Kommt und staunt - Straßenkinder in Addis Abeba

Transcrição

Kommt und staunt - Straßenkinder in Addis Abeba
Kommt
und Staunt
30 Jahre Aktion
‘Straßenkinder in Addis Abeba’
im Kirchenkreis Marburg-Land
Kommt und staunt
30 Jahre Aktion
‚Straßenkinder in Addis Abeba’
im Kirchenkreis Marburg-Land
Marburg 2003
‚Kommt und staunt’ wird herausgegeben im Auftrag des
Kirchenkreisvorstandes des Kirchenkreises Marburg-Land als
Dank an alle, die die Aktion ‚Straßenkinder in Addis Abeba’
durch Gaben und Gebete förderten und weiter fördern werden.
Veröffentlicht im Zusammenhang mit dem Besuch des
Bischofs der Evangelischen Kirche von Kurhessen und
Waldeck, Dr. Martin Hein, im November 2003
Die Kirchengemeinden des Dekanats
Marburg-Land
Altenvers
Amönau
Bauerbach
Beltershausen
Bürgeln
Caldern
Cappel
Cölbe
Cyriaxweimar
Dilschhausen
Dreihausen
Ebsdorf
Elnhausen
Fronhausen
Gisselberg
Goßfelden-Sarnau
Hachborn
Hassenhausen
Heskem
Kirchvers
Leidenhofen
Lohra
Mellnau
Michelbach
Moischt
Münchhausen
Niederasphe
Niederwalgern
Niederweimar
Oberrosphe
Oberwalgern
Oberweimar
Rodenhausen
Rollshausen-Seelberg
Ronhausen
Roth
Schönstadt
Schwarzenborn
Simtshausen
Sterzhausen
Todenhausen
Treisbach
Unterrosphe
Warzenbach
Wehrda, Martinskirche
Wehrda, Trinitatiskirche
Wehrshausen
Weipoltshausen
Weitershausen
Wenkbach-Argenstein
Wetter
Winnen
Wittelsberg
Wolfshausen
Wollmar
Vorwort
Auf dem Titelfoto und auf der Rückseite dieses Heftes fallen
zwei Kinder besonders ins Auge. Das Kind mit dem blauen
Schultertuch und das Kind mit dem weißen Kopfüberwurf. Wir
sehen in den Gesten der beiden eine Möglichkeit, das Projekt
‚Straßenkinder in Addis Abeba’ zu beschreiben.
Während das linke Kind dankend die Hände
zusammenlegt und den Kopf beugt – eine
Geste des Nehmens – hält das andere Kind
die Hände auseinander, blickt uns an und
scheint uns durch die geöffneten Hände – eine Geste des Gebens – einen Gruß zu senden.
Geben und Nehmen, Nehmen und Geben.
Das ist die besondere Art, in der unser geschwisterlicher Kontakt mit den Christenmenschen der Zentralsynode der Mekane
Yesus Kirche in Addis Abeba geschieht.
In den Beiträgen dieses Heftes wird es immer wieder betont,
dass die geschwisterliche Verbundenheit mit Menschen im für
uns so fernen Äthiopien vom christlichen Geist der Gegenseitigkeit getragen wird.
Wir hier im Marburger Land sammeln Geld und ‚spenden’ Gebete als Gaben der Nächstenliebe bis nach Äthiopien.
Unsere Gaben und Gebete werden dann in Addis Abeba und
Umgebung in die christlichen Gemeinden und an Kinder und
Jugendliche weitergegeben. Von dort erreichen uns Nachrichten, dass wir helfen konnten, und wir werden von dort ‚gespendeten’ Gebeten erreicht.
Dekan Voss nennt das in seinem Beitrag ‚Einmal Segen und
Zurück’.
Wir hoffen, mit diesem Heft einerseits Menschen zu erreichen,
die schon lange die partnerschaftliche Hilfe unseres Kirchenkreises nach Äthiopien begleiten, andererseits wollen wir Informationen und Eindrücke für die weitergeben, die sich neu
für Straßenkinder in Addis Abeba interessieren. Ausdrücklich
wollen wir auch Konfirmandengruppen und Kindergottesdienste mit diesem Heft grüßen. Gesa Hentschel hat vor allem für
sie die Paul und Mia Cartoons gezeichnet und getextet.
Im Redaktionskreis dieses Heftes waren wir alle schon von der
Aktion Straßenkinder in Addis Abeba überzeugt und begeistert,
als wir die Arbeit an diesem Heft aufnahmen. Jetzt, wo es in
die Hände derer kommen kann, die diese Aktion seit vielen
Jahren tragen und weitertragen, ist unsere Überzeugung noch
einmal gewachsen: Was hier gelingt, ist ein Stück der Wahrheit
des Himmels unseres Gottes, der die Welt überspannt, um
Menschen zu Geschwistern der Liebe Jesu zu machen.
Marburg im Herbst 2003
Hans–G. Hentschel
Joachim Striepecke
Stefan Aumann
Inhalt
Grußwort von Pfr. i. R. Dr. Friedrich Jens Mommsen
Grußwort von Rev. Girma Chaka, Addis Abeba
Grußwort von Pfr. Martin Zekl
Dem ganzen Menschen dienen
Fußbälle für Straßenkinder
Kommt und staunt
Wer ist ...?
Was leistet das Programm ‚Straßenkinder in Addis
Abeba’?
Einmal Segen und zurück
Paul und Mia: Freunde
Anstoß- und Durchhalteenergie
Paul und Mia: Kein Typ
Gespräch mit dem Ehepaar Mommsen
Das Gleichnis vom Senfkorn auf Amharisch
Staunendes Auge, offenes Herz ...
Aus Hungerhilfe wurde umfassende Lebenshilfe
Interview mit Dorle Wilke
Zeuge der Dankbarkeit
Paul und Mia: Kaugummi
Almaz’ Traum
Wie sieht die politische und soziale Lage in Äthiopien
aus?
Paul und Mia: Total gleich
Fiche
Zu guter Letzt
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Grußwort von
Pfr. i. R. Dr. Friedrich Jens Mommsen
Beauftragter des Kirchenkreises
Marburg-Land für die Aktion
‚Straßenkinder in Addis-Adeba’
bis November 2001
Statt eines üblichen Grußwortes will ich erzählen, wie der Name der Aktion ‚Straßenkinder in Addis Abeba’ zustande kam.
Das von uns zu Weihnachten 1974 gesammelte Spendengeld
für Äthiopien (8304,75 DM) wurde von dem Hermannsburger
Pfr. Johannes Launhardt, der damals vor Ort Schatzmeister
der Mekane Yesus Kirche war, verwendet, um 17 Mädchen
und Jungen, die er zusammen mit seiner Frau von der Straße
holte, Hilfe zur Selbsthilfe zu geben.
Die Lage in Addis Abeba war damals so dramatisch, dass ungeheuer viele hungernde Kinder durch die Straßen ‚streunten’.
Das kommunistische Regime Mengistu wollte aber mit der
Hauptstadt einen guten Eindruck machen. Deshalb wurden
diese bettelnden und herumstreifenden Kinder von der Straße
eingesammelt und in ein Auffanglanger nach Siga Meda gebracht. Von dort sollten sie nach Kuba gebracht werden, um
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sie einerseits in Addis loszusein und ihnen andererseits eine
kommunistische Erziehung zukommen zu lassen.
In Kenntnis dieser Verbringungspläne schlug uns der damalige
Generalsekretär der Mekane Yesus Synode, Gudina Tumsa,
ein Pilotprojekt vor, das von Marburg nach Addis helfen sollte.
Der Name dieses Pilotprojektes lautete: ‚Helft Straßenkindern
Familien zu finden’.
Pfr. Dr. Mommsen beim 1. Besuch in Addis Abeba 1982 mit
einem Geschenk für jedes
Kind: ein Neues Testament in
der Muttersprache
Durch dieses Projekt wurden etliche Kinder zu ihren Eltern
oder zu (von der Kirche ausgewählten) Pflegeeltern zurückgebracht. In Addis Abeba wurde das Programm ‚Family Reunification Programme’ genannt. Wir nannten es, wie es heute
so vielen vertraut und bekannt ist: ‚Straßenkinder in Addis Abeba’.
Ich selbst bin 28 Jahre der Beauftragte des Kirchenkreises
Marburg-Land für diese Arbeit gewesen und danke Gott, dass
er mir die Kraft gegeben hat, mich für dieses Projekt einzusetzen.
Mit Gottes Hilfe und in Jesu Namen soll es auch weiter dazu
beitragen, jungen Menschen in Äthiopien Leben zu ermöglichen, das eine Hoffnung auf Zukunft hat.
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Grußwort von Rev. Girma Chaka
Präsident der
Zentraläthiopischen Synode
der Mekane Yesus Kirche,
Addis-Abeba
The Launching of the Addis Ababa Street Children Programme
The former Urban Desk of the then council of the Lutheran
Congregations of Addis Ababa started the Programme in 1974
in co-operation with the Rehabilitation Agency for the Disabled,
a Government ran Humanitarian Agency based in Addis
Ababa. The number of children who were first re-unified was
17. Due to the ever-increasing magnitude of the need, the
number of the target groups and their benefits also started
rising from year to year; besides, the programme also tried to
reach most of the regions, namely, the Amhara National
regional state, the Oromia National regional state and the
Somali National regional state. Consequently, the number of
the beneficiaries has increased from 17 to 1014 now and the
centres have also grown up to 23 at present.
The former Addis Ababa street children, and the present
Family Re-unification Programme is supported financially by
the Marburg-Land Church Circuit. We know that the good
hearted great man Dr. Mommsen is behind this programme
who has approached and won the loving heart of his beloved
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people and his honourable Government to support the Addis
Ababa street children financially. At this juncture, we are happy
to express that hundreds of the beneficiaries of the programme
have gained a lot. To mention some of the achievements,
some of the beneficiaries have become physicians, nurses,
government officials, self employees, garage owners, small
and medium size owners, congregation elders and so on.
Last but not least we would earnestly like to mention that we
would sincerely like to appreciate and thank Dr. Mommsen.
Meanwhile, our profound gratitude goes to the Marburg church
circuit who raises fund and transfers to our church so that the
beneficiaries get support timely and we also appreciate the
confidence the church circuit has entrusted on us. Our sincere
thanks also go to Dr. Karl-Ludwig Voss who is the Dean of the
Marburg-Land church circuit, the Rev. Martin Zekl, and the
board members of the church circuit, not to forget Rev.
Johannes Launhardt as well.
Let the Almighty God Bless the 30th Anniversary of the Family
Re-unification Programme!
In seinem Grußwort erinnert der Präsident an die Anfänge des
Straßenkinderprogramms, das zunächst auf die Unterstützung
von 17 Kindern konzentriert war, aufgrund des ständig zunehmenden Ausmaßes an Bedürftigkeit aber sehr schnell und in
vielfacher Hinsicht durch die finanzielle Hilfe aus dem Kirchenkreis Marburg-Land ausgebaut werden konnte.
Er unterstreicht die besondere Rolle Pfr. Dr. Mommsens für
den Erfolg des Projekts, der nicht zuletzt daran erkennbar sei,
dass aus Straßenkindern Ärzte und Schwestern, Regierungsbeamte, Selbstständige und auch kirchliche Funktionsträger
werden konnten.
Sein tiefer Dank gilt neben Pfr. Dr. Mommsen und Pfr. Johannes Launhardt dem Engagement des Kirchenkreises, für den
er stellvertretend Dekan Dr. Voss und Pfr. Martin Zekl nennt.
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Grußwort von Pfr. Martin Zekl
Beauftragter des Kirchenkreises
Marburg-Land für die Aktion
‚Straßenkinder in Addis-Adeba’
seit November 2001
Wer wissen will, wie unsere Welt aussieht, hat viele Möglichkeiten, es zu erfahren. Doch man kann fragen, ob wir wirklich
immer alles wissen wollen. Ein Mensch, der die Schönheiten –
auch die Nöte – der Welt in fremden Ländern sehen will, muss
beharrlich und genau sein. Oder muss eine gute Hilfe haben –
kenntnisreich und informiert, unbestechlich und kritisch.
Was vor dreißig Jahren anfing, hatte ganz handfest damit zu
tun, dass Menschen bei uns etwas gesehen haben – eine Not
andernorts; und sie haben gesehen, dass sie helfen konnten.
Sehr klein und eher zerbrechlich war es. Als Hilfe für eine bestimmte furchtbare Hungersnot in Äthiopien war es gedacht.
Wir sind dankbar dafür, dass daraus eine verlässliche Einrichtung geworden ist, die schon so lange funktioniert.
Finanzielle Hilfe ist leicht zu transportieren und sie ist zu kontrollieren. Finanzielle Hilfe braucht einen zuverlässigen Partner
– und die Aktion ‚Straßenkinder in Addis Abeba’ hat diesen
Partner in einer im Land ansässigen evangelischen Kirche
auch gefunden: der Äthiopischen Evangelischen Kirche Meka-
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ne Yesus (EECMY). Hier in Deutschland ist der zuverlässige
Partner das Missionswerk Hermannsburg.
Klein war der Anfang, klein wie ein
Senfkorn; aber es ist eine große
Sache daraus geworden. Sehr viele
Jugendliche haben in ihrem Land
eine neue Lebensqualität erfahren.
Einem Land, das auf ganz andere
Weise christlich geprägt ist als unseres und zugleich vom Islam und
von traditionellen Naturreligionen
mitgeprägt wird.
Was diese Aktion ‚Straßenkinder in
Addis Abeba’ durch die vielen Gaben
unzähliger Spenderinnen und Spender aus dem Marburger Land und auch von außerhalb geleistet hat, ist ein Stück von der Herrschaft Gottes, die auf unserer
Erde sichtbar wird, nämlich:
ƒ Hilfe, die über die Jahre unsicherer, gefährdeter Jugendzeit hinweghilft, den Schulbesuch ermöglicht und ermutigtes Selbstbewußtsein wachsen lässt;
ƒ Hilfe, die die Bindung an die Familie weiterhin gewährleistet;
ƒ Hilfe, die mit einer evangelischen Gemeinde verbindet und
das Bild Jesu Christi in geschwisterlicher Nähe zeigt.
Ich sehe auf die Aktion ‚Straßenkinder in Addis Abeba’ als einer, der aus der Pfarrerschaft des Kirchenkreises MarburgLand Verantwortung für dieses Projekt übernommen hat, mit
besonders dankbarem Herzen und wünsche allen, die diese
Aktion unterstützen, ein ebenso dankbares Herz.
Wir können an diesem bescheidenen Platz dazu beitragen,
dass die Welt nicht bleibt wie sie ist, sondern durch Liebe und
Treue um Jesu willen verändert wird.
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Dem ganzen Menschen dienen
Was charakterisiert das Projekt ‚Straßenkinder in Addis Abeba’?
Von Dekan Dr. Karl-Ludwig Voss
Im Herbst 1994 war ich dabei, mich mit meiner neuen Aufgabe
als Dekan im Marburger Land anzufreunden und vertraut zu
machen. Bald kam der Beauftragte des Projektes ‚Straßenkinder’ zu mir. Er wollte mir die Wichtigkeit und Bedeutung dieses
Arbeitsgebietes ans Herz legen.
Aber erst nach einigen Wochen sollte ich merken, dass diese
Partnerschaft mit äthiopischen Christen und die Teilhabe am
Leben von damals noch 800 und heute 1014 Kindern unvergleichlich wichtig und für alle Beteiligten bereichernd ist.
‚Dem
ganzen
Menschen
dienen’ lautet das Leitwort der
evangelischen Mekane Yesus
Kirche. Dieses ganzheitliche
Menschenbild kommt auch im
gemeinsamen Projekt zum
Tragen.
‚Dem
ganzen
Menschen
dienen’ – das bedeutet, dass
es nicht allein um materielle
Hilfe geht, mit der sich auch
viele andere Organisationen dankenswerter Weise engagieren,
sondern es geht auch um eine geistlich religiöse Dimension bei
unserem Projekt.
So hat sich ein selbstverständliches gegenseitiges Geben und
Nehmen, Nehmen und Geben zwischen Christen und Gemeinden des Kirchenkreises Marburg-Land und Gemeinden
der ‚Zentraläthiopischen Synode’ der Mekane Yesus Kirche
entwickelt.
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Unsere Partnerschaft ereignet sich ‚auf Augenhöhe’
zwischen den beteiligten
Menschen in Deutschland
und in Äthiopien. Das ist gut
und prägt unsere ‚christliche
Gemeinschaft’.
Zur Zeit belaufen sich die
materiellen Leistungen pro
Jahr auf etwa 130.000,- Euro. Aber mit Geldsummen ist eben
nur ein Teilbereich dessen benannt, was wir in dieser Partnerschaft haben. Ebenso wichtig – wenn nicht sogar wichtiger! –
ist der Austausch von konkreten Lebens- und Glaubenserfahrungen und das ‚informierte Beten’ füreinander.
Es ist gut, gemeinsam eine Lebensbasis zu suchen. Denn ‚Lebens- und Glaubensqualität’ ist kein deutsch-europäischer Exportartikel für ein afrikanisches Land.
Es kann auch nicht darum gehen, dass sich Einzelne mit einem solchen Projekt profilieren und ihr Image pflegen. Darum
ist das Projekt ‚Straßenkinder in Addis Abeba’ nicht an einzelne Personen, sondern an die Gemeinschaft der Kirchengemeinden unseres Kirchenkreises gebunden. Mir scheint es
richtig, dass mit unserer Partnerschaft im Rahmen der äthiopischen Gesellschaft ein positiver Lebensanstoß gegeben wird,
der in diesem konkreten Fall gefährdeten jungen Menschen
zugute kommt.
Erstaunlich ist übrigens, dass sich dieses Projekt auch positiv
auf das Zusammenleben von Christen und Kirchengemeinden
in der Marburger Region ausgewirkt hat. Auch hier ist deutlich
spürbar, dass wir immer wieder neu eine Theologie brauchen,
die sich am elementar Menschlichen orientiert und dem Leben,
d. h. dem ganzen Menschen dient. Den Anstoß zu einer solchen Theologie können wir uns im Hören auf das Leitwort der
Mekane Yesus Kirche geben lassen: ‚Dem ganzen Menschen
dienen’.
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Fußbälle für Straßenkinder
Von Landespfarrer für Diakonie Martin Slenczka
„Zwei ganz wichtige Anliegen habe ich, wenn Sie bei uns im
Kirchenkreis Marburg-Land Dekan werden.“ Mit diesen Worten
sprach mich der damalige Pfarrer der Gemeinde der Trinitatiskirche in Wehrda, Pfarrer Dr. Mommsen, an, als ich im Juni
1982 zur Vorstellung in die Pfarrkonferenz gekommen war.
Das eine Anliegen war die Förderung der Partnerschaft mit
dem Kirchenkreis Querfurt bei Halle a. d. Saale. Das andere
war das Projekt ‚Straßenkinder in Addis Abeba’, aus dem später die Partnerschaft des Kirchenkreises mit der Mekane Yesus
Kirche in Addis Abeba geworden ist.
Beides habe ich damals gern zugesagt. Beides hat dann auch
einen ganz wichtigen Platz in meiner Tätigkeit als Dekan des
Kirchenkreises Marburg-Land eingenommen.
„To serve the whole man“ lautet ein Leitsatz der Mekane Yesus Kirche, mit dem sie ihr Selbstverständnis und ihre Aufgabe
beschreibt. Darauf kommt es an. „Dem ganzen Menschen dienen“, das ist auch der Leitgedanke beim Projekt ‚Straßenkinder
in Addis Abeba’. Mit einer Spende von 45,00 äthiopischen Birr
(damals ca. 30,00 DM) im Monat konnte in dem von Mangel
und Hunger schwer gezeichneten Land einem Kind nicht nur
zu essen und zu trinken, sondern auch Kleidung, Gesundheitsfürsorge und Schuldbildung gegeben werden.
Als eine kleine Initiative hatte diese Partnerschaft in der Trinitatiskirche in Marburg-Wehrda begonnen. Zuerst waren es fünf,
dann 17 und schließlich 250 Kinder, die in das Programm aufgenommen waren, als ich Gelegenheit hatte, mit einer Delegation des Kirchenkreises persönlich nach Addis Abeba zu reisen, um mich vor Ort von der Wirksamkeit des Projektes zu
überzeugen. Partnerschaften mit anderen Kirchen sind nie
Einbahnstraßen, bei denen von unserer Seite vor allem Geld
fließen soll. Partnerschaften haben – richtig verstanden – im-
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mer zwei Wege der Erfahrungen und der Hilfe, bei denen es
auch um noch sehr viel mehr geht als nur um das Geld.
Beim Besuch in einer
Gemeinde erlebten wir,
wie die Kinder vor dem
Gemeindehaus
Fußball
spielten. Freilich, einen
Fußball hatten sie nicht.
Aus Lappen zusammen
gebunden war der Ball,
mit dem sie in der gleichen Weise begeistert
spielten, wie Kinder es bei uns tun. Einen richtigen Ball hätten
sie gern gehabt, aber in der Weltstadt Addis Abebeba war er
für sie unerreichbar. Diese Erfahrung hat mich sehr bewegt.
Ich fragte unsere äthiopischen Begleiter, ob es irgendeine
Möglichkeit gäbe, einen Fußball zu besorgen. Und tatsächlich,
unsere Begleiter setzten alle Hebel in Bewegung, um einen
Fußball zu besorgen. Im Hilton-Hotel wurden sie schließlich
fündig. Am nächsten Tag konnte ich den Kindern persönlich
einen richtigen Fußball überreichen. Man kann sich kaum vorstellen, wie groß die Freude und Begeisterung der Kinder war.
Später wurde aus diesem Anstoß eine Fußball-Aktion der Kindergottesdienst-Kinder aus Marburg-Land für die Kinder in
Addis Abeba. Mit ihren Kollekten-Geldern sammelten die Kinder für dieses Projekt, an dem sie damit sehr konkret beteiligt
waren. So konnten zahlreiche Fußbälle von Marburg-Land
nach Addis Abeba geschickt werden. Eine Aktion, an die ich
bis heute mit großer Freude und mit Dankbarkeit denke.
Dankbar bin ich mit dem Kirchenkreis dafür, dass aus dieser
Partnerschaft ein so lebendiges Miteinander geworden ist, das
seine Bedeutung trotz aller Veränderungen bis heute behalten
hat. Ich wünsche der Partnerschaft auch weiter ein gutes Gedeihen und Gottes reichen Segen.
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Kommt und staunt
Von Pfr. Hans-G. Hentschel
Dies ist ein Heft, das ganz der Aktion ‚Straßenkinder in Addis
Abeba’ gewidmet ist. Seit dreißig Jahren gibt es ein reges Hin
und Her von Gedanken, Gebeten und Gesprächen mit den
Gemeinden der Mekane Yesus Kirche in der Zentralsynode
Addis Abebas in Äthiopien.
Dies ist ein Heft, das ganz dem Wunder des Wachstums gewidmet ist. Aus kleinen Anfängen ist etwas Großes und vielleicht sogar Großartiges geworden.
Darum soll mit dem Titel ‚Kommt und staunt’ und auf diesen
beiden Seiten an ein Gleichnis Jesu erinnert werden, das die
wunderbaren Möglichkeiten des Wachstums vom Kleinen zum
Großen beschreibt.
Da heißt es bei Markus im 4. Kapitel:
Und Jesus sprach: Womit wollen wir das Reich Gottes vergleichen, und durch welches Gleichnis wollen wir es abbilden? Es
ist wie ein Senfkorn: wenn das gesät wird aufs Land, so ist's
das kleinste unter allen Samenkörnern auf Erden; und wenn es
gesät ist, so geht es auf und wird größer als alle Kräuter und
treibt große Zweige, so dass die Vögel unter dem Himmel unter seinem Schatten wohnen können.
Jesus lädt uns alle mit seinem Gleichnis vom Senfkorn zum
Staunen ein. Die Fähigkeit zum Staunen haben viele Menschen über all den Wundern der Technik und des modernen
Lebens verloren, weil ihnen der wunderbare Charakter vieler
Dinge nicht mehr bewusst ist.
Und das Kleine zu bestaunen, haben die meisten ohnehin verlernt.
‚Denkt das Kleine mit dem Großen zusammen und bestaunt
es, denkt den Anfang und das Ende zusammen und bestaunt
ihn’, lädt Jesus mit dem Senfkorngleichnis ein. ‚Bestaunt, dass
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auch das Himmelreich sich vom Kleinen zum Großen entwickelt.’
In den Rahmen solches Staunens über die Möglichkeiten des
Himmelreiches gehört dieses Heft.
Da haben im Oktober/November des Jahres 1973 einige Frauen aus der Gemeinde Wehrdas, die verstorbene Frau Ellen
Jungraithmayr gehörte dazu und Frau Rosemarie von Oppen
war dabei, angesichts des Hungers in Äthiopien eine Haussammlung in Wehrdas Gemeindebezirk durchgeführt, die von
Pfr. Dr. Mommsen als zuständigem Gemeindebezirkspfarrer
mitgetragen wurde.
Es kamen 4.251,- DM zusammen, die der in der Gemeinde
wohnende Professor Hermann Jungraithmayr über den Umweg eines Afrikanistenkongresses in Addis an den Präsidenten
der Mekane Yesus Kirche übergeben konnte, um wohnungslosen Jugendlichen zu helfen.
Im Jahr 1974 machten Schüler der Martin-Luther-Schule eine
Sammlung für Addis Abeba. Es kommen 8.741,98 DM zusammen. Davon werden 15 Volksküchen gegen den Hunger
eingerichtet. Im Jahr 1975 hat man sich vorgenommen, 30 bis
50 Kindern im hungernden Äthiopien regelmäßig von Monat zu
Monat zu helfen. Bei der Weihnachtskollekte kommen
12.618,65 DM zusammen. Jetzt nennt sich das Projekt ‚Straßenkinder in Addis Abeba’.
Im Jahr 1979 werden in Marburg und Umgebung für dieses
Projekt 35.033,10 DM gespendet, im Jahr 1982 113.084,- DM.
Die Zahl der monatlich unterstützten Kinder wird auf 120 erhöht. 1984 erreichen die Spenden 137.571,- DM. Es sind jetzt
150 Kinder. Heute haben wir in den Kirchenkreisen MarburgLand und Kirchhain ein Spendenaufkommen von 133.204,95 €
(= 260.526,24 DM) im Jahr 2002 und es sind 1014 Kinder, die
regelmäßig unterstützt und von der Straße geholt werden.
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Wer ist … ?
1014 Kinder und Jugendliche werden vom Programm des Kirchenkreises Marburg Land erreicht. Die Verantwortlichen im
Marburger Land kennen viele davon aus Begegnungen während der Besuche in Addis.
Pfr. Dr. Mommsen stellte im Jahr 1978 einige Jugendliche vor.
Wer ist Gorfu?
Gorfu ist zwölf Jahre alt. Im Alter von sechs Monaten wurde er
in einem Straßengraben gefunden.
Eine ältere Witwe nimmt das hilflose Kleinkind auf.
Als diese Witwe selbst vom Betteln leben muss, und für Gorfu
nicht mehr sorgen kann, schickt sie Gorfu weg.
Gorfu lebt auf der Straße.
Er wird in das Straßenkinderprogramm aufgenommen, lebt
wieder bei der Witwe, besucht eine Schule.
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Zenebe Yimer in einem Brief vom 21. November 1988
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Wer ist Tsiggie?
Das junge Mädchen Tsiggie ist eines der Kinder, das von uns
unterstützt wird. 15 Jahre alt. Den Vater hat Tsiggie schon vor
Jahren bei einem Unfall verloren. Ihre Mutter ist krank und arbeitsunfähig. Von ihrem Stiefvater kann Tsiggie nicht ernährt
werden.
Tsiggie treibt sich in den Straßen herum, schläft im Freien und
bettelt sich ihre knappen Mittel zum Überleben zusammen.
Tsiggie wird durch das Straßenkinderprogramm unterstützt,
lebt jetzt wieder bei ihrer Mutter.
Mädchen, die solches Glück nicht hatten, verdienen sich ihren
Lebensunterhalt als Prostituierte.
Wer ist Tamirou?
Der Junge Tamirou ist elf Jahre. Seine Mutter starb, sein Vater
ist arbeitsunfähig.
In der vierten Klasse verlässt Tamirou die Schule, um sich in
den Straßen mit anderen Kindern zusammen herumzutreiben.
Nachts geht er zum Vater.
Bevor er ins Straßenkinderprogramm aufgenommen wird, werden seine Lebensumstände untersucht. Man stellt fest, dass
Tamirou und sein Vater in einem fensterlosen Raum ohne
Fußboden schlafen. Zum Essen reicht es nur einmal am Tag
morgens in der Frühe.
Tamirou wird in das Programm aufgenommen, er geht wieder
regelmäßig zur Schule.
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Seit den Anfängen sind etliche Jahre vergangen und andere
Menschen haben die Verantwortung im Projekt übernommen.
Pfr. Martin Zekl stellt von seinem letzten Besuch im Jahr 2001
zwei Jugendliche vor.
Wer ist Emame?
Emame ist 14 Jahre alt, sie lebt in Fiche und geht seit drei Jahren in die Schule. Sie hat vier Schwestern und zwei Brüder.
Ihre Mutter ist vor vier Jahren gestorben, ihr Vater ist kriegsversehrt. Er hat keine Arbeit und kein Einkommen.
Emame lebt in einem Zwei-Zimmer-Haus, das keinen festen
Fußboden und kein dichtes Dach hat. Alle in der Familie gehen
barfuß. Für Schuhe und Bekleidung fehlen die Mittel.
Durch das Straßenkinderprogramm hat Emame fürsorgliche
Begleitung erfahren und freut sich nun über Kleidung, Schuhwerk, tägliche Nahrung und die Möglichkeit, lernen zu können.
In ihrer Gemeinde singt sie im Chor.
Wer ist Ababash?
Ababash ist Vollwaise. Die Mutter ist bei der Geburt gestorben.
Mit ihren vier Geschwistern kam sie bei Nachbarn unter, nachdem der Vater bei einem Unfall ums Leben gekommen war.
Die Waisenkinder lebten bei einem Mitglied der Gemeinde im
Stadtteil Kolfe. Auf Dauer konnte Ababash von der Gemeinschaft nicht mehr versorgt werden.
Die heute neunjährige Ababash ist seit zwei Jahren im Programm in der Gemeinde Kotobe. Sie ist sehr praktisch veranlagt und arbeitet oft im Kindergarten der Gemeinde mit.
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Abdi Temesgens Wünsche für die Zukunft
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Was leistet das Programm
‚Straßenkinder in Addis Abeba‘?
Von Pfr. Martin Zekl
Wenn der Satz „Tu Gutes und rede darüber“ hier gefragt ist,
dann kann die Antwort nur lauten: es ist unglaublich, was dieses einfache Programm tatsächlich – Monat für Monat – leistet:
ƒ 1014 Kinder und Jugendliche werden in zwanzig verschiedenen Gemeinden über eine Zeit von 10 Jahren hin begleitet und getragen – und das seit vielen Jahren;
ƒ sie erhalten Geld für Nahrung, Kleidung, Schuhe, Hygiene,
Schule und medizinische Betreuung;
ƒ sie erhalten freundlich-menschliche Begleitung in geistlicher Hinsicht durch Mitarbeiter der jeweiligen Gemeinde;
ƒ sie bleiben in der Familienstruktur verankert, weil sie bei
der Familie wohnen, und das ist einfach gut afrikanisch;
ƒ es wird keines der Kinder gegenüber den Geschwistern
dadurch bevorzugt, dass es in einem besonderen Haus
wohnt.
So problematisch es scheinen mag, Geld zu schicken – es
schafft den Menschen, die davon leben, Freiheit und bringt sie
zu verantwortlichem Umgang damit.
Was dieses Programm leistet – im Englischen heißt es noch
immer „Family Re-unification Programme“, weil es anfangs
tatsächlich um „Zusammenführung“ ging –, es ist wahrlich viel:
ƒ es ermutigt junge Menschen in jenem Land, ihr Leben in
die Hand zu nehmen;
ƒ es macht sie stark, Verantwortung zu lernen;
ƒ und es ist ein Beispiel für die Gleichberechtigung der
Mädchen und Jungen – und das ist im afrikanischen Kontext bemerkenswert.
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Einmal Segen – und zurück
Von Dekan Dr. Karl-Ludwig Voss
Ein junger äthiopischer Geschäftsmann setzte sich neben
mich. Auch er wollte nach Addis Abeba fliegen. Als er hörte,
dass ich Christ und dazu noch Pfarrer sei, erzählte er mir viel
von sich. Unter anderem auch davon, dass er eine Bibelschule
besucht habe und manchmal als Prediger tätig sei. So unbeschwert und heiter wie ihn habe ich lange keinen Menschen
von seinem Glauben reden hören.
Das war ein guter Anfang unserer Reise. Sie sollte zu zwanzig
Kirchengemeinden der Mekane Yesus Kirche führen. Davon
erzählte ich meinem Nachbarn im Flugzeug, und auch von den
1014 Kindern, die der Kirchenkreis Marburg-Land monatlich
unterstützt. In Zusammenarbeit mit der „Central Synod“ ist diese Hilfe für gefährdete Kinder organisiert, Kinder, die leicht in
das Milieu der Straßenkinder abgleiten könnten. Die Hilfe umfasst Ernährungs- und Kleiderhilfe ebenso wie eine medizinische Vorsorge und Unterstützung bei der Beschaffung von
Lernmaterial für die Schule.
Zwei Personen der Marburger Delegation, Pfarrer Martin Zekl
und Dr. Claudia Kuhnhen waren schon zehn Tage früher gefahren. Sie hatten schon einige der Gemeinden des Kinderprojekts besucht, die weit entfernt im Osten des Landes lagen. Als
Ärztin unterstrich Frau Kuhnhen, „Doktor Claudia“ genannt,
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immer wieder die medizinische Versorgung und auch Maßnahmen zur Aidsprävention. Mein äthiopischer Nachbar freute
sich, von all diesen Dingen zu hören und verabschiedete sich
sieben Stunden später bei der Ankunft in Addis mit einem Segenswort.
Jugendreferentin Wiebke Buff und ich wurden am Flugplatz
erwartet. Und schon am nächsten Morgen fanden die ersten
Begegnungen mit Mitarbeitern der äthiopischen Partnerkirche
statt und bald auch die Treffen mit Eltern, Kindern und Koordinatoren des Hilfsprogramms. Und ein Wort kam immer wieder
vor: Segen, Blessing. Das, was uns miteinander teilen lässt,
materiell und geistlich greifbar und spürbar. Die Spendengelder von Menschen und Gemeinden des Marburger Landes
kommen an, und es kommt etwas zurück, das mehr ist als
Dank.
Im Berufsbildungscenter Selam traf ich u. a. auf den zwanzigjährigen Amare. Schon als Kind war er in seiner Heimatgemeinde durch das Marburger Programm gefördert worden. Wir
konnten uns auf Englisch unterhalten, und so erfuhr ich, dass
er in einem Jahr seine Ausbildung beenden würde. Er hofft
dann, einen Arbeitsplatz als Mechaniker
in einer Werkstatt zu
finden und für sich
selbst sorgen zu
können. Was wäre
aus ihm geworden,
wenn er nicht den
Weg in unser Projekt gefunden hätte?
Um wie viel besser
sind auch die Chancen der beiden jungen Mädchen, die, aus
den Kindergruppen in Kotobe oder Kolfe kommend, jetzt eine
hauswirtschaftliche Lehre absolvieren und uns im Lehrrestaurant beim Mittagessen bedienten.
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Auf eigenen Füßen stehen, das ist das Ziel. Manche erreichen
es durch eine Ausbildung als Schlosser oder als Hauswirtschafterin oder auch durch die Möglichkeit, ein eigenes Lädchen oder eine Friseurstube zu betreiben.
Die unterstützten Kinder und Familien sollten erfahren, dass
ihre Hilfe von konkreten Menschen und nicht von anonymen
Organisationen kommt. Deshalb haben wir auch einzelne Familien aufgesucht: Am Stadtrand von Addis hatten wir die
Hauptstraße
verlassen. Wir mussten
aus dem Geländewagen aussteigen. Vor den primitiven Hütten aus
Wellblech und Planen stolperten wir
über eine freie Fläche, wo Knochen
und alle Sorten von
Müll
herumlagen.
Hier werden sonst Tiere geschlachtet, wurde uns gesagt. Ein
herrenloser Hund streunte herum. Noch ein Sprung über einen
kleinen Abwassergraben, dann standen wir vor einer Wellblechhütte. Dort erwarteten uns eine Frau und ihre etwa zwanzigjährige Tochter. Sie hatten sich durch Spendengelder eine
Kuh kaufen können. Die lebte mit ihnen in derselben Hütte.
Die Frauen versicherten uns, dass die regelmäßigen kleinen
Einnahmen durch den Verkauf von Milch ihren Lebensunterhalt
ganz entscheidend absicherten. Aber es war nicht nur eine
Frage der materiellen Unterstützung. Dass wir uns so ganz
direkt gegenüberstanden, uns fragend oder lächelnd ansahen,
machte das Besondere der Situation aus, nicht nur hier, sondern auch bei vielen anderen Begegnungen.
23
Hans Joachim Krause, seit Februar Pfarrer der deutschsprachigen Gemeinde in Addis, vorher in Wetter/Krs. Marburg tätig,
hat uns mit seiner Frau
Gerlind bei vielen Besuchen begleitet. Ebenso
hat Pfr. i. R. Johannes
Launhardt als Dolmetscher und Vermittler während der ganzen Reise
unschätzbare Dienste geleistet. Jahrzehnte hat er
in Äthiopien gelebt und die Mekane Yesus Kirche mit aufgebaut. Er spricht fließend die gebräuchlichsten Sprachen, das
offizielle Amharisch und das verbreitete Oromija.
Immer wieder hat mich die spontane und herzliche Art des
menschlichen Umgangs angesprochen. Wir haben sie auch in
den Gottesdiensten erlebt, wenn Menschen durch begeisterte
Zwischenrufe u. a. mich als Prediger ermuntert haben.
Nach vierzehn Tagen trafen wir uns abends
am Flughafen, um uns zu verabschieden.
Ato Daniel (rechts), der äthiopische Leiter
unseres Programms, ebenso wie Kes Girma,
der Präsident der zentraläthiopischen Synode, und andere Freunde waren zum
Abschied gekommen. Gerührt und erfüllt von
vielen lebendigen Erfahrungen ließen wir uns in die Sitze des
Airbusses fallen.
Als ich unter den Fluggästen, zwei Reihen vor mir, den jungen
Geschäftsmann vom Hinflug wiedererkannte, war es ganz natürlich, dass wir uns fröhlich umarmten. Später gab er mir einen schön geschliffenen zierlichen Granatstein in die Hand mit
den Worten: Thanks. And God bless you. Danke. Und Gott
segne euch. Das gilt schließlich für alle an diesem Projekt beteiligten Menschen, in Äthiopien und im Marburger Land.
24
Paul und Mia: Freunde
Von Gesa Hentschel
Mia:
Wir haben einen Neuen in der
Schule. Der kommt aus Äthiopien. Weißt du, wo das ist?
Paul:
Ja, das weiß ich. Das ist in Afrika.
Wenn du dir Afrika im Atlas
anguckst, sieht das aus wie ein
Pferdekopf und da, wo die Ohren
sind, da ist Äthiopien.
Mia:
Woher weißt du das denn so
genau?
Paul:
Ich habe Freunde in Äthiopien. Die leben in Addis Abeba.
Das ist die Hauptstadt.
Mia:
Freunde in Äthiopien? Das ist doch sehr weit weg.
Paul:
Naja, eigentlich sind es Kinder, die ich noch nie gesehen
habe, aber wir helfen denen vom Kindergottesdienst aus.
Schicken denen was von unserem Geld. Dann kriegen sie
was zu Essen und Spielsachen und Klamotten.
Mia:
Das würde ich nicht gerade Freunde nennen, aber eine gute
Idee ist es trotzdem.
25
Anstoß- und Durchhalteenergie
Von Pfr. Hans-G. Hentschel
Jede Bewegung benötigt Energie. Das wissen wir alle. Auch
die Aktion ‚Straßenkinder in Addis Abeba’, deren dreißigjähriges Bestehen wir bedenken, braucht und brauchte Energien.
Energien, die Menschen eingebracht haben, um auf die
Schwestern und Brüder immer wieder hinzuweisen, denen es
in weit entfernten Landen oft genug am Allernötigsten fehlt.
Anstoßenergie ist eine andere Energie als die des Durchhaltens. Beide Energien aber sind nötig, wenn ein Werk gelingen
und bleiben soll.
So denken wir im Kirchenkreis an die Anstoßenergie zurück, die Frau und
Herr Jungraithmayr im Oktober 1973 aufgebracht haben, als sie darauf hinwiesen, dass ‚am anderen
Ende der Welt’ – in Äthiopien
– Menschen in großem
Elend leben, denen auf
eigentlich ganz einfache
Weise
geholfen
werden
kann: Auf spendende Weise.
Dass Herr Professor Jungraithmayr als gefragter und
vielreisender Afrikanist hier
besondere
Verbindungen
und Möglichkeiten hatte, war
hilfreich.
Wir denken aber im Kirchenkreis immer wieder auch an die
Durchhalteenergie, die dann Pfr. Friedrich Jens Mommsen
aufgebracht hat, um aus den bescheidenen, menschenfreund26
lichen und nächstenliebenden Anfängen einer Idee zur Hilfe
ein Hilfsprojekt zu gestalten, das heute 1014 Kindern und Jugendlichen zugute kommt.
Wer Pfarrer Mommsen kennt, weiß, dass er ‚die Kinder in Addis’ niemals vergisst, und dass er an vielen Stellen immer wieder für ‚die Kinder’ bittet und drängt. Manchmal bleiben freundliche Bitten auch ungehört, deutliches Drängen jedoch wird
wahrgenommen. Pfarrer Dr. Mommsen hat sich in der langen
Geschichte, die ihn mit dem Projekt ‚Straßenkinder in Addis
Abeba’ verbindet nie gescheut, Gelder zuweilen auch einzufordern. Manche PolitikerInnen erinnern sich daran, wie der
Pfarrer der Trinitatisgemeinde auch quengeln konnte, wenn es
darum ging, den Kindern in Addis etwas zukommen zu lassen.
Das Projekt ‚Straßenkinder in Addis Abeba’ wäre nicht das,
was es heute ist, ohne diesen unermüdlichen Sammler und
Mahner: „Vergesst die Kinder nicht!“
Dabei tat es diesem Durchhalteenergieverbrauch, den Pfarrer
Mommsen – aber auch seine Frau – einbrachte, gut, als sich
dann noch weitere Menschen einfanden, die die Straßenkinder
in Addis Abeba nicht vergessen wollten.
27
Das Projekt wurde von einem Ausschuss der Kreissynode des
Kirchenkreises mitbegleitet, zu dem bis heute Menschen gehören, die sich mit Durchhalteenergie einbringen. Dieser Ausschuss wurde fünfundzwanzig Jahre von Pfr. Dr. Mommsen
und wird jetzt von Pfr. Zekl begleitet.
Er verbringt heute viel Zeit damit, die Kontakte zu pflegen, die
nötig sind, um das Projekt ‚Straßenkinder in Addis Abeba’ weiterhin ‚präsent’ in Köpfen und Herzen der Gemeindeglieder im
Kirchenkreis Marburg-Land zu halten.
Gott selbst hat dem Projekt ‚Straßenkinder
in
Addis
Abeba’
Gedeihen geschenkt und hat
seinen bewahrenden Segen auf
diese gute Aktion gelegt. Es ist
sicher auch sein Werk, dass er
Menschen mit einem großen
Herzen voll Liebe für die fernen
Schwestern und Brüder ausgestattet hat, aber auch mit einem
starken Herzen, das mutig und
offensiv für eine gute Sache zu
kämpfen vermag. Immer wieder
braucht Gott Menschen für sein
Reich.
Wir danken Gott für die genannten und die vielen ungenannten
Menschen, die mit ihrer Durchhalteenergie bis heute dafür sorgen, dass wir mit einer gewissen finanziellen Sicherheit 1014
Kindern Jahr für Jahr helfen können, die Liebe Gottes zu
schmecken, die sich auch darin äußert, dass ferne Geschwister ihnen das Leben sichern.
28
Paul und Mia: Kein Typ
Mia:
Wofür hast du denn hier ein Sparschwein für dich und noch
eins für diesen Typen mit dem komischen Namen Addis stehen?
Paul:
Addis ist kein Typ. Das ist ein Hilfsprogramm für Kinder in
Äthiopien.
Mia:
Und wofür hast du die beiden Sparschweine?
Paul:
Immer wenn ich mal was
Kleingeld habe, stecke ich
es in zwei verschiedene
Sparschweine. Einen Euro
in meins und zwanzig Cent
in das für Addis.
Und zu Weihnachten kaufe
ich
aus
meinem
die
Geschenke für die Familie
und bringe das Addisgeld
als
Spende
in
den
Kindergottesdienst.
Mia:
Keine schlechte Idee, Paul.
29
Gespräch mit dem Ehepaar Mommsen
Geführt von Pfr. Hans-G. Hentschel
Redaktion:
Herr Pfarrer Mommsen, was würden Sie im Rückblick auf
dreißig Jahre ‚Straßenkinder in Addis Abeba’ aus Ihrer Sicht
als den entscheidenden Durchbruch zum Gelingen dieses
Projektes bezeichnen?
Dr. Friedrich Jens Mommsen:
Von nur einem entscheidenden Durchbruch kann man im
Grunde nicht sprechen. Es gab viele Stationen, die Durchbrüche bedeuteten. Der erste war wohl, dass Lehrer und
Schüler der Martin-Luther-Schule im Januar 1974 den Vorschlag zu einer Straßensammlung für diese Aktion machten.
Ich hatte gute Kontakte zu dieser Schule …
Hannelore Mommsen:
Die Schulgemeinde der Martin-Luther-Schule hatte wie viele
andere auch die Sammelaktion zu Weihnachten ’73 mitbekommen. Zudem gingen damals die Bilder aus Äthiopien
unentwegt durch alle Zeitungen und das Fernsehen. Vor allem wurden immer wieder hungernde Kinder gezeigt …
Dr. Friedrich Jens Mommsen:
Ich beantragte auf den Vorschlag der Schule hin die Genehmigung einer Straßensammlung beim Regierungspräsidium. Der Regierungspräsident lehnte diesen Antrag aber
rundweg ab.
Hannelore Mommsen:
Da konnte er auch gar nicht anders handeln, weil sonst viel
zu viele gekommen wären …
Dr. Friedrich Jens Mommsen:
Ich habe dann eine Genehmigung zu einer Straßensammlung von dem damaligen Dekan des Kirchenkreises Mar30
burg-Land, Walter Krug, und seinem Kollegen in MarburgStadt, Walter Lacher bekommen. Das Ergebnis der Straßensammlung betrug über 4000,- DM, was für die damalige
Zeit eine sehr große Summe war.
Redaktion:
War eine Folge dieser Sammelaktion die erhöhte Aufmersamkeit für die Probleme und Nöte in Äthiopien im Landkreis
und im Kirchenkreis?
Dr. Friedrich Jens Mommsen:
Ja, das kann man so sagen. Deshalb fand ich mit der Bitte
um weitere Hilfen für die notleidenden Kinder auch offene
Ohren beim damaligen Oberbürgermeister der Stadt Marburg, Dr. Hanno Drechsler …
Hannelore Mommsen:
Diese Unterstützung ist übrigens durch die Jahre bei allen
Oberbürgermeistern Marburgs bestehen geblieben …
Dr. Friedrich Jens Mommsen:
… und ich fand eine offene Tür bei den Landräten, die seither jährlich eine bestimmte Summe über ihren Fond bei der
Kreissparkasse zur Verfügung stellten. Durch die Vermittlung eines Gemeindegliedes gab es zu Beginn der Aktion
auch zweimal Spenden vom damaligen Ministerpräsidenten
Holger Börner, der von der Aktion vor allem deswegen sehr
überzeugt war, weil 100 Prozent der Spenden, die über
Hermannsburg weitergeleitet wurden, bei den Kindern ankamen. Ich muss allerdings auch sagen, dass ich recht
schnell überall als ‚Bettler’ für unsere Kinder bekannt war …
Hannelore Mommsen:
Wir mussten sehr lachen, als wir einmal beim Einkaufen den
Oberbürgermeister trafen und ganz normal grüßten, als der
schon sagte: ‚Ja, ja. Natürlich werden Sie auch in diesem
Jahr das Geld für Ihre Kinder bekommen.’
31
Nach einem Gottesdienst für die Kinder mit ihren Eltern vor der Hauptkirche in Addis Abeba (1982) – links oben Dr. Friedrich Jens Mommsen.
Dr. Friedrich Jens Mommsen:
Ich habe mich für jede größere Spende immer selbst bedankt und habe den Spendenquittungen, die das Kirchliche
Rentamt ausfüllte, meistens noch ein paar persönliche Zeilen beigelegt. Viele Spenderinnen und Spender kenne ich
gut. Oft haben auch Brautpaare gesagt: ‚Nehmen Sie die
Kollekte bitte für die Straßenkinder’.
Redaktion:
Wie hat die Landeskirche dieses Projekt eines einzelnen Kirchenkreises damals gesehen?
Dr. Friedrich Jens Mommsen:
Zunächst äußerst zurückhaltend. Der damalige Propst, Waldemar Immel, war der Meinung, dass die kirchlichen Hilfen
für Menschen in den Hunger- und Elendsgebieten der Welt
eher aus ‚einem großen Topf’ kommen sollten. Er wollte lieber eine Unterstützung von ‚Brot für die Welt’ oder der ‚Ausbildungshilfe Junger Christen’. Deshalb war er zunächst gegen ein so kleines und regional gebundenes Projekt.
Hannelore Mommsen:
Späterhin hat er es aber auch auf seine Weise unterstützt …
32
Dr. Friedrich Jens Mommsen:
Im Jahre 1982 wurde ich von der Mekane Yesus Kirche zu
einem Besuch eingeladen, weil die Menschen dort einmal
einem Vertreter des Programms einen Dank für alle die unbekannten Spenderinnen und Spender ausdrücken wollten.
Ich beantragte für diesen Besuch Diensturlaub und eine finanzielle Unterstützung, weil ich mir selbstverständlich den
Flug nicht von Addis aus bezahlen lassen konnte und wollte
– und beides wurde rundweg abgelehnt. Der damalige
Propst Dr. Christian Zippert allerdings ließ das nicht auf sich
beruhen und durch seinen Einsatz erhielt ich Diensturlaub
und eine Beihilfe zu den Kosten aus der Kasse des Sprengels.
Hannelore Mommsen:
Dr. Zippert war eigentlich von Anfang an von der Richtigkeit
des Vorhabens überzeugt.
Dr. Friedrich Jens Mommsen:
Als ich von dem Besuch nach einer abenteuerlichen Zeit und
Reise zurückkam – Äthiopien war nicht auf Reisende aus
dem Westen eingerichtet und manche Orte konnte ich nur
erreichen, weil man mich wegen des Doktortitels für einen
Arzt hielt, aber das sind andere Geschichten … – brachte
ich ein persönliches Dankschreiben des damaligen Kirchenpräsidenten der Evangelischen Mekane Yesus Kirche Imanuel Abraham an den Propst mit, das dieser dann an alle
Gemeinden des Sprengels weitergab. Vielleicht ist das der
eigentliche Moment gewesen, in dem die Aktion ‚Straßenkinder in Addis Abeba’ auf eine breite kirchengemeindliche
Öffentlichkeit stieß. Von der Landeskirche erhielten wir für
den Kirchenkreis dann auch bald die Genehmigung, dass
wir die Erntedank- und die Heiligabendkollekten für die Straßenkinder erheben durften. Das war ein bedeutender Schritt.
Dazu bekamen wir von der Landeskirche immer wieder Geld
aus so genannten ‚zwischenkirchlichen Mitteln’.
33
Das Gleichnis vom Senfkorn
auf Amharisch
Markus 4,30–32
Amharisch – die Sprache der Amhara – ist die Amtssprache
Äthiopiens, neben der es rund 70 weitere Sprachen, darunter
Oromija (Galla) und Tigrinja, gibt. Es wird in äthiopischer
Schrift geschrieben, die aus der altsüdarabischen Schrift hervorgegangen ist. Die frühesten Zeugnisse des Amharischen
stammen aus dem 14. Jahrhundert.
Das Gleichnis vom Senfkorn (Markus 4,30–32):
30
Und er sprach: Womit wollen wir das Reich Gottes vergleichen, und durch welches Gleichnis wollen wir es abbilden?
31
Es ist wie ein Senfkorn: wenn das gesät wird aufs Land, so
ist’s das kleinste unter allen Samenkörnern auf Erden; 32und
wenn es gesät ist, so geht es auf und wird größer als alle
Kräuter und treibt große Zweige, so dass die Vögel unter dem
Himmel unter seinem Schatten wohnen können.
34
35
Staunendes Auge, offenes Herz …
Erinnerungen an ‚Addis’ von Wiebke Buff, die zur Zeit des Besuchs Jugendmitarbeiterin im Kirchenkreis war
„Die Sicherheitskontrollen am Flughafen sind sehr streng.
Manchmal lassen sie Fremde nicht rein!“ – Mit unbewegter
Miene schaut sich der junge Zollbeamte meinen Reisepass an.
Unter welcher Telefonnummer ich in Addis erreichbar wäre?
Die Telefonnummer der Mission weiß ich nicht, aber ich darf
nach langem Zögern trotzdem passieren.
Dieser kühle Empfang in Äthiopien
bereitet mich in keiner Weise auf
das Chaos vor, das dann folgt: der
Lärm, der einem entgegenbrandet,
das Gehupe, das Geschrei der
Menschen, Esel, Kamele. Und die
Gerüche: Auspuffgase, Tierdung,
exotische Gewürze! Desorientiert halte ich mich an meinem
Koffer fest, bin noch nicht wirklich angekommen. Von überall
zupfen kleine Jungen an mir rum. „Money, money! Please,
please!“
Im Jeep darf ich am Fenster sitzen; wenn ich nicht so müde
wäre, würde ich mich vermutlich zu Tode fürchten. In den
kommenden Tagen werde ich mich einigermaßen an den äthiopischen Fahrstil gewöhnen.
Erst als ich am nächsten Morgen um fünf Uhr durch den Ruf
des Muezzin einer nahe gelegenen Moschee geweckt werde,
durchfährt es mich heiß – ich bin angekommen.
Vor dem Besuch der ersten Gemeinde bin ich ziemlich aufgeregt!
Die größten Schwierigkeiten habe ich mit der Dankbarkeit, die
die Menschen uns als finanziellen Wohltätern zeigen. Damit
kann ich gar nicht gut umgehen! Wie wenig gebe ich, es tut mir
36
überhaupt nicht weh, ich muss auf nichts verzichten – und hier
überlebt dadurch ein Kind mit seiner ganzen Familie!
Die Äthiopier verstehen unsere Scham in diesen Dingen nicht.
Uns Deutschen fällt es ja sehr schwer, Dankbarkeit zu zeigen
und noch schwerer, sie auch anzunehmen.
Von den Äthiopiern habe ich gelernt, dass man Dankbarkeit
zulassen kann.
Seit Addis gehe ich anders mit Geschenken um. Nie wieder
werde ich über ein Geburtstagsgeschenk sagen: „Das wäre
doch nicht nötig gewesen!“
Ich werde in diesen zwei Wochen verändert. Ich kann viele
Dinge nicht mehr so sehen, wie sie sich mir früher darstellten.
An jedem weiteren Tag in Addis lerne ich und werde von der
Gebenden zur Nehmenden, freue mich auch über die Spontaneität der Menschen hier. Leider kann ich nicht so spontan
sein wie ich es sonst bin.
So bringe ich zwar meine beiden Predigten für Kinder einigermaßen über die Bühne, aber wirklich zufrieden bin ich
nicht, weil ich normalerweise frei rede, den Menschen in die
Augen schaue, auf die Zuhörer eingehe. Da mein Englisch
37
dafür nicht ausreicht, ist mir das in Addis nicht möglich. Ich
habe meine Texte bis aufs i-Tüpfelchen ausformuliert.
Sonntag. Heute sollen
wir in unterschiedlichen
Gottesdiensten
ein
Grußwort sagen. Kes
Girma, der Präsident
der Synode, hat mich
in seine Gemeinde
eingeladen.
Den
Abend vorher habe ich
mir ein paar Sätze
aufgeschrieben. Ich will sagen, dass wir durch das Gebet von
Deutschland nach Äthiopien verbunden sind, will von meinem
Jugendbibelkreis erzählen.
Wir befinden uns gerade im dicksten Verkehr und ich bin damit
beschäftigt, die Beifahrertür des uralten Autos festzuhalten,
damit wir sie nicht verlieren, als mich Bruder Girma (auf Englisch natürlich) fragt: “Nun Ehit (Schwester) Wiebke, worüber
wirst du heute predigen?“
Anders als bei uns, wo der Pfarrer über alles, nur nicht über
zwanzig Minuten predigen darf, ist in Äthiopien nach 40 Minuten noch nicht Schluss. Nach einer kurzen Schrecksekunde
antwortete ich: „Der Heilige Geist wird’s weisen.“ Das tut er
dann auch, und ich bin ihm in diesem Tagen nicht zum ersten
Mal besonders dankbar.
Dass der Geist Gottes unter uns ist, merken wir alle immer
wieder. Täglich erlebe ich ein Stück von Pfingsten: Verstehen,
ohne die Sprache zu können. Sich als eine Familie in Jesus zu
fühlen. Das spüre ich jeden Tag neu.
Ich spüre das in der Umarmung des Kindes, das auf meinen
Schoß geklettert war. Ich spüre es auch beim Frisbeespielen
mit den Jugendlichen nach dem Gottesdienst. Bei den liebevol-
38
len Einladungen zum Essen, wo der letzte entbehrliche Birr in
den Kauf von Lebensmitteln gesteckt wurde.
Viele Dinge fallen mir wieder ein, während ich dies hier schreibe: Ich denke an den kleinen Jungen, der sorgfältig den Asphalt aus der Straße ‚popelt’, um die Bröckchen als Teer für
die Dächer zu verkaufen.
An die Bettlerin, der ich aus Versehen einen 10-Birr-Schein
(ca. 1 Euro) in die Hand gedrückt habe, von dem sie vermutlich
eine ganze Woche leben wird.
An die verkrüppelte junge Frau, deren Gesicht förmlich von
innen her leuchtet.
An den fremden ‚lebensrettenden’ Mann, der mich gerade
noch vor dem heranbrausenden Bus von der Straße zieht. An
die Gewürzhändlerin auf dem Markt…
Ich bin verändert zurückgekommen. Mit staunenderen Augen
und offenerem Herzen.
39
Aus Hungerhilfe wurde umfassende
Lebenshilfe
Von Pfr. Johannes Launhardt
Am 23. April 1973 erhielten
wir in der
Kirchenleitung des Äthiopisch-Evangelischen
Mekane Yesus Kirche einen erschreckenden
Bericht über Dürre und Hungersnot in der
nordäthiopischen Provinz Wollo. Nachdem
Kaiser Haile Selassie im November 1973 die
Provinz Wollo besucht und das erschreckende
Ausmaß der Not gesehen hatte, wurde in den
Medien darüber berichtet.
So erreichte die Nachricht von hungernden Menschen auch
Marburg. Frauen der Wehrdaer Trinitatisgemeinde, darunter
Frau Jungraithmayr, hören von der Not, sammeln Geld und
leiten es nach Addis Abeba weiter. In meiner Gegenwart wird
das Geld dem Generalsekretär der Mekane Yesus Kirche übergeben und direkt für Hungerhilfe verwandt.
Im Februar 1974 sammelten Schülerinnen und Schüler der
Martin-Luther-Schule für die Hungernden in Äthiopien fast
8.800.-DM.
Die Hungersnot in Wollo wurde bald auch in Addis Abeba
sichtbar. Viele Menschen flüchteten in die Hauptstadt in der
Hoffnung, dort Brot und Arbeit zu finden. Nachts schliefen sie
an Hauswänden, tagsüber bettelten sie. Weil uns klar wurde,
dass ein Brötchen oder eine Banane gegen die Not der Menschen keine Lösung darstellen, ging ich zusammen mit einem
äthiopischen Sozialarbeiter dazu über, einzelnen Menschen
eine Berufsausbildung oder Starthilfe zu geben.
Da stand z. B. Nigussie Meressa aus Nordäthiopien mittellos
auf der Straße. Wir gaben ihm von dem Geld aus Marburg
40
300 E$, um einen Führerschein zu machen und sich seinen
Lebensunterhalt selbst zu verdienen.
In manchen Fällen zahlten wir für Jugendliche, die auf der
Straße herumlungerten, das Schulgeld, damit sie einen Abschluss bekämen. Manchmal bestand unsere Hilfe auch nur
darin, einem bettelnden oder kranken Menschen die Busfahrt
in seine Heimat zu bezahlen. Dank der Mittel aus Marburg
konnten wir helfen.
Durch die in Marburg aufgebrachten Spenden begannen wir,
Eltern oder Pflegeeltern von Straßenkindern zu unterstützen.
Einmal im Monat erhielt die Mutter oder Pflegefamilie Getreide.
Das Projekt „Straßenkinder“ bezahlte das Schulgeld direkt an
die Schule, gab einmal im Jahr Schulkleidung aus und besorgte die medizinische und soziale Begleitung der Kinder. Später
kam noch eine Berufsbildungshilfe dazu.
Dank der unermüdlichen Spendenbereitschaft der Menschen
im Marburger Land konnte die Zahl der unterstützten Straßenkinder in Addis Abeba ständig erhöht werden. Heute sind es
1014 Straßenkinder im Programm. Eine erstaunliche OpferLeistung, für die ich auch im Namen der Empfänger nur danken kann.
Aus einer privaten Initiative ist ein Programm erwachsen,
durch das buchstäblich Tausende von Äthiopiern und Äthiopierinnen eine leibliche,
geistige und seelische
Lebenshilfe
erhielten.
Menschen aus Deutschland behielten das, was
Gott ihnen anvertraut
hatte nicht für sich, sonern gaben davon weiter.
Darauf lag und liegt ein
großer Segen.
41
Interview mit Dorle Wilke
Geführt von Joachim Striepecke
Mitglied des Ausschusses für
Mission und Partnerschaft
seit 1973
Redaktion:
Frau Wilke, Sie sind eine derjenigen Personen, die das Projekt ‚Straßenkinder in Addis Abeba’ von Anfang an miterlebt
haben. Wie hat eigentlich alles begonnen?
Dorle Wilke:
Es war im Jahr 1973 als Frau Jungraithmayr eines Tages
von einer Afrikareise zurückkam, auf der sie mit ihrem Mann
war und sagte, dass dort Kinder in großer Not seien. Da
müsste doch Abhilfe geschaffen werden. Und da weiß ich,
dass Pfr. Mommsen sofort bereit war und sagte: „Wir wollen
mal sehen, was wir tun können.“ – Das würde ich sozusagen
als Geburtsstunde empfinden.
Redaktion:
Wie ging es denn daraufhin weiter?
Dorle Wilke:
Oh, dann ging es sehr schnell. Es war klar, wie viel Geld
man brauchte, um ein Kind zu unterhalten. Nämlich ungefähr 30 DM pro Monat. Das weiß ich deshalb, weil jeder, der
42
mithelfen wollte, sich fragte, „Kann ich ein Kind, kann ich
zwei Kinder unterstützen“.
Redaktion:
Wozu wurde das Geld verwendet?
Dorle Wilke:
Die Hilfe wurde zum einen für den Unterricht gebraucht. Außerdem sollten die Kinder im Jahr ein Paar Schuhe bekommen, zweimal im Jahr ein Stück Seife und natürlich die Ernährung. Sie haben „Teff“ – das ist ein ganz kleines schwarzes Korn, was wir vielleicht Reis nennen würden. Nach dem
Kochen können daraus z. B. Eierkuchen gebacken werden.
Redaktion:
Was war Ihnen denn besonders wichtig?
Dorle Wirke:
Ganz wichtig an dem Programm war, dass die Kinder nicht
gesondert in ein Heim kommen, sondern in ihrer vertrauten
Umgebung bleiben. Die Familie sollte gestützt und Aggressionen sollte vorgebeugt werden. Das war der erste Gedanke. Und der ist bis heute geblieben.
Redaktion:
Mit wie vielen Kindern ist es denn 1977 losgegangen?
Dorle Wilke:
Es waren 17 Kinder am Anfang. Und das war für die kleine
Gemeinde schon allerhand. Schließlich musste das Geld
erst einmal aufgebracht werden, wobei auch Pfr. Mommsen
immer sagte, ihm läge mehr daran, langfristig zu helfen,
konkret: Ein Dauerauftrag der läuft und Planungssicherheit
bietet, also keine kurzfristige Aktion.
Redaktion:
Jetzt wurde es also ernst...?
43
Dorle Wilke:
... genau und der erste Schreck folgte unmittelbar: Es war
eben nicht damit getan, dass man vierteljährlich...
Redaktion:
...wurde das Geld direkt überwiesen?
Dorle Wilke:
Nein, das Geld konnte über Herrmannsburg kostenfrei nach
Äthiopien gesandt werden. Aber – um auf das eigentliche
Problem zurückzukommen – der Schreck lag darin, dass
man bei dieser Anzahl von Kindern schon eine Rücklage
von einem Jahr ständig bereit halten musste. Dies ist bis
heute so.
Redaktion:
Wie haben Sie sich damals entschieden?
Dorle Wilke:
Also, ich habe es persönlich so empfunden, bei allem, wie
es uns hier geht, dem Lebensstandard, den wir hier haben,
dass man wenigsten diese Sache unterstützt und sagt: „Gut,
das hier ist mein Ding.“
Redaktion:
Wie viele Kinder sind es eigentlich heute?
Dorle Wilke:
Über 1000 – genau 1014. Es waren eben viel mehr Kinder
auf der Straße und so hatte man sich zum Prinzip genommen, die ärmsten auszuwählen.
Redaktion:
Religion oder das Missionarische spielten keine Rolle?
Dorle Wilke:
Das ist es, was bei diesem Projekt auch wichtig ist: man hat
nicht danach gefragt, „Bist du evangelisch, bist du katho44
lisch, bist du sonst was?“, sondern man hat wirklich die Kinder, die in der größten Not waren, ins Projekt genommen. Es
sollte also ohne religiösen Zwang geschehen. Und das ist
eine Sache, die, wie ich finde, sehr schön und überzeugend
ist.
Redaktion:
Von 17 auf über 1000, das klingt überwältigend. Wie kam es
zu diesem Anstieg?
Dorle Wilke:
Nach manchen Auseinandersetzungen, neuen Spendern
und ebenso vielen Sitzungen hatten wir erreicht, dass diese
jährliche Schwankungsreserve aufgebaut worden war. Und
dann konnten wir daran gehen, das Projekt aufzustocken,
weil wir merkten, hier kommt Geld und da. Das sind sichere
Einnahmen. Pfr. Mommsen hatte manchmal auch große
Spender. Also es wuchs das Kapital an. Und ich erinnere
mich, als wir wieder einmal im Missionsausschuss saßen
und Pfr. Mommsen sagte, wir müssten weitere Kinder aufnehmen – und wir sagten „Nein!“. Es war schwierig und wir
fühlten uns schlecht dabei. Nun, wir konnten nicht spontan
sagen, „Wir machen das!“, sondern es musste ja stets fest
und auf Dauer zugesagt werden. Und wir haben damals um
50, um 20 Kinder echt gerungen. Das lief viele Jahre so.
Redaktion:
Und dann, wie kam es zu der heutigen Zahl?
Dorle Wilke:
Ja, das änderte sich, als man merkte, wie viel Geld man auf
der hohen Kante liegen hatte. Dann wurde auch der Missionsausschuss erweitert. Tja, und die neu Hinzugekommenen sagten: „Es ist doch nicht richtig, dass man hier Geld
auf der ‚Halde’ hat und in der Zeit verhungern Kinder, und
überhaupt, man müsste mehr Kinder aufnehmen.
45
„… die ärmsten Kinder auszuwählen“
Ausschlaggebend für die Aufnahme in das Förderprogramm ist allein die Bedürftigkeit. Es sind die Ärmsten
der Armen, die einen monatlichen Beitrag von umgerechnet rund 15 € für sich und ihre Familien erhalten.
Dabei ist unerheblich,
ƒ ob es sich um Mädchen oder Jungen handelt,
wobei eine möglichst gleiche Berücksichtigung
angestrebt wird;
ƒ welcher Religion oder Konfession die Bedürftigen
angehören: ob protestantisch oder orthodox, ob
ungetauft oder muslimisch;
ƒ in welchem Alter – ein Mindestalter von sechs
Jahren vorausgesetzt – die Kinder und Jugendlichen in Not geraten.
46
Redaktion:
Ihre Reaktion...?
Dorle Wilke:
... ich weiß noch, ich war wie versteinert, weil ich dachte, wir
haben so darum gerungen und jetzt mit einem Mal wurde
zugeschlagen. Und da gab’s ne große Zahl – und es ging!
Redaktion:
Gab es weitere Veränderungen durch die Öffnung des Missionsausschusses?
Dorle Wilke:
Die Erweiterung brachte eine weitere wichtige Sache: Frau
Dr. Kuhnhen, die Leiterin des Gesundheitsamts, stieß in unseren Kreis hinzu und sie brachte eine ganz andere Perspektive in unsere Überlegungen. Ihre Fragen drehten sich
um die medizinische Betreuung. Natürlich gibt es immer
Leute, die sagen, „Das ist doch nicht nötig!“. Ich meine: „Das
ist nötig und das ist gut so!“ Es muss möglich sein, eine Sache zu ändern, zu erweitern, wenn der Grundgedanke erhalten bleibt.
Redaktion:
Zum Schluss ein Blick in die Zukunft...?
Dorle Wilke:
Gerne. – Nun, es hört ja in diesen Tagen eine ganze Generation auf, wenn Sie so wollen. Wir brauchen junge Menschen, die sich für das, was wir tun, begeistern lassen. Wir
Alten haben uns im Missionsausschuss immer gefragt: „Was
haben wir den Menschen in Äthiopien versprochen?“ Und
die Antwort war im Grunde ganz einfach: „Lasst sie doch so
leben, wie sie möchten, bleiben, was sie sind. Unsere Hilfe
ist ein Zeichen zum Leben dieser Menschen, ein Zeichen,
uns geht’s gut und hier helfen wir. – Ja, das tun wir gerne.“
47
Zeuge der Dankbarkeit
Ein Brief von Pfr. Hans-Joachim Krause
Während der letzten 30 Jahre hat Äthiopien infolge von
Kriegen, Hungernöten und dem Übergang zur demokratischen Verfassung große wirtschaftliche, soziale und politische Herausforderungen gehabt. Die Rechte der Kinder
werden mit Füßen getreten.
Einigen Tausend Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen ist die ganzheitliche Fürsorge durch das Marburger Straßenkinder-Projekt in der Evangelischen Partnerkirche Mekane Yesus in Äthiopien heilsam widerfahren.
Dessen bin ich in all den Jahren Zeuge geworden.
Jedesmal, wenn ich ehrenamtlich die „Marburger“ Kinder
in verschiedenen Gemeinden besuche, rührt mich der
tiefempfundene Dank an, den ich durch Mitarbeiter, Eltern und besonders durch die leuchtenden Augen der
Kinder erfahre.
Es fällt mir leicht, diesen Dank weiterzugeben.
Ich hoffe, dass auch in Zukunft psycho-soziale Unterstützung und die Erziehung der Kinder wichtige Methoden
sind, um den Teufelskreis von Ausgrenzung und Stigmatisierung zu durchbrechen.
Möge die Liebe Jesu Christi Geber und Empfänger weiterhin segnen.
48
Paul und Mia: Kaugummi
Mia:
Heute ist Sonntag. Da
haben die Geschäfte
leider zu. Wollen wir uns
ein paar Kaugummis
aus dem Automaten ziehen?
Paul:
Das einzige Geld, das ich
habe, ist die Kollekte für
den Kindergottesdienst.
Mia:
Dann nimm doch das!
Paul:
Nee! Das ist für Addis Abeba.
Mia:
Was ist das denn?
Paul:
Das ist, wenn du statt selber Kaugummi zu kauen, Kindern
in Afrika hilfst, ein anständiges Brot zu kriegen.
49
Almaz' Traum
Von Dr. med. Claudia Kuhnhen
Sie ist 17 Jahre alt, seit 8 Jahren im ‚Straßenkinderprogramm’.
Ich traf sie in Urael, einer Stadtteilgemeinde von Addis Abeba,
im Herbst 2000 bei der letzten Reise unserer Delegation nach
Äthiopien. Sie war in der 12. Klasse, also der Abschlußklasse,
sie hat Englisch gelernt und konnte deshalb direkt mit mir
sprechen, ohne Dolmetscher, der sonst unsere Gespräche
vom Amharischen, der einheimischen Sprache, ins Englische
übersetzen muß. Natürlich ist sie schüchtern, spricht sehr leise
mit mir, der weißen Ärztin aus dem Marburger Land, „Dr. Claudia, hakim natcho“, wie man mich hier vorstellt.
Auf meine Frage, welchen Beruf
sie nach der Schule erlernen
möchte, antwortet sie leise: „nurse“ oder „medical doctor, like
you!“ .Wirklich nur ein Traum –
oder realisierbar? Eine „nurse“ –
Krankenschwester – haben wir
auch bei der MYC, Schwester
Martha. Sie besucht jeden Monat
die Gemeinden, in denen unsere
Kinder leben, und schaut sich die
kranken Kinder an. Sie gibt
einfache Medikamente aus wie
Wurmmittel, Hautsalben gegen
Ekzeme, fiebersenkende Mittel
oder entscheidet, wer eine ärztliche Behandlung braucht. Wir
haben ihr diesmal Zahnzangen mitgebracht, damit sie die
Milchzähne der Kinder ziehen kann.
Almaz kennt sie und ihr Aufgabengebiet, so eine Ausbildung,
vielleicht auch als „health-worker“ (Gesundheitsarbeiter),
möchte sie auch machen!
50
Arbeit gibt es genug! In einem Land, in dem über 40 % der
Bevölkerung Analphabeten sind, meistens die Frauen, kann
man Aufklärung und Information über Gesundheits- und Hygienefragen nur durch direkten Kontakt von Mensch zu
Mensch weitergeben. Bei den schwierigen und gleichzeitig
überlebensnotwendigen Themen wie Verhütung, zur HIV/AidsPrävention oder zur weiblichen Beschneidung werden Gleichaltrige, man nennt es "Peer-Education", dringend gebraucht.
Doch wer zahlt Almaz eine 3-jährige Ausbildung?
In unserem Programm, das Schulgeld, Ernährung, Schulkleidung und medizinische Hilfe zahlt, geht es nach der Schule
nicht weiter. Ein "Startgeld" für eine Erstausstattung als Handwerker hilft ihr nicht. Also wird "nurse" doch ein Traum bleiben? Und gar eine Ausbildung zur Ärztin? Aussichtslos? Ihre
Freundin träumt auch – sie möchte Pilotin werden!
Nie hätten diese beiden Mädchen aus einfachsten sozialen
Verhältnissen überhaupt diese Träume haben können, wenn
sie nicht durch das Programm des Marburger Landes eine
solche Schulbildung und damit Lebenshilfe erhalten hätten! Sie
wissen das, bedanken sich mit den anderen für die geleistete
Hilfe und schauen mich aus großen dunklen Gesichtern und
Augen erwartungsvoll an!
Können wir mehr tun? Können wir einigen, die wir zum Schulabschluß gebracht haben, vielleicht doch eine qualifizierte
Berufsausbildung ermöglichen, indem wir konkret für Einzelne
eine Patenschaft für die Berufsausbildung finanzieren? Natürlich darf das Schulprogramm darunter keine finanziellen Einbußen erleiden, denn die Zahl der hilfsbedürftigen Kinder
nimmt nicht ab!
Träumen wir mit Almaz und ihrer Freundin! Ohne Visionen und
Träume können wir die Zukunft nicht gestalten.
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Wie sieht die politische und soziale
Lage in Äthiopien aus?
Der Versuch einer Standortbestimmung von Pfr. Martin Zekl
Die politische und soziale Lage in Äthiopien ist kompliziert zu
beschreiben, wenn man das als Außenstehender versuchen
will. Das Land sucht im Gegenüber zu den Einflüssen aus Europa, den USA und der arabisch-islamischen Welt nach einer
eigenen Identität.
Das alte Äthiopien war deutlich kleiner und anders, als wir es
heute finden können. Seit dem dritten Jahrhundert war es
christlich geprägt und hatte seinen Ort im heutigen nördlichen
Teil.
Die Städte Aksum und Gondar waren lange Zeit die HauptStädte des äthiopischen Reiches, geprägt von der Kultur der
Amharen. Portugiesisch-katholischer Mission hat es sich zwar
widersetzt, doch waren schon im 17. Jahrhundert Kontakte
nach Europa wichtig, vor allem im Blick auf europäische Waffentechnik.
Im 18. Jahrhundert gelang es, die nicht christlichen OromoStämme im Süden in das Reichsgebiet einzugliedern.
Heute sind es vor allem drei wichtige ethnische Gruppen, die
das äthiopische Leben prägen. Sie stehen in ihren kulturellen
Eigenheiten in Konkurrenz. Zu den Amharen und den Oromo
treten die Tigre, die ursprünglich zu Eritrea gehörten, bis Eritrea in den siebziger Jahren vom kaiserlich-amharischen Reich
annektiert wurde. Diese spät hinzugekommene Tigre-Kultur
beansprucht heute eine führende Rolle, nicht ohne den Widerspruch der anderen beiden Gruppierungen besonders der Oromo. Die Tigre hatten dabei eine herausragende Rolle im
Kampf gegen das vorausgegangene Diktaturregime des Haile
Mengistu übernommen und in diesem Kampf erheblichen Blutzoll gezahlt, aus dem sie meinen, das Recht herleiten zu dür52
fen, ein besonderes politisches Gewicht im demokratischen
Äthiopien zu haben. Bevor der Diktator Mengistu sich die
Macht nahm, hatte Kaiser Haile Selassi geherrscht. Unter der
kommunistisch geprägten Diktatur hatten die Kirchen und die
Christen zu leiden. Viele unserer heutigen älteren Partner in
den Ortsgemeinden der Mekane Yesus Kirche haben lange
Zeit in Gefängnissen verbracht.
Heute ist Äthiopien eine Bundesrepublik, in der es immer wieder zu Spannungen der einzelnen Länder mit der Bundesregierung kommt, die auch mit den ethnischen Gruppenvorlieben zu
tun haben. Die Bundeshauptstadt ist Addis Abeba.
Die Schere zwischen sehr wenigen reichen Menschen und
sehr vielen armen Menschen ist für uns unvorstellbar groß.
Viele Menschen haben außer der eigenen Arbeitskraft nichts,
um ihr Leben abzusichern. Bezahlte Arbeit aber ist knapp.
Hilfsorganisationen aus Europe und den USA stehen hier ein
und wenden sich besonders den Kindern und den Jugendlichen zu. Lange Wartelisten geben Zeugnis über die Hoffnung
vieler äthiopischer Eltern, dass ihre Kinder über den Weg der
Förderung durch Hilfsorganisationen einer guten Zukunft entgegengehen können, die vor allem durch Ausbildung gesichert
werden kann. Jedem Ausbildungsbemühen zuvor steht aber
der tägliche Bedarf an Nahrung, Kleidung, medizinischer Hilfe
und vielen anderen Dingen, die das Überleben sichern.
53
Paul und Mia: Total gleich
Von Gesa Hentschel
Mia:
Weißt du, was ich blöd
finde?
Paul:
Was denn?
Mia:
Ich finde es blöd, wenn
die Jungs den Mädchen
vorgezogen werden. Ich
habe im Fernsehen gesehen, dass sich in manchen Ländern bei Geburten die Eltern viel mehr
über Jungs als über Mädchen freuen. Und die Jungs dürfen
zur Schule, lernen Lesen und Schreiben und die Mädchen
müssen arbeiten und können nicht zur Schule.
Paul:
Weil das ungerecht ist, unterstützen wir im Kindergottesdienst auch die Aktion ‚Straßenkinder in Addis Abeba’. Da
werden Jungs und Mädchen total gleich behandelt.
Mia:
Lernen da auch Mädchen Schreiben und Lesen?
Paul:
Klar. Da gibt es keine Unterschiede. Das finde ich gut.
Mia:
Ich auch.
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Fiche
Von Pfr. i. R. Dr. Friedrich Jens Mommsen
Bei der jährlichen Mitteilung über die in den einzelnen Gemeinden unterstützten Kinder tauchte 1987 ein mir bis dahin
unbekannter Ort auf. Die Rückfrage ergab, dass in Fiche ca.
125 km nördlich der Hauptstadt besondere Dürre und Bürgerkrieg herrschten. Fiche war damit der erste Ort, in dem unsere
Aktion über die Stadt Addis Abeba hinausging.
Deshalb wollten Dekan Slenczka und ich 1988 unbedingt auch
die Kinder in Fiche besuchen. Doch uns wurde von der Synode
mitgeteilt, dass das nicht möglich sei, weil in dem Bürgerkrieg
in diesem Gebiet schon Mitarbeiter verletzt worden seien. Als
wir dann 1988 in Addis Abeba ankamen, war dann aber doch
ein Besuch in Fiche zusammen mit der Synodenleitung geplant. Empfangen wurden wir im Büro der Staatspartei des
Diktators Mengistu; denn die Kirche besaß dort keinen eigenen
Raum. Eltern und Kinder waren in einem Hinterhof versammelt
und erhielten dabei auch ihren monatlichen Unterhalt aus unserem Programm ausgezahlt.
Der Parteisekretär bedankte sich für unsere – wie er betonte –
selbstlose Hilfe aus dem fernen Europa. Er lud uns – ebenfalls
ungewöhnlich – danach zu einem Essen ein. Aufgrund dieses
Besuchs bekam die Mekane Yesus Kirche in Fiche ein Stück
Land, das sonst allein dem Staat gehörte. Bei unserem nächsten Besuch 1992 fanden wir auf dem Areal nicht nur „unsere“
nun 100 Kinder, sondern auch eine Kirche, ein kleines Verwaltungsgebäude und vor allem ein Wasserreservoir mit einer
Wasserleitung in den Ort mit 20.000 Einwohnern vor.
Die Menschen brauchten nun nicht mehr ihr Wasser aus den
Pfützen zu schöpfen. Das war nach dem Grundsatz dieser
Kirche geschehen, immer dem ganzen Menschen zu helfen. In
Fiche war dadurch eine lebendige christliche Gemeinde entstanden – wie das auch in den meisten anderen Orten unseres
Hilfsprogrammes geschah.
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Zu guter Letzt
Ein ganz herzlicher Dank muss und soll zum 30jährigen Bestehen der Aktion ‚Straßenkinder in Addis Abeba’ auch dem
Kirchlichen Rentamt Marburg ausgesprochen werden. Ohne
die ungezählten Arbeitsstunden, die die MitarbeiterInnen des
Rentamtes darin investiert haben, die Spenden und Kollekten
aus dem Marburger Land weiterzuleiten, und die Spendenquittungen zu schreiben, ohne dafür einen Betrag in Rechnung zu
stellen, könnte die Hilfe nicht die sein, die sie ist.
Namentlich danken wir für alle MitarbeiterInnen Herrn Heinrich
Wagner, der die Verwaltung der ‚Addis-Konten’ übernommen
hat und Herrn Helmut Wenz, der als Leiter des Rentamtes das
Projekt nicht allein wohlwollend, sondern immer auch tatkräftig
von der verwaltungstechnischen Seite her begleitet.
Nicht unerwähnt bleiben soll die Tatsache, dass dieses Heft
mit einer extra für den Druck bestimmten Spende finanziert
werden konnte.
Wir sind gewiss, dass Gott die fröhlichen Geber liebt und verbinden auch hiermit das Versprechen: Ihre Spende kommt an.
Spendenkonten der Aktion ‚Straßenkinder in Addis-Abeba’
Konto-Nr. 12467
Sparkasse Marburg-Biedenkopf
BLZ 533 500 00
Konto-Nr. 2800101
Evangelische Kreditgenossenschaft Kassel
BLZ 52060410
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