Die kleine Freiheit
Transcrição
Die kleine Freiheit
Ausgabe 02 | 2013 | siemens.com/mobility ITS magazine Fachmagazin für Straßenverkehrstechnik Die kleine Freiheit Innovativ einfach Über die Gestaltung von Mobilität auf Inseln Effizienzgewinn für die Telematik in Kommunen „Die verkehrlichen Konzepte von Inseln – ein Testfeld für Mobilitätsstrategien der Zukunft?“ Editorial | ITS magazine 2/2013 Liebe Leserin, lieber Leser, sie liefern den Stoff, aus dem die Träume sind – und manchmal auch Alpträume: Touristen suchen auf Inseln meist das Urlaubsparadies, wer unfreiwillig hier strandet, der erlebt die geografische Isolation indessen eher als Beschränkung. Um diese ambivalente Faszination geht es freilich nur am Rande im Themenfokus dieser Ausgabe des ITS magazine – viel mehr interessierte sich die Redaktion für einen ganz anderen, fachspezifischen Aspekt: Inwieweit unterscheidet sich die Mobilität auf Inseln eigentlich von der auf dem Festland? Immerhin leben heute rund zehn Prozent der Weltbevölkerung in Regionen, die rundum von Wasser umgeben sind. Und milliardenschwere visionäre Projekte wie der Japan-Korea-Tunnel und die Brücke von Messina lassen erahnen, wie viel die Verantwortlichen darum geben würden, wenn dem nicht so wäre. Die Fragen, die sich zu den verkehrlichen Besonderheiten dieser Gebiete stellen, sind also durchaus einer näheren Betrachtung wert: Welche besonderen verkehrlichen Anforderungen ergeben sich in diesem Zusammenhang? Und: Was kann man von Insellösungen möglicherweise lernen für die Gestaltung von Mobilität in anderen Bereichen? Wichtige Antworten darauf gab zum Beispiel unser Interviewpartner Professor Dr. Tony May, der langjährige Präsident der World Conference on Transport Research. Nach seiner Auffassung birgt das Enklavendasein von Inseln nämlich nicht nur Herausforderungen im Hinblick auf die optimale Verkehrsanbindung, sondern auch Freiräume bei der individuellen Gestaltung von Mobilität – im Bereich der Infrastruktur genauso wie etwa beim Verkehrs management oder beim Umgang mit Straßennutzungsgebühren. Insofern kann man die verkehrlichen Konzepte von Inselregionen also vielleicht sogar bis zu einem gewissen Grad als Testfeld für Mobilitätsstrate- gien der Zukunft sehen. Umso mehr, wenn man die Definition des Begriffs etwas weiter fasst und auch Gebiete einbezieht, die nicht von Wasser, sondern beispielsweise von Häuser meeren oder von unberührter Natur umgeben sind. Auf den folgenden Seiten lernen Sie deshalb zum Beispiel auch einige Inseln mit höchst unterschiedlichen verkehrlichen Konzepten kennen: Auf manchen von ihnen ist das Autofahren grundsätzlich verboten – auf anderen ziemlich unmöglich. Ich wünsche Ihnen wie immer viel Spaß beim Lesen. Herzlichst Ihr Hauke Jürgensen 3 ITS magazine 3/2012 | Im Fokus Inhalt 06 Im Fokus 06 13 14 4 „Je kleiner die Insel – desto größer der Spielraum“ Professor Dr. Tony May, von 2007 bis 2013 Präsident der World Conference on Transport Research, über die Problematik physischer Barrieren, die Gestaltungsfreiheit der Verantwortlichen und andere Besonderheiten der Mobilität auf Inseln Die Unnahbare Mit dem Auto kann man die peruanische Regenwaldmetropole Iquitos nicht erreichen: Die nächste Straße mit Anschluss ans nationale Netz liegt zweieinhalb Tage Flussfahrt entfernt. Im Stadtverkehr geht es trotzdem recht lebendig zu Ohne Auto mobil? Wir stellen Ihnen acht „Inseln“ vor, die sich so vielfältig präsentieren wie ihre Mobilitätskonzepte. In einigen Fällen ist Autofahren nur eingeschränkt erlaubt, in anderen komplett verboten oder so gut wie unmöglich 14 Trends & Events 20 Flott durch Slot Ein innovatives Baustellenmanagement-System hat die Zahl der Staustunden in Hessen deutlich reduziert 22Eventnews Kurzberichte von internationalen Veranstaltungen rund um die Mobilität Partner & Projekte 23Shortcuts Aktuelle Projekte im Bereich Straßenverkehrstechnik 24 Innovativ einfach – einfach innovativ Effizienzgewinn für die Telematik in Kommunen 25 Es werde Licht Dynamische Beleuchtungssteuerung in Düsseldorf Im Fokus | ITS magazine 3/2012 Insellösungen Das Enklavendasein stellt die Architekten insularer Mobilität vor spezielle Herausforderungen, aber es eröffnet auch eine ganze Reihe von Chancen 28 Wissen & Forschung 26 Fit for Fahren Neue Argumente für die Diskussion um die nachlassende Leistungsfähigkeit der Generation 70+ im Straßenverkehr: Nach einer Studie des Psychologen Dr. Sebastian Poschadel lässt sich die Fahrkompetenz von Senioren mit gezieltem Training nachhaltig steigern Mobilität & Lebensraum 28 Ritt am Limit Die britische Isle of Man ist berühmt für ihre Speed-Spektakel – und berüchtigt wegen des Risikos, das die Fahrer dabei eingehen. Der deutsche Schräglagen-Veteran Helmut Dähne startete 26 Mal bei der Tourist Trophy. Für das ITS magazine erklärt er warum 30 Profil 30 „Die Straße ist die Nummer eins“ Keith Manston, Leiter des Product Managements Traffic Solutions bei Siemens Mobility in Poole, über die Verkehrsanbindung der britischen Inseln, den begrenzten Einfluss des Kanaltunnels auf den Modalsplit und seine ganz persönliche Liebe zum Wasser Rubriken 27 Im Seitenspiegel Nachdenkliches und Quergedachtes zur Mobilität auf Inseln: „Reif für die Insel?“ 32Impressum 5 ITS magazine 2/2013 | Im Fokus „ Je kleiner die Insel Malediven-Hauptstadt Malé: „In der Regel kommt jede Art der Konzentration der Verkehrseffizienz entgegen“ 6 Spiel Im Fokus | ITS magazine 2/2013 – desto größer der “ raum Interview Professor Dr. Tony May, Verkehrswissenschaftler an der Universität Leeds und von 2007 bis 2013 Präsident der World Conference on Transport Research, über die Problematik physischer Barrieren, die Gestaltungsfreiheit der Verantwortlichen und andere Besonderheiten der Mobilität auf Inseln. 7 ITS magazine 2/2013 | Im Fokus Herr Professor May, das Enklaven dasein der Inseln innerhalb der Europäischen Union steht in Brüssel immer wieder auf der politischen Tagesordnung. Wie bewerten Sie die Gefahr, dass die Nachteile im Bereich der verkehrlichen Anbindung zu anhaltenden Entwicklungsrückständen führen? Schauen wir uns doch zunächst einmal an, welche Definition die EU bei den Diskussionen zu Grunde legt. Laut Eurostat ist eine Insel ein rundum von Wasser umgebenes Stück Land, nicht durch eine feststehende Konstruktion mit dem Festland verbunden, mehr als einen Kilometer vom Festland entfernt, von mindestens 50 Personen ständig bewohnt und nicht der Ort, an dem sich die Hauptstadt eines Mitgliedstaates befindet. Nach diesen Kriterien fällt also nicht einmal Malta in diese Kategorie. Für die europäischen Inseln, die dann noch übrig bleiben, gilt deshalb durchaus, was in der Ökonomie grundsätzlich gilt: dass physi kalische Barrieren die wirtschaftliche Entwicklung limitieren, weil sie die Interaktion mit den Märkten erschweren. Allerdings ist es nicht sicher, ob sich das Problem mit Hilfe zusätzlicher Verkehrsanbindungen wirklich lösen lässt. Denn bei diesen neuen Wegen zwischen einer rückständigen Region A und einer prosperierenden Region B zeigt sich das Problem der wirtschaft lichen „Zweibahnstraße“. Es besteht also die Gefahr, dass A noch mehr ausblutet, weil es dort leichter wird, sich in B produzierte Güter zu beschaffen. A profitiert also nur dann, wenn es etwas Einzigartiges zu bieten hat: touristisch attraktive Gebiete, spezielle Bodenschätze oder besonders gefragte landwirtschaftliche Produkte. Aber wenn dies nicht der Fall ist, könnte es für A besser sein, wenn keine neuen Verkehrsverbindungen gebaut werden. Dann bleiben wenigstens der Umwelt zusätzliche Belastungen erspart. „Ich würde viel lieber die Einwohner subventionieren, nicht den Transport“ 8 „Noch schwieriger wird es, wenn Naturgewalten ins Spiel kommen“ Die internationale Verkehrswissenschaft fordert seit längerem die Internalisierung der externen Kosten des Verkehrs – unter anderem im Hinblick auf Emissionen. Müsste man hier nicht über eine Sonderregelung für Inselregionen nachdenken, die naturgemäß im besonderen Maß vom umweltbelastenden Luftverkehr abhängig sind? Grundsätzlich erzeugt Transport immer externe Kosten, und wo diese internalisiert werden, sind sie ohne jeden Zweifel ein unverzichtbares Regulativ, um Einfluss auf das Verhalten der Verkehrsteilnehmer auszuüben. Meines Erachtens wäre es deshalb ein falsches Signal, wenn die Verantwortlichen von der Forderung, die externen Kosten zu internalisieren, in bestimmten Gebieten wieder Abstand nähmen. Ich würde es im Fall der betroffenen Inseln für sinnvoller halten, nicht den Transport an sich, sondern die Einwohner zu subventionieren – und es dann ihnen zu überlassen, wofür sie das zusätzliche Einkommen ausgeben. Auf einigen kleineren Inseln ist der Autoverkehr komplett verboten. Dient das nur der Erhöhung der touristischen Attraktivität – oder sind damit tatsächlich auch ökolo gische Vorteile verbunden? Das eine schließt das andere ja nicht unbedingt aus. Ich denke schon, dass solche Verbote echte Vorteile bringen – und zwar nicht nur im Hinblick auf die Umweltbelastung, sondern zum Beispiel auch auf die Verkehrssicherheit. Natürlich ergeben sich daraus auch Werbeargumente für den Fremdenverkehr, aber ebenso bessere Lebensbedingungen für die Einwohner. Man muss dabei allerdings sehen, dass die absolut konsequente Umsetzung solcher Konzepte nur in relativ kleinen Gebieten funktioniert. Denn wenn die Entfernungen zu groß sind, um beispielsweise Güter mit Handkarren oder anderen nichtmotorisierten Verkehrsmitteln zu transportieren, laufen die Kosten schnell aus dem Ruder. Außerdem wird es für behinderte Menschen schwierig, Ziele am anderen Ende des Areals zu erreichen. In diesen Fällen dürfte man also kaum eine andere Wahl haben, als gewisse Ausnahmeregelungen zu definieren. Gilt das auch für autofreie Inseln, die nicht im Wasser, sondern im Häusermeer liegen wie etwa die Bezirke in der kolumbianischen Metropole Bogotá, die 69 Mal im Jahr für Fußgänger, Radfahrer und Inline-Skater reserviert sind (siehe Seite 16)? Ja, im Wesentlichen treffen die zuvor genannten Kriterien sogar für ganz normale Fußgängerzonen zu. Genau deshalb setzt man beispielsweise in der ziemlich weitläufigen Zona Pedonale in Rom kleine Elektrobusse ein: für Menschen, die entweder keine Zeit oder keine Lust oder ganz einfach nicht die Möglichkeit haben, größere Entfernungen zu Fuß zurückzulegen. Verfügen Inselstaaten, die keine Festlandgrenzen zu anderen Ländern haben, denn grundsätzlich über mehr Spielraum bei der Gestaltung von Verkehr, weil sie weniger Rücksicht auf ihre Nachbarn nehmen müssen? Ich denke schon, zumindest wenn es nicht um Bereiche geht, die international reglementiert sind wie etwa die Luftqualität. So ist es für Großbritannien sicherlich leichter, am Linksverkehr festzuhalten, als es etwa für die Schweden war, die irgendwann dem Druck ihrer Nachbarländer nachge geben und auf Rechtsverkehr umgestellt haben. Weitere Freiheiten sehe ich beim Verkehrsmanagement und beim Umgang mit Straßennutzungs gebühren. Bei der Festsetzung der Steuern auf Treibstoffe wird das schon etwas komplizierter. Zwar fährt wohl kaum ein britischer Pkw-Besitzer wegen ein paar Penny oder Cent Unterschied beim Benzinpreis nach Frankreich. Aber für Lkw-Fahrer lohnt es sich durchaus, ihre Tanks auf dem Kontinent mit vergleichsweise günstigem Diesel zu füllen und in England ohne Stopp durchzufahren. Genau deshalb denkt unsere Regierung derzeit verstärkt über die Im Fokus | ITS magazine 2/2013 Seismologin in Taipeh: „Wenn Erdbeben die Verfügbarkeit der Infrastruktur gefährden, werden Redundanzen umso wichtiger“ 9 ITS magazine 2/2013 | Im Fokus Fähre auf La Gomera: „Vor dem Bau aufwändiger Brücken oder Tunnel sollte man die Vorteile genau berechnen“ Wissen, das die Welt bewegt Neben seiner Beratertätigkeit für zahlreiche hochkarätige Institutionen wie die OECD und die Weltbank war Professor Dr. Tony May sechs Jahre lang Präsident der World Conference on Transport Research Society – einem einzigartigen Bindeglied zwischen Verkehrsforschung und Verkehrspolitik mit derzeit rund 1600 Mitgliedern aus über 60 Ländern. Gegründet wurde die World Conference on Transport Research Society (WCTRS) 1986 als Forum für den weltweiten Ideenaustausch zwischen Forschern, politischen Entscheidungsträgern und Pädagogen zu allen Aspekten des Transportwesens – unter multi modalem, interdisziplinärem und branchenüber greifendem Blickwinkel. Ihre Hauptaufgabe ist die Organisation der alle drei Jahre stattfindenden World Conference on Transport Research. Mehr Fachwissen 10 in Theorie und Praxis ist nirgendwo auf der Erde versammelt, wenn über Mobilität diskutiert wird: Im Juli 2013 fand in Rio de Janeiro die 13. Auflage des Weltgipfeltreffens statt. Die WCTRS hat 15 Arbeitsgruppen zu verschiedenen Themen – von Luftverkehr, Seetransport und Schienenverkehr bis zu Sicherheit, Gefahrenabwehr oder Umweltfragen. Jede Arbeitsgruppe organisiert eine entsprechende Veranstaltungsreihe auf jeder Konferenz und hält in der Zeit dazwischen meist noch Workshops und Seminare ab. Ein besonderer Arbeitsschwerpunkt der Gesellschaft ist die Überführung wissenschaftlicher Erkenntnisse in die Politik. Unter anderem leistet die WCTRS regelmäßig einen großen Beitrag zum jährlichen Internationalen Transport-Forum in Leipzig. Die Mitgliedschaft ist normalerweise für jeweils drei Jahre von Konferenz zu Konferenz angelegt und steht allen an Transportfragen Interessierten offen. Nähere Informationen bietet die Website www.wctrs.org. Im Fokus | ITS magazine 2/2013 Selbst auf größeren Inseln wie etwa den japanischen konzentriert sich das Leben schon allein aus topographischen Gründen oft auf relativ schmale Küstenregionen. Was bedeutet das für die jeweiligen verkehrlichen Konzeptionen? Im Regelfall macht es eigentlich jede Art der Konzentration einfacher, eine zufriedenstellende Kosteneffizienz der Infrastruktur zu erzielen. Vor allem auch die Kapazitäten der öffentlichen Transportsysteme lassen sich leichter an hohe als an niedrigere Verkehrsdichten anpassen. Bei Inseln, deren Topographie es erschwert, Ausweichstrecken zu den Hauptverbindungen zu bauen, sieht die Sache jedoch etwas anders aus. Insbesondere, wenn die Verfügbarkeit dieser Hauptverbindungen auch noch durch Naturgewalten beeinträchtigt wird. So wie in Taiwan, wo man immer wieder mit den Folgen von Erdbeben oder Taifuns zu kämpfen hat. Dort unternimmt man erhebliche Anstrengungen, um trotz schwieriger Geländevoraussetzungen entsprechende Alternativen im Netz zu schaffen, die oft auch als Redundanzen bezeichnet werden. Einführung einer Lkw-Maut nach deutschem Vorbild nach. Am größten sind die Freiheiten für die Verkehrsverantwortlichen aber auf kleineren Inseln, die der vorhin zitierten Eurostat-Definition entsprechen. Hier ergeben sich Spielräume nicht zuletzt bei der Gestaltung der Infrastruktur, vor allem dann, wenn sie hauptsächlich von Einhei mischen genutzt wird: Ich kann zum Beispiel Straßen bauen, die nicht dem allgemeinen Standard entsprechen. Ich kann die Anzahl von Ampeln oder Verkehrszeichen reduzieren – im Extremfall auf Null. Ich kann den motorisierten Verkehr zugunsten der Umwelt einschränken oder sogar ganz verbieten. Generell könnte man in diesem Zusammenhang vielleicht die Formel aufstellen: Je kleiner die Insel – desto größer der Spielraum. In den letzten Monaten tauchten visionäre Multi-Milliarden-DollarProjekte wie der weit über 100 Kilometer lange Japan-Korea-Tunnel oder der Sachalin-Hokkaido-Tunnel wieder häufiger in den Schlagzeilen auf. Lassen sich solche Pläne allein mit dem Streben nach erhöhter Wettbewerbsfähigkeit begründen – oder geht es hier auch um Prestige? Nach meiner Einschätzung steht dabei tatsächlich meist nationales oder auch regionales Prestigedenken im Vordergrund. Aber zusätzlich sehe ich da noch etwas anderes, spätestens seit ich vor kurzem auf Shikoku war, der japanischen Insel südlich von Honshu. Dort hat man mir voller Begeisterung die neue Hängebrücke gezeigt. Ich war überrascht, wie wenig Verkehr über die Brücke ging, insbesondere als ich erfuhr, dass seitdem noch zwei weitere gebaut worden waren. Doch jedes dieser drei Bauwerke ist in irgendeiner Kategorie das größte, längste oder modernste der Welt. In diesem Fall spielte also nicht zuletzt die Demons tration technologischer Kompetenz eine Rolle. Und diese Strategie funktioniert ja gar nicht so schlecht, wie man am Erfolg japanischer Brückenbauer rund um den Globus ablesen kann. Grundsätzlich aber besteht meines Erachtens schon die Gefahr, dass sich die Verantwortlichen von der Strahlkraft solcher Projekte so beeindrucken lassen, dass sie nicht mehr genau nachrechnen, ob die Realisierung wirtschaftlich wirklich Sinn macht. In welche dieser Schubladen würden Sie die Brücke von Messina zwischen dem italienischen Festland und Sizilien einordnen? Mir liegen zwar keine offiziellen Zahlen vor: Aber ich kann mir nur schwer vorstellen, dass die tatsächliche Nachfrage und das zu erzielende Einsparpotenzial gegenüber dem Transport auf Fähren die Investition rechtfertigt. Und die Tatsache, dass der Start des Projekts immer wieder verschoben wurde, erhärtet meinen Verdacht. „Eine intelligente strategische Vision im Sinn von ‚Sustainable Mobility‘“ Gibt es denn allgemeine Kriterien für die Entscheidung, in welchen Fällen Fährverbindungen ausreichend sind – und wann sich aufwändige Bauwerke wie Brücken, Tunnel oder Fahrdämme rechnen? Ja, ich glaube, die gibt es durchaus. Im Grunde geht es erst einmal um die Frage: Welchen maximalen Nutzen bringt mir die fixe Verbindung? Dazu gehört natürlich die Betrachtung sämtlicher Vorteile: der ganz konkreten wie die Verkürzung von Reisezeiten – aber auch der gefühlten wie die Erhöhung des Reisekomforts. Deren wirtschaftliche Bewertung mag mitunter etwas schwerer fallen, aber sie ist machbar. Anschließend drehe ich das Ganze einfach um und frage mich, ob es möglich ist, ein Bauwerk zu entwerfen, bei dem die Kosten geringer sind als dieser Nutzen. Lautet die Antwort „Nein“, sollte ich den Plan ganz schnell zu den Akten legen. 11 Zur Person Professor Dr. Tony May amtierte von 2007 bis 2013 als Präsident der World Conference on Transport Research Society (siehe Kasten Seite 10). Von 1977 bis 2009 war er als Professor an der Universität Leeds tätig, unter anderem als Leiter des „Institute for Transport Studies“, als Dekan der Fakultät Ingenieurwesen und als Pro Vice Chancellor for Research. Seine Forschungsschwerpunkte in dieser Zeit lagen auf Städtischem Transport und Nachhaltigkeit. 1995 wurde er als Fellow in die Royal Academy of Engineering aufgenommen und 2004 für seine Verdienste um das Transport ingenieurwesen zum Officer des Order of the British Empire (OBE) ernannt. Auch nach seiner Emeritierung ist Professor May weiterhin in Forschung, Beratung und berufliche Weiterbildung involviert. Als Berater war er bisher tätig für die OECD, das Internationale Transport-Forum, die Weltbank, das US Transportation Research Board, die Singapore Land Transport Authority, das New Zealand Ministry of Transport und die Thailand Commission for the Management of Land Transport. Leider wird diese simple, pragmatische Methode nach meiner Beobachtung viel zu selten angewendet. Als Exempel für den Nutzen aufwändiger fixer Verkehrsanbindungen könnte man ja vielleicht Großbritannien nehmen. Lassen sich seit Eröffnung des Eurotunnels konkrete Veränderungen feststellen? Nicht im Hinblick auf die gesamte Insel, aber das hängt natürlich in ers- 12 ter Linie mit den Relationen zusammen. Großbritannien hat rund 60 Millionen Einwohner, die mit fast 30 Millionen Autos auf mehreren 100.000 Kilometer Straßen fahren. Verglichen damit macht der Verkehr durch den Eurotunnel nur einen winzigen Bruchteil aus. Wenn wir allerdings den Fokus nur auf die Passagen durch den Ärmelkanal richten, dann lassen sich durchaus interessante Effekte erkennen, vor allem in Form reduzierter Transportzeiten und -kosten. Der wichtigste Grund dafür ist der verschärfte Wettbewerb sämtlicher Verkehrsträger – übrigens nicht nur der Straße und der Schiene, sondern letztlich auch der Wasserwege, denn angesichts der neuen Konkurrenz sind auch die Fähren effizienter geworden. Der Kontinent, sagen wir Engländer, ist jetzt nicht mehr so abgelegen wie zuvor. Für die intelligente Vernetzung von Verkehrssystemen gibt es in Großbritannien ein weiteres prominentes Beispiel: London gilt seit vielen Jahren als Modell für „Sustainable Mobility“. Liegt das nur daran, dass sich die historisch gewachsene Infra struktur der Stadt nur schwer ver ändern lässt – oder hat man die Zeichen der Zeit hier einfach früher erkannt als anderswo? Die Verkehrsprobleme in London Ende des letzten Jahrtausends hatten nach meinem Dafürhalten weniger mit der historisch gewachsenen Infrastruktur zu tun, als vielmehr mit einigen unglücklichen politischen Entscheidungen Mitte der 80er-Jahre. Damit meine ich vor allem die Verteilung der Verantwortung für den Verkehr in der Hauptstadt auf insgesamt 33 lokale Behörden, die sich untereinander kaum abgestimmt haben. Zu Beginn des neuen Jahrtausends wurden die Zuständigkeiten neu geregelt und eine neue strategische Instanz für GesamtLondon eingeführt, die vom jeweils amtierenden Bürgermeister gelenkt wird. Ken Livingstone hat diese Möglichkeit zusammen mit seinem Team optimal genutzt, indem er eine intelligente strategische Vision für den Verkehr in London im Sinn von „Sustainable Mobility“ entwickelte. Dann hat sich London also nach haltig vom Saulus zum Paulus städtischer Mobilität gewandelt? Ja, und das verdanken wir nicht nur der weltweit viel beachteten CityMaut, sondern auch vielen weiteren Maßnahmen: der Einführung der verkehrsmittelübergreifend gültigen Oyster-Card für den Öffentlichen Nahverkehr ebenso wie den größtenteils durch die Erlöse aus der City-Maut finanzierten Effizienzsteigerungen des Bussystems, die zu imposanten Verbesserungen führten: So hat sich die Zahl der Busnutzungen in London in den letzten zehn Jahren verdoppelt, während sie in den anderen Teilen des Landes um rund ein Drittel gesunken ist. Wenn Sie sich drei Dinge für die Mobilität der Zukunft in London wünschen dürften – welche wären das? Vor allem würde ich es begrüßen, wenn wir zurückkämen auf die Idee, ein London-weites Maut-System zu installieren. Das müsste natürlich weitaus flexibler sein als das heutige. Wunsch Nummer zwei betrifft das gesamte oberirdische Schienennetzwerk der Stadt, heute als London Overground bekannt, das besser in das gesamte öffentliche Nahverkehrsangebot integriert werden müsste. Und drittens hoffe ich, dass der Faktor Verkehrsanbindung in den Überlegungen in punkto Bodennutzung künftig noch mehr Gewicht hat. Da hat sich seit der Jahrtausendwende zwar einiges verbessert, aber das könnte noch mehr sein. Und während ich rede, fällt mir noch etwas ein: Erlauben Sie mir, noch einen vierten Wunsch zu formulieren, der nicht nur mit London, sondern mit dem ganzen Land zu tun hat? Aber gern … Die Verwaltungsstruktur, die einen ganzheitlichen Ansatz in unserer Hauptstadt möglich macht, sollte auch in allen Provinzstädten Großbritanniens eingeführt werden. Derzeit ist dort die Verantwortung noch auf diverse lokale Behörden und die Betreiber der einzelnen Verkehrsmodi verteilt. Herr Professor May, wir danken Ihnen für das Gespräch. Im Fokus | ITS magazine 2/2013 Die Unnahbare Regenwaldmetropole Iquitos Einsam sind sie sicherlich nicht, die 400.000 Bewohner dieser Insel der Zivilisation mitten im Dschungel – aber fast völlig isoliert: Mit dem Auto jedenfalls kann man die einzigartige Großstadt Schon in dem Film, der Iquitos einst berühmt machte, spielten die schlechten Verkehrsverbindungen am nördlichen Amazonas eine Hauptrolle. Sonst wäre der von Klaus Kinski gespielte „Fitzcarraldo“ ja auch gar nicht auf die Idee gekommen, einen alten Flussdampfer bildgewaltig über einen Bergrücken zu ziehen. Im richtigen Leben ist Iquitos nicht ganz so schwer zu erreichen, aber für den inoffiziellen Titel „Isolierteste Großstadt der Welt“ reicht es allemal. Wer es sich leisten kann, der nimmt das Flugzeug. Wer nicht, der bezahlt mit Zeit. Von Lima aus gibt es zwei Möglichkeiten: Entweder 26 Stunden mit dem Auto nach Yurimaguas und von dort aus rund 60 Stunden mit dem Schiff über den HuallagaFluss – oder nur 20 Stunden auf der Straße bis Pucallpa und dafür fast 110 Stunden Schifffahrt über den Ucayali und den Amazonas. Auf diesen beiden Wegen kommen nicht nur Menschen, sondern auch Güter nach Iquitos. So wurden beispielsweise auch Iquitos im peruanischen Amazonasgebiet nicht erreichen. Die nächste Straße mit Anschluss ans nationale Netz liegt zweieinhalb Tage Flussfahrt entfernt. Im Stadt verkehr geht es trotzdem recht lebendig zu. die rund 130.000 Fahrzeuge angeliefert, die heute auf den asphaltierten Hauptstraßen fahren oder auf den nichtasphaltierten Nebenstraßen im Schlamm versinken. Nicht einmal zehn Prozent davon sind Autos oder Lkw, geprägt wird das Bild des Stadtverkehrs von Motorrädern und dreirädrigen Mototaxis, die alles und jeden kreuz und quer durch die Regenwaldmetropole transportieren. Viele Einheimische nutzen aber auch die städtischen Busse, deren ungewöhnliches Design übrigens einen guten Grund hat: Denn serienmäßig ist hier nur das Chassis, die Karosserien sind eher Marke Freestyle – sie werden aus Holz und Metall vor Ort gebaut. Verkehrsregeln? Ja, selbstverständlich gibt es die in Iquitos, dieselben wie überall in Peru. Ampeln und Verbotsschilder werden nach offizieller Lesart auch „normalerweise respektiert“. Inoffiziell bleibt hier vielleicht ein bisschen mehr Raum für Flexibilität als anderswo – was nicht die schlechteste Lösung sein muss, wenn man an die positiven Ergebnisse des EUProjekts „Shared Space“ denkt, das auf Entregelung zur Erhöhung der Verkehrssicherheit setzt. 13 ITS magazine 2/2013 | Im Fokus Ohne Auto Insellösungen Nicht alle liegen tatsächlich im Wasser, manche in einem Häusermeer oder mitten in der Natur: Die „Inseln“, die wir Ihnen auf den folgenden Seiten vorstellen möchten, präsentieren sich so vielfältig wie ihre Mobilitätskonzepte. In einigen F ällen ist Autofahren nur eingeschränkt erlaubt, in anderen komplett verboten oder so gut wie unmöglich. Sark Die britische Kanalinsel Sark liegt zwischen Großbritannien und Frankreich, unweit der größeren Kanalinsel Guernsey. Die Fähre von Guernsey nach Sark ist die einzige Möglichkeit der Anreise, denn bezüglich des Verkehrs gibt es sehr strenge Reglementierungen. Es gibt keinen Flugplatz, und auch das Überfliegen der rund 600 Einwohner zählenden Insel ist untersagt. Auf den Straßen existiert weder Asphalt noch Beleuchtung. Schon vor dem Zweiten Weltkrieg wurden Pkw als Transportmittel abgelehnt. Selbst Traktoren sind nur in Ausnahmefällen zur Personenbeförderung erlaubt, so wird etwa der Krankenwagen von einem Traktor gezogen. Und auch Touristen dürfen auf bestimmten Strecken in den Traktor steigen. Ersatzweise werden jedoch überall auf der Insel Pferdewagen und Fahrräder eingesetzt. Das alles bedeutet nicht, dass die Bewohner in der Steinzeit leben. Alle technischen Errun- Auf Sark gibt es kaum Kriminalität genschaften gibt es auch auf Sark. Aber das Leben ist hier weniger hektisch. Es ist stiller als anderswo. Und sehr nah an der Natur. Natürlich führt dieses Verkehrskonzept zu einer geringen Luft- und Lichtverschmutzung. Von der International Dark Sky Association wurde Sark Anfang 2012 aufgrund des klaren und dunklen Nachthimmels zur ersten „Dark Sky Island“ der Welt erklärt. Sark ist vor allem ein Vorbild in Sachen Nachhaltigkeit. Ausgezeichnet vom „Green Tourism Business Scheme“, erhielten alle Hotels und Restaurants der Insel Bestnoten. Die CO2-Bilanz der Insel ist eine der niedrigsten in Europa. Und ganz nebenbei hat das Leben auf Sark noch einen großen Vorteil: Es gibt kaum Kriminalität. Ein Steinhäuschen ist das örtliche Gefängnis, das kleinste der Welt. Andrea Hetzel, Pressesprecherin des Britischen Fremdenverkehrsamts VisitBritain Im Fokus | ITS magazine 2/2013 mobil? Mackinac Island Das Trappeln der Pferdehufe ist auf Mackinac Island allgegenwärtig Rund um Mackinac Island führt der Highway 185 – der einzige Highway Michigans, auf dem nie Autos fahren. Stattdessen verkehren auf der rund 9,6 Kilometer langen Straße Touristen auf Pferden oder in Kutschen sowie Radler und Spaziergänger, die die Aussicht auf den Lake Huron genießen. Und das, obwohl Mackinac Island zum selben Bundesstaat gehört wie Detroit, die Autohauptstadt Amerikas. Es heißt, dass im Jahre 1898 ein Automobil die Hauptstraße der Siedlung auf Mackinac Island entlang knatterte. Der Lärm dieses neumodischen Fortbewegungsmittels erschreckte die Pferde und verärgerte die Kutscher, die um ihre Sicherheit fürchteten. Auf deren in glühenden Worten vorgebrachten Antrag hin erließ der Gemeinderat ein Verbot für Automobile auf den Straßen des Ortes. Zwei Jahre später wurden Motorfahrzeuge auch aus dem State Park verbannt, der 83 Prozent der Insel ausmacht. Unmittelbar zuvor hatte dort der Sommerfrischler Earl C. Anthony mit seinem Lokomobil mehrere Pferde verletzt und einige Kutschen demoliert. Trotz gerichtlicher Auseinandersetzungen hat das Autoverbot die Jahrzehnte überdauert und der Insel damit ihren besonderen Charakter gesichert – mit abgasfreier Luft und einer Atmosphäre, die den Besucher um über 100 Jahre zurückversetzt ins viktorianische Zeitalter. Bei der Ankunft mit der Fähre wird man nicht von Motorenlärm oder Hupkonzerten begrüßt, sondern vom allgegenwärtigen Trappeln der Pferdehufe. Wie beliebt diese einzigartige Zeitreise bei Touristen ist, zeigt ein Blick in die Statistik: Insgesamt genießen jedes Jahr fast 900.000 Besucher den Charme der autofreien Insel nahe der Autohauptstadt Amerikas. Tim Hygh, Geschäftsführer des Mackinac Island Convention & Visitors Bureau 15 ITS magazine 2/2013 | Im Fokus Die Calli, Campi und Campielli erreicht man nur zu Fuß Bogotá Schon seit 1976 werden an jedem Sonn- und Feiertag in 18 von 20 Stadtteilen Bogotás große Bereiche für den motorisierten Verkehr gesperrt. Dann gehören die Stadt und ihre Straßen den Fahrrädern, InlineSkates und Füßen: Willkommen zur so genannten „Ciclovía“, die seit den 1980er Jahren sogar gesetzlich verankert ist und wöchentlich geschätzte zwei Millionen Teilnehmer mobilisiert. Anfänglich als Erholungsraum gedacht, entwickelte sich die Idee zu einem Treffpunkt für die ganze Familie aus allen Bevölkerungsschichten der Stadt. Neben den Läufern, Radfahrern und Inlineskatern bevölkern Aerobic-Fans und Yogis die Plätze und Wege und nehmen an den angebotenen Kursen teil, andere relaxen einfach und genießen die etwas andere Geräuschkulisse. Aktuell umfasst die insgesamt 69 Mal im Jahr gesperrte Strecke 107,78 Kilometer, künftig sollen weitere Wege hinzuzukommen – insbesondere im Süden der Metropole. Die Regierung unterstützt sehr bewusst diese abgas- und motorenlärmfreie Insel, besonders seit sich in einer Studie der Los Andes Universität 2011 zeigte, dass jeder in die Ciclovía investierte Dollar dem Gesundheitssystem drei Dollar Ausgaben erspart. 16 Maria-Claudia Lacouture, Präsidentin Proexport Colombia Sonn- und Feiertage gehören den Fahrradfahrern, Inlineskatern und Fußgängern Im Fokus | ITS magazine 2/2013 Venedig Das ungewöhnliche und einzigartige Mobilitätssystem in der Stadt Venedig ist schnell erklärt: Krafträder, Pkw und Busse können vom Festland aus nur bis zu den Terminals am Piazzale Roma oder auf der Insel Tronchetto fahren, deshalb bleiben als Bewegungsmöglichkeiten nur noch der Weg zu Fuß, die Nutzung der öffentlichen Beförderungsmittel oder die Wassertaxis. Die öffentlichen Verkehrsmittel werden grob in drei Kategorien eingeteilt: Da sind zum einen die Vaporetti, die die großen Kanäle der historischen Stadt durchfahren, also hauptsächlich den Canal Grande und den Canal della Giudecca. Zum anderen verkehren kleinere Motorboote auf den Kanälen, deren Brücken niedriger sind als die des Canal Grande. Und außerdem stehen noch so genannte Batelli foranei zur Verfügung, größere außerstädtische Boote mit höheren Transportkapazitäten, die Venedig mit den Hauptinseln der Lagune verbinden. Zusätzlich übernehmen auch die traditionellen Gondeln, die es hauptsächlich entlang der touristischen Routen in hunderten verschiedenen Varianten gibt, immer noch eine gewisse, wenn auch eingeschränkte, Transportfunktion. Venezianer nutzen Helgoland Bereits auf Grund der exponierten Lage der einzigen deutschen Hochseeinsel ist auch das Verkehrskonzept der rund 1500 Einwohner zählenden Insel ein besonderes: Die Anreise erfolgt von verschiedenen Festlandsorten mit Seebäderschiffen oder einem High-Speed-Katamaran, zudem besteht von diversen Orten auf dem Festland eine tägliche Flugverbindung mit mehreren Umläufen. Die jährliche Besucherzahl liegt bei rund 320.000 Gästen. Auf der vorgelagerten Badedüne gibt es außer wenigen betrieblich geführten Elektrokarren und ein paar dieselbetriebenen Fahrzeugen unter anderem für Strandarbeiten keine weiteren Verkehre. Für Fahrräder wurden einige wenige Ausnahmegenehmigungen ausgestellt. Von der Hauptinsel sind nur rund 30 Prozent bebaut – allein deshalb müssen für alle Beteiligten Spielregeln wie etwa Geschwindigkeitsbegrenzungen definiert und eingehalten werden. Zudem ist Helgoland als „Nordseeheilbad“ hochprädikatisiert und vor allem die herausragende Luftqualität ist ein wichtiges, touristisches Alleinstellungsmerkmal. § 50 der Straßenverkehrsordnung setzt die Norm: „Auf der Insel Helgoland sind der Verkehr mit Kraftfahrzeugen und das Radfahren verboten.“ Ausschlaggebend für diese einmalige Sonder regelung war die Überlegung, eine verkehrszeichenfreie Zone zu schaffen und durch eine restriktive Ausnahmere- Ugo Bergamo, stellvertretender Bürgermeister für Mobilität und Transport sie hauptsächlich als Traghetto, also als Gondelfähre, um schnell von einer Seite des Canal Grande zur anderen zu kommen, ohne dabei den Fußweg über eine der vier großen Brücken nehmen zu müssen. Überall gelangt man mit diesen Verkehrsmitteln freilich nicht hin. Die Calli, Campi und Campielli – zu Deutsch: Gassen, größere und kleinere Plätze – erreicht man nur zu Fuß, nachdem man an der nächstgelegenen Anlegestelle aus einem öffentlichen Verkehrsmittel ausgestiegen ist. Jährlich kommen 320.000 Gäste Klaus Furtmeier, Tourismusdirektor des Nordseeheilbads Helgoland gelung nur wenige geräuscharme und abgasfreie Fahrzeuge auf der Insel verkehren zu lassen. Insgesamt sind auf Helgoland rund 94 Elektrokarren und -autos zur Auslieferung von Waren und verschiedenen Dienstleistungen zugelassen. Außerdem gibt es einige Gabelstapler, Baufahrzeuge sowie Rettungs- und Feuerwehrfahrzeuge. Alle Fahrzeuge müssen sich an die Geschwindigkeits begrenzung von maximal 10 km/h halten. 17 ITS magazine 2/2013 | Im Fokus Auf der Insel gibt es fünf oder sechs Autos und über 3000 Esel Lamu Lamu ist eine kleine Insel im Norden von Kenia. In Lamu-Stadt leben etwa 18.000 Ein wohner, auf der ganzen Insel etwa 25.000. Autofahren ist hier zwar nicht verboten, aber ziemlich unmöglich: Der einzige Weg, den man mit etwas Fantasie als Straße bezeichnen könnte, verläuft direkt am Meer. Ansonsten sind die Gassen viel zu schmal, sogar die so genannte Main Street misst an manchen Stellen gerade mal zwei Meter. Dass Lamu keine Stadt für Fahrzeuge ist, sieht man eigentlich auf den ersten Blick – nicht zuletzt, wenn man die Leute von Kenya Power dabei beobachtet, wie sie sich durch die engen 18 Gassen quälen. Deshalb gibt es auf der Insel auch nur fünf oder sechs Autos, einige Traktoren, ein großes TukTuk für das Krankenhaus, dazu einige Motorräder und Fahrräder – vor allem aber Esel, jede Menge Esel. Offiziell sollen es 3000 sein, in Wahrheit sind es vermutlich sogar deutlich mehr. Auf jeden Fall sind sie – neben Handkarren – das wichtigste Transportmittel in der Stadt. Vor drei Jahren haben sich einige Leute Motorräder zugelegt, wohl hauptsächlich als Statussymbole; zumindest drängte sich der Eindruck auf, wenn man sie stolz winkend herumfahren sah. Danach hat der Bürgermeister die Leute gebeten, auf Motorräder zu verzichten, und die Anzahl ist wieder weniger geworden. Verkehrsstaus gibt es auf Lamus Straßen übrigens trotzdem: wenn Handkarren die Main Street verstopfen oder Esel entladen werden. Arnold Starosczyk, Inhaber des Gästehauses JamboHouse Im Fokus | ITS magazine 2/2013 Saas-Fee Am Ende des 19. Jahrhunderts zählt man in Saas-Fee, einem Dorf in den südlichen Walliser Alpen der Schweiz, 280 Einwohner. Im Sommer sind mehrere Hotels in Betrieb, die Grundlage für die erfolgreiche Tourismusdestination Saas-Fee/Saastal, die heute als „Perle der Alpen“ gilt, wird also bereits hier erstellt. Durch das Tal führt ein Saumweg, Maulesel transportieren Touristen und ihr Gepäck. Rund 50 Jahre später, im Mai 1949, erteilt die zuständige Bundesbehörde grünes Licht für eine Straße von Saas-Grund nach Saas-Fee. Aber noch vor deren Eröffnung verbieten die Einwohner des Ortes im Februar 1950 einstimmig die Einfahrt von Motorfahrzeugen in ihr Dorf. Im Laufe der Zeit ist die „Autofreiheit“ zu einem tragenden Verkaufsargument mit entsprechender Werbewirksamkeit geworden. Die gesamte touristische Infrastruktur erfährt wegen der geringen Emissionen und Immissionen eine zusätzliche Qualität. Andererseits bringt das vielgepriesene Konzept jedoch auch erhebliche Mehrkosten mit sich – sowohl bei der Erbringung von Dienstleistungen als auch bei der Erstellung von Infrastrukturen. Das gesamte Material muss vor Ort auf Elektrofahrzeuge, die exakten gesetzlichen Vorgaben unterliegen, umgeladen werden. Eines kann man dennoch mit Fug und Recht behaupten: In Sachen Verkehr und Mobilität haben die Behörden und Einwohner von Saas-Fee vor über 60 Jahren das richtige Maß getroffen: „Ja“ zur Verkehrserschließung und damit auch „Ja“ zum Aufbruch in eine Zeit wirtschaftlicher Prosperität – und gleichzeitig „Nein“ zum Auto im Dorf und damit auch „Nein“ zur Minderung der Lebensqualität im Kurort. Dieser maßvolle Umgang mit der Mobilität und den Mobilitätsansprüchen der Gäste und Einwohner hat dem Ort ein goldenes Zeitalter beschert. Und damit das Leben in Saas-Fee – im wörtlichen Sinn – nachhaltig geprägt. Die „Autofreiheit“ ist zu einem tragenden Verkaufsargument geworden Bernd Kalbermatten, Gemeindeschreiber der Gemeindeverwaltung Saas-Fee Quartier Vauban Ein besonderer Stadtteil Freiburgs ist das Quartier „Vauban“, das Ende der 1990er Jahre vom Kasernengelände in ein Wohnviertel umgewandelt wurde. Die Bebauung unterliegt strengen Energiestandards, das Quartier wird durch ein umweltfreundliches Nahwärmesystem beheizt und Regenwasser wird versickert. Das Besondere: Vauban wurde als autoreduzierter Stadtteil konzipiert. Zum einen greift auch hier die in Freiburg allgemein übliche intensive Förderung der umweltfreundlichen Verkehrsarten. Zusätzlich entfällt in einem großen Teil des Gebiets die übliche Verpflichtung, je Haushalt einen Stellplatz für das eigene Auto anzulegen – ganz im Gegenteil dürfen im inneren Bereich sogar überhaupt keine Stellplätze angelegt werden. Wer trotzdem ein Auto besitzen möchte, kauft den Stellplatz in der dafür angelegten Quartiersgarage. Wegen des Die Bebauung unterliegt strengen Energiestandards weiteren Fußwegs wird aber auch dieser Bewohner deutlich weniger mit dem Auto unterwegs sein. Diese quasi autofreie Wohnbebauung ist in dieser Größe in Deutschland einmalig und erfährt großes Interesse aus der Fachwelt. Auch die Bewohner sind zufrieden: Vauban hat sich zu einem sehr beliebten Wohnviertel entwickelt, die Grundstücke sind nun vollständig bebaut, die Immobilien begehrt. Vauban bleibt auch für Freiburger Verhältnisse ungewöhnlich und stellt eine „Insel“ für eine besondere Mobilität dar. Trotzdem darf man solche Modelle nicht isoliert ohne die Umgebung sehen. Sie müssen mit den angrenzenden Mobilitätsangeboten gut vernetzt werden, um auch über Gemarkungsgrenzen hinaus gute Angebote für integrierte Mobilität zu entwickeln. Professor Dr. Martin Haag, Bürgermeister der Stadt Freiburg 19 ITS magazine 2/2013 | Trends & Events Flott durch Slot Baustellenmanagement Um über 80 Prozent ist die Anzahl der landesweiten Staustunden in den zehn Jahren seit Start des Projekts „Staufreies Hessen 2015“ gesunken. Großen Anteil daran hat die computergestützte Baustellenplanung, die inzwischen noch weiter optimiert wurde: Ein innovatives Slotmanagement-System prüft automatisch, wann das Verkehrsnetz welche Maßnahme am besten verkraftet und ermittelt die idealen Zeitfenster. Der Name ist gleichzeitig Vision: „Staufreies Hessen 2015“ heißt das Projekt, das sich zum Ziel gesetzt hat, für eine stetige Verbesserung des Verkehrsflusses auf hessischen Straßen zu sorgen. Im Fokus stehen dabei vor allem die Autobahnen, die in einem so zentral gelegenen deutschen Bundesland natürlich besonderen Belastungen ausgesetzt sind: Im Rhein-Main-Gebiet beispielsweise werden pro Kilometer täglich weit über 100.000 Fahrzeuge gezählt – mehr als doppelt so viele wie auf einem durchschnittlichen deutschen Autobahnkilometer. „Wenn man eine solche Aufgabe angeht, hat man grundsätzlich zwei Möglichkeiten“, sagt Gerd Riegelhuth, Leiter der Abteilung Verkehr bei Hessen Mobil, der oberen Landesbehörde für Straßen- und Verkehrsmanagement: „Entweder man bildet eine Arbeitsgruppe und gibt ihr den Auftrag, die Weltformel für Verkehr zu finden – oder man konzipiert Schritt für Schritt effi ziente Maßnahmen, die möglichst schnell Wirkung entfalten. Wir haben uns für Option zwei entschieden.“ 20 Ganz konkret konzentriert man sich in Hessen deshalb auf drei Kernthemen der Mobilität: •die Erprobung von Zukunftstechno logien wie etwa der Kooperativen Systeme •die Bereitstellung von Mobilitätsdiensten unter anderem im Hinblick auf zuverlässige Verkehrsinformationen und intermodale Verkehrskonzepte •die Optimierung des Verkehrsmanagements durch Entwicklung und Umsetzung von Maßnahmen für moderne Stauprävention, Vernetzung der Verkehrsträger und intelligente Leit- und Informationssysteme Der Erfolg gibt den Vordenkern Recht. Als das Projekt „Staufreies Hessen“ Anfang 2003 an den Start ging, regis trierte man landesweit noch rund 88.000 Staustunden pro Jahr. Inzwischen sind es, trotz erheblich gestiegenen Verkehrsaufkommens, nur noch deren 16.000 – also um über 80 Prozent weniger. Wesentlichen Anteil daran hat das computergestützte Baustellenmanagement, wie sich an einer anderen Statistik ablesen lässt: Wäh- Gerd Riegelhuth: „Baustellen so einfach planen wie Flugreisen“ rend andernorts bis zu 48 Prozent der Staustunden durch Baumaßnahmen verursacht werden, liegt der Anteil in Hessen bei gerade mal 19 Prozent. Dabei spielt nach Ansicht der Verantwortlichen die hessische Basisstrategie eine Rolle, die sich von der in manch anderem Bundesland unterscheidet. „Dort versucht man meist, die baustellenbedingten Verkehrseinschränkungen durch möglichst kurze Bauzeiten zu verhindern“, erklärt Riegelhuth. „Wir gehen den umgekehrten Weg, indem wir die Verkehrsbeeinträchtigungen während der Bauzeit so gering wie möglich halten.“ Deshalb läuft die Baustellenpla- Trends & Events | ITS magazine 2/2013 Das Slotmanagement-System in Hessen nung bereits seit einigen Jahren com putergestützt. Das heißt unter anderem: Auf Grundlage der in der Verkehrs zentrale Hessen erfassten und archi vierten Verkehrsdaten wird eine Prognose erstellt, ob an einer geplanten Baustelle in einem bestimmten Zeitraum ein Stau zu erwarten ist. Inzwischen geht die Unterstützung durch moderne IT-Verfahren noch deutlich weiter. „Die Grundidee für diese Weiterentwicklung kam mir bei der Buchung eines Lufthansa-Flugs“, sagt Gerd Riegelhuth. „Ich habe mich dann mit meinem Team zusammen gesetzt und überlegt, ob es nicht möglich wäre, unsere Baustellen genauso einfach und genauso effizient zu planen wie eine Flugreise. Und ich denke, das ist uns mit dem SlotmanagementSystem gelungen.“ Das innovative Tool prüft automatisch, wann das Verkehrsnetz genügend Kapazität frei hat, um die vom Planer eingegebene Baumaßnahme zu ver kraften und zeigt auf Mausklick die entsprechenden Zeitfenster an. Die Ermittlung der idealen Slots basiert auf einer Schätzung der Restkapazität nach der geplanten Sperrung und auf den Referenzganglinien der Verkehrsnachfrage. Neben der Optimierung der gerade zu planenden Maßnahme hat die Erfassung im Slotmanagement-System noch einen weiteren entscheidenden Vorteil: Denn nachdem sich der jeweilige Bearbeiter für eines der Zeitfenster entschieden und den Antrag auf die verkehrsrechtliche Anordnung abgeschickt hat, ist es für keinen seiner Kollegen mehr möglich, zeitgleich eine Baustelle auf einer Ausweichstrecke zu planen. „Nach unserer Philosophie ist die beste Baustelle grundsätzlich die, die der Verkehrsteilnehmer kaum wahrnimmt, weil sie keine oder zumindest keine größeren Behinderungen verursacht und damit auch verkehrssicher ist“, resümiert Gerd Riegelhuth. „Wenn man sich dagegen hauptsächlich darauf konzentriert, die Bauzeit zu reduzieren, erreicht man unter Umständen genau das Gegenteil. Selbst wenn man es schafft, früher fertig zu werden: In der Regel erfährt der Bürger das doch gar nicht – er erinnert sich nur an die vielen Staus.“ Sechs interaktive Schritte zur staufreien Baustelle: •Der Anwender wählt auf einer grafischen Oberfläche den Ort der Baustelle, die zu sperrenden Fahrstreifen und die benötigte Dauer der Maßnahme aus •Das System ermittelt auf der Grundlage eines umfassenden Verkehrsdatenarchivs mögliche Zeiträume für die Durchführung der Baustelle und stellt sie grafisch in einem Kalendarium dar •Der Anwender entscheidet sich für einen der geeigneten Zeiträume und legt damit Datum und Zeit der Baustelle so fest, dass kein Stau zu erwarten ist •Das System füllt das Formular der verkehrsrechtlichen Anordnung automatisch aus •Der Anwender fügt gegebenenfalls Dokumente wie etwa Verkehrszeichenpläne an und versendet die Anordnung an alle Beteiligten •Das System speichert den Vorgang und alle erforderlichen Daten zu der geplanten Baustelle und stellt sicher, dass nun nicht mehr zeitgleich eine Baustelle auf einer Ausweichstrecke geplant werden kann Autobahnbaustelle in Hessen: „So wenig Verkehrsbeeinträchtigung wie möglich“ 21 ITS magazine 2/2013 | Trends & Events Smarter, größer, besser Leistungsschau am Bosporus: Die Intertraffic Istanbul war ein voller Erfolg Intertraffic Istanbul Bereits zum siebten Mal ging im Istanbul Expo Center vom 29. bis 31. Mai die Intertraffic Istanbul über die Bühne, die längst als bedeutendste Leistungsschau der Verkehrstechnik in Eurasien und im gesamten Mittleren Osten gilt. „Smarter, größer, besser“ lautete das Fazit der „Daily News“ zur diesjährigen Veranstaltung, bei der sich mehr als 5200 Profis aus den Bereichen Infrastruktur, Verkehrsmanagement, Verkehrssicherheit und Parken aus 74 Nationen einen komprimierten Überblick über den aktuellen Stand der Technik verschafften. Die Spotlights am Siemens-Stand richteten sich auf den C940ES-Controller, die augenblicklich modernste Version der weltweit erfolgreichen Cxx0x-Reihe, die inzwischen an mehr als 25.000 Kreuzungen rund um den Globus ihren Dienst verrichtet. Der energiesparende Controller verfügt über eine offene OCITSchnittstelle und arbeitet mit Sitraffic Office, einem vollständig integrierten Softwaresystem, das sowohl dem Verkehrsingenieur als auch dem Operator und dem Servicetechniker alle notwendigen Tools auf einer gemeinsamen Datenbasis bereitstellt. Mehrfache Eingaben sind damit überflüssig, und die Fehlermöglichkeit einer Doppeleingabe wird vermieden. Highlights in Birmingham Traffex 2013 Mit mehr als 8000 Besuchern unterstrich die 26. Auflage der Traffex im National Exhibition Center in Birmingham vom 16. bis 18. April einmal mehr ihre Position als wichtigste Branchenmesse für Straßenverkehrstechnik und -sicherheit in Großbritannien. Über 500 Unternehmen präsentierten dort ihre aktuellsten und leistungsfähigsten Lösungen. Als echter Publikumsmagnet erwies sich in diesem Jahr der Traffic Control Room am SiemensStand, wo die modernsten städtischen Systeme demonstriert wurden – unter anderem das erst kürzlich eingeführte und inzwischen schon weit verbreitete Fehler-und-Anlagen-Managementsystem InView. Im Fokus stand auch das neue, cloudbasierte Verkehrsmanagementsystem Stratos für die strategische Echtzeitsteuerung von komplexen Stadtverkehrs-Umgebungen. Mit besonderer Spannung erwartet wurde ein weiteres Highlight: Denn Siemens lüftete in Birmingham ein lange gehütetes Geheimnis und stellte mit dem ST950 die sechste Generation seiner Controller-Familie vor, die vor über 30 Jahren die Verkehrssteuerung an Kreuzungen in Großbritannien neu definiert hat. Ebenfalls auf großes Interesse stießen die Konzepte SafeZone und GreenZone: Bei dem einen handelt es sich um ein modulares System zur Geschwindigkeitsüberwachung auf Basis der bewährten automatischen Nummernschilderkennung, bei dem anderen um die weltweit erste Lösung zur automatisierten Überwachung von so genannten Low Emission Zones. Reale Lösungen für reale Bedürfnisse ITS Europa-Kongress Über 100 fachbezogene Sessions, 73 AusstellerStände, 1700 Besucher aus 55 Ländern: Das sind die beeindruckenden Eckdaten des neunten europäischen ITS-Kongresses, der vom 4. bis 7. Juni im Convention Center in Dublin stattgefunden hat. Unter dem Motto „Real Solutions for Real Needs“ standen die Themen Smart Cities, Elektromobilität, intelligente Straßen-Netzwerke, neue Formen der Datengewinnung und Management -Techniken sowie Best-Practice-Beispiele 22 Gipfeltreffen in Dublin: Auch über Mautlösungen wurde lebhaft diskutiert im Mittelpunkt. „Der gesamte Fokus der Veranstaltung lag auf dem Hier und Jetzt, auf den heutigen Bedürfnissen der Bürger und darauf, was wir kurz- bis mittelfristig erreichen können“, sagte Alan Kelly, Irlands Minister für Öffent lichen Transport. „Es wurde schon des Öfteren betont, dass die nötigen Technologien bereits existieren, und auch bei diesem Event konnte man sich davon erneut überzeugen. Jetzt müssen wir die vorhandenen Lösungen nur noch zusammenfügen und umsetzen.“ Schneller und sicherer zum Googleplex Mountain View Zur Verbesserung des Verkehrsflusses und zur Erhöhung der Verkehrssicherheit auf der stark frequentierten Zufahrtstraße zum Google-Hauptquartier im Silicon Valley hat der Internetkonzern die unmittelbar vor dem so genannten Googleplex gelegene Kreuzung mit einem völlig neuen Verkehrssteuerungssystem ausrüsten lassen. Da die extrem leistungsstarken Glasfaser-Kabel für die Datenkommunikation sowie die Versorgungsleitungen zur GoogleZentrale direkt unter dieser Kreuzung verlaufen, war bei der Modernisierung äußerste Vorsicht geboten. Das Siemens-Team vor Ort arbeitete deshalb sehr eng mit den Spezialisten des Telekommunikations-Unternehmens AT&T, der Pacific Gas and Electric Company und des Stadtrats der kalifornischen 70.000-Einwohner-Kommune Mountain View zusammen. Um die Geschäftsabläufe des weltweit führenden Webdienstleisters so Update im Silicon Valley: Die Kreuzung vor der Google-Zentrale wurde komplett modernisiert wenig wie möglich zu gefährden, wurde nur am Wochenende gearbeitet, und sowohl die Zufahrt wie auch der Zugang zu dem Gebäudekomplex blieben dank ausgeklügelter Umleitungen während der Umbauten gefahrlos passierbar. Neben neuen Lichtsignalanlagen auf höchstem technologischem Niveau und innovativer Controller-Hardware gehörten zur Modernisierung auch Optimierungen an den barrierefreien Fußgängerrampen und an den Zufahrtsstraßen zum Google-Campus. Außerdem wurden an insgesamt fünf Kreuzungen im Umfeld des Googleplex Video-Überwachungssysteme für Autos und Fahrräder sowie Priorisierungssysteme für Rettungsfahrzeuge installiert. Grüne Welle für Fußgänger Köln Bisher hat hauptsächlich der motorisierte Individualverkehr von ausgeklügelten Ampelschaltungen profitiert, die die Anzahl der Stopps auf ein Minimum reduzieren. An der Kölner Bahnstation Zoo/Flora kommen jetzt auch Fußgänger in den Genuss einer so genannten Grünen Welle. Möglich macht dies eine mit der Fußgängerampel verbundene Videokamera, die herannahende Personen erkennt. Daraufhin wird automatisch eine Grünphase angefordert, die – je nach Geschwindigkeit der Fußgänger – bis zu 110 Sekunden dauert, also auch älteren Menschen genügend Zeit lässt, die Fahrbahn zu überqueren. Die ersten Erfahrungen mit dem neuen Konzept waren positiv: Bis dato, so das zuständige Amt für Straßen und Verkehrstechnik, wurden weder Rückstaus beobachtet, noch gingen Beschwerden von Autofahrern ein. Deshalb sollen künftig weitere Fußgängerampeln vorwiegend im Umfeld von Schulen mit Bus- oder S-Bahn-Haltestellen mit einem entsprechenden Videosystem ausgerüstet werden. Neue Effizienz im Ferienparadies San Andrés Die im Karibischen Meer gelegene Insel ist gerade einmal 52,5 Quadratkilometer groß und damit das kleinste Departemento Kolumbiens – trotzdem verfügt sie inzwischen über eines der modernsten und effektivsten Verkehrssteuerungs- und Lichtsignalanlagensysteme des ganzen Landes. Insgesamt wurden 14 Kreuzungen auf San Andrés mit ST900-Controllern ausgerüstet, die über ein Glasfaser-Netzwerk mit einer UTC-Zentrale (Urban Traffic Control) verbunden sind. Auf der Grundlage von Echtzeitinformationen der an den wichtigsten Kreuzungen installierten Videoüberwachungskameras können die Verantwortlichen nunmehr optimal auf die jeweilige Verkehrssituation reagieren, um die Anzahl der Stopps und die jeweiligen Wartezeiten zu minimieren. Die spätere Anbindung der aktuellen Komponenten an ein adaptives SCOOTSteuerungssystem ist jederzeit möglich. Für eine weitere Verbesserung des Verkehrsflusses sorgen die integrierten Signalanforderungen der Fußgängerampeln, die nur dann eine Rotphase für die motorisierten Verkehrsteilnehmer auslösen, wenn sich tatsächlich Fußgänger an der Kreuzung befinden. Und auch die Um welt gehört zu den Gewinnern, denn die innovative LED-Technologie der neuen Lichtsignalanlagen überzeugt unter anderem durch einen extrem niedrigen Energieverbrauch und eine besonders lange Lebensdauer. 23 ITS magazine 2/2013 | Partner & Projekte Innovativ einfach – einfach innovativ Pilotprojekt STREAM Die immer präziseren Daten von Navi gationssatelliten versprechen für die Telematik in Kommunen spürbaren Effizienzgewinn. Als erste deutsche Kommune hat Böblingen die Chancen erkannt und ein neues System zur dynamischen Fahrgastinformation und zur ÖPNV-Priorisierung getestet. Die positiven Erfahrungen des Probelaufs werden jetzt bei der Installation einer produktfähigen Lösung genutzt. Fast überall auf der Welt suchen Kommunen derzeit nach Lösungen, um ihr ÖPNV-Angebot attraktiver zu gestalten. Zu den wirksamsten Instrumenten gehört neben verkürzten Fahrzeiten durch Priorisierung Öffentlicher Verkehrsmittel zum Beispiel auch eine Dynamische Fahrgastanzeige. Die für beide Optionen nötige Positionsbestimmung der ÖPNV-Fahrzeuge ließ sich in mittleren und kleineren Städten ohne Rechnergestütztes Betriebsleitsystem bisher meist nur mit relativ großem Aufwand realisieren: etwa mit Hilfe spezieller Infrarotbaken oder über Induktionsschleifen. Präzisere Navigationsdaten ermöglichen neue Dienste 24 Die neue Präzision der Satellitennavigation eröffnet jetzt einen weitaus effizienteren Weg. Als erste deutsche Kommune hat die Stadt Böblingen auf diese Chance reagiert und das Pilotprojekt STREAM gestartet – mit vollem Namen: Simple Tracking Realtime Application for Managing traffic lights and passenger information. Das Konzept ist denkbar einfach und nutzt die existierende Infrastruktur: Die GPS-basierten Positionsdaten der Fahrzeuge werden per Mobilfunk an das Fahrgastinformationssystem und an den Verkehrsrechner übermittelt, der dann die Anforderungstelegramme an die Kreuzungsgeräte schickt. Für die Umsetzung der innovativen Lösung sind also im Wesentlichen nur drei Dinge nötig: die Modifizierung der Software an den Lichtsignalanlagen, die Erweiterung des Verkehrsrechners um einen ÖVKommunikationsrechner und die Ausstattung der Fahrzeuge mit GPS-Empfängern. Im Vergleich zum bisher üblichen Hardwareeinsatz inklusive aufwän diger Verkabelungen und zusätzlicher Antennen ergeben sich für den Betreiber damit erhebliche Kosteneinsparungen. Die Stadt Böblingen hat das System in der zweiten Jahreshälfte 2012 mit zwei Bussen getestet und kam nicht nur im Hinblick auf die Wirtschaftlichkeit, sondern auch in puncto Zuverlässigkeit zu positiven Ergebnissen. Jetzt geht es vor allem darum, die Erfahrungen aus dem Pilotprojekt zu nutzen, in den nächsten Monaten in Böblingen eine produktfähige Lösung zu installieren und anschließend generell auf dem Markt zu etablieren. Außerdem laufen inzwischen Vorbereitungen, das System für Einsatzfahrzeuge von Rettungsdiensten zu testen. Es werde Licht Dynamische Beleuchtungssteuerung Maximale Verkehrssicherheit bei minimalen Betriebskosten: Das ist der Leitgedanke hinter dem innovativen Beleuchtungskonzept der Stadt Düsseldorf, das die Helligkeit auf den Straßen mit Hilfe des Managementsystems VIA LUMEN der jeweiligen Verkehrsdichte anpasst. Auf der Hannover Messe wurde die energieeffiziente Anwendung mit dem Deutschen Telematikpreis ausgezeichnet. Ganz gleich, ob im Verkehr, in der Verwaltung, im Gesundheitswesen oder in anderen öffentlichen Be reichen: Telematiklösungen sind das Rückgrat so genannter Smart Cities, die ihren Bewohnern mehr Lebensqualität bieten und gleichzeitig ökologische sowie ökonomische Maßstäbe bei der zukunfts fähigen Gestaltung kommunaler Infrastruktur setzen wollen. Ein im wahren Sinn des Wortes leuchtendes Beispiel dafür ist die „Software unterstützte Betriebsführung in der Öffentlichen Beleuchtung“ in Düsseldorf. Die Stadt und die Stadt werke erhielten dafür vor kurzem den Best-Practice-Preis 2012 der europäischen Telematikgesellschaft TelematicsPro. Einen wichtigen Anteil daran hat das ganzheitliche Beleuchtungsmanagementsystem VIA LUMEN, das neben umfassenden Kontroll-, Überwachungs- und Steuerungsfunktionen ein besonders effizientes Extra beinhaltet: Es erlaubt eine bedarfsgerechte Schaltung der Beleuchtung, deren Intensität sich der jeweiligen Verkehrsdichte anpasst. Wenn die angebundenen Messstellen nur wenige Fahrzeuge registrieren, wird die Helligkeit entsprechend heruntergefahren. Insgesamt lassen sich mit dem dynamischen Verfahren gegenüber der bisher üblichen Halbnachtschaltung nach Uhrzeit rund 30 Prozent Energie einsparen. Realisiert wurde diese Lösung beispielsweise im Rahmen eines Modellvorhabens des Bundesumweltministeriums an der Danziger Straße in Düsseldorf, wo das Verkehrsaufkommen gerade bei Messe- und Arenaveranstaltungen stark variiert. „Diese innovative Software der Karlsruher CAOS GmbH“, sagt Wilhelm Derenne, Vertriebsbeauftragter bei Siemens Mobility and Logistics in Nordrhein-Westfalen, „lässt sich optimal in die vorhandene Infrastruktur integrieren. In Düsseldorf arbeitet VIA LUMEN perfekt mit dem Verkehrsrechner Sitraffic Scala Solution 6 und den Detektoren Traffic Eye Universal zusammen.“ 25 ITS magazine 2/2013 | Wissen & Forschung Fit for Fahren Fahrtraining für Senioren Die Diskussion um die nachlassende Leistungsfähigkeit der Generation 70+ im Straßenverkehr ist ungefähr so alt wie der demografische Wandel in Europa. Durch eine Studie des Psychologen Dr. Sebastian Poschadel vom Leibniz-Institut für Arbeitsforschung an der TU Dortmund wurde sie um einen interessanten Aspekt erweitert: Demnach lässt sich die Fahrkompetenz von Senioren mit gezieltem Training nachhaltig steigern. Irgendwo in der Gegend von 70 Jahren könnte sie verlaufen, die Grenze, deren Überschreiten aus fahrtüchtigen Senioren am Steuer weniger fahrtüchtige macht – zumindest statistisch gesehen: Denn einerseits verursachte die Gruppe der über 65-Jährigen in Deutschland im Jahr 2011 mit 9,7 Prozent weit weniger Unfälle mit Personenschaden als etwa die der 18- bis 24-Jährigen mit über 16 Prozent. Andererseits waren zwar auch die über 75-Jährigen in deutlich weniger Crashes verwickelt als die Jungen Wilden, aber wenn es zu schweren Unfällen mit ihrer Beteiligung kam, trugen sie in drei von vier Fällen die Hauptschuld. Solche Zahlenspiele bekommt man vorzugsweise dann zu lesen oder zu hören, wenn es um den viel diskutier- 26 ten Fahrtauglichkeitscheck für ältere Autofahrer geht, umgangssprachlich etwas despektierlich auch SeniorenTÜV genannt. Sofern es sich dabei um reine Gesundheitsüberprüfungen handelt, hält der Psychologe Dr. Sebastian Poschadel vom Leibniz-Institut für Arbeitsforschung an der TU Dortmund davon nicht allzu viel. „Wir wissen zwar, dass ein gutes Abschneiden bei solchen Tests ein Indiz für hohe Fahrkompetenz ist. Aber andersherum bedeutet ein schlechtes Abschneiden nicht, dass jemand schlecht fährt.“ Was Dr. Poschadel zunächst mehr interessierte, war eine ganz andere Frage: „Es war zwar bekannt, dass man durch Labortraining zur Verbesserung kogni tiver Funktionen die Leistungsfähigkeit Dr. Poschadel: „Fahrtraining als Element eines Präventionskonzepts“ älterer Menschen im Alltag steigern kann. Aber wir wussten nicht, inwieweit das auch für Fahrtrainings und ihren Effekt auf die Fahrkompetenz unter Realbedingungen gilt.“ Damit war das Setting der Forschungsstudie mit dem Titel „Ältere Autofahrer: Erhalt, Verbesserung und Verlängerung der Fahrkompetenz durch Training“ auch schon weitge- Mobilität & Lebensraum | ITS magazine 2/2013 hend definiert: Insgesamt wurden 120 Personen zu dem Versuch eingeladen: 46 von ihnen, im Mittel 72,6 Jahre alt, absolvierten zusammen mit einem Fahrlehrer ein 15-stündiges professionelles Training mit schwierigen und komplexen Aufgaben im Realverkehr. Ebenfalls 46 nahezu gleichaltrige Probanden fungierten als so ge nannte Nur-Feedbackgruppe, das heißt: Sie fuhren genauso oft auf derselben Strecke, wurden aber nicht gezielt trainiert, sondern erhielten lediglich Rückmeldungen zu ihrer Leistung von einem professionellen Fahrlehrer. Die restlichen 28 Personen bildeten die Referenzgruppe: Sie waren zwischen 40 und 50 Jahre alt und fuhren die Strecke nur einmal, um einen Bezugswert für die zu erwartende Leistungssteigerung der Älteren zu markieren. Die Ergebnisse hätten eindeutiger kaum sein können: Sämtliche Mitglieder der Trainingsgruppe erreichten schließlich das Leistungsniveau der Referenzgruppe. Und die gesteigerte Fahrkompetenz blieb auch zwölf Monate nach dem Training noch stabil. Sogar die Nur-Feedbackgruppe konnte sich deutlich und ebenfalls zeitlich stabil verbessern. Allerdings reichten allein die Rückmeldungen zur individuellen Leistung bei den zuvor schon schwächeren Fahrern nicht aus, um das Level der Referenzgruppe zu erreichen. In der Trainingsgruppe dagegen haben gerade die schwächeren Fahrer am meisten Fahrkompetenz gewonnen, wie ein Blick in die Subgruppenanalysen zeigt. Trotz niedriger Ausgangswerte schafften sie es durch die Bank, die Benchmarks der Referenzgruppe zu erreichen oder sogar zu übertreffen. „Die Untersuchungsergebnisse weisen darauf hin, dass mit einem professionellen Fahrtraining im Realverkehr die Fahrkompetenz im Alter verbessert und nachhaltig verlängert werden kann“, fasst Dr. Poschadel den unmittelbaren Erkenntnisgewinn seiner Studie zusammen. Darüber hinaus sieht er in den Ergebnissen aber auch die politische Dimension: „Fahrtrainings und Feedbackfahrten könnten also als ein Element in ein generelles Präventionskonzept für ältere Fahrerinnen und Fahrer integriert werden, um ihre individuelle Mobilität und damit ihre gesellschaftliche Teilhabe zu erhalten.“ Im Seitenspiegel Reif für die Insel? Inseln sind letzthin etwas in Verruf geraten: als Steueroasen und Millionärsparadiese. Das ist nur ein Teil der Wahrheit. Etwas Freibeuterisches haftet Inseln seit jeher an: Nirgendwo sonst kann man Geld so stilvoll vor neugierigen Blicken verstecken wie auf einer Schatzinsel. Johnny Depp beispielsweise, schon in seiner Rolle als Jack Sparrow in „Fluch der Karibik“ auf Inseln abonniert, besitzt auch privat eine. Inseln können Fluchtpunkt oder Endstation sein, Verheißung oder Verdammnis. Man will dringend hin – oder noch dringender wieder weg. Der Korse Napoleon lebte erst auf Elba, dann bis zu seinem Tod auf St. Helena in der Verbannung. Dabei schwärmten schon die antiken Griechen von Elysion, der Insel der Glückseligkeit, wo ewiger Frühling alles irdische Leiden vergessen macht. Leider blieb Elysion unauffindbar, obwohl ja Inseln dauerhaft über die Umgebung hinausragen, gewissermaßen etwas Überhöhtes haben. Wer sein Leben so herausragend auf einer Insel verbringt, muss kontinentale Lebensart fast zwangsläufig mit Herablassung betrachten. Das erkannte auch der um das Jahr 1600 in London lebende Schriftsteller und Metaphoriker John Donne. In „Meditation XVII“ schrieb er seinen Insel-Mitbewohnern ins Stammbuch, was noch Jahrhunderte später zum Bestsellertitel taugte: „Niemand ist eine Insel, ganz für sich allein; jeder ist ein Stück Kontinent, Teil des Ganzen.“ Zwar spöttelte der deutsche Dichter Novalis 200 Jahre später, jeder Engländer allein sei schon eine Insel, Donnes Erkenntnis aber wirkt bis heute in die Niederungen des Alltags hinein: Selbst Verkehrsinseln stehen isoliert in einer Brandung, fast magisch dem Verkehrsfluss entrückt – und doch Teil einer höheren Idee. Die wurde in Britannien konsequent weiterentwickelt: Der „Magic Roundabout“ im südenglischen Swindon ist ein großer Kreisverkehr mit zentraler Verkehrsinsel, umgeben von fünf Satelliten-Kreisverkehren und einem ganzen Verkehrsinsel-Archipel. Während in den kleinen Kreisverkehren außen Linksverkehr herrscht, fährt man um die innere Verkehrsinsel gegen den Uhrzeigersinn – also scheinbar im Rechtsverkehr. Die Legende berichtet von kontinentalen Autofahrern, die Nacht für Nacht um die Verkehrsinseln spuken und Erlösung in der richtigen Fahrtrichtung suchen. Jack Sparrow wäre entzückt. 27 „Auch der berühmte Mad Sunday ist im Grunde nicht so verrückt wie sein Image“ Helmut Dähne, TT-Vielstarter zwischen 1972 und 1994: „Für mich überwiegen die positiven Seiten“ Ritt am Limit Vollgas-Verkehr auf der Isle of Man Die einen halten sie für eine Kultstätte des wahren Motorrad-Rennsports, die anderen für eine Brutstätte des schieren Wahnsinns: Die britische Isle of Man ist berühmt für ihre Speed-Spektakel – und berüchtigt wegen des R isikos, das die Fahrer dabei eingehen. Der deutsche Schräglagen-Veteran Helmut Dähne startete insgesamt 26 Mal bei der Tourist Trophy. Für das ITS magazine erklärt er warum. 28 Mobilität & Lebensraum | ITS magazine 2/2013 Vom warmen Golfstrom umspült? Die Formulierung kann noch so oft in den Beschreibungen der Isle of Man auftauchen: Wahr wird sie deshalb noch lange nicht. Wer das, was hier strömt, als warm bezeichnet, der muss schon einen Inuit in der Verwandtschaft haben. Das Wasser ist ungefähr so kalt wie in einem Gebirgsfluss zur Schneeschmelze – und ungefähr genauso flott unterwegs. Wer am Point of Ayre im Norden der Insel hineinspringt, der findet sich vermutlich ziemlich schnell im Eismeer wieder. Womit wir auch schon beim Thema Geschwindigkeit wären, einem der Markenzeichen der Isle of Man. Denn wer nicht hierher kommt, um sein Geld im Steuerparadies zu besuchen oder den Briefkasten seiner Offshorefirma zu leeren, der kommt zu einem der zahlreichen Rennen. Gefahren wird dabei mit fast allem, was sich mit Vollgas auf zwei oder vier Rädern bewegen lässt: mit Rallyeautos, Tourenwagen und Dragstern, mit Gelände- und Straßenmotorrädern. Das ging übrigens schon 1907 los. Zu der Zeit waren Motorradrennen in England noch verboten, deshalb wich man auf die Isle of Man aus, die ihre Freiheiten als so genannter autonomer Kronbesitz seit jeher reichlich nutzt. Neben eigenen Geldscheinen und einem eigenen Parlament leistet man sich zum Beispiel auch eigene Regeln im Straßenverkehr: natürlich ohne Tempolimit außerhalb von geschlossenen Ortschaften. Die bekannteste Rennveranstaltung ist zweifellos die Tourist Trophy, kurz TT – laut Wikipedia „das älteste, ge fährlichste und umstrittenste Motorradrennen der Welt“. Ich bin nicht sicher, ob ich den zweiten Superlativ ohne weiteres unterschreiben würde, aber drum herumreden will ich auch nicht: Natürlich ist es riskant, im Formel-1-Tempo am absoluten Limit um eine 60 Kilometer lange Rennstrecke zu fahren, die eigentlich keine Rennstrecke ist: Der Rundkurs besteht aus regulären Straßen, er führt durch Ortschaften, an Steinwänden entlang und über Brücken, für Sturzräume und Auslaufzonen bleibt an vielen kritischen Stellen einfach kein Platz. „Die TT ist so gefährlich wie der Fahrer sie macht“, hat ein englischer Kollege einmal zu mir gesagt. In dieser Aussage liegt sicherlich viel Wahres, aber einiges lässt sie auch unberücksichtigt. Vor allem die Tatsache, dass es auf einem so langen Kurs, der mit so wenig Aufwand von ein paar Bobbies abgesperrt wird, Unwägbarkeiten gibt, die der beste Fahrer nicht beeinflussen kann. So kommt es durchaus vor, dass Hunde, Katzen oder sogar Pferde auf die Strecke springen – fast immer mit schwerwiegenden Folgen. Das Problem tief fliegender Vögel spielt zum Glück keine so große Rolle mehr, seit man auf das Morgentraining verzichtet. Auch wenn natürlich jeder Unfall einer zu viel ist: Bei einem genaueren Blick in die Statistik relativiert sich das in den Medien so publikumswirksam inszenierte Risiko bei der Tourist Trophy im Vergleich zu anderen Motorradsportkategorien wie etwa den Grands Prix, bei denen bekanntlich die schärfsten Sicherheitsbestimmungen gelten. Bei einer TT-Veranstaltung absolvieren rund 640 Starter in fünf Trainings und acht Rennen ungefähr 2,1 Millionen Kilometer. An einem Grand-Prix-Wochenende bringen es 75 Fahrer in drei Klassen gerade mal auf etwa 16.800 Kilometer. Bei 16 Grands Prix pro Saison dauert es also fast acht Jahre, bis die Rossis, Lorenzos und Bradls dieser Welt dieselbe Distanz zurückgelegt haben wie die TT-Asse bei einem einzigen Event. Natürlich darf man Unglücke nicht gegeneinander aufrechnen, aber wenn man es täte, würde die Tourist Trophy wohl nicht mehr gar so schlecht dastehen. Auch der berühmte Mad Sunday auf der Isle of Man ist im Grunde nicht so verrückt wie sein Image. Am Sonntag nach dem ersten TT-Rennsamstag fahren traditionell die Zuschauer um den Kurs, der während dieser Zeit für den normalen Straßenverkehr freigegeben wird. Nur Lkw dürfen nicht auf die Stre- cke. Zumindest einmal wollte ich das miterleben und habe mich sozusagen unters fahrende Volk gemischt. Mein Eindruck: Auf dem Kurs herrscht an diesem Tag ein solches Gedränge, dass man gar keine Chance hat, wirklich Gas zu geben. Ich habe jedenfalls damals keinen Raser gesehen – im Gegenteil: Es lief alles ziemlich diszipliniert ab. Das Problem ist aber, dass manche Motorradfahrer entgegen der Rennrichtung unterwegs sind. Deshalb kommt es immer wieder mal zu Frontalzusammenstößen untereinander – aber nicht wegen zu hoher Geschwindigkeit, sondern weil der eine oder andere Festländer im Stress des dichten Linksverkehrs auf der falschen Straßenseite fährt. Alles in allem möchte ich die Tourist Trophy weder verdammen noch verklären. Unterm Strich überwiegen für mich die positiven Seiten. Zum Teil hat das sicherlich etwas mit einem Virus zu tun, mit dem ich mich einst bei einem Motorjournalisten infiziert habe, dessen Isle-of-Man- und Nürburgring-Geschichten mich zutiefst faszinierten. Eine große Rolle spielt aber natürlich auch die Motivation, schwierige Strecken, in diesem Fall die schwierigste der Welt, fehlerfrei zu meistern. Von Herausforderung will ich hier nicht sprechen, das klingt mir zu sehr nach Risiko – und das suche ich keineswegs. Auch Sieg und Niederlage sind nicht die Kategorien, in denen ich bei meinen Starts bei der TT dachte. Ich kam ziemlich oft unter die Top Ten, und einmal stand ich sogar ganz oben auf dem Siegerpodest – aber wirklich stolz war ich vor allem dann, wenn ich die Ideallinie immer genau getroffen hatte. Zur Person Helmut Dähne, 68, gehört zu den Ikonen des deutschen Motorradsports, besonders im Bereich seriennaher Maschinen. Noch heute hält er mit 7:49,71 Minuten den offiziellen Rundenrekord für Motorräder auf der legendären Nordschleife des Nürburgrings. An der Tourist Trophy auf der Isle of Man hat er im Lauf seiner Karriere insgesamt 26 Mal teilgenommen. Sein größter Erfolg war der Sieg gemeinsam mit Hans Otto Butenuth auf einer BMW R 90 S in der „Production Class“ im Jahr 1976, in einem Rennen über zehn Runden mit Fahrerwechsel. 29 ITS magazine 2/2013 | Profil „Die Straße ist die Nummer eins“ Interview Keith Manston, Leiter des Product Managements Traffic Solutions bei Siemens Mobility in Poole, über die internationale Verkehrsanbindung der großen und kleinen britischen Inseln, den begrenzten Einfluss des Kanaltunnels auf den Modalsplit und seine ganz persönliche Liebe zum Wasser. 30 Herr Manston, in einigen Bereichen des Lebens demonstrieren die Briten durchaus eine Art Inselmentalität – im Bereich Mobilität auch? Nein, das glaube ich nicht. Grundsätzlich unterscheidet sich unsere Heran gehensweise an die Organisation und Optimierung des Verkehrs eigentlich kaum von der in kontinentaleuropäischen Ländern. Und ich habe auch nicht den Eindruck, dass die Insellage das Mobilitätsverhalten der Verkehrsteilnehmer in Großbritannien wirklich beeinflusst. Wenn es die wirtschaftliche Situation zulässt, tendieren insbesondere wir Engländer im Urlaub vielleicht sogar noch mehr zu Auslandsreisen als beispielsweise die Deutschen – nicht zuletzt wahrscheinlich wegen der fast schon sprichwörtlichen Unberechenbarkeit des britischen Sommers. Profil | ITS magazine 2/2013 Zur Person Keith Manston – die wichtigsten Stationen auf einen Blick: •1977: Abschluss Technikeraus bildung mit Schwerpunkt auf Schiffselektronik und Radar •1977-1982: Verschiedene Posi tionen in der technischen Entwicklung von Schiffsnaviga tionsgeräten wie Echoloten und Radarausrüstung für kleine Wasserfahrzeuge •1991: Chefingenieur beim allerersten gemeinsamen Entwicklungsprojekt von Poole und München: dem Fußgänger signalsteuergerät T500/EFU •1995: Master in Betriebswirtschaftslehre •1997: Technischer Leiter für das erste gemeinsame Großprojekt von Poole und München in Sachen Kreuzungssteuerung: Entwicklung der ST800-Controller-Familie für Großbritannien •2001: Wechsel ins Produkt- Marketing, mit Produktmanagement-Verantwortung für das gesamte Straßenverkehrs-Port folio im Vereinigten Königreich •Seit 2008: Leiter Produktmanagement in Poole Der Linksverkehr ist in Europa indes eher die Ausnahme als die Regel. Als einer der letzten größeren nicht-britischen Staaten hat Schweden in den 1960er-Jahren mit Rücksicht auf die Nachbarländer auf Rechtsverkehr umgestellt. Auf welcher Straßenseite würde man in Großbritannien heute fahren, wenn es nicht von Meer umschlossen wäre? In Europa mag der Linksverkehr die Ausnahme sein, weltweit betrachtet gilt das nicht unbedingt: Insgesamt fährt man heute immerhin in rund 60 Ländern auf der linken Straßenseite. Ich bin auch ziemlich sicher, dass wir weiterhin daran festhalten würden, wenn unser Land auf dem Kontinent läge. Denn die Umstellung wäre natürlich mit einem gewaltigen Aufwand verbunden. Denken Sie allein an die notwendige technische Anpassung der über 35.000 Ampelanlagen und signalisierten Fußgängerüberwege. Selbst wenn man die möglichen Effizienzvorteile für unsere Autoindustrie dagegen hält, die dann höhere Stückzahlen von Fahrzeugen mit Linkssteuerung produzieren könnte: Unterm Strich würde sich die Umstellung auf Rechtsverkehr unter rein volkswirtschaftlichen Aspekten wohl als Verlustgeschäft erweisen. In Zeiten der Globalisierung ist die internationale Verkehrsanbindung ein wichtiger Wettbewerbsfaktor für ein Land oder eine Region. Sehen Sie für die kleineren oder vielleicht sogar auch für die großen britischen Inseln Nachteile in diesem Bereich? Für Großbritannien oder Irland kann ich in dieser Hinsicht definitiv keine Defizite erkennen. Das liegt sicherlich auch an der Leistungsfähigkeit unserer Seehäfen. Die Schwerpunkte unserer Regierung bei den Investitionen in die verkehrliche Infrastruktur liegen derzeit auf der Verbesserung der nationalen Verbindungen. Zu den größten aktuellen Projekten gehört der Ausbau des Schienennetzes von London aus in Richtung Norden. Bei den kleineren Inseln wie etwa den schottischen Hebriden oder den Shetlands ist es keine Frage, dass mangelnde Verkehrsanbindungen die wirtschaftliche Entwicklung oder sogar die Lebensfähigkeit einiger Inselkommunen stark beeinträchtigen können. Hier hilft die Regierung in Form von Subventionen, um bezahlbare Flug- und Fährverbindungen zu sichern. Selbst kleinere Inseln verfügen häufig über ein in sich geschlossenes Ökosystem, das ziemlich sensibel auf negative Einflüsse reagiert. Inwieweit wird dies bei der Ent wicklung der Mobilitätsstrategien für die entsprechenden Regionen berücksichtigt? Die verkehrsbedingte Belastung der Umwelt steht natürlich auch bei uns permanent im Fokus. Aber meines Erachtens spielt die Größe des Öko systems bei der Betrachtung der Zusammenhänge keine allzu große Rolle. Denn Emissionen sind eigentlich immer und überall ein lokales Problem – ganz einfach, weil laut Statistik die meisten der täglichen Fahrten relativ kurz sind. Bei uns in Poole beispiels- weise kommt normalerweise weniger als die Hälfte der Menschen, die hier arbeiten, von außerhalb der Stadt. Was bedeutet die fehlende Straßenanbindung eigentlich für den Modalsplit in einer Region – ins besondere auch im Bereich des Güterverkehrs? Sind in Großbritannien weniger Lkw unterwegs als auf dem Kontinent? In der Relation sicherlich nicht. Deshalb wird auch hier immer öfter die Einführung einer Lkw-Maut gefordert, damit alle Lastwagen einen fairen Anteil an den Verkehrsinfrastrukturkosten tragen und um den traditionell niedrigen Anteil der Schiene in der Warenlogistik zu erhöhen. Bisher gibt es im Interurban-Bereich nur eine einzige gebührenpflichtige Strecke: die Autobahn M6 nördlich von Birmingham. Ansonsten existieren lediglich lokale Tolling-Systeme an Brücken und Tunneln oder im Zusammenhang mit der Congestion Charge und der Low Emission Zone im Großraum London. Konnte die Schiene denn nicht einmal vom 1994 eröffneten Eisenbahntunnel unter dem Ärmelkanal überdurchschnittlich profitieren? Nicht wirklich. Die Straße ist nach wie vor der Verkehrsträger Nummer eins. Denn dank des Eurotunnel Shuttle ist Großbritannien ja auch per Lkw deutlich leichter erreichbar. Im letzten Jahr feierte das Freight Commercial Department die 18-millionste Lkw-Passage durch den Kanaltunnel. Am Modalsplit hat die 50 Kilometer lange Röhre zwischen Coquelles und Folkestone kaum etwas geändert, ja sie hat vielleicht sogar die Zahl der Lastwagen auf unseren Straßen erhöht! Lassen Sie uns zum Schluss noch kurz persönlich werden: Was würden Sie am meisten vermissen, wenn Ihr Büro ab morgen nicht mehr in Poole, sondern – sagen wir – in Moskau wäre? Genau das, worüber wir indirekt die ganze Zeit gesprochen haben: das Meer unmittelbar vor der Haustür. Wenn man mit Wasser um sich herum aufgewachsen ist, dann will man darauf einfach nicht mehr verzichten – noch weniger als auf den Linksverkehr. Herr Manston, wir danken Ihnen für das Gespräch. 31 ITS magazine 3/2012 | Im Fokus IMPRESSUM ITS magazine · Fachmagazin für Straßenverkehrstechnik / ITS Herausgeber: Siemens AG · Infrastructure & Cities Sector · Mobility and Logistics Division Road and City Mobility Hofmannstraße 51 · D-81359 München Redaktionsleitung: Dr. Michael Ostertag (verantwortlich), Karin Kaindl: Siemens IC MOL RCM MK Koordination: Roland Michali: Siemens IC MOL CC, Erlangen Textredaktion: Peter Rosenberger, Philip Wessa: www.bfw-tailormade.de · Eberhard Buhl („Im Seitenspiegel“) Fotos: Getty Titel, S. 6 / 7 · Corbis S. 2, 9, 10 / 11, 14–19 (Hintergrund), 26 · Achim Graf S. 3 · Gihan Tubbeh / PromPerú S. 13 · VisitBritain S. 14 (Sark) · Travel Michigan, Mackinac Island Convention & Visitors Bureau S. 15 (Mackinac Island) · Proexport Colombia S. 16 (Bogotá) · Thinkstock S. 16 (Venedig) · Stadt Venedig S. 17 (Venedig) · Lilo Tadday; www.foto-helgoland.de S. 17 (Helgoland) · Arnold Starosczyk, Kenya Tourism Board, Tobias Hannemann S. 18 (Lamu) · Gemeindeverwaltung Saas-Fee S. 19 (Saas-Fee) · Stadt Freiburg im Breisgau S. 18 / 19 (Vauban) · dpa picture-alliance S. 20 / 21 · Roland Michali S. 22 u. · Siemens AG S. 22 o., 23, 24, 30 · photocase S. 25, 27 · Helmut Dähne S. 28 / 29 Konzeption & Gestaltung: Agentur Feedback, München · www.agentur-feedback.de Druck: Mediahaus Biering, München Copyright: © Siemens AG 2013 Alle Rechte vorbehalten. Vervielfältigung dieser Unterlage sowie Verwertung ihres Inhalts unzu lässig, soweit nicht ausdrücklich zugestanden! Technische Änderungen vorbehalten. Printed in Germany. Das nächste ITS magazine erscheint im September 2013 www.siemens.de/traffic ISSN 2190-0299 Bestell-Nr. A19100-V355-B112 Dispo-Nr. 22300 · K-Nr. 689 313702 IF 07135.5 32