werden. Daher sind auch qualitativ hochwertige Schnittstellen unverzichtbar. Der Praxistest wird in vier Schritten gemeistert Eine der wesentlichen Aufgaben für den Konstrukteur besteht darin, die eingangs ermittelten Vorgabewerte in mehrere einfach zu beschreibende Abbildungsvorschriften zu zerlegen. Die einzelnen Schritte sollten möglichst nur Veränderungen entlang einer Richtung enthalten. Dazu ist entsprechende Erfahrung notwendig. In diesem Fall entstanden vier Überbiegeschritte. Erster Schritt: Zunächst ging es darum den mittleren Bereich des kompletten Bauteiles um die Z-Achse zu verbiegen. Dabei sollte die maximale Überbiegung in negativer Y-Richtung 1,5 mm erreichen (Bild 3). Zweiter Schritt: Danach wurde das gesamte Bauteil um die Y-Achse überbogen und gleichzeitig um die X-Achse verdreht. Die Werte der Überbiegung und Verdrehung waren durch eine Skizze vorgegeben (Bild 5). Dritter Schritt: Anschließend musste die Ziehtiefe vergrößert werden, damit der Artikel später die gewünschte Höhe erhält. Die geforderten Werte lieferte wieder eine Skizze. Lediglich Blechhalter und Stempelüberlauf – die Verbindung zwischen Artikel und Blechhalter in der Matrize – werden in diesem Schritt überbogen. Dazu wurden die Artikelflächen von den Flächen des Blechhalters und Stempelüberlaufes getrennt und separat überbogen. Anschließend musste der tangentiale Übergang zum Artikel neu konstruiert werden. Derartige Aufgaben wurden im bisherigen Ablauf im Standard-CAD-System zur Werkzeugkonstruktion erledigt. Da im neuen Prozess das CAD/CAMSystem sowohl die Überbiegung als auch die grundlegenden Konstruktionsfunktionen anbietet, erübrigt sich ein Systemwechsel. Vierter Schritt: Zuletzt mussten schließlich die steilen und hohen Wände des Artikels überbombiert werden, so dass diese auch nach dem Zurückfedern noch die gewünschte Krümmung aufweisen. Da diese Veränderung sich auch auf den Winkel zwischen Artikel und Stempelüberlauf auswirkt, sind in diesem Schritt die Stempelüberlaufund Blechhalterflächen erneut zu modifizieren. Dies führte im Endeffekt dazu, dass dieser Schritt in drei Teilschritte zerlegt wurde, die anschließend auf der anderen Seite des Werkzeuges wiederholt werden mussten. Die Teilschritte sind dabei Überbiegen der steilen Flanken, Abkippen des Stempelüberlaufes und Absenken des Blechhalters. Trotz der hohen Komplexität konnte dieser Schritt in zwölf Stunden vollständig bearbeitet werden, inklusive der erneuten tangentialen Verbindung der einzelnen Teilbe- Der Auftraggeber – ein deutscher Automobilhersteller – verlangte, dass ihm nach Abnahme des Werkzeuges die tatsächlichen CAD-Dateien des Werkzeuges im Format seines CAD-Systems zur Verfügung gestellt werden. Daher war auch die Datenübergabe in andere CAD-Systeme ein Bestandteil dieses Praxistests. Die umfangreichen Analyse- und Konstruktionsfunktionen ermöglichten es die Stellen zu identifizieren und zu korrigieren, die das weniger tolerante CAD-System des Auftraggebers nicht einlesen kann. Anschließend konnten die Daten ohne Probleme weitergegeben werden, der Test war erfolgreich bestanden (Bild 8). Aufwand verringert, Qualität erhöht, Kosten reduziert Der geschilderte Durchlauf einer Änderungsschleife hat gezeigt, dass die benötigte Zeit für die Gestaltveränderung der CAD-Daten der Werkzeugoberfläche drastisch verkürzt werden konnte. Statt der bisher veranschlagten 80 Stunden waren für die Aufgabe nur noch 28 Stunden notwendig, inklusive der Datenaufbereitung für das CADSystem des Auftraggebers. Aufgrund der adaptiven Flächenbeschreibung, die den Polynomgrad und die Segmentierung der neu erzeugten Flächen stets den aktuellen Anforderungen anpasst, entsteht ein Flächenmodell höchster Güte. Dies ist vor allem bei sichtbaren Karosserieteilen wichtig. Anstatt der vorher verwendeten drei Systeme zur Konstruktion und Fertigung der angepassten Werkzeuggeometrie, ist nur noch eins erforderlich. Alle Systemwechsel innerhalb der Änderungsschleifen erübrigen sich. Beim Überbiegen und Überbombieren von Ziehwerkzeug-Konstruktionen können also durch die Wahl modernster CADTechnologie und eine entsprechende Strukturierung der Prozesse erhebliche Zeit- und damit auch Kostenvorteile erzielt werden. ∆