Meyer, Conrad Ferdinand: Das Amulett

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Meyer, Conrad Ferdinand: Das Amulett
CONRAD
FERDINAND
MEYER
DAS AMULETT
Einführung und Anmerkungen
von Bernhard Schaub
Conrad Ferdinand Meyer
Der Schweizer Novellist und Lyriker lebte von 1825-1898. Er entstammte einer
alten Zürcher Patrizierfamilie, trieb in seiner Jugend eingehende Studien zur
französischen, italienischen und deutschen Geschichte, verbunden mit den
entsprechenden Reisen. Das befähigte ihn später, eine ganze Reihe von
historischen Dichtungen, insbesondere Novellen, zu schreiben, die von
genauester Sachkenntnis zeugen. Zugleich ist Meyer ein kompromissloser
Stilist, unerreicht in seiner anschaulichen Plastizität und schnörkellosen
Dramatik. Dass man seinen Stil aristokratisch nannte, ist ein Gütesiegel. Das
gilt auch für seine Lyrik.
Das Amulett
Zwei junge Schweizer Adelige, ein Berner Protestant und ein Freiburger
Katholik, geraten mitten in die Wirren der Pariser Bluthochzeit von 1572. Ein
Amulett spielt zunächst in einem Duell, dann in den Schrecknissen der
Bartholomäusnacht eine merkwürdige Rolle. Es scheint mit dem Leben der
beiden Männer und dem einer schönen jungen Hugenottin aufs engste
verknüpft und zwingt zum Nachdenken über den Lauf des Schicksals.
Einführung
In der Nacht auf den 24. August 1572 ließ in Paris die Königinmutter Katharina von Medici
sämtliche anwesenden Hugenottenführer ermorden. Dieser Tag ist im Heiligenkalender
dem Apostel Bartholomäus geweiht, und darum ist der Massenmord unter dem Namen
Bartholomäusnacht in die Geschichte eingegangen. Die Hugenotten hatten sich in Paris
versammelt zur Vermählung des calvinistischen Heinrich von Bourbon-Navarra mit
Margarete von Valois, der Schwester Seiner Allerchristlichsten Majestät, des jungen
Königs Karl IX. von Frankreich. Deswegen kennt man das Gemetzel auch unter dem
Namen Pariser Bluthochzeit.
Diese Ereignisse bilden den Kulminationspunkt der Hugenottenkriege, die bis 1598 dauern
sollten und die mit dem Blutbad von Vassy begonnen hatten, das 1562 der
Katholikenführer Franz von Lothringen, Herzog von Guise, veranstalten ließ. Nach ihm
und seinem Sohn Heinrich von Guise nannte man die katholische Partei in Frankreich die
Guisen. Während die Calvinisten die evangelische Freiheit predigten, stellten sich die
Katholiken auf den Standpunkt, die Einheit von Staat und Kultur sei durch die
Glaubensspaltung gefährdet. Das Thema der Hugenottenverfolgung nimmt Meyer
übrigens in seiner berühmten Ballade „Die Füße im Feuer“ wieder auf.
Der Begriff „Hugenotten“ ist eine Verballhornung des Wortes „Eidgenossen“. Aus der
Eidgenossenschaft, nämlich von den beiden Reformatoren Ulrich Zwingli von Zürich und
insbesondere Johannes Calvin von Genf stammte die Glaubenslehre der französischen
Reformierten. Der Protestantismus hatte nicht nur im französischen Bürgertum, sondern
gerade auch unter dem Hochadel zahlreiche Anhänger.
Der angesehenste und einflussreichste unter ihnen war Gaspard von Coligny, Herr von
Châtillon und Admiral von Frankreich. Durch den 1570 gewährten Religionsfrieden von St.
Germain-en-Laye war es möglich geworden, dass Admiral Coligny ein wichtiger Berater
und väterlicher Freund des wankelmütigen jungen Königs werden konnte. Diese Stellung
gedachte er dazu zu nutzen, durch einen äußeren Krieg den inneren Frieden unter den
Franzosen zu stärken und gleichzeitig Frankreich aus der spanischen Umklammerung zu
lösen, die sich dadurch noch verstärkt hatte, dass die spanischen Habsburger mit
militärischen Mitteln die abtrünnigen Niederländer unter ihrer Botmäßigkeit zu halten
versuchten. Philipp II. von Spanien hatte zu diesem Zweck den gefürchteten Feldherrn
Herzog Alba nach den Niederlanden geschickt, der schon 1568 den berühmten Grafen
Egmont hatte hinrichten lassen (siehe Goethes „Egmont“) und der nun dem Führer des
protestantischen Nordteils der Niederlande, Wilhelm von Oranien-Nassau,
gegenüberstand.
Coligny hatte vor, das französische Nationalgefühl und die Staatsraison dafür
einzusetzen, Spanien zu schwächen und damit gleichzeitig den niederländischen
Generalstaaten zu Hilfe zu kommen, um damit seine calvinistischen Glaubensbrüder zu
entlasten. Den jungen König schien er schon überzeugt zu haben, da aber schmiedete die
Königinmutter Katharina von Medici ein Komplott gegen Coligny und wollte ihn durch
einen Mordanschlag beseitigen. Das Attentat misslang, der verwundete Coligny
überlebte. Katharina fürchtete nun, die Verschwörung könnte aufgedeckt werden, ergriff
die Flucht nach vorn und gab Befehl, alle Hugenotten niederzumachen. Ihr
orientierungsloser Sohn hatte seiner Mutter dabei offenbar nichts entgegenzusetzen. In
Paris starben in jener Nacht 3000 Protestanten, in ganz Frankreich gegen 10‘000.
In diese Ereignisse stellt Meyer den jungen Berner Adeligen Hans Schadau, einen
Protestanten, und seinen Landsmann Wilhelm Boccard aus Freiburg im Üechtland.
Boccard dient als Katholik in der Schweizer Leibgarde des französischen Königs, die vom
Innerschweizer Hauptmann Ludwig Pfyffer kommandiert wird. Die Eidgenossenschaft
war zwar damals in katholische und evangelische Gebiete gespalten, hatte aber nach
einigen kriegerischen Auseinandersetzungen einen relativen inneren Frieden erreicht. Das
ermöglicht die unverbrüchliche Freundschaft zwischen dem Berner Schadau und dem
Freiburger Boccard, dessen kindliche Anhänglichkeit an das Gnadenbild der Muttergottes
von Einsiedeln den schicksalsmäßigen Mittelpunkt der Novelle bildet.
Allerdings gibt es außerhalb dieses Schicksalsknotens noch einen weiteren möglichen
Standpunkt der Betrachtung. Meyer schildert ihn in der Szene von Schadaus Wahrtraum
im Louvre: Es ist das Gespräch zwischen der Flussgöttin der Seine und der
gesimstragenden Karyatide des Königsschlosses. Das alte Heidentum trauert und spottet
zugleich über die Torheit der Christen…
Alte vergilbte Blätter liegen vor mir mit Aufzeichnungen aus dem Anfange des siebzehnten
Jahrhunderts. Ich übersetze sie in die Sprache unserer Zeit.
Erstes Kapitel
Heute am vierzehnten März 1611 ritt ich von meinem Sitze am Bieler See hinüber nach
Courtion zu dem alten Boccard, den Handel um eine mir gehörige mit Eichen und Buchen
bestandene Halde in der Nähe von Münchweiler abzuschließen, der sich schon eine Weile
hingezogen hatte. Der alte Herr bemühte sich in langwierigem Briefwechsel um eine
Preiserniedrigung. Gegen den Wert des fraglichen Waldstreifens konnte kein ernstlicher
Widerspruch erhoben werden, doch der Greis schien es für seine Pflicht zu halten, mir
noch etwas abzumarkten. Da ich indessen guten Grund hatte, ihm alles Liebe zu erweisen
und überdies Geldes benötigt war, um meinem Sohn, der im Dienste der Generalstaaten
steht und mit einer blonden runden Holländerin verlobt ist, die erste Einrichtung seines
Hausstandes zu erleichtern, entschloss ich mich, ihm nachzugeben und den Handel rasch
zu beendigen.
Ich fand ihn auf seinem altertümlichen Sitze einsam und in vernachlässigtem Zustande.
Sein graues Haar hing ihm unordentlich in die Stirn und hinunter auf den Nacken. Als er
meine Bereitwilligkeit vernahm, blitzten seine erloschenen Augen auf bei der freudigen
Nachricht. Rafft und sammelt er doch in seinen alten Tagen, uneingedenk, dass sein
Stamm mit ihm verdorren und er seine Habe lachenden Erben lassen wird.
Er führte mich in ein kleines Turmzimmer, wo er in einem wurmstichigen Schranke seine
Schriften verwahrt, hieß mich Platz nehmen und bat mich, den Kontrakt schriftlich
aufzusetzen. Ich hatte meine kurze Arbeit beendet und wandte mich zu dem Alten um,
der unterdessen in den Schubladen gekramt hatte, nach seinem Siegel suchend, das er
verlegt zu haben schien. Wie ich ihn alles hastig durcheinanderwerfen sah, erhob ich mich
unwillkürlich, als müsst' ich ihm helfen. Er hatte eben wie in fieberischer Eile ein geheimes
Schubfach geöffnet, als ich hinter ihn trat, einen Blick hineinwarf und – tief aufseufzte.
In dem Fache lagen nebeneinander zwei seltsame, beide mir nur zu wohl bekannte
Gegenstände: ein durchlöcherter Filzhut, den einst eine Kugel durchbohrt hatte, und ein
großes rundes Medaillon von Silber mit dem Bilde der Mutter Gottes von Einsiedeln in
getriebener, ziemlich roher Arbeit.
Der Alte kehrte sich um, als wollte er meinen Seufzer beantworten, und sagte in
weinerlichem Tone:
»Jawohl, Herr Schadau, mich hat die Dame von Einsiedeln noch behüten dürfen zu Haus
und im Felde; aber seit die Ketzerei in die Welt gekommen ist und auch unsre Schweiz
verwüstet hat, ist die Macht der guten Dame erloschen, selbst für die Rechtgläubigen!
Das hat sich an Wilhelm gezeigt – meinem lieben Jungen.« Und eine Träne quoll unter
seinen grauen Wimpern hervor.
Mir war bei diesem Auftritte weh ums Herz und ich richtete an den Alten ein paar
tröstende Worte über den Verlust seines Sohnes, der mein Altersgenosse gewesen und
an meiner Seite tödlich getroffen worden war. Doch meine Rede schien ihn zu
verstimmen, oder er überhörte sie, denn er kam hastig wieder auf unser Geschäft zu
reden, suchte von neuem nach dem Siegel, fand es endlich, bekräftigte die Urkunde und
entließ mich dann bald ohne sonderliche Höflichkeit.
Ich ritt heim. Wie ich in der Dämmerung meines Weges trabte, stiegen mit den Düften der
Frühlingserde die Bilder der Vergangenheit vor mir auf mit einer so drängenden Gewalt, in
einer solchen Frische, in so scharfen und einschneidenden Zügen, dass sie mich peinigten.
Das Schicksal Wilhelm Boccards war mit dem meinigen aufs engste verflochten, zuerst
auf eine freundliche, dann auf eine fast schreckliche Weise. Ich habe ihn in den Tod
gezogen. Und doch, so sehr mich dies drückt, kann ich es nicht bereuen und müsste wohl
heute im gleichen Falle wieder so handeln, wie ich es mit zwanzig Jahren tat. Immerhin
setzte mir die Erinnerung der alten Dinge so zu, dass ich mit mir einig wurde, den ganzen
Verlauf dieser wundersamen Geschichte schriftlich niederzulegen und so mein Gemüt zu
erleichtern.
Zweites Kapitel
Ich bin im Jahre 1553 geboren und habe meinen Vater nicht gekannt, der wenige Jahre
später auf den Wällen von St. Quentin fiel. Ursprünglich ein thüringisches Geschlecht,
hatten meine Vorfahren von jeher in Kriegsdienst gestanden und waren manchem
Kriegsherrn gefolgt. Mein Vater hatte sich besonders den Herzog Ulrich von
Württemberg verpflichtet, der ihm für treu geleistete Dienste ein Amt in seiner Grafschaft
Mümpelgard anvertraute und eine Heirat mit einem Fräulein von Bern vermittelte, deren
Ahn einst sein Gastfreund gewesen war, als Ulrich sich landesflüchtig in der Schweiz
umtrieb. Es duldete meinen Vater jedoch nicht lange auf diesem ruhigen Posten, er nahm
Dienst in Frankreich, das damals die Pikardie gegen England und Spanien verteidigen
musste. Dies war sein letzter Feldzug.
Meine Mutter folgte dem Vater nach kurzer Frist ins Grab, und ich wurde von einem
mütterlichen Ohm aufgenommen, der seinen Sitz am Bieler See hatte und eine feine und
eigentümliche Erscheinung war. Er mischte sich wenig in die öffentlichen
Angelegenheiten, ja er verdankte es eigentlich nur seinem in die Jahrbücher von Bern
glänzend eingetragenen Namen, dass er überhaupt auf Bernerboden geduldet wurde. Er
gab sich nämlich von Jugend auf viel mit Bibelerklärung ab, in jener Zeit religiöser
Erschütterung nichts Ungewöhnliches; aber er hatte, und das war das Ungewöhnliche,
aus manchen Stellen des heiligen Buches, besonders aus der Offenbarung Johannis, die
Überzeugung geschöpft, dass es mit der Welt zu Ende gehe und es deshalb nicht rätlich
und ein eitles Werk sei, am Vorabend dieser durchgreifenden Krise eine neue Kirche zu
gründen, weswegen er sich des ihm zuständigen Sitzes im Münster zu Bern beharrlich
und grundsätzlich entschlug. Wie gesagt, nur seine Verborgenheit schützte ihn vor dem
gestrengen Arm des geistlichen Regimentes.
Unter den Augen dieses harmlosen und liebenswürdigen Mannes wuchs ich – wo nicht
ohne Zucht, doch ohne Rute – in ländlicher Freiheit auf. Mein Umgang waren die
Bauernjungen des benachbarten Dorfes und dessen Pfarrer, ein strenger Calvinist, durch
den mich mein Ohm mit Selbstverleugnung in der Landesreligion unterrichten ließ.
Die zwei Pfleger meiner Jugend stimmten in manchen Punkten nicht zusammen.
Während der Theologe mit seinem Meister Calvin die Ewigkeit der Höllenstrafen als das
unentbehrliche Fundament der Gottesfurcht ansah, getröstete sich der Laie der einstigen
Versöhnung und fröhlichen Wiederbringung aller Dinge. Meine Denkkraft übte sich mit
Genuss an der herben Konsequenz der calvinistischen Lehre und bemächtigte sich ihrer,
ohne eine Masche des festen Netzes fallen zu lassen; aber mein Herz gehörte sonder
Vorbehalt dem Oheim. Seine Zukunftsbilder beschäftigten mich wenig, nur einmal gelang
es ihm, mich zu verblüffen. Ich nährte seit langem den Wunsch, einen wilden jungen
Hengst, den ich in Biel gesehen, einen prächtigen Falben, zu besitzen, und näherte mich
mit diesem großen Anliegen auf der Zunge eines Morgens meinem in ein Buch vertieften
Oheim, eine Weigerung befürchtend, nicht wegen des hohen Preises, wohl aber wegen
der landeskundigen Wildheit des Tieres, das ich zu schulen wünschte. Kaum hatte ich den
Mund geöffnet, als er mit seinen leuchtend blauen Augen mich scharf betrachtete und
mich feierlich anredete: »Weißt du, Hans, was das fahle Pferd bedeutet, auf dem der Tod
sitzt?« –
Ich verstummte vor Erstaunen über die Sehergabe meines Oheims; aber ein Blick in das
vor ihm aufgeschlagene Buch belehrte mich, dass er nicht von meinem Falben, sondern
von einem der vier apokalyptischen Reiter sprach.
Der gelehrte Pfarrer unterwies mich zugleich in der Mathematik und sogar in den
Anfängen der Kriegswissenschaft, soweit sie sich aus den bekannten Handbüchern
schöpfen lässt; denn er war in seiner Jugend als Student in Genf mit auf die Wälle und ins
Feld gezogen.
Es war eine ausgemachte Sache, dass ich mit meinem siebzehnten Jahre in Kriegsdienste
zu treten habe; auch das war für mich keine Frage, unter welchem Feldherrn ich meine
ersten Waffenjahre verbringen würde. Der Name des großen Coligny erfüllte damals die
ganze Welt. Nicht seine Siege, deren hatte er keinen erfochten, sondern seine
Niederlagen, welchen er durch Feldherrnkunst und Charaktergröße den Wert von Siegen
zu geben wusste, hatten ihn aus allen lebenden Feldherrn hervorgehoben, wenn man ihm
nicht den spanischen Alba an die Seite setzen wollte; diesen aber hasste ich wie die Hölle.
Nicht nur war mein tapferer Vater treu und trotzig zum protestantischen Glauben
gestanden, nicht nur hatte mein bibelkundiger Ohm vom Papsttum einen üblen Begriff
und meinte es in der Babylonierin der Offenbarung vorgebildet zu sehn, sondern ich
selbst fing an, mit warmem Herzen Partei zu nehmen. Hatte ich doch schon als Knabe
mich in die protestantische Heerschar eingereiht, als es im Jahre 1567 galt die Waffen zu
ergreifen, um Genf gegen einen Handstreich Albas zu sichern, der sich aus Italien längs
der Schweizergrenze nach den Niederlanden durchwand. Den Jüngling litt es kaum mehr
in der Einsamkeit von Chaumont, so hieß der Sitz meines Oheims.
Im Jahre 1570 gab das Pazifikationsedikt von St. Germain en Laye den Hugenotten in
Frankreich Zutritt zu allen Ämtern und Coligny, nach Paris gerufen, beriet mit dem König,
dessen Herz er, wie die Rede ging, vollständig gewonnen hatte, den Plan eines Feldzugs
gegen Alba zur Befreiung der Niederlande. Ungeduldig erwartete ich die jahrelang sich
verzögernde Kriegserklärung, die mich zu Colignys Scharen rufen sollte; denn seine
Reiterei bestand von jeher aus Deutschen und der Name meines Vaters musste ihm aus
früheren Zeiten bekannt sein.
Aber diese Kriegserklärung wollte noch immer nicht kommen, und zwei ärgerliche
Erlebnisse sollten mir die letzten Tage in der Heimat verbittern.
Als ich eines Abends im Mai mit meinem Ohm unter der blühenden Hoflinde das
Vesperbrot verzehrte, erschien vor uns in ziemlich kriechender Haltung und schäbiger
Kleidung ein Fremder, dessen unruhige Augen und gemeine Züge auf mich einen
unangenehmen Eindruck machten. Er empfahl sich der gnädigen Herrschaft als
Stallmeister, was in unsern Verhältnissen nichts andres als Reitknecht bedeutete, und
schon war ich im Begriff, ihn kurz abzuweisen, denn mein Ohm hatte ihm bis jetzt keine
Aufmerksamkeit geschenkt, als der Fremdling mir alle seine Kenntnisse und Fertigkeiten
herzuzählen begann.
»Ich führe die Stoßklinge«, sagte er, »wie wenige und kenne die hohe Fechtschule aus
dem Fundament.« –
Bei meiner Entfernung von jedem städtischen Fechtboden empfand ich gerade diese
Lücke meiner Ausbildung schmerzlich, und trotz meiner instinktiven Abneigung gegen
den Ankömmling ergriff ich die Gelegenheit ohne Bedenken, zog den Fremden in meine
Fechtkammer und gab ihm eine Klinge in die Hand, mit welcher er die meinige so
vortrefflich meisterte, dass ich sogleich mit ihm abmachte und ihn in unsre Dienste nahm.
Dem Ohm stellte ich vor, wie günstig die Gelegenheit sei, noch im letzten Augenblick vor
der Abreise den Schatz meiner ritterlichen Kenntnisse zu bereichern.
Von nun an brachte ich mit dem Fremden – er bekannte sich zu böhmischer Abkunft –
Abend um Abend oft bis zu später Stunde in der Waffenkammer zu, die ich mit zwei
Mauerlampen möglichst erleuchtete. Leicht erlernte ich Stoß, Parade, Finte, und bald
führte ich, theoretisch vollkommen fest, die ganze Schule richtig und zur Befriedigung
meines Lehrers durch; dennoch brachte ich diesen in helle Verzweiflung dadurch, dass es
mir unmöglich war, eine gewisse angebotene Gelassenheit loszuwerden, welche er
Langsamkeit schalt und mit seiner blitzschnell zuckenden Klinge spielend besiegte.
Um mir das mangelnde Feuer zu geben, verfiel er auf ein seltsames Mittel. Er nähte sich
auf sein Fechtwams ein Herz von rotem Leder, das die Stelle des pochenden anzeigte,
und auf welches er im Fechten mit der Linken höhnisch und herausfordernd hinwies.
Dazu stieß er mannigfache Kriegsrufe aus, am häufigsten: »Alba hoch! – Tod den
niederländischen Rebellen!« – oder auch: »Tod dem Ketzer Coligny! An den Galgen mit
ihm!« – Obwohl mich diese Rufe im Innersten empörten und mir den Menschen noch
widerlicher machten, als er mir ohnehin war, gelang es mir nicht, mein Tempo zu
beschleunigen, da ich schon als pflichtschuldig Lernender ein Maß von Behendigkeit
aufgewendet hatte, das sich nun einmal nicht überschreiten ließ. Eines Abends, als der
Böhme gerade ein fürchterliches Geschrei anhob, trat mein Oheim besorgt durch die
Seitentüre ein, zu sehen was es gäbe, zog sich aber gleich entsetzt zurück, da er meinen
Gegner mit dem Ausruf: »Tod den Hugenotten!« mir einen derben Stoß mitten auf die
Brust versetzen sah, der mich, galt es Ernst, durchbohrt hätte.
Am nächsten Morgen, als wir unter unsrer Linde frühstückten, hatte der Ohm etwas auf
dem Herzen und ich denke, es war der Wunsch, sich des unheimlichen Hausgenossen zu
entledigen, als von dem Bieler Stadtboten ein Schreiben mit einem großen Amtssiegel
überbracht wurde. Der Ohm öffnete es, runzelte im Lesen die Stirn und reichte es mir mit
den Worten: »Da haben wir die Bescherung! – Lies, Hans, und dann wollen wir beraten,
was zu tun sei.«
Da stand nun zu lesen, dass ein Böhme, der sich vor einiger Zeit in Stuttgart als
Fechtmeister niedergelassen, sein Weib, eine geborene Schwäbin, aus Eifersucht
meuchlerisch erstochen; dass man in Erfahrung gebracht, der Täter habe sich nach der
Schweiz geschlagen, ja, dass man ihn, oder jemand der ihm zum Verwechseln gleiche, im
Dienste des Herrn zu Chaumont wolle gesehen haben; dass man diesen, dem in
Erinnerung des seligen Schadau, seines Schwagers, der Herzog Christoph sonderlich
gewogen sei, dringend ersuche, den Verdächtigen zu verhaften, selbst ein erstes Verhör
vorzunehmen und bei bestätigtem Verdachte den Schuldigen an die Grenze liefern zu
lassen. Unterzeichnet und besiegelt war das Schreiben von dem herzoglichen Amte in
Stuttgart.
Während ich das Aktenstück las, blickte ich nachdenkend einmal darüber hinweg nach der
Kammer des Böhmen, die sich, im Giebel des Schlosses gelegen, mit dem Auge leicht
erreichen ließ und sah ihn am Fenster beschäftigt, eine Klinge zu putzen. Entschlossen,
den Übeltäter festzunehmen und der Gerechtigkeit zu überliefern, erhob ich doch
unwillkürlich das Schreiben in der Weise, dass ihm das große, rote Siegel, wenn er gerade
herunter lauerte, sichtbar wurde, – seinem Schicksal eine kleine Frist gebend ihn zu
retten.
Dann erwog ich mit meinem Ohm die Festnehmung und den Transport des Schuldigen;
denn dass er dieses war, daran zweifelten wir beide keinen Augenblick.
Hierauf stiegen wir, jeder ein Pistol in der Hand, auf die Kammer des Böhmen. Sie war
leer; aber durch das offene Fenster über die Bäume des Hofes weg – weit in der Ferne, wo
sich der Weg um den Hügel wendet, sahen wir einen Reiter galoppieren, und jetzt beim
heruntersteigen trat uns der Bote von Biel, der das Schreiben überbracht hatte,
jammernd entgegen, er suche vergeblich sein Ross, welches er am hintern Hoftor
angebunden, während ihm selbst in der Küche ein Trunk gereicht wurde.
Zu dieser leidigen Geschichte, die im Lande viel Aufsehen erregte und im Munde der
Leute eine abenteuerliche Gestalt gewann, kam noch ein anderer Unfall, der machte, dass
meines Bleibens daheim nicht länger sein konnte.
Ich ward auf eine Hochzeit nach Biel geladen, wo ich, da das Städtchen kaum eine Stunde
entfernt liegt, manche, wenn auch nur flüchtige Beziehungen hatte. Bei meiner ziemlich
abgeschlossenen Lebensweise galt ich für stolz, und mit meinen Gedanken in der nahen
Zukunft, die mich, wenn auch in bescheidenster Stellung, in die großen Geschicke der
protestantischen Welt verflechten sollte, konnte ich den innern Händeln und dem
Stadtklatsch der kleinen Republik Biel kein Interesse abgewinnen. So lächelte mir diese
Einladung nicht besonders, und nur das Drängen meines ebenso zurückgezogenen, doch
dabei leutseligen Oheims bewog mich, der Einladung Folge zu leisten.
Den Frauen gegenüber war ich schüchtern. Von kräftigem Körperbau und
ungewöhnlicher Höhe des Wuchses, aber unschönen Gesichtszügen, fühlte ich wohl,
wenn ich mir davon auch nicht Rechenschaft gab, dass ich die ganze Summe meines
Herzens auf eine Nummer zu setzen habe, und die Gelegenheit dazu, so schwebte mir
dunkel vor, musste sich in der Umgebung meines Helden finden. Auch stand bei mir fest,
dass ein volles Glück mit vollem Einsatz, mit dem Einsatze des Lebens wolle gewonnen
sein.
Unter meinen jugendlichen Bewunderungen nahm neben dem großen Admiral sein
jüngerer Bruder Dandelot die erste Stelle ein, dessen weltkundige, stolze Brautfahrt
meine Einbildungskraft entzündete. Seine Flamme, ein lothringisches Fräulein, hatte er
vor den Augen seiner katholischen Todfeinde, der Guisen, aus ihrer Stadt Nancy
weggeführt, in festlichem Zuge unter Drommetenschall dem herzoglichen Schlosse
vorüberreitend.
Etwas Derartiges wünschte ich mir vorbestimmt.
Ich machte mich also nüchternen und verdrossenen Herzens nach Biel auf den Weg. Man
war höchst zuvorkommend gegen mich und gab mir meinen Platz an der Tafel neben
einem liebenswürdigen Mädchen. Wie es schüchternen Menschen zu gehen pflegt, geriet
ich, um jedem Verstummen vorzubeugen, in das entgegengesetzte Fahrwasser, und um
nicht unhöflich zu erscheinen, machte ich meiner Nachbarin lebhaft den Hof. Uns
gegenüber saß der Sohn des Schultheißen, eines vornehmen Spezereihändlers, der an der
Spitze der aristokratischen Partei stand; denn das kleine Biel hatte gleich größeren
Republiken seine Aristokraten und Demokraten. Franz Godillard, so hieß der junge Mann,
der vielleicht Absichten auf meine Nachbarin haben mochte, verfolgte unser Gespräch,
ohne dass ich anfänglich dessen gewahr wurde, mit steigendem Interesse und
feindseligen Blicken.
Da fragte mich das hübsche Mädchen, wann ich nach Frankreich zu ziehen gedächte.
»Sobald der Krieg erklärt ist gegen den Bluthund Alba!« erwiderte ich eifrig.
»Man dürfte von einem solchen Manne in weniger respektwidrigen Ausdrücken reden!«
warf mir Godillard über den Tisch zu.
– »Ihr vergesst wohl«, entgegnete ich, »die misshandelten Niederländer! Keinen Respekt
ihrem Unterdrücker, und wäre er der größte Feldherr der Welt!«
– »Er hat Rebellen gezüchtigt«, war die Antwort, »und ein heilsames Beispiel auch für
unsere Schweiz gegeben.«
– »Rebellen!« schrie ich und stürzte ein Glas feurigen Cortaillod hinunter. »So gut, oder so
wenig Rebellen, als die Eidgenossen auf dem Rütli!« –
Godillard nahm eine hochmütige Miene an, zog die Augenbrauen erst mit Wichtigkeit in
die Höhe und versetzte dann grinsend: »Untersucht einmal ein gründlicher Gelehrter die
Sache, wird es sich vielleicht weisen, dass die aufrührerischen Bauern der Waldstätte
gegen Österreich schwer im Unrecht und offener Rebellion schuldig waren. Übrigens
gehört das nicht hierher; ich behaupte nur, dass es einem jungen Menschen ohne
Verdienst, ganz abgesehen von jeder politischen Meinung, übel ansteht, einen berühmten
Kriegsmann mit Worten zu beschimpfen.«
Dieser Hinweis auf die unverschuldete Verzögerung meines Kriegsdienstes empörte mich
aufs tiefste, die Galle lief mir über und: »Ein Schurke!« rief ich aus, »wer den Schurken
Alba in Schutz nimmt!«
Jetzt entstand ein sinnloses Getümmel, aus welchem Godillard mit zerschlagenem Kopfe
weggetragen wurde und ich mich mit blutender, vom Wurf eines Glases zerschnittener
Wange zurückzog.
Am Morgen erwachte ich in großer Beschämung, voraussehend, dass ich, ein Verteidiger
der evangelischen Wahrheit, in den Ruf eines Trunkenboldes geraten würde.
Ohne langes Besinnen packte ich meinen Mantelsack, beurlaubte mich bei dem Oheim,
dem ich mein Missgeschick andeutete, und der nach einigem Hin- und Herreden sich
damit einverstanden erklärte, dass ich den Ausbruch des Krieges in Paris erwarten möge,
steckte eine Rolle Gold aus dem kleinen Erbe meines Vaters zu mir, bewaffnete mich,
sattelte meinen Falben und machte mich auf den Weg nach Frankreich.
Drittes Kapitel
Ich durchzog ohne nennenswerte Abenteuer die Freigrafschaft und Burgund, erreichte
den Lauf der Seine und näherte mich eines Abends den Türmen von Melun, die noch eine
kleine Stunde entfernt liegen mochten, über denen aber ein schweres Gewitter hing. Ein
Dorf durchreitend, das an der Straße lag, erblickte ich auf der steinernen Hausbank der
nicht unansehnlichen Herberge zu den drei Lilien einen jungen Mann, welcher wie ich ein
Reisender und ein Kriegsmann zu sein schien, dessen Kleidung und Bewaffnung aber eine
Eleganz zeigte, von welcher meine schlichte calvinistische Tracht gewaltig abstach. Da es
in meinem Reiseplan lag, vor Nacht Melun zu erreichen, erwiderte ich seinen Gruß nur
flüchtig, ritt vorüber und glaubte noch den Ruf: »Gute Reise, Landsmann!« hinter mir zu
vernehmen.
Eine Viertelstunde trabte ich beharrlich weiter, während das Gewitter mir schwarz
entgegenzog, die Luft unerträglich dumpf wurde und kurze, heiße Windstöße den Staub
der Straße in Wirbeln aufjagten. Mein Ross schnaubte. Plötzlich fuhr ein blendender und
krachender Blitzstrahl wenige Schritte vor mir in die Erde. Der Falbe stieg, drehte sich und
jagte in wilden Sprüngen gegen das Dorf zurück, wo es mir endlich unter strömendem
Regen vor dem Tore der Herberge gelang, des geängstigten Tieres Herr zu werden.
Der junge Gast erhob sich lächelnd von der durch das Vordach geschützten Steinbank, rief
den Stallknecht, war mir beim Abschnallen des Mantelsacks behilflich und sagte: »Lasst es
Euch nicht reuen, hier zu nächtigen, Ihr findet vortreffliche Gesellschaft.«
»Daran zweifle ich nicht!« versetzte ich grüßend.
– »Ich spreche natürlich nicht von mir«, fuhr er fort, »sondern von einem alten
ehrwürdigen Herrn, den die Wirtin Herr Parlamentrat nennt – also ein hoher
Würdenträger – und von seiner Tochter oder Nichte, einem ganz unvergleichlichen
Fräulein ... Öffnet dem Herrn ein Zimmer!« Dies sprach er zu dem herantretenden Wirt,
»und Ihr, Herr Landsmann, kleidet Euch rasch um und lasst uns nicht warten, denn der
Abendtisch ist gedeckt.« –
»Ihr nennt mich Landsmann?« entgegnete ich französisch, wie er mich angeredet hatte.
»Woran erkennt Ihr mich als solchen?« »An Haupt und Gliedern!« versetzte er lustig.
»Vorerst seid Ihr ein Deutscher, und an Eurem ganzen festen und gesetzten Wesen
erkenne ich den Berner. Ich aber bin Euer treuer Verbündeter von Fryburg und nenne
mich Wilhelm Boccard.« –
Ich folgte dem voranschreitenden Wirte in die Kammer, die er mir anwies, wechselte die
Kleider und stieg hinunter in die Gaststube, wo ich erwartet war. Boccard trat auf mich
zu, ergriff mich bei der Hand und stellte mich einem ergrauten Herrn von feiner
Erscheinung und einem schlanken Mädchen im Reitkleide vor mit den Worten: »Mein
Kamerad und Landsmann« . . . dabei sah er mich fragend an.
»Schadau von Bern«, schloss ich die Rede.
»Es ist mir höchst angenehm«, erwiderte der alte Herr verbindlich, »mit einem jungen
Bürger der berühmten Stadt zusammenzutreffen, der meine Glaubensbrüder in Genf so
viel zu danken haben. Ich bin der Parlamentrat Chatillon, dem der Religionsfriede erlaubt,
nach seiner Vaterstadt Paris zurückzukehren.«
»Chatillon?« wiederholte ich in ehrfurchtsvoller Verwunderung. »Das ist der Familienname
des großen Admirals.«
»Ich habe nicht die Ehre, mit ihm verwandt zu sein«, versetzte der Parlamentrat, »oder
wenigstens nur ganz von fern; aber ich kenne ihn und bin ihm befreundet, so weit es der
Unterschied des Standes und des persönlichen Wertes gestattet. Doch setzen wir uns,
meine Herrschaften. Die Suppe dampft und der Abend bietet noch Raum genug zum
Gespräch.« –
Ein Eichentisch mit gewundenen Füßen vereinigte uns an seinen vier Seiten. Oben war
dem Fräulein, zu ihrer Rechten und Linken dem Rat und Boccard und mir am untern Ende
der Tafel das Gedeck gelegt. Nachdem unter den üblichen Erkundigungen und
Reisegesprächen das Mahl beendigt und zu einem bescheidenen Nachtisch das perlende
Getränk der benachbarten Champagne aufgetragen war, fing die Rede an
zusammenhängender zu fließen. »Ich muss es an Euch loben, Ihr Herren Schweizer«,
begann der Rat, »dass Ihr nach kurzem Kämpfen gelernt habt, Euch auf kirchlichem
Gebiete friedlich zu vertragen. Das ist ein Zeichen von billigem Sinn und gesundem Gemüt
und mein unglückliches Vaterland könnte sich an Euch ein Beispiel nehmen. – Werden wir
denn nie lernen, dass sich die Gewissen nicht meistern lassen, und dass ein Protestant
sein Vaterland so glühend lieben, so mutig verteidigen und seinen Gesetzen so gehorsam
sein kann, als ein Katholik!«
»Ihr spendet uns zu reichliches Lob!« warf Boccard ein. »Freilich vertragen wir Katholiken
und Protestanten uns im Staate leidlich; aber die Geselligkeit ist durch die
Glaubensspaltung völlig verdorben. In früherer Zeit waren wir von Fryburg mit denen von
Bern vielfach verschwägert. Das hat nun aufgehört und langjährige Bande sind
zerschnitten. Auf der Reise«, fuhr er scherzend zu mir gewendet fort, »sind wir uns noch
zuweilen behilflich; aber zuhause grüßen wir uns kaum.
Lasst mich Euch erzählen: Als ich auf Urlaub in Fryburg war – ich diene unter den
Schweizern seiner allerchristlichen Majestät – wurde gerade die Milchmesse auf den
Plaffeyer Alpen gefeiert, wo mein Vater begütert ist und auch die Kirchberge von Bern ein
Weidrecht besitzen. Das war ein trübseliges Fest. Der Kirchberg hatte seine Töchter, vier
stattliche Bernerinnen, mitgebracht, die ich, als wir Kinder waren, auf der Alp alljährlich
im Tanze schwenkte. Könnt Ihr glauben, dass nach beendigtem Ehrentanze die Mädchen
mitten unter den läutenden Kühen ein theologisches Gespräch begannen und mich, der
ich mich nie viel um diese Dinge gekümmert habe, einen Götzendiener und
Christenverfolger schalten, weil ich auf den Schlachtfeldern von Jarnac und Moncontour
gegen die Hugenotten meine Pflicht getan?«
»Religionsgespräche«, begütigte der Rat, »liegen jetzt eben in der Luft; aber warum sollte
man sie nicht mit gegenseitiger Achtung führen und in versöhnlichem Geiste sich
verständigen können? So bin ich versichert, Herr Boccard, dass Ihr mich wegen meines
evangelischen Glaubens nicht zum Scheiterhaufen verdammt, und dass Ihr nicht der
letzte seid, die Grausamkeit zu verwerfen, mit der die Calvinisten in meinem armen
Vaterlande lange Zeit behandelt worden sind.«
»Seid davon überzeugt!« erwiderte Boccard. »Nur dürft Ihr nicht vergessen, dass man das
Alte und Hergebrachte in Staat und Kirche nicht grausam nennen darf, wenn es sein
Dasein mit allen Mitteln verteidigt. Was übrigens die Grausamkeiten betrifft, so weiß ich
keine grausamere Religion als den Calvinismus.«
»Ihr denkt an Servet?« – fragte der Rat mit leiser Stimme während sich sein Antlitz trübte.
»Ich dachte nicht an menschliche Strafgerichte«, versetzte Boccard, »sondern an die
göttliche Gerechtigkeit, wie sie der finstere neue Glaube verunstaltet. Wie gesagt, ich
verstehe nichts von der Theologie, aber mein Ohm, der Chorherr in Fryburg, ein
glaubwürdiger und gelehrter Mann, hat mir versichert, es sei ein calvinistischer Satz, dass
eh' es Gutes oder Böses getan hat, das Kind schon in der Wiege zur ewigen Seligkeit
bestimmt oder der Hölle verfallen sei. Das ist zu schrecklich, um wahr zu sein!«
»Und doch ist es wahr«, sagte ich, des Unterrichts meines Pfarrers mich erinnernd,
»schrecklich oder nicht, es ist logisch!«
»Logisch?« fragte Boccard. »Was ist logisch?«
»Was sich nicht selbst widerspricht«, ließ sich der Rat vernehmen, den mein Eifer zu
belustigen schien.
»Die Gottheit ist allwissend und allmächtig«, fuhr ich mit Siegesgewissheit fort, »was sie
voraussieht und nicht hindert, ist ihr Wille, demnach ist allerdings unser Schicksal schon in
der Wiege entschieden.«
»Ich würde Euch das gern umstoßen«, sagte Boccard, »wenn ich mich jetzt nur auf das
Argument meines Oheims besinnen könnte! Denn er hatte ein treffliches Argument
dagegen...«
»Ihr tätet mir einen Gefallen«, meinte der Rat, »wenn es Euch gelänge, Euch dieses
trefflichen Arguments zu erinnern.« –
Der Fryburger schenkte sich den Becher voll, leerte ihn langsam und schloss die Augen.
Nach einigem Besinnen sagte er heiter: »Wenn die Herrschaften geruhen, mir nichts
einzuwerfen und mich meine Gedanken ungestört entwickeln zu lassen, so hoffe ich nicht
übel zu bestehn. Angenommen also, Herr Schadau, Ihr wäret von Eurer calvinistischen
Vorsehung seit der Wiege zur Hölle verdammt – doch bewahre mich Gott vor solcher
Unhöflichkeit – gesetzt denn, ich wäre im voraus verdammt; aber ich bin ja, Gott sei Dank,
kein Calvinist« . . . Hierauf nahm er einige Krumen des vortrefflichen Weizenbrotes,
formte sie mit den Fingern zu einem Männchen, das er auf seinen Teller setzte mit den
Worten: »Hier steht ein von Geburt an zur Hölle verdammter Calvinist. Nun gebt acht,
Schadau! – Glaubt Ihr an die zehn Gebote?«
»Wie, Herr?« fuhr ich auf.
»Nun, nun, man darf doch fragen. Ihr Protestanten habt so manches Alte abgeschafft!
Also Gott befiehlt diesem Calvinisten: Tue das! Unterlasse jenes! Ist solches Gebot nun
nicht eitel böses Blendwerk, wenn der Mann zum voraus bestimmt ist, das Gute nicht tun
zu können und das Böse tun zu müssen? Und einen solchen Unsinn mutet ihr der
höchsten Weisheit zu? Nichtig ist das, wie dies Gebilde meiner Finger!« und er schnellte
das Brotmännchen in die Höhe.
»Nicht übel!« meinte der Rat.
Während Boccard seine innere Genugtuung zu verbergen suchte, musterte ich eilig meine
Gegengründe; aber ich wusste in diesem Augenblicke nichts Triftiges zu antworten und
sagte mit einem Anfluge unmutiger Beschämung: »Das ist ein dunkler, schwerer Satz, der
sich nicht leichthin erörtern lässt. Übrigens ist seine Behauptung nicht unentbehrlich, um
den Papismus zu verwerfen, dessen augenfällige Missbräuche Ihr selbst, Boccard, nicht
leugnen könnt. Denkt an die Unsitten der Pfaffen!«
»Es gibt schlimme Vögel unter ihnen«, nickte Boccard.
»Der blinde Autoritätsglaube . . .«
»Ist eine Wohltat für menschliche Schwachheit«, unterbrach er mich, »muss es doch in
Staat und Kirche wie in dem kleinsten Rechtshandel eine letzte Instanz geben, bei der
man sich beruhigen kann!«
»Die wundertätigen Reliquien!«
»Heilten der Schatten St. Petri und die Schweißtüchlein St. Pauli Kranke«, versetzte
Boccard mit großer Gelassenheit, »warum sollten nicht auch die Gebeine der Heiligen
Wunder wirken?«
»Dieser alberne Mariendienst . . .«
Kaum war das Wort ausgesprochen, so veränderte sich das helle Angesicht des
Fryburgers, das Blut stieg ihm mit Gewalt zu Haupte, zornrot sprang er vom Sessel auf,
legte die Hand an den Degen und rief mir zu: »Wollt Ihr mich persönlich beleidigen? Ist das
Eure Absicht, so zieht!«
Auch das Fräulein hatte sich bestürzt von seinem Sitze erhoben und der Rat streckte
beschwichtigend beide Hände nach dem Fryburger aus. Ich erstaunte, ohne die Fassung
zu verlieren, über die ganz unerwartete Wirkung meiner Worte.
»Von einer persönlichen Beleidigung kann nicht die Rede sein«, sagte ich ruhig. »Wie
konnte ich ahnen, dass Ihr, Boccard, der in jeder Äußerung den Mann von Welt und
Bildung bekundet und der, wie Ihr selbst sagt, gelassen über religiöse Dinge denkt, in
diesem einzigen Punkte eine solche Leidenschaft an den Tag legen würdet.«
»So wisset Ihr denn nicht, Schadau, was im ganzen Gebiete von Fryburg und weit darüber
hinaus bekannt ist, dass Unsere liebe Frau von Einsiedeln ein Wunder an mir Unwürdigem
getan hat?«
»Nein, wahrlich nicht«, erwiderte ich. »Setzt Euch, lieber Boccard, und erzählt uns das.«
»Nun, die Sache ist weltkundig und abgemalt auf einer Votivtafel im Kloster selbst.
In meinem dritten Jahre befiel mich eine schwere Krankheit und ich blieb infolge
derselben an allen Gliedern gelähmt. Alle erdenklichen Mittel wurden vergeblich
angewendet, aber kein Arzt wusste Rat. Endlich tat meine liebe gute Mutter barfuß für
mich eine Wallfahrt nach Einsiedeln. Und, siehe da, es geschah ein Gnadenwunder! Von
Stund an ging es besser mit mir, ich erstarkte und gedieh und bin heute, wie Ihr seht, ein
Mann von gesunden und geraden Gliedern! Nur der guten Dame von Einsiedeln danke ich
es, wenn ich heute meiner Jugend froh bin und nicht als ein unnützer, freudeloser
Krüppel mein Herz in Gram verzehre. So werdet ihr es begreifen, liebe Herrn, und
natürlich finden, dass ich meiner Helferin zeitlebens zu Dank verbunden und herzlich
zugetan bleibe.«
Mit diesen Worten zog er eine seidene Schnur, die er um den Hals trug und an der ein
Medaillon hing, aus dem Wams hervor und küsste es mit Inbrunst.
Herr Chatillon, der ihn mit einem seltsamen Gemisch von Spott und Rührung betrachtete,
begann nun in seiner verbindlichen Weise: »Aber glaubt Ihr wohl, Herr Boccard, dass jede
Madonna diese glückliche Kur an Euch hätte verrichten können?«
»Nicht doch!« versetzte Boccard lebhaft, »die Meinigen versuchten es an manchem
Gnadenorte, bis sie an die rechte Pforte klopften. Die Liebe Frau von Einsiedeln ist eben
einzig in ihrer Art.«
»Nun«, fuhr der alte Franzose lächelnd fort, »so wird es leicht sein, Euch mit Euerm
Landsmanne zu versöhnen, wenn dies bei Eurem wohlwollenden Gemüt und heitern
Naturell, wovon Ihr uns allen schon Proben gegeben habt, noch notwendig sein sollte.
Herr Schadau wird seinem harten Urteile über den Mariendienst in Zukunft nicht
vergessen die Klausel anzuhängen: mit ehrenvoller Ausnahme der lieben Frau von
Einsiedeln.«
»Dazu bin ich gerne bereit«, sagte ich auf den Ton des alten Herrn eingehend, freilich
nicht ohne eine innere Wallung gegen seinen Leichtsinn.
Da ergriff der gutmütige Boccard meine Hand und schüttelte sie treuherzig. Das Gespräch
nahm eine andere Wendung und bald erhob sich der junge Fryburger, gute Nacht
wünschend und sich beurlaubend, da er morgen in der ersten Frühe aufzubrechen
gedenke.
Nun erst, da das erregte Hin- und Herreden ein Ende genommen hatte, richtete ich meine
Blicke aufmerksamer auf das junge Mädchen, das unserm Gespräch stillschweigend mit
großer Spannung gefolgt war, und erstaunte über ihre Unähnlichkeit mit ihrem Vater
oder Oheim. Der alte Rat hatte ein fein geschnittenes, fast furchtsames Gesicht, welches
kluge, dunkle Augen bald wehmütig, bald spöttisch, immer geistvoll beleuchteten; die
junge Dame dagegen war blond und ihr unschuldiges, aber entschlossenes Antlitz
beseelten wunderbar strahlende blaue Augen.
»Darf ich Euch fragen, junger Mann«, begann der Parlamentrat, »was Euch nach Paris
führt? Wir sind Glaubensgenossen und wenn ich Euch einen Dienst leisten kann, so
verfügt über mich.«
»Herr«, erwiderte ich, »als Ihr den Namen Chatillon ausspracht, geriet mein Herz in
Bewegung. Ich bin ein Soldatenkind und will in den Krieg, mein väterliches Handwerk
erlernen. Ich bin ein eifriger Protestant und möchte für die gute Sache so viel tun, als in
meinen Kräften steht. Diese beiden Ziele habe ich erreicht, wenn mir vergönnt ist, unter
den Augen des Admirals zu dienen und zu fechten. Könnt Ihr mir dazu verhelfen, so
erweist Ihr mir den größten Dienst.« –
Jetzt öffnete das Mädchen den Mund und fragte: »Habt Ihr denn eine so große Verehrung
für den Herrn Admiral?«
»Er ist der erste Mann der Welt!« antwortete ich feurig.
»Nun, Gasparde«, fiel der Alte ein, »bei so vortrefflichen Gesinnungen dürftest du für den
jungen Herrn ein Fürwort bei deinem Paten einlegen.«
»Warum nicht?« fragte Gasparde ruhig, »wenn er so brav ist, wie er das Aussehen hat. Ob
aber mein Fürwort fruchten wird, das ist die Frage. Der Herr Admiral ist jetzt, am
Vorabend des flandrischen Krieges, vom Morgen bis in die Nacht in Anspruch genommen,
belagert, ruhelos, und ich weiß nicht, ob nicht schon alle Stellen vergeben sind, über die
er zu verfügen hat. Bringt Ihr nicht eine Empfehlung mit, die besser wäre als die meinige?«
»Der Name meines Vaters«, versetzte ich etwas eingeschüchtert, »ist vielleicht dem
Admiral nicht unbekannt.« –Jetzt fiel mir aufs Herz, wie schwer es dem unempfohlenen
Fremdling werden könnte, bei dem großen Feldherrn Zutritt zu erlangen, und ich fuhr
niedergeschlagen fort: »Ihr habt recht, Fräulein, ich fühle, dass ich ihm wenig bringe: ein
Herz und einen Degen, wie er über deren tausende gebietet. Lebte nur sein Bruder
Dandelot noch! Der stünde mir näher, an den würde ich mich wagen! War er doch von
Jugend auf in allen Dingen mein Vorbild: Kein Feldherr, aber ein tapferer Krieger; kein
Staatsmann, aber ein standhafter Parteigenosse; kein Heiliger, aber ein warmes treues
Herz!« –
Während ich diese Worte sprach, begann Fräulein Gasparde zu meinem Erstaunen erst
leise zu erröten und ihre mir rätselhafte Verlegenheit steigerte sich, bis sie mit Rot wie
übergossen war. Auch der alte Herr wurde sonderbarerweise verstimmt und sagte spitz:
»Was werdet Ihr wissen, ob Herr Dandelot ein Heiliger war oder nicht! Doch ich bin
schläfrig, heben wir die Sitzung auf. Kommt Ihr nach Paris, Herr Schadau, so beehrt mich
mit Euerm Besuche. Ich wohne auf der Insel St. Louis. Morgen werden wir uns wohl nicht
mehr sehen. Wir halten Rasttag und bleiben in Melun. Jetzt aber schreibt mir noch Euern
Namen in diese Brieftasche. So! Gehabt Euch wohl, gute Nacht.« –
Viertes Kapitel
Am zweiten Abende nach diesem Zusammentreffen ritt ich durch das Tor St. Honoré in
Paris ein und klopfte müde, wie ich war, an die Pforte der nächsten, kaum hundert
Schritte vom Tor entfernten Herberge.
Die erste Woche verging mir in der Betrachtung der mächtigen Stadt und im vergeblichen
Aufsuchen eines Waffengenossen meines Vaters, dessen Tod ich erst nach mancher
Anfrage in Erfahrung brachte. Am achten Tage machte ich mich mit pochendem Herzen
auf den Weg nach der Wohnung des Admirals, die mir unfern vom Louvre in einer engen
Straße gewiesen wurde.
Es war ein finsteres, altertümliches Gebäude und der Pförtner empfing mich unfreundlich,
ja misstrauisch. Ich musste meinen Namen auf ein Stück Papier schreiben, das er zu
seinem Herrn trug, dann wurde ich eingelassen und trat durch ein großes Vorgemach, das
mit vielen Menschen gefüllt war, Kriegern und Hofleuten, die den durch ihre Reihen
Gehenden mit scharfen Blicken musterten, in das kleine Arbeitszimmer des Admirals. Er
war mit Schreiben beschäftigt und winkte mir zu warten, während er einen Brief
beendigte. Ich hatte Muße, sein Antlitz, welches sich mir durch einen gelungenen,
ausdrucksvollen Holzschnitt, der bis in die Schweiz gelangt war, unauslöschlich
eingeprägt, mit Rührung zu betrachten.
Der Admiral mochte damals fünfzig Jahre zählen, aber seine Haare waren schneeweiß
und eine fieberische Röte durchglühte die abgezehrten Wangen. Auf seiner mächtigen
Stirn, auf den magern Händen traten die blauen Adern hervor und ein furchtbarer Ernst
sprach aus seiner Miene. Er schaute wie ein Richter in Israel.
Nachdem er sein Geschäft beendigt hatte, trat er zu mir in die Fensternische und heftete
seine großen blauen Augen durchdringend auf die meinigen.
»Ich weiß, was Euch herführt«, sagte er, »Ihr wollt der guten Sache dienen. Bricht der
Krieg aus, so gebe ich Euch eine Stelle in meiner deutschen Reiterei. Inzwischen – seid Ihr
der Feder mächtig? Ihr versteht Deutsch und Französisch?« –
Ich verneigte mich bejahend.
»Inzwischen will ich Euch in meinem Kabinett beschäftigen. Ihr könnt mir nützlich sein! So
seid mir denn willkommen. Ich erwarte Euch morgen um die achte Stunde. Seid
pünktlich.« –
Nun entließ er mich mit einer Handbewegung und wie ich mich vor ihm verbeugte, fügte
er mit großer Freundlichkeit bei:
»Vergesst nicht den Rat Chatillon zu besuchen, mit dem Ihr unterwegs bekannt geworden
seid.«
Als ich wieder auf der Straße war und dem Erlebten nachsinnend den Weg nach meiner
Herberge einschlug, wurde mir klar, dass ich für den Admiral kein Unbekannter mehr war
und ich konnte nicht im Zweifel sein, wem ich es zu verdanken hatte. Die Freude, an ein
ersehntes Ziel, das mir schwer zu erreichen schien, so leicht gelangt zu sein, war mir von
guter Vorbedeutung für meine beginnende Laufbahn, und die Aussicht, unter den Augen
des Admirals zu arbeiten, gab mir ein Gefühl von eigenem Wert, das ich bisher noch nicht
gekannt hatte. Alle diese glücklichen Gedanken traten aber fast gänzlich zurück vor
etwas, das mich zugleich anmutete und quälte, lockte und beunruhigte, etwas unendlich
Fragwürdigem, von dem ich mir durchaus keine Rechenschaft zu geben wusste. Jetzt
nach langem vergeblichen Suchen wurde es mir plötzlich klar. Es waren die Augen des
Admirals, die mir nachgingen. Und warum verfolgten sie mich? Weil es ihre Augen waren.
Kein Vater, keine Mutter konnten ihrem Kinde getreuer diesen Spiegel der Seele
vererben! Ich geriet in eine unsagbare Verwirrung. Sollten, konnten ihre Augen von den
seinigen abstammen? War das möglich? Nein, ich hatte mich getäuscht. Meine
Einbildungskraft hatte mir eine Tücke gespielt und um diese Gauklerin durch die
Wirklichkeit zu widerlegen, beschloss ich eilig in meine Herberge zurückzukehren und
dann auf der Insel St. Louis meine Bekannten von den drei Lilien aufzusuchen.
Als ich eine Stunde später das hohe schmale Haus des Parlamentrats betrat, das, dicht an
der Brücke St. Michel gelegen, auf der einen Seite in die Wellen der Seine, auf der andern
über eine Seitengasse hinweg in die gotischen Fenster einer kleinen Kirche blickte, fand
ich die Türen des untern Stockwerks verschlossen und als ich das zweite betrat, stand ich
unversehens vor Gasparde, die an einer offenen Truhe beschäftigt schien.
»Wir haben Euch erwartet«, begrüßte sie mich, »und ich will Euch zu meinem Ohm führen,
der sich freuen wird, Euch zu sehn.«
Der Alte saß behaglich im Lehnstuhle, einen großen Folianten durchblätternd, den er auf
die dazu eingerichtete Seitenlehne stützte. Das zweite Gemach war mit Büchern gefüllt,
die in schön geschnitzten Eichenschränken standen. Statuetten, Münzen, Kupferstiche
bevölkerten, jedes an der geeigneten Stelle, diese friedliche Gedankenstätte. Der
gelehrte Herr hieß mich, ohne sich zu erheben, einen Sitz an seine Seite zu rücken, grüßte
mich als alten Bekannten und vernahm mit sichtlicher Freude den Bericht über meinen
Eintritt in die Bedienung des Admirals.
»Gebe Gott, dass es ihm diesmal gelinge!« sagte er. »Uns Evangelischen, die wir leider am
Ende nur eine Minderheit unter der Bevölkerung unserer Heimat sind, ohne versuchten
Bürgerkrieg Luft zu schaffen, gab es zwei Wege, nur zwei Wege: entweder auszuwandern
über den Ozean in das von Kolumbus entdeckte Land – diesen Gedanken hat der Admiral
lange Jahre in seinem Gemüte bewegt und, hätten sich nicht unerwartete Hindernisse
erhoben, wer weiß! – oder das Nationalgefühl entflammen und einen großen, der
Menschheit heilbringenden auswärtigen Krieg führen, wo Katholik und Hugenott Seite an
Seite fechtend in der Vaterlandsliebe zu Brüdern werden und ihren Religionshass
verlernen könnten. Das will der Admiral jetzt, und mir, dem Manne des Friedens, brennt
der Boden unter den Füßen, bis der Krieg erklärt ist. Die Niederlande vom spanischen
Joche befreiend werden unsre Katholiken widerwillig in die Strömung der Freiheit
gerissen werden. Aber es eilt! Glaubt mir, Schadau, über Paris brütet eine dumpfe Luft.
Die Guisen suchen einen Krieg zu vereiteln, der den jungen König selbständig und sie
entbehrlich machen würde. Die Königin Mutter ist zweideutig – durchaus keine Teufelin,
wie die Heißsporne unsrer Partei sie schildern, aber sie windet sich durch von heute auf
morgen, selbstsüchtig nur auf das Interesse ihres Hauses bedacht. Gleichgültig gegen den
Ruhm Frankreichs, ohne Sinn für Gutes und Böses, hält sie das Entgegengesetzte in ihren
Händen und der Zufall kann die Wahl entscheiden. Feig und unberechenbar wie sie ist,
wäre sie freilich des Schlimmsten fähig! – Der Schwerpunkt liegt in dem Wohlwollen des
jungen Königs für Coligny, und dieser König. . .« hier seufzte Chatillon, »nun, ich will
Euerm Urteil nicht vorgreifen! Da er den Admiral nicht selten besucht, so werdet Ihr mit
eigenen Augen sehen.«
Der Greis schaute vor sich hin, dann plötzlich den Gegenstand des Gesprächs wechselnd
und den Titel des Folianten aufblätternd frug er mich: »Wisst Ihr, was ich da lese? Seht
einmal!«
Ich las in lateinischer Sprache: Die Geographie des Ptolemäus, herausgegeben von
Michael Servetus.
»Doch nicht der in Genf verbrannte Ketzer?« frug ich bestürzt.
»Kein anderer. Er war ein vorzüglicher Gelehrter, ja, soweit ich es beurteilen kann, ein
genialer Kopf, dessen Ideen in der Naturwissenschaft vielleicht später mehr Glück
machen werden, als seine theologischen Grübeleien. – Hättet Ihr ihn auch verbrannt,
wenn Ihr im Genfer Rat gesessen hättet?«
»Gewiss, Herr!« antwortete ich mit Überzeugung. »Bedenkt nur das eine: was war die
gefährlichste Waffe, mit welcher die Papisten unsern Calvin bekämpften? Sie warfen ihm
vor, seine Lehre sei Gottesleugnung. Nun kommt ein Spanier nach Genf, nennt sich
Calvins Freund, veröffentlicht Bücher, in welchen er die Dreieinigkeit leugnet, wie wenn
das nichts auf sich hätte, und missbraucht die evangelische Freiheit. War es nun Calvin
nicht den Tausenden und Tausenden schuldig, die für das reine Wort litten und bluteten,
diesen falschen Bruder vor den Augen der Welt aus der evangelischen Kirche zu stoßen
und dem weltlichen Richter zu überliefern, damit keine Verwechslung zwischen uns und
ihm möglich sei und wir nicht schuldigerweise fremder Gottlosigkeit geziehen werden?«
Chatillon lächelte wehmütig und sagte: »Da Ihr Euer Urteil über Servedo so trefflich
begründet habt, müsst Ihr mir schon den Gefallen tun, diesen Abend bei mir zu bleiben.
Ich führe Euch an ein Fenster, das auf die Laurentiuskapelle hinüberschaut, deren
Nachbarschaft wir uns hier erfreuen und wo der berühmte Franziskaner Panigarola heute
abend predigen wird. Da werdet Ihr vernehmen, wie man Euch das Urteil spricht. Der
Vater ist ein gewandter Logiker und ein feuriger Redner. Ihr werdet keines seiner Worte
verlieren und – Eure Freude dran haben. – Ihr wohnt noch im Wirtshause? Ich muss Euch
doch für ein dauerndes Obdach sorgen – was rätst du, Gasparde?« wandte er sich an
diese, die eben eingetreten war.
Gasparde antwortete heiter: »Der Schneider Gilbert, unser Glaubensgenosse, der eine
zahlreiche Familie zu ernähren hat, wäre wohl froh und hochgeehrt, wenn er dem Herrn
Schadau sein bestes Zimmer abtreten dürfte. Und das hätte noch das Gute, dass der
redliche, aber furchtsame Christ unsren evangelischen Gottesdienst wieder zu besuchen
wagte, von diesem tapferen Kriegsmanne begleitet. – Ich gehe gleich hinüber und will
ihm den Glücksfall verkündigen.« – Damit eilte die Schlanke weg.
So kurz ihre Erscheinung gewesen war, hatte ich doch aufmerksam forschend in ihre
Augen geschaut und ich geriet in neues Staunen. Von einer unwiderstehlichen Gewalt
getrieben, mir ohne Aufschub dieses Rätsels Lösung zu verschaffen, kämpfte ich nur mit
Mühe eine Frage nieder, die gegen allen Anstand verstoßen hätte, da kam mir der Alte
selbst zu Hilfe, indem er spöttisch fragte: »Was findet Ihr Besonderes an dem Mädchen,
dass Ihr es so starr betrachtet?«
»Etwas sehr Besonderes«, erwiderte ich entschlossen, »die wunderbare Ähnlichkeit ihrer
Augen mit denen des Admirals.«
Wie wenn er eine Schlange berührt hätte, fuhr der Rat zurück und sagte gezwungen
lächelnd: »Gibt es keine Naturspiele, Herr Schadau? Wollt Ihr dem Leben verbieten,
ähnliche Augen hervorzubringen?«
»Ihr habt mich gefragt, was ich Besonderes an dem Fräulein finde«, versetzte ich
kaltblütig, »diese Frage habe ich beantwortet. Erlaubt mir eine Gegenfrage: Da ich hoffe,
Euch weiterhin besuchen zu dürfen, der ich mich von Euerm Wohlwollen und von Euerm
überlegenen Geiste angezogen fühle, wie wünscht Ihr, dass ich fortan dieses schöne
Fräulein begrüße? Ich weiß, dass sie von ihrem Paten Coligny den Namen Gasparde führt,
aber Ihr habt mir noch nicht gesagt, ob ich die Gunst habe, mit Eurer Tochter oder mit
einer Eurer Verwandten zu sprechen.«
»Nennt sie, wie Ihr wollt!« murmelte der Alte verdrießlich und fing wieder an, in der
Geographie des Ptolemäus zu blättern.
Durch dies absonderliche Benehmen ward ich in meiner Vermutung bestärkt, dass hier ein
Dunkel walte, und begann die kühnsten Schlüsse zu ziehn. In der kleinen Druckschrift, die
der Admiral über seine Verteidigung von St. Quentin veröffentlicht hatte und die ich
auswendig wusste, schloss er ziemlich unvermittelt mit einigen geheimnisvollen Worten,
worin er seinen Übertritt zum Evangelium andeutete. Hier war von der Sündhaftigkeit der
Welt die Rede, an welcher er bekannte, auch selber teilgenommen zu haben. Konnte nun
Gaspardes Geburt nicht im Zusammenhange stehn mit diesem vorevangelischen Leben?
So streng ich sonst in solchen Dingen dachte, hier war mein Eindruck ein anderer; es lag
mir diesmal ferne, einen Fehltritt zu verurteilen, der mir die unglaubliche Möglichkeit
auftat, mich der Blutsverwandten des erlauchten Helden zu nähern, – wer weiß, vielleicht
um sie zu werben. Während ich meiner Einbildungskraft die Zügel schießen ließ, glitt
wahrscheinlich ein glückliches Lächeln durch meine Züge, denn der Alte, der mich
insgeheim über seinen Folianten weg beobachtet hatte, wandte sich gegen mich mit
unerwartetem Feuer:
»Ergötzt es Euch, junger Herr, an einem großen Mann eine Schwäche entdeckt zu haben,
so wisst: Er ist makellos! – Ihr seid im Irrtum. Ihr betrügt Euch!«
Hier erhob er sich wie unwillig und schritt das Gemach auf und nieder, dann, plötzlich den
Ton wechselnd, blieb er dicht vor mir stehen, indem er mich bei der Hand fasste: »Junger
Freund«, sagte er, »in dieser schlimmen Zeit, wo wir Evangelischen aufeinander
angewiesen sind und uns wie Brüder betrachten sollen, wächst das Vertrauen geschwind;
es darf keine Wolke zwischen uns sein. Ihr seid ein braver Mann und Gasparde ist ein
liebes Kind. Gott verhüte, dass etwas Verdecktes Eure Begegnung unlauter mache. Ihr
könnt schweigen, das trau' ich Euch zu; auch ist die Sache ruchbar und könnte Euch aus
hämischem Munde zu Ohren kommen. So hört mich an!
Gasparde ist weder meine Tochter, noch meine Nichte; aber sie ist bei mir aufgewachsen
und gilt als meine Verwandte. Ihre Mutter, die kurze Zeit nach der Geburt des Kindes
starb, war die Tochter eines deutschen Reiteroffiziers, den sie nach Frankreich begleitet
hatte. Gaspardes Vater aber«, hier dämpfte er die Stimme, –»ist Dandelot, des Admirals
jüngerer Bruder, dessen wunderbare Tapferkeit und frühes Ende Euch nicht unbekannt
sein wird. Jetzt wisst Ihr genug. Begrüßt Gasparde als meine Nichte, ich liebe sie wie mein
eigenes Kind. Im übrigen haltet reinen Mund, und begegnet ihr unbefangen.«
Er schwieg und ich brach das Schweigen nicht, denn ich war ganz erfüllt von der
Mitteilung des alten Herrn. Jetzt wurden wir, uns beiden nicht unwillkommen,
unterbrochen und zum Abendtische gerufen, wo mir die holdselige Gasparde den Platz an
ihrer Seite anwies. Als sie mir den vollen Becher reichte und ihre Hand die meinige
berührte, durchrieselte mich ein Schauer, dass in diesen jungen Adern das Blut meines
Helden rinne. Auch Gasparde fühlte, dass ich sie mit andern Augen betrachte als kurz
vorher, sie sann und ein Schatten der Befremdung glitt über ihre Stirne, die aber schnell
wieder hell wurde, als sie mir fröhlich erzählte, wie hoch sich der Schneider Gilbert geehrt
fühle, mich zu beherbergen.
»Es ist wichtig«, sagte sie scherzend, »dass Ihr einen christlichen Schneider an der Hand
habt, der Euch die Kleider streng nach hugenottischem Schnitte verfertigt. Wenn Euch
Pate Coligny, der jetzt beim König so hoch in Gunsten steht, bei Hofe einführt und die
reizenden Fräulein der Königin Mutter Euch umschwärmen, da wäret Ihr verloren, wenn
nicht Eure ernste Tracht sie gebührend in Schranken hielte.«
Während dieses heitern Gespräches vernahmen wir über die Gasse, von Pausen
unterbrochen, bald lang gezogene, bald heftig ausgestoßene Töne, die den verwehten
Bruchstücken eines rednerischen Vortrags glichen, und als bei einem zufälligen
Schweigen ein Satz fast unverletzt an unser Ohr schlug, erhob sich Herr Chatillon unwillig.
»Ich verlasse Euch!« sagte er, »der grausame Hanswurst da drüben verjagt mich.« – Mit
diesen Worten ließ er uns allein.
»Was bedeutet das?« fragte ich Gasparde.
»Ei«, sagte sie, »in der Laurentiuskirche drüben predigt Pater Panigarola. Wir können von
unseren Fenster mitten in das andächtige Volk hineinsehen und auch den wunderlichen
Pater erblicken. Den Oheim empört sein Gerede, mich langweilt der Unsinn, ich höre gar
nicht hin, habe ich ja Mühe in unsrer evangelischen Versammlung, wo doch die lautere
Wahrheit gepredigt wird, mit Andacht und Erbauung, wie es dem heiligen Gegenstande
geziemt, bis ans Ende aufzuhorchen.« –
Wir waren unterdessen ans Fenster getreten, das Gasparde ruhig öffnete.
Es war eine laue Sommernacht und auch die erleuchteten Fenster der Kapelle standen
offen. Im schmalen Zwischenraume hoch über uns flimmerten Sterne. Der Pater auf der
Kanzel, ein junger blasser Franziskanermönch mit südlich feurigen Augen und zuckendem
Mienenspiel, gebärdete sich so seltsam heftig, dass er mir erst ein Lächeln abnötigte; bald
aber nahm seine Rede, von der mir keine Silbe entging, meine ganze Aufmerksamkeit in
Anspruch.
»Christen«, rief er, »was ist die Duldung, welche man von uns verlangt? Ist sie christliche
Liebe? Nein, sage ich, dreimal nein! Sie ist eine fluchwürdige Gleichgültigkeit gegen das
Los unsrer Brüder! Was würdet ihr von einem Menschen sagen, der einen andern am
Rande des Abgrunds schlummern sähe und ihn nicht weckte und zurückzöge? Und doch
handelt es sich in diesem Falle nur um Leben und Sterben des Leibes. Um wieviel weniger
dürfen wir, wo ewiges Heil oder Verderben auf dem Spiele steht, ohne Grausamkeit
unsern Nächsten seinem Schicksal überlassen! Wie? es wäre möglich, mit den Ketzern zu
wandeln und zu handeln, ohne den Gedanken auftauchen zu lassen, dass ihre Seelen in
tödlicher Gefahr schweben? Gerade unsre Liebe zu ihnen gebietet uns, sie zum Heil zu
überreden und, sind sie störrisch, zum Heil zu zwingen, und sind sie unverbesserlich, sie
auszurotten, damit sie nicht durch ihr schlechtes Beispiel ihre Kinder, ihre Nachbarn, ihre
Mitbürger in die ewigen Flammen mitreißen! Denn ein christliches Volk ist ein Leib, von
dem geschrieben steht: Wenn dich dein Auge ärgert, so reiße es aus! Wenn dich deine
rechte Hand ärgert, so haue sie ab und wirf sie von dir, denn, siehe, es ist dir besser, dass
eines deiner Glieder verderbe, als dass dein ganzer Leib in das nie verlöschende Feuer
geworfen werde!«
Dies ungefähr war der Gedankengang des Paters, den er aber mit einer leidenschaftlichen
Rhetorik und ungezügelten Gebärden zu einem wilden Schauspiel verkörperte. War es
nun das ansteckende Gift des Fanatismus oder das grelle von oben fallende Lampenlicht,
die Gesichter der Zuhörer nahmen einen so verzerrten und wie mir schien, blutdürstigen
Ausdruck an, dass mir auf einmal klar wurde, auf welchem Vulkan wir Hugenotten in Paris
stünden.
Gasparde wohnte der unheimlichen Szene fast gleichgültig bei und richtete ihr Auge auf
einen schönen Stern, der über dem Dach der Kapelle mild leuchtend aufstieg.
Nachdem der Italiener seine Rede mit einer Handbewegung geschlossen, die mir eher
einer Fluchgebärde als einem Segen zu gleichen schien, begann das Volk in dichtem
Gedränge aus der Pforte zu strömen, an deren beiden Seiten zwei große brennende
Pechfackeln in eiserne Ringe gesteckt wurden. Ihr blutiger Schein beleuchtete die
Heraustretenden und erhellte zeitweise auch Gaspardes Antlitz, die das Volksgewühle mit
Neugierde betrachtete, während ich mich in den Schatten zurückgelehnt hatte. Plötzlich
sah ich sie erblassen, dann flammte ihr Blick empört auf und als der meinige ihm folgte,
sah ich einen hohen Mann in reicher Kleidung ihr mit halb herablassender halb gieriger
Gebärde einen Kuss zuwerfen. Gasparde bebte vor Zorn. Sie ergriff meine Hand und
indem sie mich an ihre Seite zog, sprach sie mit vor Erregung zitternder Stimme in die
Gasse hinunter:
»Du beschimpfst mich, Memme, weil du mich schutzlos glaubst! Du irrst dich! Hier steht
einer, der dich züchtigen wird, wenn du noch einen Blick wagst!« –
Hohnlachend schlug der Kavalier, der wenn nicht ihre Rede, doch die ausdrucksvolle
Gebärde verstanden hatte, seinen Mantel um die Schulter und verschwand in der
strömenden Menge.
Gaspardes Zorn löste sich in einen Tränenstrom auf und sie erzählte mir schluchzend, wie
dieser Elende, der zu dem Hofstaate des Herzogs von Anjou, des königlichen Bruders,
gehöre, schon seit dem Tage ihrer Ankunft sie auf der Straße verfolge, wenn sie einen
Ausgang wage, und sich sogar durch das Begleit ihres Oheims nicht abhalten lasse, ihr
freche Grüße zuzuwerfen.
»Ich mag dem lieben Ohm bei seiner erregbaren und etwas ängstlichen Natur nichts
davon sagen. Es würde ihn beunruhigen, ohne dass er mich beschützen könnte. Ihr aber
seid jung und führt einen Degen, ich zähle auf Euch! Die Unziemlichkeit muss um jeden
Preis ein Ende nehmen. – Nun lebt wohl, mein Ritter!« fügte sie lächelnd hinzu, während
ihre Tränen noch flossen, »und vergesst nicht, meinem Ohm gute Nacht zu sagen!« –
Ein alter Diener leuchtete mir in das Gemach seines Herrn, bei dem ich mich beurlaubte.
»Ist die Predigt vorüber?« fragte der Rat. »In jüngern Tagen hätte mich das Fratzenspiel
belustigt; jetzt aber, besonders seit ich in Nimes, wo ich das letzte Jahrzehnt mit
Gasparde zurückgezogen gelebt habe, im Namen Gottes Mord und Auflauf anstiften sah,
kann ich keinen Volkshaufen um einen aufgeregten Pfaffen versammelt sehen ohne die
Beängstigung, dass sie nun gleich etwas Verrücktes oder Grausames unternehmen
werden. Es fällt mir auf die Nerven.« –
Als ich die Kammer meiner Herberge betrat, warf ich mich in den alten Lehnstuhl, der
außer einem Feldbette ihre ganze Bequemlichkeit ausmachte. Die Erlebnisse des Tages
arbeiteten in meinem Kopfe fort und an meinem Herzen zehrte es wie eine zarte aber
scharfe Flamme. Die Turmuhr eines nahen Klosters schlug Mitternacht, meine Lampe, die
ihr Öl aufgebraucht hatte, erlosch, aber taghell war es in meinem Innern.
Dass ich Gaspardes Liebe gewinnen könne, schien mir nicht unmöglich, Schicksal, dass ich
es musste, und Glück, mein Leben dafür einzusetzen.
Fünftes Kapitel
Am nächsten Morgen zur anberaumten Stunde stellte ich mich bei dem Admiral ein und
fand ihn in einem abgegriffenen Taschenbuche blätternd.
»Dies sind«, begann er, »meine Aufzeichnungen aus dem Jahre siebenundfünfzig, in
welchem ich St. Quentin verteidigte und mich dann den Spaniern ergeben musste. Da
steht unter den tapfersten meiner Leute, mit einem Kreuze bezeichnet, der Name Sadow,
mir dünkt, es war ein Deutscher. Sollte dieser Name mit dem Eurigen derselbe sein?«
»Kein anderer als der Name meines Vaters! Er hatte die Ehre, unter Euch zu dienen und
vor Euern Augen zu fallen.« –
»Nun denn«, fuhr der Admiral fort, »das bestärkt mich in dem Vertrauen, das ich in Euch
setze. Ich bin von Leuten, mit denen ich lange zusammenlebte, verraten worden, Euch
trau' ich auf den ersten Anblick und ich glaube, er wird mich nicht betrügen.« –
Mit diesen Worten ergriff er ein Papier, das mit seiner großen Handschrift von oben bis
unten bedeckt war: »Schreibt mir das ins Reine, und wenn Ihr Euch daraus über manches
unterrichtet, das Euch das Gefährliche unsrer Zustände zeigt, so lasst Euch nicht
anfechten. Alles Große und Entscheidende ist ein Wagnis. Setzt Euch und schreibt.« –
Was mir der Admiral übergeben hatte, war ein Memorandum, das er an den Prinzen von
Oranien richtete. Mit steigendem Interesse folgte ich dem Gange der Darstellung, die mit
der größten Klarheit, wie sie dem Admiral eigen war, sich über die Zustände von
Frankreich verbreitete. Den Krieg mit Spanien um jeden Preis und ohne jeden Aufschub
herbeizuführen, dies, schrieb der Admiral, ist unsre Rettung. Alba ist verloren, wenn er
von uns und von Euch zugleich angegriffen wird. Mein Herr und König will den Krieg; aber
die Guisen arbeiten mit aller Anstrengung dagegen; die katholische Meinung, von ihnen
aufgestachelt, hält die französische Kriegslust im Schach, und die Königin Mutter, welche
den Herzog von Anjou dem Könige auf unnatürliche Weise vorzieht, will nicht, dass dieser
ihren Liebling verdunkle, indem er sich im Feld auszeichnet, wonach mein Herr und König
Verlangen trägt, und was ich ihm als treuer Untertan gönne und, so viel an mir liegt,
verschaffen möchte.
Mein Plan ist folgender: Eine hugenottische Freischar ist in diesen Tagen in Flandern
eingefallen. Kann sie sich gegen Alba halten – und dies hängt zum großen Teil davon ab,
dass Ihr gleichzeitig den spanischen Feldherrn von Holland her angreift – so wird dieser
Erfolg den König bewegen, alle Hindernisse zu überwinden und entschlossen vorwärts zu
gehn. Ihr kennt den Zauber eines ersten Gelingens.
Ich war mit dem Schreiben zu Ende, als ein Diener erschien und dem Admiral etwas
zuflüsterte. Ehe dieser Zeit hatte, sich von seinem Sitze zu erheben, trat ein sehr junger
Mann von schlanker, kränklicher Gestalt heftig erregt ins Gemach und eilte mit den
Worten auf ihn zu:
»Guten Morgen, Väterchen! Was gibt es Neues? Ich verreise auf einige Tage nach
Fontainebleau. Habt Ihr Nachricht aus Flandern?« Jetzt wurde er meiner gewahr und auf
mich hindeutend frug er herrisch: »Wer ist der da?« –
»Mein Schreiber, Sire, der sich gleich entfernen wird, wenn Eure Majestät es wünscht.«
»Weg mit ihm!« rief der junge König, »ich will nicht belauscht sein, wenn ich
Staatsgeschäfte behandle! Vergesst Ihr, dass wir von Spähern umstellt sind? – Ihr seid zu
arglos, lieber Admiral!« Jetzt warf er sich in einen Lehnstuhl und starrte ins Leere; dann,
plötzlich aufspringend, klopfte er Coligny auf die Schulter und als hätte er mich, dessen
Entfernung er eben gefordert, vergessen, brach er in die Worte aus:
»Bei den Eingeweiden des Teufels! Wir erklären seiner katholischen Majestät nächstens
den Krieg!« Nun aber schien er wieder in den früheren Gedankengang zurückzufallen,
denn er flüsterte mit geängstigter Miene: »Neulich noch, erinnert Ihr Euch? als wir beide
in meinem Kabinett Rat hielten, da raschelte es hinter der Tapete. Ich zog den Degen,
wisst Ihr? und durchstach sie zweimal, dreimal! Da hob sie sich, und wer trat darunter
hervor? Mein lieber Bruder, der Herzog von Anjou mit einem Katzenbuckel!« Hier machte
der König eine nachahmende Gebärde und brach in unheimliches Lachen aus. »Ich aber«,
fuhr er fort, »maß ihn mit einem Blicke, den er nicht ertragen konnte und der ihn flugs aus
der Türe trieb.« Hier nahm das bleiche Antlitz einen Ausdruck so wilden Hasses an, dass
ich es erschrocken anstarrte.
Coligny, für den ein solcher Auftritt wohl nichts Ungewöhnliches hatte, dem aber die
Gegenwart eines Zeugen peinlich sein mochte, entfernte mich mit einem Winke. »Ich
sehe, Eure Arbeit ist vollendet«, sagte er, »auf Wiedersehen morgen.« –
Während ich meinen Heimweg einschlug, ergriff mich ein unendlicher Jammer. Dieser
unklare Mensch also war es, von dem die Entscheidung der Dinge abhing. – Wo sollte bei
so knabenhafter Unreife und flackernder Leidenschaftlichkeit die Stetigkeit des
Gedankens, die Festigkeit des Entschlusses herkommen? Konnte der Admiral für ihn
handeln? Aber wer bürgte dafür, dass nicht andere, feindliche Einflüsse sich in der
nächsten Stunde schon dieses verworrenen Gemütes bemächtigten! Ich fühlte, dass nur
dann Sicherheit war, wenn Coligny in seinem König eine selbstbewusste Stütze fand;
besaß er in ihm nur ein Werkzeug, so konnte ihm dieses morgen entrissen werden.
In so böse Zweifel verstrickt, verfolgte ich meinen Weg, als sich eine Hand auf meine
Schulter legte. Ich wandte mich und blickte in das wolkenlose Gesicht meines
Landsmannes Boccard, der mich umhalste und mit den lebhaften Freudenbezeigungen
begrüßte.
»Willkommen, Schadau, in Paris!« rief er, »Ihr seid, wie ich sehe, müßig, das bin ich auch,
und da der König eben verritten ist, so müsst Ihr mit mir kommen, ich will Euch das
Louvre zeigen. Ich wohne dort, da meine Kompagnie die Wache der innern Gemächer hat.
– Es wird Euch hoffentlich nicht belästigen«, fuhr er fort, da er in meinen Mienen kein
ungemischtes Vergnügen über seinen Vorschlag las, »mit einem königlichen Schweizer
Arm in Arm zu gehn? Da ja Euer Abgott Coligny die Verbrüderung der Parteien wünscht,
so würde ihm das Herz im Leibe lachen ob der Freundschaft seines Schreibers mit einem
Leibgardisten.«
»Wer hat Euch gesagt. . .« unterbrach ich ihn erstaunt. –
»Dass Ihr des Admirals Schreiber seid?« lachte Boccard. »Guter Freund, am Hofe wird
mehr geschwatzt, als billig ist! Heute morgen beim Ballspiel war unter den
hugenottischen Hofleuten die Rede von einem Deutschen, der bei dem Admiral Gunst
gefunden hätte, und aus einigen Äußerungen über die fragliche Persönlichkeit erkannte
ich zweifellos meinen Freund Schadau. Es ist nur gut, dass Euch jenes Mal Blitz und
Donner in die drei Lilien zurückjagten, sonst wären wir uns fremd geblieben, denn Eure
Landsleute im Louvre hättet Ihr wohl schwerlich aus freien Stücken aufgesucht! Mit dem
Hauptmann Pfyffer muss ich euch gleich bekannt machen!«
Dies verbat ich mir, da Pfyffer nicht nur als ausgezeichneter Soldat, sondern auch als
fanatischer Katholik berühmt war, willigte aber gern ein, mit Boccard das Innere des
Louvre zu besichtigen, da ich den viel gepriesenen Bau bis jetzt nur von außen betrachtet
hatte.
Wir schritten nebeneinander durch die Straßen und das freundliche Geplauder des
lebenslustigen Fryburgers war mir willkommen, da es mich von meinen schweren
Gedanken erlöste.
Bald betraten wir das französische Königsschloss, das damals zur Hälfte aus einem
finstern mittelalterlichen Kastell, zur andern Hälfte aus einem neuen prächtigen Palast
bestand, den die Medizäerin hatte ausführen lassen. Diese Mischung zweier Zeiten
vermehrte in mir den Eindruck, der mich, seit ich Paris betreten, nie verlassen hatte, den
Eindruck des Schwankenden, Ungleichartigen, der sich widersprechenden und
miteinander ringenden Elemente.
Nachdem wir viele Gänge und eine Reihe von Gemächern durchschnitten hatten, deren
Verzierung in keckem Steinwerke und oft ausgelassener Malerei meinem
protestantischen Geschmacke fremd und zuweilen ärgerlich war, Boccard aber herzlich
belustigte, öffnete mir dieser ein Kabinett mit den Worten: »Dies ist das Studierzimmer
des Königs.« –
Da herrschte eine greuliche Unordnung. Der Boden war mit Notenheften und
aufgeblätterten Büchern bestreut. An den Wänden hingen Waffen. Auf dem kostbaren
Marmortische lag ein Waldhorn.
Ich begnügte mich, von der Türe aus einen Blick in dies Chaos zu werfen, und
weitergehend frug ich Boccard, ob der König musikalisch sei.
»Er bläst herzzerreißend«, erwiderte dieser, »oft ganze Vormittage hindurch und, was
schlimmer ist, ganze Nächte, wenn er nicht hier nebenan«, er wies auf eine andere Tür,
»vor dem Amboss steht und schmiedet, dass die Funken stieben. Jetzt aber ruhen
Waldhorn und Hammer. Er ist mit dem jungen Chateauguyon eine Wette eingegangen,
welchem von ihnen es zuerst gelinge, den Fuß im Munde das Zimmer auf und nieder zu
hüpfen. Das gibt ihm nun unglaublich zu tun.« –
Da Boccard sah, wie ich traurig wurde und es ihm auch sonst passend scheinen mochte,
das Gespräch über das gekrönte Haupt Frankreichs abzubrechen, lud er mich ein, mit ihm
das Mittagsmahl in einem nicht weit entlegenen Gasthause einzunehmen, das er mir als
ganz vorzüglich schilderte.
Um abzukürzen schlugen wir eine enge, lange Gasse ein. Zwei Männer schritten uns vom
andern Ende derselben entgegen.
»Sieh«, sagte mir Boccard, »dort kommt Graf Guiche, der berüchtigte Damenfänger und
der größte Raufer vom Hofe, und neben ihm – wahrhaftig – das ist Lignerolles! Wie darf
sich der am hellen Tage blicken lassen, da er doch ein vollgültiges Todesurteil auf dem
Halse hat!«
Ich blickte hin und erkannte in dem vornehmen der Bezeichneten den Unverschämten,
der gestern Abend im Scheine der Fackeln Gasparde mit frecher Gebärde beleidigt hatte.
Auch er schien sich meiner näherschreitend zu erinnern, denn sein Auge blieb
unverwandt auf mir haften. Wir hatten die halbe Breite der engen Gasse inne, die andere
Hälfte den uns entgegenkommenden frei lassend. Da Boccard und Lignerolles auf der
Mauerseite gingen, mussten der Graf und ich hart aneinander vorüber.
Plötzlich erhielt ich einen Stoß und hörte den Grafen sagen: »Gib Raum, verdammter
Hugenott!«
Außer mir wandte ich mich nach ihm um, da rief er lachend zurück: »Willst du dich auf der
Gasse so breit machen wie am Fenster?«
Ich wollte ihm nachstürzen, da umschlang mich Boccard und beschwor mich: »Nur hier
keine Szene! In diesen Zeiten würden wir in einem Augenblicke den Pöbel von Paris hinter
uns her haben, und, da sie dich an deinem steifen Kragen als Hugenotten erkennen
würden, wärst du unzweifelhaft verloren! Dass du Genugtuung erhalten musst, versteht
sich von selbst. Du überlässest mir die Sache, und ich will froh sein, wenn sich der
vornehme Herr zu einem ehrlichen Zweikampfe versteht. Aber an dem Schweizernamen
darf kein Makel haften und wenn ich mit dem deinigen auch mein Leben einsetzen
müsste! – Jetzt sage mir um aller Heiligen willen, bist du mit Guiche bekannt? Hast du ihn
gegen dich aufgebracht? Doch nein, das ist ja nicht möglich! Der Taugenichts war übler
Laune und wollte sie an deiner Hugenottentracht auslassen.«
Unterdessen waren wir in das Gasthaus eingetreten, wo wir rasch und in gestörter
Stimmung unser Mahl hielten.
»Ich muss meinen Kopf zusammenhalten«, sagte Boccard, »denn ich werde mit dem
Grafen einen harten Stand haben.«
Wir trennten uns, und ich kehrte in meine Herberge zurück, Boccard versprechend, ihn
dort zu erwarten. Nach Verlauf von zwei Stunden trat er in meine Kammer mit dem
Ausrufe: »Es ist gut abgelaufen! Der Graf wird sich mit dir schlagen, morgen bei
Tagesanbruch vor dem Tore St. Michel. Er empfing mich nicht unhöflich, und als ich ihm
sagte, du wärest von gutem Hause, meinte er, es sei jetzt nicht der Augenblick deinen
Stammbaum zu untersuchen, was er kennen zu lernen wünsche sei deine Klinge.«
»Und wie steht es damit?« fuhr Boccard fort, »ich bin sicher, dass du ein methodischer
Fechter bist, aber ich fürchte, du bist langsam, langsam, zumal einem so raschen Teufel
gegenüber.«
Boccards Gesicht nahm einen besorgten Ausdruck an und nachdem er nach ein paar
Übungsklingen gerufen – es befand sich zu ebener Erde neben meinem Gasthause ein
Fechtsaal – gab er mir eine derselben in die Hand und sagte: »Nun zeige deine Künste!«
Nach einigen Gängen, die ich im gewohnten Tempo durchfocht, während Boccard mich
vergeblich mit dem Rufe: Schneller, schneller! anfeuerte, warf er seine Klinge weg und
stellte sich ans Fenster, um eine Träne vor mir zu verbergen, die ich aber schon
hervordringen gesehn hatte.
Ich trat zu ihm und legte meine Hand auf seine Schulter. »Boccard«, sagte ich, »betrübe
dich nicht. Alles ist vorher bestimmt. Ist meine Todesstunde auf morgen gestellt, so
bedarf es nicht der Klinge des Grafen, um meinen Lebensfaden zu zerschneiden. Ist es
nicht so, wird mir seine gefährliche Waffe nichts anhaben können.«
»Mache mich nicht ungeduldig!« versetzte er, sich rasch nach mir umdrehend. »Jede
Minute der Frist, die uns bleibt, ist kostbar und muss benützt werden – nicht zum
Fechten, denn in der Theorie bist du unsträflich, und dein Phlegma«, hier seufzte er, »ist
unheilbar. Es gibt nur ein Mittel dich zu retten. Wende dich an Unsere liebe Frau von
Einsiedeln, und wirf mir nicht ein, du seist Protestant – einmal ist keinmal! Muss es sie
nicht doppelt rühren, wenn einer der Abtrünnigen sein Leben in ihre Hände befiehlt! Du
hast jetzt noch Zeit, für deine Rettung viele Ave Maria zu sprechen, und glaube mir, die
Gnadenmutter wird dich nicht im Stiche lassen! Überwinde dich, lieber Freund, und folge
meinem Rate.«
»Lass mich in Ruhe, Boccard!« versetzte ich, über seine wunderliche Zumutung
ungehalten und doch von seiner Liebe gerührt.
Er aber drang noch eine Weile vergeblich in mich. Dann ordneten wir das Notwendige für
morgen und er nahm Abschied. In der Türe wandte er sich noch einmal zurück und sagte:
»Nur einen Stoßseufzer, Schadau, vor dem Einschlafen!«-
Sechstes Kapitel
Am nächsten Morgen wurde ich durch eine rasche Berührung aus dem Schlafe geweckt.
Boccard stand vor meinem Lager.
»Auf!« rief er, »es eilt, wenn wir nicht zu spät kommen sollen! Ich vergaß gestern dir zu
sagen, von wem der Graf sich sekundieren lässt, – von Lignerolles. Ein Schimpf mehr,
wenn du willst! Aber es hat den Vorteil, dass im Falle du« – er seufzte – »deinen Gegner
ernstlich verwunden solltest, dieser ehrenwerte Sekundant gewiss reinen Mund halten
wird, da er tausend gute Gründe hat, die öffentliche Aufmerksamkeit in keiner Weise auf
sich zu ziehen.« –
Während ich mich ankleidete, bemerkte ich wohl, dass dem Freund eine Bitte auf dem
Herzen lag, die er mit Mühe niederkämpfte.
Ich hatte mein noch in Bern verfertigtes, nach Schweizer Sitte auf beiden Seiten mit
derben Taschen versehenes Reisewams angezogen und drückte meinen breitkrempigen
Filz in die Stirne, als mich Boccard auf einmal in großer Gemütsbewegung heftig umhalste
und, nachdem er mich geküsst, seinen Lockenkopf an meine Brust lehnte. Diese
überschwengliche Teilnahme erschien mir unmännlich und ich drückte das duftende
Haupt mit beiden Händen beschwichtigend weg. Mir deuchte, dass sich Boccard in
diesem Augenblicke etwas an meinem Wams zu schaffen machte; aber ich gab nicht
weiter darauf acht, da die Zeit drängte.
Wir gingen schweigend durch die morgenstillen Gassen, während es leise zu regnen
anfing, durchschritten das Tor, das eben geöffnet worden war, und fanden in kleiner
Entfernung vor demselben einen mit verfallenden Mauern umgebenen Garten. Diese
verlassene Stätte war zu der Begegnung ausersehn.
Wir traten ein und erblickten Guiche mit Lignerolles, die unser harrend zwischen den
Buchenhecken des Hauptganges auf und nieder schritten. Der Graf grüßte mich mit
spöttischer Höflichkeit. Boccard und Lignerolles traten zusammen, um Kampfstelle und
Waffen zu regeln.
»Der Morgen ist kühl«, sagte der Graf, »ist es Euch genehm, so fechten wir im Wams.«
»Der Herr ist nicht gepanzert?« warf Lignerolles hin, indem er eine tastende Bewegung
nach meiner Brust machte.
Guiche bedeutete ihn mit einem Blicke, es zu lassen.
Zwei lange Stoßklingen wurden uns geboten. Der Kampf begann, und ich merkte bald,
dass ich einem an Behendigkeit mir überlegenen und dabei völlig kaltblütigen Gegner
gegenüberstehe. Nachdem er meine Kraft mit einigen spielenden Stößen wie auf dem
Fechtboden geprüft hatte, wich seine nachlässige Haltung. Es wurde tödlicher Ernst. Er
zeigte Quart und stieß Sekunde in beschleunigtem Tempo. Meine Parade kam genau noch
rechtzeitig; wiederholte er dieselben Stöße um eine Kleinigkeit rascher, so war ich
verloren. Ich sah ihn befriedigt lächeln und machte mich auf mein Ende gefasst.
Blitzschnell kam der Stoß, aber die geschmeidige Stahlklinge bog sich hoch auf, als träfe
sie einen harten Gegenstand, ich parierte, führte den Nachstoß und rannte dem Grafen,
der, seiner Sache sicher, weit ausgefallen war, meinen Degen durch die Brust. Er verlor
die Farbe, wurde aschfahl, ließ die Waffe sinken und brach zusammen.
Lignerolles beugte sich über den Sterbenden, während Boccard mich von hinnen zog.
Wir folgten dem Umkreise der Stadtmauer in flüchtiger Eile bis zum zweitnächsten Tore,
wo Boccard mit mir in eine kleine ihm bekannte Schenke trat. Wir durchschritten den Flur
und ließen uns hinter dem Hause unter einer dicht überwachsenen Laube nieder. Noch
war in der feuchten Morgenfrühe alles wie ausgestorben. Der Freund rief nach Wein, der
uns nach einer Weile von einem verschlafenen Schenkmädchen gebracht wurde. Er
schlürfte in behaglichen Zügen, während ich den Becher unberührt vor mir stehen ließ.
Ich hatte die Arme über der Brust gekreuzt und senkte das Haupt. Der Tote lag mir auf der
Seele.
Boccard forderte mich zum Trinken auf, und nachdem ich ihm zu Gefallen den Becher
geleert hatte, begann er:
»Ob nun gewisse Leute ihre Meinung ändern werden über Unsre liebe Frau von
Einsiedeln?« –
»Lass mich zufrieden!« versetzte ich unwirsch, »was hat denn sie damit zu schaffen, dass
ich einen Menschen getötet habe?«
»Mehr als du denkst!« erwiderte Boccard mit einem vorwurfsvollen Blick.
»Dass du hier neben mir sitzt, hast du nur ihr zu danken! Du bist ihr eine dicke Kerze
schuldig!« –
Ich zuckte die Achseln.
»Ungläubiger!« rief er und zog, in meine linke Brusttasche langend, triumphierend das
Medaillon daraus hervor, welches er um den Hals zu tragen pflegte, und das er heute
morgen während seiner heftigen Umarmung mir heimlich in das Wams geschoben haben
musste.
Jetzt fiel es mir wie eine Binde von den Augen. Die silberne Münze hatte den Stoß
aufgehalten, der mein Herz durchbohren sollte. Mein erstes Gefühl war zornige Scham,
als ob ich ein unehrliches Spiel getrieben und entgegen den Gesetzen des Zweikampfes
meine Brust geschützt hätte. Darein mischte sich der Groll, einem Götzenbilde mein
Leben zu schulden.
»Läge ich doch lieber tot«, murmelte ich, »als dass ich bösem Aberglauben meine Rettung
verdanken muss!« –
Aber allmählich lichteten sich meine Gedanken. Gasparde trat mir vor die Seele und mit
ihr alle Fülle des Lebens. Ich war dankbar für das neugeschenkte Sonnenlicht, und als ich
wieder in die freudigen Augen Boccards blickte, brachte ich es nicht über mich, mit ihm zu
hadern, so gern ich es gewollt hätte. Sein Aberglaube war verwerflich, aber seine
Freundestreue hatte mir das Leben gerettet.
Ich nahm von ihm mit Herzlichkeit Abschied und eilte ihm voraus durch das Tor und quer
durch die Stadt nach dem Hause des Admirals, der mich zu dieser Stunde erwartete.
Hier brachte ich den Vormittag am Schreibtische zu, diesmal mit der Durchsicht von
Rechnungen beauftragt, die sich auf die Ausrüstung der nach Flandern geworfenen
hugenottischen Freischar bezogen. Als der Admiral in einem freien Augenblicke zu mir
trat, wagte ich die Bitte, er möchte mich nach Flandern schicken, um an dem Einfalle
teilzunehmen und ihm rasche und zuverlässige Nachricht von dem Verlaufe desselben zu
senden.
»Nein, Schadau«, antwortete er kopfschüttelnd, »ich darf Euch nicht Gefahr laufen lassen,
als Freibeuter behandelt zu werden und am Galgen zu sterben. Etwas anderes ist es,
wenn Ihr nach erklärten Feindseligkeiten an meiner Seite fallen solltet. Ich bin es Eurem
Vater schuldig, Euch keiner andere Gefahr auszusetzen, als einem ehrlichen
Soldatentode!« –
Es mochte ungefähr Mittag sein, als sich das Vorzimmer in auffallender Weise füllte und
ein immer erregter werdendes Gespräch hörbar wurde.
Der Admiral rief seinen Schwiegersohn, Teligny, herein, der ihm berichtete, Graf Guiche
sei diesen Morgen im Zweikampfe gefallen, sein Sekundant, der verrufene Lignerolles,
habe die Leiche vor dem Tore St. Michel durch die gräfliche Dienerschaft abholen lassen
und ihr, bevor er sich flüchtete, nichts anderes zu sagen gewusst, als dass ihr Herr durch
die Hand eines ihm unbekannten Hugenotten gefallen sei.
Coligny zog die Brauen zusammen und brauste auf: »Habe ich nicht streng untersagt –
habe ich nicht gedroht, gefleht, beschworen, dass keiner unserer Leute in dieser
verhängnisvollen Zeit einen Zwist beginne oder aufnehme, der zu blutigem Entscheide
führen könnte! Ist der Zweikampf an sich schon eine Tat, die kein Christ ohne zwingende
Gründe auf sein Gewissen laden soll, so wird er in diesen Tagen, wo ein ins Pulverfass
springender Funke uns alle verderben kann, zum Verbrechen an unsern
Glaubensgenossen und am Vaterlande.« –
Ich blickte von meinen Rechnungen nicht auf und war froh, als ich die Arbeit zu Ende
gebracht hatte. Dann ging ich in meine Herberge und ließ mein Gepäck in das Haus des
Schneiders Gilbert bringen.
Ein kränklicher Mann mit einem furchtsamen Gesichtchen geleitete mich unter vielen
Höflichkeiten in das mir bestimmte Zimmer. Es war groß und luftig und überschaute, das
oberste Stockwerk des Hauses bildend, den ganzen Stadtteil, ein Meer von Dächern, aus
welchem Turmspitzen in den Wolkenhimmel aufragten.
»Hier seid Ihr sicher!« sagte Gilbert mit feiner Stimme und zwang mir damit ein Lächeln
ab.
»Mich freut es«, erwiderte ich, »bei einem Glaubensbruder Herberge zu nehmen.«
»Glaubensbruder?« lispelte der Schneider, »sprecht nicht so laut, Herr Hauptmann. Es ist
wahr, ich bin ein evangelischer Christ, und – wenn es nicht anders sein kann – will ich auch
für meinen Heiland sterben; aber verbrannt werden, wie es mit Dubourg auf dem
Greveplatze geschah! – ich sah damals als kleiner Knabe zu – hu, davor hab' ich einen
Schauder!«
»Habt keine Angst«, beruhigte ich, »diese Zeiten sind vorüber, und das Friedensedikt
gewährleistet uns allen freie Religionsausübung.«
»Gott gebe, dass es dabei bleibe!« seufzte der Schneider. »Aber Ihr kennt unsern Pariser
Pöbel nicht. Das ist ein wildes und ein neidisches Volk, und wir Hugenotten haben das
Privilegium sie zu ärgern. Weil wir eingezogen, züchtig und rechtschaffen leben, so
werfen sie uns vor, wir wollen uns als die Bessern von ihnen sondern; aber, gerechter
Himmel! wie ist es möglich die zehn Gebote zu halten und sich nicht vor ihnen
auszuzeichnen!«
Mein neuer Hauswirt verließ mich, und bei der einbrechenden Dämmerung ging ich
hinüber in die Wohnung des Parlamentrats. Ich fand ihn höchst niedergeschlagen.
»Ein böses Verhängnis waltet über unsrer Sache«, hub er an. »Wisst Ihr es schon,
Schadau? Ein vornehmer Höfling, Graf Guiche, ward diesen Morgen im Zweikampfe von
einem Hugenotten erstochen. Ganz Paris ist voll davon, und ich denke, Pater Panigarola
wird die Gelegenheit nicht versäumen, auf uns alle als auf eine Genossenschaft von
Mördern hinzuweisen und seinen tugendhaften Gönner – denn Guiche war ein eifriger
Kirchgänger – in einer seiner wirkungsvollen Abendpredigten als Märtyrer des
katholischen Glaubens auszurufen... Der Kopf schmerzt mich, Schadau, und ich will mich
zur Ruhe begeben. Lasst Euch von Gasparde den Abendtrunk kredenzen.«
Gasparde stand während dieses Gesprächs neben dem Sitze des alten Herrn, auf dessen
Rückenlehne sie sich nachdenkend stützte. Sie war heute sehr blass und tiefernst blickten
ihre großen blauen Augen.
Als wir allein waren, standen wir uns einige Augenblicke schweigend gegenüber. Jetzt
stieg der schlimme Verdacht in mir auf, dass sie, die selbst mich zu ihrer Verteidigung
aufgefordert, nun vor dem Blutbefleckten schaudernd zurücktrete. Die seltsamen
Umstände, die mich gerettet hatten und die ich Gasparde nicht mitteilen konnte, ohne ihr
calvinistisches Gefühl schwer zu verletzen, verwirrten mein Gewissen mehr, als die nach
Mannesbegriffen leichte Blutschuld es belastete. Gasparde fühlte mir an, dass meine
Seele beschwert war, und konnte den Grund davon allein in der Tötung des Grafen und
den daraus unsrer Partei erwachsenden Nachteilen suchen.
Nach einer Weile fragte sie mit gepresster Stimme: »Du also hast den Grafen
umgebracht?«
»Ich«, war meine Antwort.
Wieder schwieg sie. Dann trat sie mit plötzlichem Entschlusse an mich heran, umschlang
mich mit beiden Armen und küsste mich inbrünstig auf den Mund.
»Was du immer verbrochen hast«, sagte sie fest, »ich bin deine Mitschuldige. Um
meinetwillen hast du die Tat begangen. Ich bin es, die dich in Sünde gestürzt hat. Du hast
dein Leben für mich eingesetzt. Ich möchte es dir vergelten, doch wie kann ich es.«
Ich fasste ihre beiden Hände und rief: »Gasparde, lass mich, wie heute, so morgen und
immerdar dein Beschützer sein! Teile mit mir Gefahr und Rettung, Schuld und Heil! Eins
und untrennbar lass uns sein bis zum Tode!«
»Eins und untrennbar!« sagte sie.
Siebentes Kapitel
Seit dem verhängnisvollen Tage, an welchem ich Guiche getötet und Gaspardes Liebe
gewonnen hatte, war ein Monat verstrichen. Täglich schrieb ich im Kabinett des Admirals,
der mit meiner Arbeit zufrieden schien und mich mit steigendem Vertrauen behandelte.
Ich fühlte, dass ihm die Innigkeit meines Verhältnisses zu Gasparde nicht unbekannt
geblieben war, ohne dass er es jedoch mit einem Worte berührt hätte.
Während dieser Zeit hatte sich die Lage der Protestanten in Paris sichtlich verschlimmert.
Der Einfall in Flandern war misslungen und der Rückschlag machte sich am Hofe und in
der öffentlichen Stimmung fühlbar. Die Hochzeit des Königs von Navarra mit Karls
reizender aber leichtfertiger Schwester erweiterte die Kluft zwischen den beiden
Parteien, statt sie zu überbrücken. Kurz vorher war Jeanne d'Albret, die wegen ihres
persönlichen Wertes von den Hugenotten hochverehrte Mutter des Navarresen, plötzlich
gestorben, an Gift, so hieß es.
Am Hochzeitstage selber schritt der Admiral, statt der Messe beizuwohnen, auf dem
Platze vor Notredame in gemessenem Gange auf und nieder und sprach, er der sonst so
Vorsichtige, ein Wort aus, das in bitterster Feindseligkeit gegen ihn ausgebeutet wurde.
»Notredame«, sagte er, »ist mit den Fahnen behängt, die man uns im Bürgerkriege
abgenommen; sie müssen weg und ehrenvolle Trophäen an ihre Stelle!« Damit meinte er
spanische Fahnen, aber das Wort wurde falsch gedeutet.
Coligny sandte mich mit einem Auftrage nach Orleans, wo deutsche Reiterei lag. Als ich
von dort zurückkehrte und meine Wohnung betrat, kam mir Gilbert mit entstellter Miene
entgegen.
»Wisst Ihr schon, Herr Hauptmann«, jammerte er, »dass der Admiral gestern meuchlerisch
verwundet worden ist, als er aus dem Louvre nach seinem Palaste zurückkehrte? Nicht
tödlich, sagt man; aber bei seinem Alter und der kummervollen Sorge, die auf ihm lastet,
wer kann wissen, wie das endet! Und stirbt er, was soll aus uns werden?« –
Ich begab mich schleunig nach der Wohnung des Admirals, wo ich abgewiesen wurde.
Der Pförtner sagte mir, es sei hoher Besuch im Hause, der König und die Königin Mutter.
Dies beruhigte mich, da ich in meiner Arglosigkeit daraus schloss, unmöglich könne
Katharina an der Untat Anteil haben, wenn sie selbst das Opfer besuche. Der König aber,
versicherte der Pförtner, sei wütend über den tückischen Angriff auf das Leben seines
väterlichen Freundes.
Jetzt wandte ich meine Schritte zurück nach der Wohnung des Parlamentrats, den ich in
lebhaftem Gespräche mit einer merkwürdigen Persönlichkeit fand, einem Manne in
mittleren Jahren, dessen bewegtes Gebärdenspiel den Südfranzosen verriet und der den
St. Michaelsorden trug. Noch nie hatte ich in klügere Augen geblickt. Sie leuchteten von
Geist und in den zahllosen Falten und Linien um Augen und Mund bewegte sich ein
unruhiges Spiel schalkhafter und scharfsinniger Gedanken.
»Gut, dass Ihr kommt, Schadau!« rief mir der Rat entgegen, während ich unwillkürlich das
unschuldige Antlitz Gaspardes, in dem nur die Lauterkeit einer einfachen und starken
Seele sich spiegelte, mit der weltklugen Miene des Gastes verglich, »gut, dass Ihr kommt!
Herr Montaigne will mich mit Gewalt nach seinem Schlosse in Perigord entführen.«...
»Wir wollen dort den Horaz zusammen lesen«, warf der Fremdling ein, »wie wir es
vorzeiten in den Bädern von Aix taten, wo ich das Vergnügen hatte, den Herrn Rat
kennen zu lernen.« –
»Meint Ihr, Montaigne«, fuhr der Rat fort, »ich dürfe die Kinder allein lassen? Gasparde
will sich nicht von ihrem Paten und dieser junge Berner sich nicht von Gasparde trennen.«
»Ei was«, spottete Herr Montaigne sich gegen mich verbeugend, »sie werden, um sich in
der Tugend zu stärken, das Buch Tobiä zusammen lesen!« und den Ton wechselnd, da er
mein ernstes Gesicht sah: »Kurz und gut«, schloss er, »Ihr kommt mit mir, lieber Rat!«
»Ist denn eine Verschwörung gegen uns Hugenotten im Werke?« fragte ich aufmerksam
werdend.
»Eine Verschwörung?« wiederholte der Gascogner. »Nicht dass ich wüsste! Wenn nicht
etwa eine solche, wie sie die Wolken anzetteln, bevor ein Gewitter losbricht. Vier
Fünfteile einer Nation von dem letzten Fünfteil zu etwas gezwungen, was sie nicht wollen
– das heißt zum Kriege in Flandern – das kann die Atmosphäre schon elektrisch machen.
Und, nehmt es mir nicht übel, junger Mann, Ihr Hugenotten verfehlt Euch gegen den
ersten Satz der Lebensweisheit: dass man das Volk, unter dem man wohnt, nicht durch
Missachtung seiner Sitten beleidigen darf.«
»Rechnet Ihr die Religion zu den Sitten eines Volkes?« fragte ich entrüstet.
»In gewissem Sinne, ja«, meinte er, »doch diesmal dachte ich nur an die Gebräuche des
täglichen Lebens: Ihr Hugenotten kleidet Euch düster, tragt ernsthafte Mienen, versteht
keinen Scherz und seid so steif wie Eure Halskragen. Kurz, Ihr schließt Euch ab, und das
bestraft sich in der größten Stadt wie auf dem kleinsten Dorfe! Da verstehen die Guisen
das Leben besser! Eben kam ich vorüber, als der Herzog Heinrich vor seinem Palaste
abstieg und den umstellenden Bürgern die Hände schüttelte, lustig wie ein Franzose und
gemütlich wie ein Deutscher! So ist es recht! Sind wir ja alle vom Weibe geboren und ist
doch die Seife nicht teuer!«
Mir schien, als ob der Gascogner schwere Besorgnis unter diesem scherzhaften Tone
verberge, und ich wollte ihn weiter zur Rede stellen, als der alte Diener einen Boten des
Admirals meldete, welcher mich und Gasparde unverzüglich zu sich berief.
Gasparde warf einen dichten Schleier über und wir eilten.
Unterwegs erzählte sie mir, was sie in meiner Abwesenheit ausgestanden. »An deiner
Seite durch einen Kugelregen zu reiten, wäre mir ein Spiel dagegen!« versicherte sie. »Der
Pöbel in unsrer Straße ist so giftig geworden, dass ich das Haus nicht verlassen konnte,
ohne mit Schimpfworten verfolgt zu werden. Kleidete ich mich nach meinem Stande, so
schrie man mir nach: Seht die Übermütige! Legte ich schlichtes Gewand an, so hieß es:
Seht die Heuchlerin! – Einen Tag oder eine Woche hielte man das schon aus; aber wenn
man kein Ende davon absieht! – Unsere Lage hier in Paris erinnert mich an die jenes
Italieners, den sein Feind in einen Kerker mit vier kleinen Fenstern werfen ließ. Als er am
nächsten Morgen erwachte, waren deren nur noch drei, am folgenden zwei, am dritten
noch eins, kurz, er begriff, dass sein höllischer Feind ihn in eine Maschine gesperrt hatte,
die sich allmählich in einen erdrückenden Sarg verwandelte.« –
Unter diesen Reden waren wir in die Wohnung des Admirals gelangt, der uns sogleich zu
sich beschied.
Er saß aufrecht auf seinem Lager, den verwundeten linken Arm in der Schlinge, blass und
ermattet. Neben ihm stand ein Geistlicher mit eisgrauem Barte. Er ließ uns nicht zu
Worten kommen.
»Meine Zeit ist gemessen«, sprach er, »hört mich an und gehorcht mir! Du, Gasparde, bist
mir durch meinen teuern Bruder blutsverwandt. Es ist jetzt nicht der Augenblick etwas zu
verhüllen, das du weißt und diesem nicht verborgen bleiben darf. Deiner Mutter ist durch
einen Franzosen Unrecht geschehn; ich will nicht, dass auch du unsres Volkes Sünden
mitbüßest. Wir bezahlen, was unsre Väter verschuldet haben. Du aber sollst, so viel
solches an mir liegt, auf deutscher Erde ein frommes und ruhiges Leben führen.«
Dann sich zu mir wendend, fuhr er fort: »Schadau, Ihr werdet Eure Kriegsschule nicht
unter mir durchmachen. Hier sieht es dunkel aus. Mein Leben geht zur Neige und mein
Tod ist der Bürgerkrieg. Mischt Euch nicht darein, ich verbiete es Euch. – Reicht Gasparde
die Hand, ich gebe sie Euch zum Weibe. Führt sie ohne Säumnis in Eure Heimat. Verlasst
dieses ungesegnete Frankreich, sobald Ihr meinen Tod erfahrt. Bereitet ihr eine Stätte auf
Schweizerboden; dann nehmt Dienste unter dem Prinzen von Oranien und kämpft für die
gute Sache!« –
Jetzt winkte er dem Greise und forderte ihn auf, uns zu trauen.
»Macht es kurz«, flüsterte er, »ich bin müde und bedarf Ruhe.«
Wir ließen uns an seinem Lager auf die Kniee nieder und der Geistliche verrichtete sein
Amt, unsre Hände zusammenfügend und die liturgischen Worte aus dem Gedächtnisse
sprechend. Dann segnete uns der Admiral mit seiner ebenfalls verstümmelten Rechten.
»Lebt wohl!« schloss er, legte sich nieder und kehrte sein Antlitz gegen die Wand.
Da wir zögerten, das Gemach zu verlassen, hörten wir noch die gleichmäßigen Atemzüge
des ruhig Entschlummerten.
Schweigend und in wunderbarer Stimmung kamen wir zurück und fanden Chatillon noch
in lebhaftem Gespräche mit Herrn Montaigne.
»Gewonnen Spiel!« jubelte dieser, »der Papa willigt ein und ich selbst will ihm seinen
Koffer packen, denn darauf verstehe ich mich vortrefflich.«
»Geht, lieber Oheim!« mahnte Gasparde, »und macht Euch keine Sorge um mich. Das ist
von nun an die Sache meines Gemahls.«. Und sie drückte meine Hand an ihre Brust. Auch
ich drang in den Rat, mit Montaigne zu verreisen.
Da mit einem Male, wie wir alle ihm zuredeten und ihn überzeugt glaubten, fragte er:
»Hat der Admiral Paris verlassen?« Und als er hörte, Coligny bleibe und werde trotz des
Drängens der Seinigen bleiben, auch wenn sein Zustand die Abreise erlauben sollte, da
rief Chatillon mit glänzenden Augen und mit einer festen Stimme, die ich nicht an ihm
kannte:
»So bleibe auch ich! Ich bin im Leben oftmals feig und selbstsüchtig gewesen; ich stand
nicht zu meinen Glaubensgenossen wie ich sollte; in dieser letzten Stunde aber will ich sie
nicht verlassen.«
Montaigne biss sich die Lippe. Unser aller Zureden fruchtete nun nichts mehr, der Alte
blieb bei seinem Entschlusse. Jetzt klopfte ihm der Gascogner auf die Schulter und sagte
mit einem Anfluge von Hohn:
»Alter Junge, du betrügst dich selbst, wenn du glaubst, dass du aus Heldenmut so
handelst. Du tust es aus Bequemlichkeit. Du bist zu träge geworden, dein behagliches
Nest zu verlassen, selbst auf die Gefahr hin, dass der Sturm es morgen wegfegt. Das ist
auch ein Standpunkt und in deiner Weise hast du recht.« –
Jetzt verwandelte sich der spöttische Ausdruck auf seinem Gesichte in einen tief
schmerzlichen, er umarmte Chatillon, küsste ihn und schied eilig.
Der Rat, welcher seltsam bewegt war, wünschte allein zu sein.
»Verlasst mich, Schadau!« sagte er, mir die Hand drückend, »und kommt heute abend
noch einmal vor Schlafengehen.« –
Gasparde, die mich begleitete, ergriff unter der Türe plötzlich das Reisepistol, das noch in
meinem Gürtel stak.
»Lass das!« warnte ich. »Es ist scharf geladen.«
»Nein«, lachte sie, den Kopf zurückwerfend, »ich behalte es als Unterpfand, dass du uns
diesen Abend nicht versäumst!« und sie entfloh damit ins Haus.
Achtes Kapitel
Auf meinem Zimmer lag ein Brief meines Oheims im gewohnten Format, mit den
wohlbekannten altmodischen Zügen überschrieben. Der rote Abdruck des Siegels mit
seiner Devise: Pèlerin et Voyageur! war diesmal unmäßig groß geraten.
Noch hielt ich das Schreiben uneröffnet in der Hand, als Boccard ohne anzuklopfen
hereinstürzte.
»Hast du dein Versprechen vergessen, Schadau?« rief er mir zu.
»Welches Versprechen?« fragte ich missmutig.
»Schön!« versetzte er mit einem kurzen Lachen, das gezwungen klang. »Wenn das so
fortgeht, so wirst du nächstens deinen eignen Namen vergessen! Am Vorabende deiner
Abreise nach Orleans, in der Schenke zum Mohren, hast du mir feierlich gelobt, dein
längst gegebenes Versprechen zu lösen und unsern Landsmann, den Hauptmann Pfyffer,
einmal zu begrüßen. Ich lud dich dann in seinem Auftrage zu seinem Namensfeste in das
Louvre ein.«
»Heute nun ist Bartholomäustag. Der Hauptmann hat zwar viele Namen, wohl acht bis
zehn; da aber unter diesen allen der geschundene Barthel in seinen Augen der größte
Heilige und Märtyrer ist, so feiert er als guter Christ diesen Tag in besonderer Weise.
Bliebest du weg, er legte dir's als hugenottischen Starrsinn aus.« –
Ich besann mich freilich, von Boccard häufig mit solchen Einladungen bestürmt worden
zu sein und ihn von Woche zu Woche vertröstet zu haben. Dass ich ihm auf heute
zugesagt, war mir nicht erinnerlich, aber es konnte sein.
»Boccard«, sagte ich, »heute ist mir's ungelegen. Entschuldige mich bei Pfyffer und lass
mich zu Hause.«
Nun aber begann er auf die wunderlichste Weise in mich zu dringen, jetzt scherzend und
kindischen Unsinn vorbringend, jetzt flehentlich mich beschwörend. Zuletzt fuhr er auf:
»Wie? Hältst du so dein Ehrenwort?« – Und unsicher wie ich war, ob ich nicht doch
vielleicht mein Wort gegeben, konnte ich diesen Vorwurf nicht auf mir sitzen lassen und
willigte endlich, wenn auch bitter ungern, ein, ihn zu begleiten. Ich marktete, bis er
versprach, in einer Stunde mich freizugeben, und wir gingen nach dem Louvre.
Paris war ruhig. Wir trafen nur einzelne Gruppen von Bürgern, die sich über den Zustand
des Admirals flüsternd besprachen.
Pfyffer hatte ein Gemach zu ebener Erde im große Hofe des Louvre inne. Ich war erstaunt,
seine Fenster nur spärlich erleuchtet zu sehn und Totenstille zu finden statt eines
fröhlichen Festlärms. Wie wir eintraten, stand der Hauptmann allein in der Mitte des
Zimmers, vom Kopfe bis zu den Füßen bewaffnet und in eine Depesche vertieft, die er
aufmerksam zu lesen, ja zu buchstabieren schien, denn er folgte den Zeilen mit dem
Zeigefinger der linken Hand. Er wurde meiner ansichtig und, auf mich zutretend, fahr er
mich barsch an:
»Euren Degen, junger Herr! Ihr seid mein Gefangener.« Gleichzeitig näherten sich zwei
Schweizer, die im Schatten gestanden hatten. Ich trat einen Schritt zurück.
»Wer gibt Euch ein Recht an mich, Herr Hauptmann?« – rief ich aus. »Ich bin der Schreiber
des Admirals.«
Ohne mich einer Antwort zu würdigen, griff er mit eigner Hand nach meinem Degen und
bemächtigte sich desselben. Die Überraschung hatte mich so außer Fassung gebracht,
dass ich an keinen Widerstand dachte.
»Tut Eure Pflicht!« befahl Pfyffer. Die beiden Schweizer nahmen mich in die Mitte und ich
folgte ihnen wehrlos, einen Blick grimmigen Vorwurfs auf Boccard werfend. Ich konnte
mir nichts anderes denken, als dass Pfyffer einen königlichen Befehl erhalten habe, mich
wegen meines Zweikampfes mit Guiche in Haft zu nehmen.
Zu meinem Erstaunen wurde ich nur wenige Schritte weit nach der mir wohlbekannten
Kammer Boccards geführt. Der eine Schweizer zog einen Schlüssel hervor und versuchte
zu öffnen, aber vergeblich. Es schien ihm in der Eile ein unrechter übergeben worden zu
sein und er sandte seinen Kameraden zurück, um von Boccard, der bei Pfyffer geblieben
war, den rechten zu fordern.
In dieser kurzen Frist vernahm ich lauschend die rauhe, scheltende Stimme des
Hauptmanns: »Euer freches Stücklein kann mich meine Stelle kosten! In dieser
Teufelsnacht wird uns hoffentlich keiner zur Rede stellen; doch wie bringen wir morgen
den Ketzer aus dem Louvre fort? Die Heiligen mögen mir's verzeihn, dass ich einem
Hugenotten das Leben rette, – aber einen Landsmann und Bürger von Bern dürfen wir
von diesen verfluchten Franzosen auch nicht abschlachten lassen, – da habt Ihr wiederum
recht, Boccard...«
Jetzt ging die Türe auf, ich stand in dem dunklen Gelass, der Schlüssel wurde hinter mir
gedreht und ein schwerer Riegel vorgeschoben.
Ich durchmaß das mir von manchem Besuche her wohlbekannte Gemach, in quälenden
Gedanken auf und nieder schreitend, während sich das mit Eisenstäben vergitterte,
hochgelegene Fenster allmählich erhellte, denn der Mond ging auf. Der einzige
wahrscheinliche Grund meiner Verhaftung, ich mochte die Sache wenden wie ich wollte,
war und blieb der Zweikampf. Unerklärlich waren mir freilich Pfyffers unmutige letzte
Worte; aber ich konnte dieselben misshört haben, oder der tapfere Hauptmann war
etwas bezecht. Noch unbegreiflicher, ja haarsträubend, erschien mir das Benehmen
Boccards, dem ich nie und nimmer einen so schmählichen Verrat zugetraut hätte.
Je länger ich die Sache übersann, in desto beunruhigendere Zweifel und unlösbarere
Widersprüche verstrickte ich mich.
Sollte wirklich ein blutiger Plan gegen die Hugenotten bestehn? War das denkbar? Konnte
der König, wenn er nicht von Sinnen war, in die Vernichtung einer Partei willigen, deren
Untergang ihn zum willenlosen Sklaven seiner ehrgeizigen Vettern von Lothringen
machen musste?
Oder war ein neuer Anschlag auf die Person des Admirals geschmiedet, und wollte man
einen seiner treuen Diener von ihm entfernen? Aber ich erschien mir zu unbedeutend, als
dass man zuerst an mich gedacht hätte. Der König hatte heftig gezürnt über die
Verwundung des Admirals. Konnte ein Mensch, ohne dem Wahnsinne verfallen zu sein,
von warmer Neigung zu stumpfer Gleichgültigkeit oder wildem Hasse in der Frist weniger
Stunden übergehn?
Während ich so meinen Kopf zerarbeitete, schrie mein Herz, dass mein Weib mich zu
dieser Stunde erwarte, die Minuten zähle, und ich hier gefangen sei, ohne ihr Nachricht
geben zu können.
Noch immer schritt ich auf und nieder, als die Turmuhr des Louvre schlug; ich zählte zwölf
Schläge. Es war Mitternacht. Da kam mir der Gedanke, einen Stuhl an das hohe Fenster zu
rücken, in die Nische zu steigen, es zu öffnen und, an die Eisenstäbe mich anklammernd,
in die Nacht auszuschauen. Das Fenster blickte auf die Seine. Alles war still. Schon wollte
ich wieder ins Gemach herunterspringen, als ich meinen Blick noch über mich richtete und
vor Entsetzen erstarrte.
Rechts von mir, auf einem Balkon des ersten Stockwerks, so nahe, dass ich sie fast mit der
Hand erreichen konnte, erblickte ich, vom Mondlicht taghell erleuchtet, drei über das
Geländer vorgebeugte, lautlos lauschende Gestalten. Mir zunächst der König mit einem
Antlitz, dessen nicht unedle Züge die Angst, die Wut, der Wahnsinn zu einem
Höllenausdruck verzerrten. Kein Fiebertraum kann schrecklicher sein als diese
Wirklichkeit. Jetzt, da ich das längst Vergangene niederschreibe, sehe ich den Unseligen
wieder mit den Augen des Geistes – und ich schaudere. Neben ihm lehnte sein Bruder, der
Herzog von Anjou, mit dem schlaffen, weibisch grausamen Gesichtchen und schlotterte
vor Furcht. Hinter ihnen, bleich und regungslos, die Gefassteste von allen, stand
Katharina, die Medizäerin, mit halbgeschlossenen Augen und fast gleichgültiger Miene.
Jetzt machte der König, wie von Gewissensangst gepeinigt, eine krampfhafte Gebärde,
als wollte er einen gegebenen Befehl zurücknehmen, und in demselben Augenblicke
knallte ein Büchsenschuss, mir schien im Hofe des Louvre.
»Endlich!« flüsterte die Königin erleichtert, und die drei Nachtgestalten verschwanden
von der Zinne.
Eine nahe Glocke begann Sturm zu läuten, eine zweite, eine dritte heulte mit; greller
Fackelschein glomm auf wie eine Feuersbrunst, Schüsse knatterten und meine gespannte
Einbildungskraft glaubte Sterbeseufzer zu vernehmen.
Der Admiral lag ermordet, daran konnte ich nicht mehr zweifeln. Aber was bedeuteten
die Sturmglocken, die erst vereinzelt, dann immer häufiger fallenden Schüsse, die
Mordrufe, die jetzt von fern an mein lauschendes Ohr drangen? Geschah das Unerhörte?
Wurden alle Hugenotten in Paris gemeuchelt?
Und Gasparde, meine mir vom Admiral anvertraute Gasparde, war mit dem wehrlosen
Alten diesen Schrecken preisgegeben! Das Haar stand mir zu Berge, das Blut gerann mir in
den Adern. Ich rüttelte an der Türe aus allen Kräften, die eisernen Schlösser und das
schwere Eichenholz wichen nicht. Ich suchte tastend nach einer Waffe, nach einem
Werkzeuge, um sie zu sprengen, und fand keines. Ich schlug mit den Fäusten, stieß mit
den Füßen gegen die Türe und schrie nach Befreiung, – draußen im Gange blieb es
totenstill.
Wieder schwang ich mich auf in die Fensternische und rüttelte wie ein Verzweifelter an
dem Eisengitter, es war nicht zu erschüttern.
Ein Fieberfrost ergriff mich und meine Zähne schlugen aufeinander. Dem Wahnsinne nahe
warf ich mich auf Boccards Lager und wälzte mich in tödlicher Bangigkeit. Endlich als der
Morgen zu grauen begann, verfiel ich in einen Zustand zwischen Wachen und
Schlummern, der sich nicht beschreiben lässt. Ich meinte mich noch an die Eisenstäbe zu
klammern und hinaus zu blicken auf die rastlos flutende Seine. Da plötzlich erhob sich aus
ihren Wellen ein halbnacktes, vom Mondlichte beglänztes Weib, eine Flussgöttin auf ihre
sprudelnde Urne gestützt, wie sie in Fontainebleau an den Wasserkünsten sitzen, und
begann zu sprechen. Aber ihre Worte richteten sich nicht an mich, sondern an eine
Steinfrau, die dicht neben mir die Zinne trug, auf welcher die drei fürstlichen Verschwörer
gestanden.
»Schwester«, frug sie aus dem Flusse, »weißt vielleicht du, warum sie sich morden? Sie
werfen mir Leichnam auf Leichnam in mein strömendes Bett und ich bin schmierig von
Blut. Pfui, pfui! Machen vielleicht die Bettler, die ich abends ihre Lumpen in meinem
Wasser waschen sehe, den Reichen den Garaus?«
»Nein«, raunte das steinerne Weib, »sie morden sich, weil sie nicht einig sind über den
richtigen Weg zur Seligkeit.« – Und ihr kaltes Antlitz verzog sich zum Hohn, als belache sie
eine ungeheure Dummheit...
In diesem Augenblicke knarrte die Türe, ich fuhr auf aus meinem Halbschlummer und
erblickte Boccard, blass und ernst wie ich ihn noch nie gesehen hatte, und hinter ihm zwei
seiner Leute, von welchen einer einen Laib Brot und eine Kanne Wein trug.
»Um Gottes willen, Boccard«, rief ich und stürzte ihm entgegen, »was ist heute nacht
vorgegangen?... Sprich!«
Er ergriff meine Hand und wollte sich zu mir auf das Lager setzen. Ich sträubte mich und
beschwor ihn zu reden.
»Beruhige dich!« sagte er. »Es war eine schlimme Nacht. Wir Schweizer können nichts
dafür, der König hat es befohlen.«
»Der Admiral ist tot?« frug ich, ihn starr ansehend. Er bejahte mit einer Bewegung des
Hauptes.
»Und die andern hugenottischen Führer?«
»Tot. Wenn nicht der eine oder andere, wie der Navarrese, durch besondere Gunst des
Königs verschont blieb.«
»Ist das Blutbad beendigt?«
»Nein, noch wütet es fort in den Straßen von Paris. Kein Hugenott darf am Leben
bleiben.«
Jetzt zuckte mir der Gedanke an Gasparde wie ein glühender Blitz durchs Gehirn und alles
andere verschwand im Dunkel.
»Lass mich!« schrie ich. »Mein Weib! mein armes Weib!«
Boccard sah mich erstaunt und fragend an. »Dein Weib? Bist du verheiratet?«
»Gib Raum, Unseliger!« rief ich und warf mich auf ihn, der mir den Ausweg vertrat. Wir
rangen miteinander und ich hätte ihn übermannt, wenn nicht einer seiner Schweizer ihm
zu Hilfe gekommen wäre, indes der andere die Türe bewachte. Ich wurde auf das Knie
gedrückt.
»Boccard!« stöhnte ich. »Im Namen des barmherzigen Gottes bei allem, was dir teuer ist –
bei dem Haupte deines Vaters – bei der Seligkeit deiner Mutter – erbarm' dich meiner und
lass mich frei! Ich sage dir, Mensch, dass mein Weib da draußen ist – dass sie vielleicht in
diesem Augenblick gemordet – dass sie vielleicht in diesem Augenblick misshandelt wird!
Oh, oh!« – und ich schlug mit geballter Faust gegen die Stirn.
Boccard erwiderte begütigend, wie man mit einem Kranken spricht: »Du bist von Sinnen,
armer Freund! Du könntest nicht fünf Schritte ins Freie tun, bevor dich eine Kugel
niederstreckte! Jedermann kennt dich als den Schreiber des Admirals. Nimm Vernunft an!
Was du verlangst, ist unmöglich.« –
Jetzt begann ich auf den Knien liegend zu schluchzen wie ein Kind. Noch einmal, halb
bewusstlos wie ein Ertrinkender, erhob ich das Auge nach Rettung, während Boccard
schweigend die im Ringen zerrissene Seidenschnur wieder zusammenknüpfte, an der die
Silbermünze mit dem Bildnis der Madonna tief niederhing.
»Im Namen der Muttergottes von Einsiedeln!« flehte ich mit gefalteten Händen.
Jetzt stand Boccard wie gebannt, die Augen nach oben gewendet und etwas murmelnd
wie ein Gebet. Dann berührte er das Medaillon mit den Lippen und schob es sorgfältig
wieder in sein Wams.
Noch schwiegen wir beide, da trat, eine Depesche emporhaltend, ein junger Fähnrich ein.
»Im Namen des Königs und auf Befehl des Hauptmann«, sagte er, »nehmt zwei Eurer
Leute, Herr Boccard, und überbringt eigenhändig diese Order dem Kommandanten der
Bastille.« –Der Fähnrich trat ab.
Jetzt eilte Boccard, nach einem Augenblicke des Besinnens, das Schreiben in der Hand,
auf mich zu:
»Tausche schnell die Kleider mit Cattani hier!« flüsterte er. »Ich will es wagen. Wo wohnt
sie?« –
»Isle St. Louis.«
»Gut. Labe dich noch mit einem Trunke, du hast Kraft nötig.« Nachdem ich eilig meiner
Kleider mich entledigt, warf ich mich in die Tracht eines königlichen Schweizers, gürtete
das Schwert um, ergriff die Hellebarde und Boccard, ich und der zweite Schweizer, wir
stürzten ins Freie.
Neuntes Kapitel
Schon im Hofe des Louvre bot sich meinen Augen ein schrecklicher Anblick. Die
Hugenotten vom Gefolge des Königs von Navarra lagen hier, frisch getötet, manche noch
röchelnd, in Haufen übereinander. Längs der Seine weiter eilend begegneten wir auf
jedem Schritte einem Greuel. Hier lag ein armer Alter mit gespaltenem Schädel in seinem
Blute, dort sträubte sich ein totenblasses Weib in den Armen eines rohen Landsknechtes.
Eine Gasse lag still wie das Grab, aus einer anderen erschollen noch Hilferufe und
misstönige Sterbeseufzer.
Ich aber, unempfindlich für diese unfassbare Größe des Elends, stürmte wie ein
Verzweifelter vorwärts, so dass mir Boccard und der Schweizer kaum zu folgen
vermochten. Endlich war die Brücke erreicht und überschritten. Ich stürzte in vollem
Laufe nach dem Hause des Rats, die Augen unverwandt auf seine hochgelegenen Fenster
geheftet. An einem derselben wurden ringende Arme sichtbar, eine menschliche Gestalt
mit weißen Haaren ward hinausgedrängt. Der Unglückliche, es war Chatillon, klammerte
sich einen Augenblick noch mit schwachen Händen an das Gesims, dann ließ er es los und
stürzte auf das Pflaster. An dem Zerschmetterten vorüber, erklomm ich in wenigen
Sprüngen die Treppe und stürzte in das Gemach. Es war mit Bewaffneten gefüllt und ein
wilder Lärm erscholl aus der offenen Türe des Bibliothekzimmers. Ich bahnte mir mit
meiner Hellebarde den Weg und erblickte Gasparde, in eine Ecke gedrängt und von einer
gierigen, brüllenden Meute umstellt, die sie, mein Pistol in der Hand und bald auf diesen
bald auf jenen zielend, von sich abhielt. Sie war farblos wie ein Wachsbild und aus ihren
weit geöffneten Augen sprühte ein schreckliches Feuer.
Alles vor mir niederwerfend, mit einem einzigen Anlaufe, war ich an ihrer Seite und »Gott
sei Dank, du bist es!« rief sie noch und sank mir dann bewusstlos in die Arme.
Unterdessen war Boccard mit dem Schweizer nachgedrungen. »Leute!« drohte er, »im
Namen des Königs verbiete ich euch, diese Dame nur mit einem Finger zu berühren!
Zurück, wem sein Leben lieb ist! Ich habe Befehl, sie ins Louvre zu bringen!«
Er war neben mich getreten und ich hatte die ohnmächtige Gasparde in den Lehnstuhl
des Rats gelegt.
Da sprang aus dem Getümmel ein scheußlicher Mensch mit blutigen Händen und
blutbeflecktem Gesichte hervor, in dem ich den verfemten Lignerolles erkannte.
»Lug und Trug!« schrie er, »das, Schweizer? – Verkappte Hugenotten sind's und von der
schlimmsten Sorte! Dieser hier – ich kenne dich wohl, vierschrötiger Halunke – hat den
frommen Grafen Guiche gemordet, und jener war dabei. Schlagt tot! Es ist ein
verdienstliches Werk, diese schurkischen Ketzer zu vertilgen! Aber rührt mir das Mädel
nicht an – die ist mein!«
Und der Verwilderte warf sich wütend auf mich.
»Bösewicht«, rief Boccard, »dein Stündlein ist gekommen! Stoß zu, Schadau!« Rasch
drängte er mit geschickter Parade die ruchlose Klinge in die Höhe und ich stieß dem
Buben mein Schwert bis an das Heft in die Brust. Er stürzte. Ein rasendes Geheul erhob
sich aus der Rotte.
»Weg von hier!« winkte mir der Freund. »Nimm dein Weib auf den Arm und folge mir!«
Jetzt griffen Boccard und der Schweizer mit Hieb und Stoß das Gesindel an, das uns von
der Türe trennte und brachen eine Gasse, durch die ich, Gasparde tragend, schleunigst
nachschritt.
Wir gelangten glücklich die Treppen hinunter und betraten die Straße. Hier hatten wir
vielleicht zehn Schritte getan, da fiel ein Schuss aus einem Fenster. Boccard schwankte,
griff mit unsicherer Hand nach dem Medaillon, riss es hervor, drückte es an die
erblassenden Lippen und sank nieder.
Er war durch die Schläfe getroffen. Der erste Blick überzeugte mich, dass ich ihn verloren
hatte, der zweite, nach dem Fenster gerichtete, dass ihn der Tod aus meinem Reiterpistol
getroffen, welches Gaspardes Hand entfallen war und das jetzt der Mörder frohlockend
emporhielt. Die scheußliche Horde an den Fersen, riss ich mich mit blutendem Herzen von
dem Freunde los, bei dem sein treuer Soldat niederkniete, bog um die nahe Ecke in das
Seitengässchen, wo meine Wohnung gelegen war, erreichte sie unbemerkt und eilte
durch das ausgestorbene Haus mit Gasparde in meine Kammer.
Auf dem Flur des ersten Stockwerkes schritt ich durch breite Blutlachen. Der Schneider
lag ermordet, sein Weib und seine vier Kinder, am Herd in ein Häuflein
zusammengesunken, schliefen den Todesschlummer. Selbst der kleine Pudel, des Hauses
Liebling, lag verendet bei ihnen. Blutgeruch erfüllte das Haus. Die letzte Treppe
ersteigend, sah ich mein Zimmer offen, die halb zerschmetterte Türe schlug der Wind auf
und zu.
Hier hatten die Mörder, da sie mein Lager leer fanden, nicht lange geweilt, das ärmliche
Aussehen meiner Kammer versprach ihnen keine Beute. Meine wenigen Bücher lagen
zerrissen auf dem Boden zerstreut, in eines derselben hatte ich, als mich Boccard
überraschte, den Brief meines Ohms geborgen, er war herausgefallen und ich steckte ihn
zu mir. Meine kleine Barschaft trug ich noch von der Reise her in einem Gurt auf dem
Leibe.
Ich hatte Gasparde auf mein Lager gebettet, wo die Bleiche zu schlummern schien, und
stand neben ihr, überlegend was zu tun sei. Sie war unscheinbar wie eine Dienerin
gekleidet, wohl in der Absicht, mit ihrem Pflegevater zu fliehen. Ich trug die Tracht der
Schweizergarde.
Ein wilder Schmerz bemächtigte sich meiner über all das frevelhaft vergossene teure und
unschuldige Blut. »Fort aus dieser Hölle!« sprach ich halblaut vor mich hin.
»Ja, fort aus dieser Hölle!« wiederholte Gasparde, die Augen öffnend und sich auf dem
Lager in die Höhe richtend. »Hier ist unsres Bleibens nicht! Zum ersten nächsten Tore
hinaus!«
»Bleibe noch ruhig!« erwiderte ich. »Unterdessen wird es Abend und die Dämmerung
erleichtert uns vielleicht das Entrinnen.«
»Nein, nein«, versetzte sie bestimmt, »keinen Augenblick länger bleibe ich in diesem
Pfuhl! Was liegt am Leben, wenn wir zusammen sterben! Lass uns geradewegs auf das
nächste Tor zugehn. Werden wir überfallen und wollen sie mich misshandeln, so erstichst
du mich, und erschlägst ihrer zwei oder drei, so sterben wir nicht ungerächt. – Versprich
mir das!« –
Nach einigem Überlegen willigte ich ein, da es auch mir besser schien, um jeden Preis der
Not ein Ende zu machen. Konnte doch der Mord morgen von neuem beginnen, waren
doch die Tore nachts strenger bewacht als am Tage.
Wir machten uns auf den Weg, durch die blutgetränkten Gassen langsam nebeneinander
wandelnd unter einem wolkenlosen, dunkelblauen Augusthimmel.
Unangefochten erreichten wir das Tor.
Im Torwege vor dem Pförtchen der Wachtstube stand mit verschränkten Armen ein
lothringischer Kriegsmann mit der Feldbinde der Guisen, der uns mit stechendem Blicke
musterte.
»Zwei wunderliche Vögel!« lachte er. »Wo hinaus, Herr Schweizer, mit Eurem
Schwesterchen?«
Das Schwert lockernd schritt ich näher, entschlossen ihm die Brust zu durchbohren; denn
ich war des Lebens und der Lüge müde.
»Bei den Hörnern des Satans! Seid Ihr es, Herr Schadau?« sagte der lothringische
Hauptmann, bei dem letzten Worte seine Stimme dämpfend. »Tretet ein, hier stört uns
niemand.«
Ich blickte ihm ins Gesicht und suchte mich zu erinnern. Mein ehemaliger böhmischer
Fechtmeister tauchte mir auf.
»Ja freilich bin ich es«, fuhr er fort, da er meinen Gedanken mir im Auge las, »und bin's,
wie mir dünkt, zur gelegenen Stunde.«
Mit diesen Worten zog er mich in die Stube und Gasparde folgte.
In dem dumpfigen Raume lagen auf einer Bank zwei betrunkene Kriegsknechte, Würfel
und Becher neben ihnen am Boden.
»Auf, ihr Hunde!« fuhr sie der Hauptmann an. Der eine erhob sich mühsam. Er packte ihn
am Arme und stieß ihn vor die Türe mit den Worten: »Auf die Wache, Schuft! Du bürgst
mir mit deinem Leben, dass niemand passiert!« – Den andern, der nur einen grunzenden
Ton von sich gegeben hatte, warf er von der Bank und stieß ihn mit dem Fuße unter
dieselbe, wo er ruhig fortschnarchte.
»Jetzt belieben die Herrschaften Platz zu nehmen!« und er zeigte mit einer
kavaliermäßigen Handbewegung auf den schmutzigen Sitz.
Wir ließen uns nieder, er rückte einen zerbrochenen Stuhl herbei, setzte sich rittlings
darauf, den Ellbogen auf die Lehne stützend, und begann in familiärem Tone:
»Nun lasst uns plaudern! Euer Fall ist mir klar, Ihr braucht ihn mir nicht zu erläutern. Ihr
wünscht einen Pass nach der Schweiz, nicht wahr? – Ich rechne es mir zur Ehre, Euch
einen Gegendienst zu leisten für die Gefälligkeit, mit der Ihr mir seinerzeit das schöne
württembergische Siegel gezeigt habt, weil Ihr wusstet, ich sei ein Kenner. Eine Hand
wäscht die andere. Siegel gegen Siegel. Diesmal kann ich Euch mit einem aushelfen.«
Er kramte in seiner Brieftasche und zog mehrere Papiere heraus.
»Seht, als ein vorsichtiger Mann ließ ich mir für alle Fälle von meinem gnädigen Herzog
Heinrich für mich und meine Leute, die wir gestern Nacht dem Admiral unsere
Aufwartung machten«, diese Worte begleitete er mit einer Mordgebärde, vor der mir
schauderte, »die nötigen Reisepapiere geben. Der Streich konnte fehlen. Nun, die
Heiligen haben sich dieser guten Stadt Paris angenommen! – Einer der Pässe – hier ist er –
lautet auf einen beurlaubten königlichen Schweizer, den Furier Koch. Steckt ihn zu Euch!
er gewährt Euch freie Straße durch Lothringen an die Schweizergrenze. Das wäre nun in
Ordnung. – Was das Fortkommen mit Euerm Schätzchen betrifft, zu dem ich Euch, ohne
Schmeichelei, Glück wünsche«, hier verneigte er sich gegen Gasparde, »so wird die
schöne Dame schwerlich gut zu Fuße sein. Da kann ich Euch denn zwei Gäule abtreten,
einen sogar mit Damensattel – denn auch ich bin nicht ungeliebt und pflege selbander zu
reiten. Ihr gebt mir dafür vierzig Goldgulden, bar, wenn Ihr es bei Euch habt, sonst genügt
mir Euer Ehrenwort. Sie sind etwas abgejagt, denn wir wurden Hals über Kopf nach Paris
aufgeboten; aber bis an die Grenze werden sie noch dauern.« Und er rief durch das
Fensterchen einem Stalljungen, der am Tore herumlungerte, den Befehl zu, schleunig zu
satteln.
Während ich ihm das Geld, fast mein ganzes Besitztum, auf die Bank vorzählte, sagte der
Böhme:
»Ich habe mit Vergnügen vernommen, dass Ihr Euerm Fechtmeister Ehre gemacht habt.
Freund Lignerolles hat mir alles erzählt. Er wusste Euren Namen nicht, aber ich erkannte
Euch gleich aus seiner Beschreibung. Ihr habt den Guiche erstochen! Alle Wetter, das will
etwas heißen. Ich hätte Euch das nie zugetraut. Freilich meinte Lignerolles, Ihr hättet
Euch die Brust etwas gepanzert. Das sieht Euch nicht gleich, doch zuletzt hilft sich jeder
wie er kann.«
Während dieses grausigen Geplauders saß Gasparde stumm und bleich. Jetzt wurden die
Tiere vorgeführt, der Böhme half ihr, die unter seiner Berührung zusammenschrak,
kunstgerecht in den Sattel, ich schwang mich auf das andere Ross, der Hauptmann
grüßte, und wir sprengten durch den hallenden Torweg und über die donnernde Brücke
gerettet von dannen.
Zehntes Kapitel
Zwei Wochen später, an einem frischen Herbstmorgen ritt ich mit meinem jungen Weibe
die letzte Höhe des Gebirgszuges hinan, der die Freigrafschaft von dem neuenburgischen
Gebiete trennt. Der Grat war erklommen, wir ließen unsre Pferde grasen und setzten uns
auf ein Felsstück.
Eine weite friedliche Landschaft lag in der Morgensonne vor uns ausgebreitet. Zu unseren
Füßen leuchteten die Seen von Neuenburg, Murten und Biel; weiterhin dehnte sich das
frischgrüne Hochland von Fryburg mit seinen schönen Hügellinien und dunklen
Waldsäumen; die eben sich entschleiernden Hochgebirge bildeten den lichten
Hintergrund.
»Dies schöne Land also ist deine Heimat und endlich evangelischer Boden?« fragte
Gasparde.
Ich zeigte ihr links das in der Sonne blitzende Türmchen des Schlosses Chaumont.
»Dort wohnt mein guter Ohm. Noch ein paar Stunden, und er heißt dich als sein geliebtes
Kind willkommen! – Hier unten an den Seen ist evangelisches Land, aber dort drüben, wo
du die Turmspitzen von Fryburg erkennen kannst, beginnt das katholische.«
Als ich Fryburg nannte, verfiel Gasparde in Gedanken. »Boccards Heimat!« sagte sie dann.
»Erinnerst du dich noch, wie froh er an jenem Abende war, als wir uns zum ersten Male
bei Melun begegneten! Nun erwartet ihn sein Vater vergebens, – und für mich ist er
gestorben.«
Schwere Tropfen sanken von ihren Wimpern.
Ich antwortete nicht, aber blitzschnell zog an meiner Seele die Geschichte der
verhängnisvollen Verkettung meines Loses mit dem meines heitern Landsmannes
vorüber und meine Gedanken verklagten und entschuldigten sich untereinander.
Unwillkürlich griff ich an meine Brust auf die Stelle, wo Boccards Medaille mir den
Todesstoß aufgehalten hatte.
Es knisterte in meinem Wams wie Papier; ich zog den vergessenen, noch ungelesenen
Brief meines Ohms heraus und erbrach das unförmliche Siegel. Was ich las, versetzte mich
in schmerzliches Erstaunen. Die Zeilen lauteten:
Lieber Hans!
Wenn Du dieses liesest, bin ich aus dem Leben oder vielmehr bin ich in das Leben
gegangen.
Seit einigen Tagen fühle ich mich sehr schwach, ohne gerade krank zu sein. In der
Stille leg' ich ab Pilgerschuh und Wanderstab. Dieweil ich noch die Feder führen
kann, will ich Dir selbst meine Heimfahrt melden und den Brief an Dich
eigenhändig überschreiben, damit eine fremde Handschrift Dich nicht betrübe. Bin
ich hinüber, so hat der alte Jochem den Auftrag, ein Kreuz zu meinem Namen zu
setzen und den Brief zu siegeln. Rot, nicht schwarz. Ziehe auch kein Trauergewand
um mich an, denn ich bin in der Freude. Ich lasse Dir mein irdisches Gut, vergiss Du
das himmlische nicht.
Dein treuer Ohm Renat.
Daneben war mit ungeschickter Hand ein großes Kreuz gemalt. Ich kehrte mich ab und
ließ meinen Tränen freien Lauf. Dann erhob ich das Haupt und wandte mich zu Gasparde,
die mit gefalteten Händen an meiner Seite stand, um sie in das verödete Haus meiner
Jugend einzuführen.
Anmerkungen
Die Anmerkungen ergänzen die Einführung
Alba, Ferdinand Alvarez, Herzog von Toledo, spanischer Feldherr und Staatsmann, 15071582. Befehlshaber Kaiser Karls V. im Schmalkaldischen Krieg, siegte bei Mühlberg 1547
über den Kurfürsten von Sachsen. Unter Philipp II. Statthalter in den Niederlanden. Seine
Strenge bei der Unterdrückung des dortigen Aufstandes (Hinrichtung Egmonts) führte
zum gänzlichen Abfall der nördlichen niederländischen Provinzen von der spanischen
Krone. Alba eroberte aber Portugal für Spanien und sorgte dadurch für einen gewaltigen
Machtzuwachs. Er ist wesentlich daran beteiligt, dass man die Zeit von 1550 bis 1650 das
„Spanische Zeitalter“ nennt.
Apokalyptische Reiter, in der Offenbarung (Apokalypse) des Johannes vier Reiter, die das
Nahen des Weltenendes und des Jüngsten Gerichts ankündigen: Der Sieger auf dem
weißen Pferd, der Krieger auf dem roten, der Richter auf dem schwarzen und der Tod auf
dem fahlen.
Babylonierin: die Hure Babylon, in der Offenbarung des Johannes eine Personifikation
fürchterlicher Laster. Sie reitet auf einer siebenköpfigen Bestie. Die Kirchenväter sahen
sie als Chiffre für das antike Römische Reich. Die Reformatoren hingegen bezogen das
Symbol auf die römische Kirche und auf das Papsttum im besonderen, wie vor ihnen
schon Savonarola und Friedrich II. Dante nutzt das Bild in seiner Göttlichen Komödie für
seine Kritik an Papst Bonifaz VIII.
Bartholomäus, unter seinem israelitischen Namen Nathanael erwähnt als Jünger bei den
Evangelisten Matthäus und Johannes, wegen Lästerung und Schändung heidnischer
Götter und Heiligtümer von König Astyages mit dem Abziehen der Haut bestraft. Seine
Gebeine seien über verschiedene Umwege nach Benevent gekommen. Als Friedrich II.
von Hohenstaufen Benevent zerstörte, sei ihm Bartholomäus erschienen und habe ihm
Strafgericht und baldigen Tod verkündet. So erzählt die kirchliche Legende. Bartholomäus
scheint also insbesondere ein Heiden- und Ketzerverfolger zu sein…
Buch Tobiä, das apokryphe Buch Tobias aus dem Alten Testament, eine rührend fromme
Geschichte.
Calvin, Johannes, Reformator von Genf (1509-1564). Ursprünglich aus der Picardie
stammend und als Prediger aus Paris flüchtend, richtete er in Genf eine strenge
protestantische Theokratie ein. Seine Prädestinationslehre, wonach im menschlichen
Leben alles vorbestimmt sei, ironisiert Meyer im Gedicht „Hugenottenlied“. Der
Calvinismus beeinflusste über Frankreich und Holland auch die englischen Puritaner und
damit die bibeltreuen Evangelikalen der Vereinigten Staaten bis zum heutigen Tage.
Coligny, Gaspard von, Herr von Châtillon, Admiral (1519-1572). Siehe Einführung. Eine Szene
aus seinem Leben schildert Meyer außerdem in seinem Gedicht „Das Weib des Admirals“.
Dandelot, Franz von Coligny, Graf d’Andelot (1521-1569), Bruder des Admirals Coligny
Einsiedeln, Wallfahrtsort in der Innerschweiz mit einer angeblich wundertätigen
Marienstatue
Freigrafschaft, franz. Franche-Comté, die Landschaft an Doubs und oberer Saône mit der
Hauptstadt Besançon. Sie gehörte seit 1318 zu Burgund, kam unter Kaiser Maximilian an
Habsburg und fiel 1678 an Frankreich.
Freischar, Freiwilligentruppe außerhalb regulärer Verbände
Generalstaaten, die Ständeversammlung der Niederlande, insbesondere
protestantischen Nordprovinzen. (Flandern und Wallonien blieben katholisch.)
der
Heinrich von Navarra, 1553-1610, seit 1569 Führer der Hugenotten. Ehemann von
Margarete von Valois, Tochter der Katharina von Medici. 1589, nach dem Tod des
kinderlosen Heinrich III., des Bruders von Karl IX., fiel ihm als Heinrich IV. die französische
Königskrone zu. Während der Ereignisse der Bartholomäusnacht war er gezwungen
worden, zum Katholizismus überzutreten; er gewährte aber den Hugenotten im Edikt von
Nantes 1598 weitgehende Rechte.
Horaz, römischer Lyriker, 65 – 8 v. Chr.
Karl IX. von Frankreich, (*1550, gekrönt 1560, +1574), zweiter Sohn Heinrichs II. und der
Katharina von Medici, die während seiner Kindheit die Regentschaft führte. Siehe
Einführung.
Karyatide, griech. „Tänzerin aus Kariä“, auch Kore genannt, aus Stein gehauene
Mädchengestalt mit korb- oder polsterartigem Kopfputz, die anstelle einer Säule ein
Gebälk oder Gesims trägt. Die Karyatide aus dem „Amulett“ lässt Meyer in seinem
Gedicht „Die Karyatide“ noch einmal zu Wort kommen.
Katharina von Medici, 1519-1589. Tochter Lorenzos von Medici aus der berühmten
Florentiner Familie. Seit 1533 Gemahlin der französischen Königs Heinrich II., führte sie
nach dessen Tod die Regentschaft für ihren zweiten Sohn, Karl IX. Siehe Einführung.
Katholische Majestät, der König von Spanien
Montaigne, Michel de, lebte 1533-1592 auf Schloss Montaigne im Périgord, Begründer der
Essayistik. Politiker, Jurist und skeptisch-humanistischer Philosoph. Seine Mutter stammte
wahrscheinlich aus einer Familie von Marranen, d. h. von konvertierten iberischen Juden.
Mümpelgard, deutscher Name für die Stadt Montbéliard (südlich Belfort)
Neuenburgisches Gebiet, hier: Grenze zur Schweiz und dem protestantischen Gebiet
Oranien, Wilhelm von, genannt der Schweiger (1533-1584), Sohn Wilhelms von Nassau,
Führer der niederländischen Freiheitsbewegung gegen Spanien (Philipp II.). Seit 1555
Statthalter, führte er den niederländischen Adel ab 1568 in den offenen Widerstand und
erklärte die 1581 die Nordprovinzen für unabhängig. Von einem Katholiken ermordet.
Pèlerin et Voyageur, Pilger und Reisender. Diesen Wahlspruch verwendet Meyer auch in
seinem Gedicht „Ein Pilgrim“ mit den immer wiederkehrenden Worten „Ein Pilgerim und
Wandersmann“.
Schweizergarde, Leibwachen an verschiedenen europäischen Fürstenhöfen, bestehend
aus den als besonders treu und tüchtig geltenden Schweizern. Noch heute lässt sich der
Papst von einer Schweizergarde schützen. Die Schweizergarde der französischen Könige
verteidigte noch 1792 während der Französischen Revolution den König in den Tuilerien
gegen den Pöbel von Paris. Sie bestand damals zu 90% aus Schweizer Adeligen und
Patriziern.
Servet, Michael, spanischer Arzt (1511-1553), als Naturforscher u. a. Entdecker des
Lungenkreislaufes. Als Gegner der christlichen Dreifaltigkeitslehre wurde er in Genf auf
Betreiben Calvins verbrannt.

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