Wie Arbeiterfamilien im Wedding lebten
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Wie Arbeiterfamilien im Wedding lebten
Liebe Leserinnen und Leser, Geschichte und Geschichten – nicht zufällig sind beide Worte ähnlich. In den Geschichten, die sich mit einem bestimmten Gebiet verbinden, verbirgt sich auch dessen Geschichte. Wir gehen in dieser Ausgabe der Geschichte und den Geschichten des Kiezes nach. Titelfoto Quelle: Mitte Museum, Bezirksamt Mitte von Berlin. Motiv: Alteisen- und Metallwaren-Handlung Max Rochow, Gerichtstreße 52, 1905 Zum Beispiel in der Wiesenburg. Während eines Rundgangs durch die zum großen Teil verfallenen Gebäude erzählte uns Joachim Dumkow, der seit seiner Geburt in der Wiesenburg lebt, einiges über deren Entstehung als Obdachlosenasyl und über ihre weitere wechselhafte Geschichte. Der Wedding war früher bekannt als eine Hochburg der Arbeiterbewegung. Dies gründet WeddingGeschichte Der erste Januar 1861 war ein bedeutender Tag. Zusammen mit Gesundbrunnen und Moabit wird der Wedding offiziell ein Teil von Berlin. Über 600 Jahre zuvor – 1251 – wurde der Wedding erstmals urkundlich erwähnt. Man muss sich den Wedding bis zur Industrialisierung als eine kleine Ansammlung von Häusern außerhalb der Stadtmauern Berlins vorstellen. Der Wedding galt als notorisch bedürftig und wenig rentabel, sodass der Landkreis Niederbarnim sich über die Eingemeindung des Wedding in das Stadtgebiet von Berlin erleichtert zeigte. Auch Berlin hatte lange gezögert, den Wedding einzugemeinden. Doch mit der Industrialisierung änderte sich die Lage. Berlin war eine Weltstadt geworden. Die Innenstadt wurde mit Verwaltungs- und Repräsentationsbauten neu gestaltet. Arbeiter und Angestellte zogen in die Randbezirke, wo inzwischen Fabriken ihren Platz fanden. Ernst Schering, Begründer einer der größten Chemiekonzerne, eröffnete 1871 die »Chemische Fabrik auf Actien (vormals E. Schering)«. Der Druckmaschinenhersteller Rotaprint errichtete seine Fabrik in der Gottschedstraße. Im OsramWerk, dem ehemals größten Glühlampenwerk Europas, wurden bis in die 1980er Jahre Glühlampen produziert. Der Ingenieur Emil Rathenau gründete ein Werk, welches später unter dem Namen AEG (Allgemeine Elektricitäts-Gesellschaft) zur größten Fabrik des Wedding in den 1920ern werden sollte. sich auch in den Wohnverhältnissen der Arbeiter. Wir geben einen kleinen Einblick, wie die Menschen damals lebten. Und was wissen Sie, die Anwohner, über die Geschichte des Areals? Unserer Straßenumfrage. Die Rückseite bietet ein gewohntes, aber auch ganz neues Bild. Dieses Mal haben wir passend zum Thema eine historische Karte von 1893 gewählt, auf der Sie sehr anschaulich nachvollziehen können, wie sich der Kiez seit damals verändert hat. Geschichte, das ist der Blick zurück. Damit allein wollen wir uns nicht zufrieden geben. Deshalb wird das Thema unserer nächsten Ausgabe „Zukunft“ sein. Wir freuen uns darauf! Viel Spaß beim Lesen wünscht Ihre Redaktion Mit den Fabriken kam nicht nur Arbeit, sondern Armut, Wohnungsnot und soziales Elend. Die Arbeiter organisierten sich im Metallarbeiter-Verband, Vorgänger der IG Metall. Arbeitskämpfe wurden erbittert geführt, Streiks organisiert. Der Wedding war auch ein Zentrum der Mieterstreikbewegung. Dazu kamen politischen Auseinandersetzungen mit den zunehmend auftretenden Nazis und deren SA. Die NSDAP beschrieb die Stimmung Ende der zwanziger Jahre so: »Die verhetzten Marxisten bewarfen die SA mit Blumen, an denen aber noch die Töpfe waren.« Doch nach der Machtübernahme der Nazis 1933 wurden die meisten Kommunisten und Sozialdemokraten verhaftet, getötet oder in KZs verschleppt. Trotzdem gab es im Wedding kommunistische Widerstandsgruppen. Nachdem man ihre Synagogen zerstörte, wurde die jüdische Bevölkerung vernichtet; Stolpersteine in den Straßen erinnern an ihre ehemaligen Wohnorte. Nach dem Krieg wurde der Wedding Teil Westberlins. Viele Gebäude wurden saniert oder abgerissen und neugebaut – wie die Ernst-Reuter-Siedlung oder das Kurt-Schumacher-Haus. Ein Teil der alten Bausubstanz ist verloren gegangen, neue entstand. Die Wiedervereinigung 1990 hat den Wedding aus dem Grenzgebiet in die Mitte der Stadt geholt. Doch auch andere Entwicklungen prägen die Gegenwart. Die Fabriken sind zu. Viele Menschen arbeiten heute im Dienstleistungssektor, andere sind arbeitslos. Wohin die Entwicklung des Wedding, dem ehemaligen Arbeiterbezirk, geht, wird sich zeigen. Jakob Hayner Ausgabe 3/2013 Editorial Standpunkt Geschichte, was sagt uns das noch? Sind Traditionen und Gedenktage nicht zu Ritualen erstarrt, die wir über uns ergehen lassen? Heute ist doch angesagt, sich auf die Gegenwart zu konzentrieren und zu erleben, was der Moment bringt. Trotzdem, wer in einem alten Großstadtbezirk wohnt, stößt überall auf Spuren der Geschichte. Man fragt sich: Was war hier, wie ist das entstanden, wie wurde hier gelebt, was ist hier passiert? Das alltägliche Leben im Weddinger Quartier ist überall von Geschichte geprägt: Schüler lernen in Schulgebäuden aus der Gründerzeit. Neue Unternehmen richten sich mit ihren Schreibtischen, Computer und Ateliers dort ein, wo früher an Werkbänken und Maschinen gearbeitet wurde. Viele Weddinger Wohnungen zeigen in Anlage und Zuschnitt, wie hier früher gelebt wurde. Hier kommt ein Lebensgefühl auf, das immer wieder an die geschichtliche Erinnerung stößt. Das nachbarschaftliche Leben mit allen Generationen bewegt sich ständig auf historischen Ebenen. Ob die Alten von den „guten“ oder „schlechten“ Zeiten sprechen, immer erzählen sie anschaulich, was sich früher unter Menschen abgespielt hat. Sie als Zeitzeugen zu befragen, lohnt sich und als Zuhörer ist man erstaunt, welches riesige Spektrum an Lebensgeschichten sich in einem Stadtteil in den wechselnden Zeitläufen angesammelt hat. Wie stark prägt die Geschichte ein Quartier? Der Begriff des „Roten Wedding“ ist keine endgültige Formel für diesen Stadtteil. Damit werden historische Phasen benannt, die nichts mehr mit der aktuellen Entwicklung zu tun haben müssen. Migration, Zuzug neuer sozialer Gruppen und Berufe, die aktive Bewältigung von Problemen durch engagierte Leute bringen Bewegung ins Quartier und zeigen, dass soziale Gestaltung in der Stadt möglich ist. Die Auseinandersetzung mit der Geschichte schafft ein tieferes Verständnis für die Nachbarschaft. Das stärkt das Bewusstsein, an einem Ort zu leben, in dem die Menschen durch Krisen und gute Entwicklungen einen großen Erfahrungsschatz gesammelt haben. Und es macht Mut, sich immer wieder den Herausforderungen zu stellen und die neue Geschichte des Quartiers mitzugestalten. Ewald Schürmann Kiez aktuell _ Neuigkeiten aus dem QM-Gebiet Reinickendorfer Straße/ Pankstraße Was weißt Du über die Geschichte Straßendes Kiezes? umfrage „Du bist das Fest“ am 13. September auf dem Nettelbeckplatz Das Teezelt macht beim Kulturfestival Wedding Moabit Station an der Panke Festivalatmosphäre auf den Straßen in Wedding und Moabit, hier vor dem Stattbad Wedding „Wir im Quartier“ Kunst- und Kulturvermittlung als Chance für Bildung und Image im Quartier nutzen, das ist die Idee hinter dem Projekt „Wir im Quartier“. Das vom Quartiersmanagement geförderte Projekt führen die „Kulturermittler“ seit Mitte des Jahres hier durch. Neben verschiedensten Aktionen und Angeboten für Kinder, Jugendliche und Erwachsene soll dieses Projekt die Zusammenarbeit der Kunst- und Kulturschaffenden mit schulischen und außerschulischen Einrichtungen fördern. Im Rahmen des Projektes entsteht eine mobile Infrastruktur, um einen alltäglichen Kunst- und Kulturbegriff unter die Leute zu bringen. Zentrales Element ist das QMobil, ein mobiles Atelier mit Außeneinrichtungen auf drei Rädern. Es enthält Arbeitsmaterialien etwa für Objektbau, Puppentheater, oder Fotografie. Im Projekt „Wir im Quartier“, das bis Ende 2015 läuft, werden gemeinsam mit den BewohnerInnen Aktionen erfunden und gestaltet. Ganz nach dem Motto: „Wir alle sind Künstler!“ Die erste Aktion war „Du bist das Fest“ während des Kulturfestivals Wedding Moabit. Aus Kartons bauten Kinder und Erwachsene auf dem Nettelbeckplatz Stühle, Hocker, Bänke, ja, ein Haus mit Dusche. Die ca. 100 Teilnehmer waren auf dem Weg, möglichst viele im Kiez zu erreichen, ein toller Erfolg. Weiter geht’s in der 2. Herbstferienwoche (8.-11.10.2013) mit der Aktion „Porträtier Dein Quartier“ auf vier Plätzen im Kiez. Am 8.10. um 10 Uhr steht der Fotobus auf dem Nettelbeckplatz. Merken kann man sich auch den 23.10., denn das ist der zweite der regelmäßigen Mittwochstermine, an denen von 15 bis 18 Uhr Aktionen für alle im Kiez stattfinden. Näheres dazu jeweils aktuell auf der QM-Website. Panke belebt! Ein neues QM-Projekt rückt die Panke in den Mittelpunkt seiner Arbeit. „Begegnungsanlässe entlang der Panke“ heißt es, und eigentlich verrät der Name schon das zentrale Anliegen der Betreiber. Es geht darum, das Flüsschen mehr ins Bewusstsein des Kiezes zu bringen und die dortigen Freizeitmöglichkeiten dafür zu nutzen, Bewohner aufeinander neugierig zu machen. Das Projekt wird durchgeführt von „Stadtgeschichen e.V.“, einem Verein, der Kultur- und Theaterwissenschaften, Stadtplanung und Stadtsoziologie zusammen führt. Stadtgeschichten erprobt stets neue Formen der Beteiligung, um Menschen einzubeziehen und dabei zu helfen, Vorurteile abzubauen. Von Juni bis September gab es vier Mal ein Teezelt im Kiez – zum letzten Mal während des Kulturfestivals Wedding Moabit neben dem Stattbad. Dort trafen sich Anwohner aus verschiedenen Generationen, Ethnien und sozialen Hintergründen. Ein Highlight war der Besuch einer Gruppe älterer türkischstämmiger Frauen im Stattbad – zwei Sphären, die nicht zwingend zusammen gedacht werden. So aber konnte sich dort ein interessanter Austausch anbahnen. Die nächsten Projekte sind in Vorbereitung. Am 11. Oktober gibt es „Wedding Walking“, einen gemeinsamen Fitness-Spaziergang entlang der Panke. Zum Programm gehören Dehnübungen, Tipps für richtiges Laufen und Gesundheitsberatung. Teilnehmen werden u.a. auch die über ein QM-Projekt ausgebildeten Gesundheitsberaterinnen. Treffpunkt ist um 15 Uhr am Haus Bottrop. Zum Abschluss geht es zu Panke e.V., dem neuen Off-Café an der Panke. Außerdem ist am 11. November zum Martinstag ein Laternenumzug mit Kindern aus drei Kitas geplant. Kultur im Quartier Vom 13. bis 15.09. fand das erste Kulturfestival Wedding Moabit statt. Das Samenkorn dafür liegt hier im QM-Gebiet, wo in den letzten beiden Jahren das Wedding Kulturfestival stattfand. Nun trat das neue Festival mit erweitertem Spielraum und verändertem Konzept auf die Bühne. Anders als zuvor gab es 2013 keine zentrale Spielstätte, das Festival fand an den Orten statt, an denen die Kultur hier im Stadtgebiet entsteht. Geplant war, einen Überblick über die mannigfaltige Kulturszene in den beiden oft unterschätzten Stadtbezirken zu geben. Und der Start war eindrucksvoll: Trotz kurzer Vorlaufzeit gab es mehr als 130 Veranstaltungen in ganz Wedding und Moabit. In den Ateliers, Werkstätten, Eventräumen und Galerien überzeugten sich schätzungsweise12.000 Besucher von Qualität und Kreativität des hier Entstehenden. 2014 wird das im Aufbau befindliche Kulturnetzwerk Wedding Moabit die Ausrichtung des Festivals von der aus dem Stattbad Wedding, dem Kulturnetzwerk Wedding und der Kommunikationsagentur georg+georg bestehenden Ausrichter-Arbeitsgemeinschaft übernehmen. Dein Kiez für die Hosentasche Mit QF2-Mitteln wird bis Ende 2013 ein illustrierter Kiez-Stadtplan entstehen, auf dem die wichtigsten Institutionen, Gebäude und Sehenswürdigkeiten des QM-Gebiets vorgestellt werden. Im Rahmen eines Workshops können sich Anwohner mit Vorschlägen für die Auswahl dieser Punkte und für die Gestaltung der Karte einbringen. Zeitpunkt und Ort dieses Workshops können Sie in Kürze auf der QM-Website www.pankstrasse-quartier.de erfahren. Die Wiesenburg _ Geschichte des Obdachlosenasyls in der Wiesenstraße 55 gegenüber den bis dato verwendeten Holzkonstruktionen in den „Läusepennen“ dar. Es gab um die 30 Festangestellte in Hausmeisterei, Küche, Wäscherei und Werkstätten. Asylhausknechte waren „Allrounder“, die unterschiedlichste Aufgaben übernahmen. Ein Gespräch mit Joachim Wolfgang Dumkow, 46. Der Enkel des ehemaligen Asyl-Koches ist examinierter Krankenpfleger, sowie Filmemacher und Schauspieler. Er lebt seit seiner Geburt im „Beamtenwohnhaus“ der Wiesenburg. Seit 13 Jahren arbeitet er an der Chronik des Obdachlosenasyls. Ende des 19. Jahrhunderts wurde Obdachlosigkeit in Berlin zum gesellschaftlichen Problem. Neben städtischen und kirchlichen Asylen gab es private, die etwas mehr Komfort boten. So unterhielt der Berliner Bürgerverein ein Männerasyl in der Fröbelstraße. Als dieses zu klein wurde, brauchte man ein weiteres. Der Berliner Asylverein für Obdachlose im Wedding wurde gegründet und die Wiesenburg nach weniger als einem Jahr Bauzeit 1896 eröffnet. Grund für dieses rasante Bautempo war ein Ultimatum des damalige Polizeichefs. Er hatte den Bau dieses „Ortes der Verfehlung“ verhindern wollen, um eine Verbrüderung der „assozialen und vagabundierenden Kräfte“ zu unterbinden. Es drohte ein Entzug des Grundstückes, sollte der Bau nicht binnen 12 Monaten abgeschlossen sein. Die Architekten Toebelmann und Schnock, Schüler des Baumeisters Schinkel, setzten die Pläne mit mehr als 400 Handwerkern auf 6.684 qm bebauter Fläche inklusive 6.600 qm funktionaler Kellergewölbe um. Mit ihrer Kapazität für 700 Männer war die Wiesenburg mit ihren ausgeklügelten Hygieneinstrumentarien wie 60 beheizbaren Duschen, 40 Desinfektionsbadewannen, einem Autoklaven (Überdruckreiniger), Wäscherei und Küche ein hochmodernes, funktionelles Asyl. Die Betten mit metallenen Rosten stellten aus hygienischer Sicht einen großen Fortschritt Finanziert wurden Bau und Betrieb der Wiesenburg durch ein Konglomerat Berliner Bürgerlicher um den jüdischen Damenmantelfabrikanten und Sozialisten Paul Singer, Kurator des Asyls, den Geheimrat Prof. Dr. Rudolf Virchow, Hygienebeauftragter und den Bankier Gustav Tölde, Vorstand und Verwaltungsrat. Speisen waren oft Spenden z.B. von der Molkerei Karl Bolle. Obdachlose, die in der Wiesenburg Asyl suchten, waren von der Meldepflicht befreit. Pflichtangaben waren nur, woher man kam und welchen Beruf man hatte. Niemand durfte öfter als 4x im Monat hier nächtigen. Um 18 Uhr öffnete die Wiesenburg: Zuerst wurde der „Asylist“ in „Augenschein“ genommen. Falls nötig, wurde parasitär befallene Kleidung gewaschen, ihr Träger bekam ein Desinfektionsbad. Anschließend gab es Abendbrot: eine Reis- oder Mehlsuppe und 1/7 Laib Brot. Nachtruhe war um 22 Uhr. Rauchen, Alkohol und „Lärmen“ waren absolut verboten. Nach einem „Napf Milchkaffe und einer Schrippe“ musste das Asyl um 6 Uhr morgens verlassen werden. Joachim Dumkow: „Beten musstest Du nicht, Du musstest kein Parteibuch haben, hier warst Du frei. Daher war die Wiesenburg so beliebt bei Vagabunden, Obdachlosen, Streunern, Wanderarbeitern, Erntehelfern und Dienstmädchen.“ Und bis 1910 hatte die Berliner Polizei kein Zutrittsrecht. 1907 wurde das Asyl um 400 Schlafplätze für Frauen erweitert. 1910 starb Paul Singer. Damit versiegte eine wichtige Geldquelle und läutete den allmählichen Verfall ein. Auch aufgrund der neuen Steuerpflicht wurde von nun an eine Gebühr von 10 Pfennig pro Nacht und Gast erhoben. Als im ersten Weltkrieg Soldaten oft verletzt von der Front heimkehrten, hatte das Asyl besonders hohen Zulauf und verzeichnete im Jahre 1915 einen Georg, 57, Industriekaufmann, momentan arbeitssuchend, wohnt seit 4 Jahren im Kiez.„Wedding? Geschichte? Ernst Busch! Roter Wedding! Die Musik war von Hanns Eisler: >Die Arbeiterklasse marschiert. Wir fragen euch nicht nach Verband und Partei / Seid ihr nur ehrlich im Kampf mit dabei / Gegen Unrecht und Reaktion.< Die Arbeiterbewegung zur Jahrhundertwende ist für mich DAS historische Ereignis, das ich mit dem Wedding verbinde.“ Ibo, 29, arbeitet bei Mercedes, seit 23 Jahren wohnhaft im Kiez. „Mein Opa ist als Gastarbeiter nach Deutschland gekommen, zu Siemens. So fing alles an. Ich bin in der Türkei geboren, meine Mutter wollte das. Mit 6 Jahren hat mein Vater mich nach Berlin geholt. Meine 4 Geschwister sind alle hier geboren. Gesundbrunnen, Badstraße, Nauener, Leo, Müllerstraße. Meine Familie ist mehrfach innerhalb von Wedding umgezogen. Das ist meine Geschichte!“ Brigitte,67, ist Floristin in Rente. Seit 34 Jahren im Wedding. „Wedding ist voller Historie! Das Mitte Museum in der Pankstraße ist eines der ältesten in Berlin. Otto Nagel wohnte in der Brunnenstraße und das Arbeiterehepaar, das Fallada in „Jeder stirbt für sich allein“ beschreibt, lebte direkt ums Eck im „Weddinger Milieu“. Ich habe kürzlich die Neuauflage gelesen und zu diesem Anlass auch die Gedenktafel von „Otto und Elise Hampel“ in der Amsterdamer Str. 10 besucht.“ Ralph, 60, Gesinnungsberliner seit 1978. „Verschiedene Etappen: Der Rote Wedding! SPD und Wedding gehören dicht zusammen. Willi Brand hatte hier seine Parteizentrale. Das Kurt Schumacher-Haus gibt es ja immer noch. Und Steinbrück wohnt da am Kanal in Eva Högels Haus. Der Wedding hat sich ziemlich von dem weg entwickelt, für das er mal stand. Wir haben jetzt die 5. Mieterhöhung in 5 Jahren erhalten. Am bösen Wort >Gentrifizierung< kommt man nicht mehr vorbei.“ Stefan, 48, wohnt am nördlichen Rand unseres Kiezes. „Die SPD war hier mal stark in den 30ern. Während der Spaltung Berlins war Wedding ja absolute Randlage. Bis zum Mauerfall. Wie eine Sackgasse. Kann man sich heute kaum noch vorstellen. Heute hingegen: Offen nach allen Richtungen: Multikulti! Viel Krach und viel Dreck. Aber die Mieten sind bezahlbar und es gibt günstige Einkaufsmöglichkeiten. Und es ist immer was los!“ Simona, 46, Krankenschwester aus Italien, arbeitet im Wedding. „Soweit ich weiß hat der Wedding eine lebendige und bunte Geschichte. Das merkt man auch heute noch! Multikulti pur und sehr lockere Leute. Manchmal sogar etwas zu locker, oft ungeduldig. In meinem Beruf sehe ich täglich unterschiedliche Realitäten, auch viele einsame Leute. Besonders Deutsche. In den türkischen Familien ist traditionell die Bindung größer als bei den Berlinern. Ähnlich wie in meiner Heimat.“ Mahamed, 44, geboren in Tunesien, Koch, zu Besuch bei Verwandten im Kiez. „Ich finde den Wedding im Vergleich zu Schöneberg unaufgeräumt und chaotisch. Viel Polizei. Sehr quirlig alles. Mir ist das zu viel. Ich brauche es ruhiger, bürgerlicher. Nicht mein Bezirk. Im alten Schwimmbad (heute Stattbad Anm. d. Redaktion) wurde doch in den 50ern der Film „Die Halbstarken“ gedreht. Das ist allerdings ein klasse Streifen!“ Markus, 27. „Ich bin vor einem Jahr hierher gezogen und kenne mich nicht so aus, bemerke aber Tendenzen der Gentrifizierung. Ich glaube eher an eine langsame Wandlung des Wedding, nicht so rasant wie in Neukölln. Ich liebe die bunte Mischung und Vielfalt und hoffe, dass sie uns möglichst lange erhalten bleibt. Meinen Besuch aus Köln schicke ich heute ins >Prime Time Theater<, da kann man viel darüber erfahren wie der Wedding heute tickt!“ Knud, 56, Kranfahrer, Weddinger, wohnt im Kiez. „Immer dasselbe hier. Hat sich nicht viel getan. Vielleicht, dass man jetzt überall türkisch und chinesisch essen kann. Deutsche Kneipen verschwinden dafür. Den Nettelbeckplatz haben sie 2x umgebaut. Kreisverkehr hin, Kreisverkehr weg. Ist schon ne Weile her. Schön, dass sie am Leopoldplatz endlich mal was modernisieren. Den Park neu machen. Die letzten zwei, drei Jahre bewegt sich wieder was. Das freut einen schon!“ Gabriel, 26, Student in Mailand, schreibt im Wedding seine Abschlussarbeit und jobbt im Startup Scolibri. „Ich wohne im >House of Nations>, im Ernst-Reuter Haus, einem Wohnheim um die Ecke. Das hat mich im Grunde in den Kiez geführt. Finde die zentrale Lage innerhalb Berlins und auch die Verkehrsanbindung mit U9, U6 und Ringbahn phantastisch. Über die Historie weiß ich nicht viel, außer, dass hier ehemals eine Hochburg der Sozialdemokratie war.“ DJ Arab, 28, Musiker, Eltern Libanesen, geboren in Berlin-Wedding. „Wedding ist ne Klasse für sich! Eine tolle Internationalität. Viele unterschiedliche Mentalitäten. Ich komme mit allen klar. Für mich sind die Boatengs Wedding-Geschichte. Hier aufgewachsen und im Käfig kicken gelernt! Krass was die jetzt sind: Weltklasse-Fußballer! Und jetzt hat der kleine Jerome im Bundesliga-Bruderkampf dem älteren Bruder Kevin-Prince auf die Mütze gegeben.“ Wie Arbeiterfamilien im Wedding lebten Rekord mit 256.680 Übernachtungen. In den 20er Jahren besuchten viele Literaten die Wiesenburg, zumeist für Milieustudien: Rosa Luxemburg, Hans Fallada, Kurt Tucholsky, Carl von Ossietzky, Erich Kästner, Heinrich Zille, ... Einige ihrer Geschichten spielen hier. 1931 dreht Fritz Lang den Film „M Eine Stadt sucht einen Mörder“ auf dem Gelände. Von dem Geld, das man dafür erhielt, wurden die letzten Investitionen getätigt. Seit den1920er Jahren bis 1933 nutzte die jüdischen Gemeinde die Wiesenburg als Heim. 1933 schlossen die Nazis das Asyls und missbrauchten es als Fahnendruckerei des NSRegimes. Insgesamt nächtigten bis zu diesem Jahre über 2,4 Millionen Menschen in der Wiesenburg. 1944/45 wurde die Wiesenburg durch Bombenangriffe weitgehend zerstört. Das Gebäude wurde nach dem Krieg „enttrümmert“ und lange als Notquartier von Leuten, die keine eigene Bleibe besaßen, genutzt. Noch heute finden sich bauliche Spuren einer Zwischennutzung, z.B. eingezogene Wände, alte Öfen, Hängevorrichtungen für Vorhänge u.v.m. Daneben diente die Wiesenburg oft als Kulisse für Film- und Fernsehproduktionen, so z.B. der Verfilmung von Falladas Buch „Ein Mann will nach oben“ (1978), bei Schlöndorffs „Blechtrommel“( 1979) oder Fassbinders „Lili Marleen“ (1981). Seit vielen Jahren versucht Joachim Dumkow, die Wiesenburg in ihren Originalzustand zurückzuführen. „Das ist mühevolle Kleinarbeit, manchmal komme ich mir vor, als räumte ich den Dreck von einer Seite auf die andere.“ Heute ist die Wiesenburg inspirierender Ort für Künstler, Musiker und Handwerker: Maler, Tischler, Metallarbeiter agieren hier. Es gibt ein Tonstudio, mehrere Proberäume für Bands und eine mit Quartiersmanagement-Mitteln modern ausgebaute Tanzhalle, in der unterschiedlicher Projekte stattfinden. In Ruinen und Gärten gibt es Workshops und naturnahe Projekte für Kinder. Sogar ein Imker arbeitet auf dem Gelände. „Der Honig ist jetzt schon sehr lecker und wird von Jahr zu Jahr besser!“ Volker Kuntzsch Der sozialkritische Zeichner, Maler und Fotograf Heinrich Zille klagte die katastrophalen Wohnverhältnisse in den Berliner Arbeiterquartieren um 1900 mit dem drastischen Vergleich an, dass eine schlechte Wohnung einen Menschen totschlagen kann. Der Schriftsteller Kurt Tucholsky nannte die Wohnungen in den grauen Mietskasernen und Hinterhöfen „finstere Löcher“ und befand, dass in der Weddinger Ackerstraße geboren zu sein, ein „Fluch“ wäre. Und wie deprimiert Menschen in solchen engen Behausungen existieren, zeigt die Szene in dem Film „Kuhle Wampe“ von Bertold Brecht und Slátan Dudow (1932), in der sich ein junger Arbeitsloser verzweifelt aus dem Küchenfenster in den Hinterhof stürzt. Neben Zille haben sich die Berliner Künstler Otto Nagel, Hans Baluschek, Käthe Kollwitz und andere in eindringlich realistischen Bilddarstellungen über die Wohnsituation der Arbeiterfamilien kritisch und anklagend mit den Lebenssituationen und sozialen Zuständen auseinandergesetzt. Der Wedding erlebte als Berliner Arbeiterbezirk eine starke Dynamik in der Ansiedlung von Industrie und Wohnungsbau. Noch bis zur Hälfte des 19. Jahrhundert weitgehend Brachland, bauten nach der Eingemeindung des Wedding in die Stadt Berlin ab 1860 hier immer mehr Unternehmen Fabriken auf. Die Konzerne der Chemie-, Maschinenbau- und Elektroindustrie Schering, Schwartzkopff, Deutsche Edison Gesellschaft (AEG) und Bergmann AG (Osram) boten in ihren Massenproduktionsstätten für Tausende Menschen Arbeitsplätze, allerdings unter den Bedingungen von Hungerlöhnen und inhumanen Arbeitsbedingungen. Die auf effektive Produktivität angelegten Fabrikbauten mit ihren langgestreckten Hallen gaben das Muster für die Anlage der Wohnquartiere in der Nähe der Arbeitsstätten: Stadtbaurat James Hobrecht baute ab 1862 nach einem Flächennutzungsplan ein Straßengeflecht wie mit dem Lineal gezogen. Ebenso monoton wurden Mietskasernen als Massenquartiere gebaut, um Wohnraum für die rasant anwachsende Bevölkerung zur Verfügung zu stellen: Zwischen 1850 bis 1867 stieg die Bewohnerschaft des Wed- ding von 3.000 auf 16.000 und erreichte die Hunderttausend im Jahr 1890. Preußisch schlicht und gerade, nur sparsam mit Stuck verzierte Häuserfassaden kennzeichnen die Reihen von vier- bis fünfstöckigen Wohnhäusern zur Straßenseite hin. Nach hinten sind meist drei bis vier quadratische Hinterhöfe angelegt, in deren Wohnungen kaum Tageslicht durch die schmalen Lichtschächte gelangt. In den kleinen Arbeiterwohnungen lebten zwischen acht und zwölf Menschen. Oft mussten die Familien auch noch Untermieter aufnehmen, für die als „Schlafburschen“ ein Bett zur Verfügung gestellt wurde. Während die Männer am Fließband arbeiteten, verdienten sich viele Frauen durch Heimarbeit als Näherinnen einen kleinen Zuverdienst und die Kinder trugen Zeitungen aus oder verrichteten andere Hilfsarbeiten in Kneipen oder anderswo. In den überbelegten Wohnungen grassierten Krankheiten durch schlechte Hygiene. Die Gemeinschaftstoiletten auf dem Treppenpodest oder im Hof wurden durchschnittlich von vierzig Menschen frequentiert. In den überbelegten Häusern stank es nach Körpergerüchen und Kochdunst, es war laut durch schreiende Kinder und das aus den Wohnungen dringende Stimmengewirr. Feuchtigkeit, abbröckelnder Putz, Rattenplage, knappe Lebensmittel und andere Mängel vor allem nach dem Ersten Weltkrieg waren Ursachen für Kinderkrankheiten und hohe Kindersterblichkeit. In Klaus Kordons Roman „Die roten Matrosen oder ein vergessener Winter“ wird die Weddinger Situation dieser Zeit anschaulich beschrieben. Schon früh traten engagierte Bürger mit Initiativen gegen die sozialen Missstände auf, so der Berliner Asylverein von 1868, der die Wiesenburg als Einrichtung für Obdachlose betrieb. Weiterhin entstanden Vereine der Sozialdemokraten und Kommunisten, die in Selbsthilfe die verschiedensten Angebote von der Gesundheitspflege bis zum Kulturleben organisierten. Damit ging auch eine Politisierung der Arbeiterschaft einher, die den Ruf des „Roten Wedding“ begründete. Ewald Schürmann Darstellung der beengten Wohnverhältnisse in einer typischen Weddinger Wohnung im Mitte Museum Weddinger Geschichte im Mitte-Museum Das Mitte-Museum in der Pankstraße gibt in einer Dauerausstellung eine anschauliche Vorstellung von den Wohnverhältnissen der Arbeiterfamilien im Wedding. Detailgetreu sind Wohnelemente mit Zimmereinrichtungen rekonstruiert, wobei die Enge der Raumzuschnitte als bedrückende Lebensrealität auffällt. Das Museum greift seit 1989 immer wieder historische Themen aus dem Wedding auf und präsentiert sie in Sonderausstellungen. Dazu gibt es auch entsprechend fundierte Publikationen. Ein Besuch ist für Geschichtsinteressierte ein Muss. Pankstraße 47, So – Mi 10 – 17, Do 10 – 20 Uhr www.mittemuseum.de Alte Schriftzüge an Häuserwänden, in Hinterhöfen oder an Geschäften sind Spuren der Geschichte, die man beim Gang durch die Straßen des Quartiers entdecken kann. Sie sind beliebte Fotomotive. Diese an vielen Stellen erhaltenen historischen Spuren sind eine Attraktion Berlins, weil sie in anderen Städten kaum noch zu finden sind. Die Kinder erziehen, sparsam und effizient den Haushalt führen, dem Partner den Rücken frei halten: Früher fielen diese Aufgaben nahezu ausschließlich in die Zuständigkeit der Frauen. Und in den Jahren des Nationalsozialismus wurden sie ideologisch überhöht als Dienst der Frauen am Vaterland und zum Erhalt der „arischen Rasse“. Zu diesem Zweck gab es hier im Kiez ab 1936 die Reichsmütterschule an der Ecke Ruheplatz-/ Schulstraße. In Kursen erwarben Frauen praktisches Wissen zu Haushalt, Hygiene und Babypflege, wurden aber auch massiv ideologisch indoktriniert. Dieser im Krieg zerstörten Schule widmet sich noch bis August 2014 eine sehr sehenswerte Ausstellung im Mitte Museum unter dem Titel „Frau Familie Volk Rasse“. Gezeigt werden Exponate, welche die Geschichte der Institution und den ideologischen Hintergrund beleuchten. Die Ausstellung findet im Rahmen des Berliner Themenjahres „Zerstörte Vielfalt“ statt. www.mittemuseum.de Auf Friedhöfen lässt sich Geschichte ganz persönlich erfahren. Einfache Gräber bis aufwändig gestaltete Grabanlagen nennen Namen mit Berufen und Lebensdaten von Personen und Familien. Der „Urnenfriedhof Gerichtstraße“ besteht seit 1828 und hieß ursprünglich „Ruheplatz“ (heute noch: Ruheplatzstraße). Ab 1912 wurde das Krematorium mit der Urnenhalle und dem Kolumbarium zur Aufstellung der Urnen errichtet. Die Anlage wird gegenwärtig zu einem Zentrum für Kunst und Kultur umgebaut. Auf dem Friedhof befinden sich Gräber und Urnen bekannter Persönlichkeiten: Der Begründer der Dresdner Bank Eugen Gutmann und seiner Familie (s. Foto), Schauspieler Rudolf Platte, Bildhauer Louis Tuaillon, Innenminister Hugo Preuss, Gründer des philharmonischen Chors Siegfried Ochs, Direktor des Burgtheaters Paul Schleuther, Mediziner August von Wassermann und anderen. Karte des heutigen Weddinger Stadtgebietes von 1857. Gut zu erkennen ist der bis heute gleich gebliebene Verlauf der Müllerstraße von Nordwest (oben links) nach Südost (Mitte unten). Viele große Straßen sind bereits angelegt. Wo heute der Humboldthain ist, wurde damals der Galgenberg eingetragen. Der „kleine Wedding“ liegt am heutigen Weddingplatz. Die ganze Gegend ist spärlich bebaut und wird vor allem landwirtschaftlich genutzt. Eine sehr schöne Karte aus dem Jahr 1827 kann als Nachdruck übrigens im Mitte Museum erworben werden. Dort ist die landwirtschaftliche Prägung des Gebiets noch deutlicher. QM Der „Rote Wedding“ konzentrierte sich in der Weimarer Republik in der Kösliner Straße. Die „rote Gasse“ war eine Hochburg der Kommunistischen Partei. Hier lag ein Quartier der Armut und des Protestes an den gesellschaftlichen Verhältnissen, denn 2.500 Menschen drängten sich in 24 Wohnhäusern. Ab dem 1. Mai 1929 spitzte sich ein Konflikt zwischen kommunistischen Demonstranten und der Polizei zu, die wegen eines Demonstrationsverbotes auf Arbeiter schoss. Es gab 19 tote Zivilisten und 250 Verletzte. Der große Gedenkstein an der Wiesen-, Ecke Uferstraße erinnert an das Ereignis. Mehr über den sogenannten Blutmai kann man in der vom Mitte Museum 2009 im Rahmen einer Ausstellung herausgegebenen Publikation „Berliner Blutmai 1929. Eskalation der Gewalt oder Inszenierung eines Medienereignisses“ erfahren. Das Verhältnis zu Vergangenheit und Geschichte ist auch eine Frage des Verhältnisses zu den vorigen Generationen. Wenn wir über die Geschichte der Stadt sprechen, müssen wir uns auch fragen: Was passiert mit den älteren Mitmenschen im Kiez? Wie sprechen wir über sie? Nur als Ballast vergangener Tage, als Demografie-Falle? Die SeniorInnenvertretung Mitte wehrt sich gegen diese Wahrnehmung und Behandlung von Menschen im Alter. »Die Alten müssen aus der Unsichtbarkeit geholt werden.«, sagt die Vorsitzende Elke Schilling (Bild Mitte mit blauer Bluse) . »Unsichtbarkeit meint, dass die Belange von älteren Menschen öffentlich nicht wahrgenommen werden.« Dass die Stadt auch für ältere Menschen lebenswert ist und bleibt, ist dabei ein Hauptanliegen der SeniorInnenvertretung. Dabei geht es nicht um einen Blick in die Vergangenheit, sondern um die aktive Gestaltung der Zukunft. »Letztes Jahr wurde nur eine statt den angekündigten zwei Begegnungsstätten geschlossen, das war schon auch ein Erfolg. Wir haben gezeigt: Mit uns nicht. Da machen wir Rabatz.«, sagt Elke Schilling. Auf die Frage, was die Themen der näheren Zukunft sind, lautet die Antwort: »Steigende Mieten, Gentrifizierung und Altersarmut.« Alte Menschen sind von diesen Prozessen besonders betroffen. Sind sie aufgrund steigender Mieten und der noch unter Hartz IV liegenden Grundsicherung gezwungen, ihre Wohnung zu verlassen, so werden sie ihrem Umfeld entrissen, in die soziale Isolation getrieben. Neue Kontakte zu knüpfen ist schwierig im Alter. Es zeigt sich: das Verhältnis zur eigenen Geschichte und zu den Älteren wird in der Gegenwart gestaltet. Das hat sich die SeniorInnenvertretung zur Aufgabe gemacht. www.seniorinnenvertretung-mitte.de So sieht die Wiesenburg heute aus. Aus den verfallenen Gebäuden wachsen Bäume. Berlin ist für die Großstadtliteratur ein unerschöpflicher Themenraum. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts kommt dabei der Wedding vor allem als Kiez der Arbeiter und kleinen Leute mit ihrem Situations- und Sprachwitz aber auch mit ihren existentiellen Problemen vor. Echtes Weddinger „Milieu“ erzählt Jonny Liesegang, der in der Pankstraße wohnte, in seinen Geschichten von „Det fiel mir uff“ und drei weiteren Büchern. Das Elend der Erwerbslosen beschreibt Otto Nagel, der in der Reinickendorfer Straße geboren wurde, in Szenen einer „Pennerkneipe“ in dem Roman „Die weiße Taube oder Das nasse Dreieck“. Theodor Plivier war das 13. Kind einer Arbeiterfamilie aus der Wiesenstraße und schrieb als Schriftsteller eine große Romantrilogie über den Zweiten Weltkrieg. Der Wedding bot auch literarischen Stoff: So der authentische private Kampf gegen das Hitlerregime eines Ehepaares aus der Amsterdamer Straße, der von Hans Fallada im Roman „Jeder stirbt für sich allein“ gestaltet wurde. Ein anderes Beispiel ist eine kurze Episode in Erich Kästners Roman „Fabian“, die in der Müllerstraße spielt. gefördert aus Mitteln der Europäischen Union (Europäischer Fonds für regionale Entwicklung), der Bundesrepublik Deutschland und des Landes Berlin im Rahmen des Programms „Soziale Stadt“ Illustrierend zum Artikel auf der Vorderseite hier ein historisches Foto aus der Wiesenburg. Es zeigt den Schlafsaal 29 für Männer. Impressum Herausgeber:L.I.S.T. GmbH - Quartiersmanagement Reinickendorfer Straße | Pankstraße V.i.S.d.P: Johannes Hayner | Volker Kuntzsch Redaktion: georg+georg | Ewald Schürmann Grafik und Satz: georg+georg | www.georg-georg.de Quartiersmanagement, Prinz-Eugen-Str. 1, 13347 Berlin Tel: 030 74 74 63 47 | Fax: 030 74 74 63 49 [email protected] | www.pankstrasse-quartier.de www.facebook.com/QM.Pankstrasse http://twitter.com/QM_Pankstrasse Der Nettelbeckplatz wurde1884 eröffnet und nach dem Seefahrer Joachim Nettelbeck benannt, der durch autobiografischen Schriften Bekanntheit erlangte. Im 20. Jahrhundert wurde der Platz den Anforderungen des Autoverkehrs unterworfen. Bis in die späten 1980er Jahre war der Platz von einem Kreisverkehr umgeben, vom Verkehr umflutet. Erst eine Umgestaltung, die mit der Neueröffnung des Platzes 1987 endete, grenzte den Platz mit Neubauten ab. In der Mitte des Platzes befindet sich nun ein Brunnen der Künstlerin Ludmila SeefriedMatejkova. Zu sehen sind junge Menschen, die auf einem Vulkan ausgelassen zur Musik eines PianoSpielers tanzen. Ein genauer Blick auf den linken Fuß des Pianisten, der sich plötzlich als Teufel erweist, gibt dem unbeschwerten Spiel eine gefährliche Note. Die nächste Umgestaltung des Platzes folgte in den Jahren 2005 und 2006 mit QM-Mitteln, als der Platz unter Beteiligung der Anwohner freundlicher gestaltet wurde – mit neuen Sitzgruppen und einer stärkeren Betonung der ganz eigenen dreieckigen Form, die einen Kreis in sich fasst. Die formatfüllende Karte auf dieser Seite entstammt einem Straube-Stadtplan Berlin aus dem Jahr 1893. Viel hat sich getan seit 1857 (kleiner Plan oben), aber man sieht immer noch viele Straßen, die nur angelegt, aber noch nicht bebaut sind. Interessant sind auch abweichende Straßenführungen etwa am Nettelbeckplatz. Schilder und Tafeln an Hauseingängen erinnern an bestimmten Orten im Quartier an Menschen, die dort gelebt haben. Nachbarn und Passanten werden so direkt vor Ort mit Geschichte konfrontiert. Meist lassen sich über die kurzen Texte hinaus im Internet weitere Angaben finden. Erinnert wird an unterschiedliche Personen. So gibt es z.B. einen Stolperstein vor dem Haus Maxstraße 12, der an den Widerstandskämpfer gegen den Nationalsozialismus Willi Bolien erinnert. Die Gedenktafel im Bild wurde für den Clown Onkel Pelle, ein Berliner Original, auf dem Platz vor dem Rathaus Wedding errichtet. Die Straßen im Wedding hatten nach ihrer Erbauung zunächst nur einfache Ziffern. So die Straße Nr. 51, die 1889 in Prinz-Eugen-Straße umbenannt wurde. Der Magistrat von Berlin bestimmte damals, dass auch weitere Straßen nach Ereignisse und Persönlichkeiten des Spanischen Erbfolgekrieges (1701 – 1714) benannt wurden, so nach den Schlachten bei Turin, Höchstedt, Oudenaarde und Malplaquet. Die Gerichtstraße ist seit 1827 bekannt, weil dort ein Hochgericht mit einer Hinrichtungsstätte mit einem Galgen befand. Auf der Müllerstraße gab es noch Anfang des 19. Jahrhunderts 25 Müller. Wer sich für die Bedeutung der Straßennamen interessiert, kann ausführliche Erklärungen hier finden: www.luise-berlin.de/strassen