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Ästhetik des Supermarkts
Heinz Drügh, geboren 1965, ist Professor für Neuere
Deutsche Literatur und Ästhetik an der Goethe-Universität
Frankfurt am Main.
Heinz Drügh
Ästhetik des Supermarkts
Konstanz University Press
Umschlag: 100 Cent or more, Foto: Guido Radig, Wikimedia Commons
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© 2015 Konstanz University Press, Konstanz
(Konstanz University Press ist ein Imprint der
Wilhelm Fink GmbH & Co. Verlags-KG,
Jühenplatz 1, D-33098 Paderborn)
www.fink.de | www.k-up.de
Einbandgestaltung: Eddy Decembrino, Konstanz
Printed in Germany
Herstellung: Ferdinand Schöningh GmbH & Co. KG, Paderborn
ISBN 978-3-86253-073-1
Inhalt
1Supergeil
Über Konsumgefühle 7
2Dorsch
Über Konsumobjekte 47
3 Symmetrien, Serien, Verhandlungen
Über Konsumästhetik 75
4 Guts
Über Konsumverzicht 137
Dank 169
Verzeichnis der Abbildungen 171
Literatur 175
1. Supergeil – Über Konsumgefühle
Februar 2014, plötzlich sind Supermärkte ›supergeil‹. Auch wenn
sich Klickzahlen manipulieren lassen, verblüfft dennoch der
immense Erfolg jenes von dem Schauspieler, Musiker und Entertainer Friedrich Liechtenstein vorgetragenen und getanzten EdekaWerbevideos, mit dem der Begriff ›supergeil‹ zum verbreiteten Epitheton für die Warenwelt wird. Entworfen von der Werbeagentur
Jung von Matt und ausschließlich im Internet zu sehen, wird der am
20.2.2014 online gestellte Clip innerhalb der ersten Woche erstaunliche vier Millionen Mal bei YouTube angeklickt. Mittlerweile liegt
er bei über 14 Millionen. Auch in den USA wird der Spot rasch viral
verbreitet. Colleges freuen sich über einen neuen Gegenstand fürs
Fach Deutsche Landeskunde. Debattiert wird dort über die Feinheiten deutscher Semantik. Heißt ›geil‹ nun soviel wie ›cool‹ oder
wie ›horny‹ oder gar beides? Für das Internetmagazin Slate gerät
Supergeil gar zu einem »window into German culture« (Schuman
2014), eines ›ganz anderen‹ Deutschland, spielerisch, unverkrampft,
ironisch. Dies fügt sich zu der im Sommer 2014 im Londoner Brit­
ish Museum unter dem Titel »Germany: Memories of a Nation«
von Neil McGregor kuratierten Schau, die als Geburt eines ›Cool
Germany‹ apostrophiert worden ist. (Und dann sind wir auch noch
Weltmeister und müssen nicht mal mehr Papst sein.)
1898 gegründet als eine Berliner Einkaufsgenossenschaft der Kolonialwarenhändler, kurz E. d. K., ist der Konzern nach der Übernahme einer Reihe von Konkurrenten (wie Marktkauf, Nanz, Netto
oder Plus) ebenso zum größten Lebensmittelhändler wie zum größten Einzelhandelsverbund in Deutschland aufgestiegen. Eindrucksvoll mag das sein, aber ›cool‹? Kann denn ein Lebensmittelhändler überhaupt ›cool‹ sein? Oder ›geil‹ im Sinne von »young, witty,
8 Supergeil
sexy, gimmicky, glamorous«, wie es Richard Hamilton für die Pop
Art forderte (Hamilton 1983 [1957], 28)? Lebensmittelläden sind
eigentlich denkbar unglamouröse Orte. In der überwiegenden Zahl
der Fälle verrichten Kunden dort ihre alltäglichen oder -wöchentlichen Haushaltspflichten. Selbst ein »Conquest of Cool«, das Reklamieren von Hipness als Marketingstrategie (Frank 1997), erscheint
dafür eher deplatziert. Allzu schillernde Zonen in der Markenidentität könnten sogar kontraproduktiv sein, indem sie Zweifel an der
Seriosität des Unternehmens wecken.
Ein bedeutsamer Unterschied liegt freilich in der Tatsache, dass
Supergeil ausschließlich viral im Internet zirkuliert, dort, wo sich
wie nirgends sonst Nichtkommerzielles und Kommerzielles durchdringen und wo, anders als im herkömmlichen Werbewesen, gerade
die Ausreißer von der Norm höhere Chancen haben, die für eine
Verbreitung erforderliche Aufmerksamkeit zu erhalten. Hit-Listen
auf YouTube wie the creepiest 10-, 10 most shocking- oder the funniest
banned commercials zeugen davon. Vor diesem Hintergrund lässt
sich bei Edeka durchaus von einer Hipness-Offensive reden. Deren
Zielpublikum sind jüngere Nutzer sozialer Plattformen, aber auch
ältere (und kaufkräftigere) Semester, die von der entsprechenden
Ästhetik und den vermittelten Wertmaßstäben jenseits des spießigen Supermarktmiefs erreichbar sind.
Bereits ein im September 2013 ebenfalls von Jung von Matt
gestalteter Edeka-Clip zeugt von dieser Strategie. Zu sehen sind dort
zwei junge, alternativ gekleidete Männer, die in jugendsprachlichem
Singsang bzw. mit vor Begeisterung kieksiger Stimme die angebotene Warenpalette feiern: »Boah, Erdnüsse, hier Muffins, oh Stein­
ofenpizza, ja Mann, hier gibt’s Eistee, kuck mal hier Schoko-Cookies, voll günstig«. An der Kasse, während man schon das Piepen des
Scanners hört, wird das Fazit gezogen: »Krass, die ham ja wohl echt
alles, was man braucht«. Fragt die Kassiererin: »Tüte?« Die beiden
Jungen schauen sich erst entgeistert an und kichern dann los. Kiffen macht hungrig. Daraufhin sieht man das Edeka-Logo und hört
den Claim: »Wir lieben Lebensmittel«. Nochmals ein Schnitt auf
die beiden Kunden. Die Kassiererin fragt aus dem Off: »Bon?«, was
phonetisch wie ›Bong‹ klingt, die kompakte Form der Wasserpfeife.
Über Konsumgefühle 9
Sprachloses Staunen bei den Jungs. Das muss das Schlaraffenland
sein. Produziert wurde der Clip eigens für das Vorprogramm zum
Hollywood-Blockbuster Hangover 3, einer Komödie, in der ausgiebig Alkohol und weiche Drogen konsumiert werden. Bei solch
gezielt eingesetzter Trittbrettwerbung kann man mit ziemlicher
Sicherheit von einer viralen Eigendynamik im Netz ausgehen. Das
Ergebnis sind über eine Million Klicks bei YouTube.
Den größten viralen Erfolg landet Edeka aber nicht mit dem
nachfolgenden Supergeil-Clip, sondern mit der sogenannten Kassensymphonie, die von Ende November 2014 bis Anfang Januar 2015
über 20 Millionen YouTube-Klicks erfährt. »In einem Edeka Markt
vor Weihnachten«, liest man dort zu Beginn und sieht, aufgenommen mit starkem Zoom, Kunden in ruhiger, fast kontemplativer
Betrachtung von Einkaufsregalen. Die Atmo ist weit runtergefahren, vereinzelt hört man leise im Hintergrund die Pieptöne der Kassenscanner. Hierauf folgt eine weitere Schrifteinblendung mit der
Information »13 versteckte Kameras«, wohl um die Erzählinstanz
bzw. das Blickregime diegetisch zu plausibilisieren. Videoüberwachung ist in Kaufhäusern die Regel. Dennoch erstaunt deren unbefangene Nennung in der sensibilisierten Atmosphäre im Jahr Eins
nach der NSA-Affäre. ›Aber wenn der objektive Blick doch die verborgene Poesie unseres Miteinanders im Supermarkt offenbart?‹,
scheint der Clip darauf zu antworten. Es folgt die Schrifttafel »9
Kassierer«. Gleich die erste Kassiererin, die ins Bild gerät, telefoniert
allerdings und blickt suchend über die Schulter (zum Filialleiter?),
ein Sinnbild für nervende Verzögerungen in der Kassenschlange.
Und das in der Vorweihnachtszeit, wo jeder einkaufen geht. Man
sieht auch schon den ersten bulligen, kaugummikauenden Wartenden. Wenn der nicht gleich losblafft. Doch nein, Schnitt auf eine
weitere Schrifttafel: »1 großes Instrument«. Gemeint sind damit die
neun Kassiererinnen und Kassierer, von denen jede/r einen unterschiedlichen Ton auf seinem/ihrem Scanner liegen hat. Erst zögerlich, dann immer virtuoser wird so beim Registrieren der Waren
der Song Jingle Bells aufgeführt. Süßer die Kassen nie klingeln, wie
es früher einmal hieß. Heute wird indes die Beleuchtung gedimmt,
die Kunden schmunzeln erstaunt bis erfreut und zunehmend mit-
10 Supergeil
groovend, freilich so schüchtern hüftsteif – Realitätseffekt! – wie
wirkliche Edeka-Kunden. Ein junger Mitarbeiter mit Hipsterhut
gibt die Human Beatbox dazu, indem er über das Ladenmikrophon
Elektro-Drums imitiert. »Geil« ruft jemand aus dem Off beim frenetischen Schlussapplaus für die Virtuosen am Scanner, die sich
Highfive geben. ›Hippe Weihnachten‹ bei Edeka.
Die Edeka-Werbeoffensive scheint auch aus einem anderen
Blickwinkel nicht ungeschickt kalkuliert zu sein, sucht sie doch
nicht nur, den als bieder geltenden Markenkern aufzupeppen,
sondern auch, einer drohenden Beschädigung des Konzernimages
präventiv entgegenzuwirken. Denn seit 2010 fordert eine aus 26
Nichtregierungsorganisationen bestehende »Supermarkt-Initiative«,
an der so unterschiedliche Akteure wie Oxfam, Verdi und Misereor
beteiligt sind, die umfassende Untersuchung des Missbrauchs von
Nachfragemacht im Lebensmitteleinzelhandel, wie er durch den
steigenden Marktanteil von Konzernen entsteht, nicht zuletzt durch
Edekas Politik des Verbunds bzw. der Fusion. Je höher ein Marktanteil ist, so das Argument, desto eher ist die Supermarktkette in
der Lage, auf der Einkaufsseite – dort also, wo nach Auffassung der
Wirtschaftswissenschaft die entscheidende Schlacht im Lebensmittelhandel geschlagen wird – unfaire Einkaufspraktiken, im Klartext
Preisdrückerei, einzusetzen (vgl. Wiggerthale 2010).
Im Juli 2014 reagiert das Bundeskartellamt mit der rechtlich
allerdings nicht mehr sanktionierbaren Feststellung, dass Edeka in
der Folge des Zusammengehens mit Plus seine Marktposition in
besagter Weise missbraucht habe. In einer Grundsatzentscheidung
formuliert die Behörde die Absicht, unzulässige Verhaltensweisen mächtiger Handelsunternehmen künftig genauer abzustecken
(Hegemann 2014). Im Dezember 2014 wird eine einstweilige
Anordnung gegen die Unternehmen Edeka und Tengelmann erlassen, die unterbinden soll, dass »Teile des Fusionsvorhabens schon
vor Abschluss der Prüfung durch die Wettbewerbshüter vollzogen
werden« (Heide 2014).
Es sind, wie Maria Wiggerthale betont, stets die »schwächsten
Glieder in der Wertschöpfungskette«, also die Erzeuger und die in
den Supermärkten Beschäftigten, die der konzentrierten Markt-
Über Konsumgefühle 11
macht in Form von diktierten Dumpingpreisen auf der einen und
Billigjobs auf der anderen Seite besonders spürbar ausgeliefert sind.
Dadurch, dass durch konzentrierte Nachfragemacht die ohnehin
niedrigen Erzeugerpreise zusätzlich unter Druck geraten, werden
kleine und mittlere Betriebe tendenziell vom Markt verdrängt, was
sich auch zu Lasten der Umwelt und des Tierschutzes und nicht
zuletzt der Produktqualität auswirkt und somit direkt die Kunden
betrifft. Auch so ›unhip‹ lässt sich über Edeka reden.
Ganz so unangesagt ist eine solche Rede freilich gar nicht. Sie
entspricht vielmehr dem kritischen Ton eines biographischen Porträts des Wal Mart-Gründers Sam Walton in einem Buch, das es
immerhin zum internationalen Bestseller gebracht hat: George
Packers Die Abwicklung. Eine innere Geschichte des neuen Amerika
(dt. 2014). Gegen den Handelsgiganten Wal Mart mit Stammsitz
in Arkansas, der im Jahr 2012 einen Jahresumsatz von 443,85 Milliarden Dollar ausweist, ist Edeka mit seinen 44,8 Milliarden im
selben Zeitraum ein kleiner Fisch. Wer bei Wal Mart stets auch
und vielleicht in allererster Linie von solchen Summen profitiert,
ist nicht schwer zu ermitteln. Der Familie Walton wird nach dem
Tod des Firmenpatriarchen ein Vermögen von 23 Milliarden Dollar
zugeschrieben, das ist, wie Packer suggestiv schreibt, »genausoviel
Geld, wie die unteren dreißig Prozent aller Amerikaner« besitzen
(Packer 2014, 128).
Nun könnte man einwenden, dass Wal Mart mit seinen weltweit
über 22 Millionen Mitarbeitern aber auch ein potenter Arbeitgeber
ist. Oder dass besonders viele Einkommensschwache auf Wal Marts
Billigangebote angewiesen sind. Packer erzählt die Geschichte aber
anders herum. Zu den Praktiken der Wal Mart-Expansion gehören: Behinderung gewerkschaftlicher Organisation, Billigstlöhne
für Mitarbeiter, oft in Teilzeitjobs beispielsweise als ›Grußpersonal‹,
Verarmung ganzer ländlicher Regionen (des Wal Mart-Stammlandes), weshalb die Menschen dort auf die billigen Preise bei Wal Mart
angewiesen sind, und nicht wenige auch dort arbeiten müssen. Für
Packer wird Wal Mart zur Allegorie einer Nation, die ihr soziales
Band verloren hat: »Das ganze Land war eine Art Wal Mart geworden« (Packer 2014, 128).
12 Supergeil
Nun sind die Praktiken von Edeka vielleicht nicht ganz so dramatisch wie diejenigen von Wal Mart. Vielleicht sind sie eher so
etwas wie das Muskelspiel eines potenten Players, der schlicht einmal ausprobiert, wie weit er gehen kann, dabei aber von Behörden
wie dem Kartellamt sowie vom Deutschen Bundestag in Schranken
gehalten wird, einem Parlament, das bei Anhörungen zum Thema
eine Expertin von Oxfam ausführlich zu Wort kommen lässt und
offenbar nicht abgeneigt ist, ihre Empfehlungen in Politik umzusetzen.
Aber auch wenn man das so bewertet, ließe sich über den Supergeil-Clip immer noch trefflich als über eine Frivolität schreiben.
Nach außen hin cool tun, und nach innen Arbeitnehmer ausbeuten,
die Umwelt vergiften, Lieferanten knebeln und erpressen. Da drängen sich geradezu Topoi aus dem klassischen Repertoire der Kritik
an verlogener Werbung auf, etwa aus Wolfgang Fritz Haugs viel
gelesener Kritik der Warenästhetik: Nicht nur »abscheulicher Betrug«
ließe sich anprangern, sondern auch eine Usurpation der »Bedürfnisse« überhaupt kritisieren, hier desjenigen, auf coole, unschuldige,
durchaus als Gemeinschaftserlebnis zelebrierte Weise hedonistisch
zu sein: »Den Leuten scheint das Bewußtsein abgekauft«, schreibt
Haug. »Täglich werden sie trainiert im Genuß dessen, was sie verrät,
im Genuß der eigenen Niederlage, im Genuß der Identifikation mit
der Übermacht« (Haug 1971, 64, 66). Sollten Triebe und libinöse Energien einmal als fortschrittlich gegolten haben, als Motoren
für eine Überwindung des Status quo (man denke beispielweise an
Herbert Marcuses Triebstruktur und Gesellschaft), so erscheinen sie
nun fest eingezurrt in ein kapitalistisches System. Sieht und genießt
man einen Edeka-Spot, würde man mit Haug urteilen, dann lebt
man Emotionen aus – den Wunsch nach Gemeinschaft, nach unbeschwertem, unverkrampftem Genuss, nach Kreativität und Spaß –
die eigentlich das Kaliber hätten, die stählerne Haut des Kapitalismus zu beschädigen, wenn nicht zu durchschlagen, die aber offenbar
von demselben kassiert und ihrer Substanz beraubt worden sind.
Im Marketing und in der Werbung werden sie, so der Argwohn,
nurmehr ausgestellt wie Zootiere. Freiheit könne ihr Betrachter nur
noch für den Moment der Autosuggestion erleben, ohne je ganz zu
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vergessen, dass er sich in einem Gehege befindet, aus dem er nicht
mehr wirklich zum Ausgang strebt.
Doch sind das in dieser Charakteristik wirklich wir, die wir wie
so viele andere auch den Spot genießen, ihn witzig finden, ihn möglicherweise auf sozialen Plattformen teilen? Taube, rundgeschliffene
Kiesel im Bachbett des kapitalistischen Mainstreams. Oder gibt es
eine Möglichkeit, die Sache ein bisschen weniger schwarz-weiß zu
sehen?
Eine Antwort, welche die Positionen der Akteure, der Werbeschaffenden ebenso wie der Konsumenten, differenziert, lässt sich
mit Niklas Luhmann und Jean Baudrillard skizzieren. »Werbung
arbeitet unaufrichtig«, schreibt Luhmann bewährt nüchtern in seiner Studie Die Realität der Massenmedien, kontert diese Bemerkung
aber mit einer doppelten Metaperspektivierung: »Sie [= die Werbung, HD] setzt voraus, dass das vorausgesetzt wird« (Luhmann
1995, 36). Mit anderen Worten: Es geht hier nicht mehr um verblendete Einzelne, die von manipulativen Werbeschaffenden betrogen werden, sondern um einen Pakt zwischen reflektierten Akteuren. Setzen die einen voraus, dass das, was die Werbung anbietet,
Phantasien sind, an deren Realitätsgehalt man zwar nicht ernsthaft
glaubt, mit deren Suggestionen man aber dennoch imaginär operiert, so kreieren die anderen jene Phantasien im klaren Bewusstsein
solch reflektierter Rezipienten. Anstatt den Verbrauch zu lenken
und bloßes Vehikel zu sein, wird Werbung, so Jean Baudrillards
Formulierung, »selbst verbraucht«, und zwar unabhängig davon, ob
man über die nötigen Mittel verfügt, um die Waren zu erwerben.
»Ob man persönlich über diese Kaufkraft verfügt oder nicht, hindert einen nicht daran, sie zu ›atmen‹, sie in ihren Verkörperungen
zu begreifen und abzuwägen« (Baudrillard 1991 [1968], 231).
Natürlich kommt der (vor allem in den späten 1960er Jahren
noch) von Marx inspirierte Baudrillard nicht umhin, in diesen Kräften auch »Verlockungen und Scheinbefriedigungen« am Werk zu
sehen. Und wenn er formuliert, dass sich die Gesellschaft angesichts
des »Schauspiels der Werbung […] im Verbrauch ihrer Werte selbst
genießt« (Baudrillard, 213 f.), schwingt ebenso der Vorwurf des
»Narzißmus« mit wie die Feststellung, dass es sich bei den ›Werten‹
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dieser Gesellschaft um nichts Hehres oder Dauerndes handelt, sondern um bloße Verbrauchsgüter. Dennoch wirft Baudrillard einen
Blick auf das Funktionieren von Werbung, der in seiner Genauigkeit nicht nur ideologiekritisch ist, sondern auch von einer gewissen
Faszination zeugt. Ganz ähnlich Roland Barthes in den Mythologies,
jenen Mythen des Alltags, als deren Zielscheibe Barthes zwar immer
wieder die Verblendung der Kleinbürger anführt, die sich aber dennoch so genau auf die Nuancen der Konsumkultur einlassen, dass
hier und da sogar das (vergiftete) Kompliment kursierte, an Barthes
sei ein guter Werbetexter verloren gegangen.
Es geht daher im Folgenden nicht darum, den (Konsum-)Kapitalismus kritiklos hinzunehmen (vgl. genauer dazu Kocka 2013,
126 f.): etwa die Ungerechtigkeit wachsender Ungleichheit zwischen
staatlichen Akteuren, die auseinanderklaffende Schere der Einkommen innerhalb eines Gemeinwesens oder die mitunter inakzeptablen
Arbeitsbedingungen in einer globalisierten Produktion. Die Problematik des Wachstumsbegriffs vor dem Hintergrund schwindender
Ressourcen und der ökologischen Frage bleibt ebenso ein Thema wie
die Skepsis gegenüber einer schrankenlosen Ausweitung des Prinzips
der Käuflichkeit (Sandel 2012). Worum es hier aber geht, ist, trotz
all dieser Kritik nicht zu übersehen, wie sehr Waren, ihre Bilder und
ihr Konsum eine kulturbildende, -ordnende und -interpretierende
Funktion besitzen. Um es mit einem Vergleich zu sagen: Dass ein
Roman immer auch eine Ware ist, die einem Marketing-Kalkül
folgt, die sich verkaufen soll, von deren Erlös Verlag und Autoren
leben und durch deren ›Kurs‹ der Autor Prestige­gewinn erfährt,
eine Ware, die manche vielleicht nur kaufen, um ein schönes, vorzeigbares Geschenk zu haben oder weil es ein schönes Gefühl ist,
Proust zu kaufen, auch wenn man nicht die Zeit haben wird, ihn
zu lesen, all dies hindert nicht daran, einen Roman eben auch als
›autonome Kunst‹, d. h. mit Blick auf seine poetischen Verfahren
zu lesen.
Umgekehrt aber gilt, dass Waren und Werbung neben ihrem
Hauptzweck, konsumiert zu werden bzw. zum Konsum anzureizen, auch Imaginationen freisetzen. Das ist gewissermaßen unvermeidlich, folgt man Jochen Venus� Überlegungen zur Erfahrung des
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Populären. Denn was ist ein Konsumgut anderes als ein populärer
Artikel, der aufgrund seines Erfolgs, der Tatsache, dass er nachgefragt wird, im Regal steht. »Jedes Faszinosum«, schreibt Venus, »geht
unmittelbar in Serie, strahlt aus, metastasiert und bezieht immer
mehr Rezipienten« (Venus 2013, 67) ein. Die sich daraus bildenden
»Stilgemeinschaften« (67) wären nicht nur als ähnlich ausgerichtete
Konsumpraktiken zu sehen, sondern, zumal heute via Internetblogs
und soziale Netzwerke, als Orte gemeinschaftlicher Imagination.
Deren Analyse (und das heißt nicht: deren Entlarvung) verspricht
aufschlussreiche Einsichten in die Phantasien und Gefühle einer
Kultur, und deren Formen sind möglicherweise sogar ästhetisch von
Interesse.
Auf der Agenda steht daher: Reading Supergeil. Ein beleibter,
nicht mehr junger Mann (Liechtenstein ist Ende 50) tanzt, untermalt von sanften Elektrobeats, schwelgerisch durch die Warenfülle
eines Edeka-Supermarkts, stattet Konsumenten Besuche in ihren
Heimen ab, zwei Omis beim Tee, einem jungem Paar im Bett, einer
Frau, die sich im knappen Cocktailkleid auf dem Sofa räkelt und
Sushi verzehrt, Kindern während eines Geburtstagsfestes. Ferner
liegt der Mann, seinen beachtlichen Bauch über die Wasserkante reckend, in einer Badewanne, in die er Milch und Cornflakes
schüttet, neckt, in einem Kofferraum Chips knuspernd, als Jack-inthe-box den Wagenbesitzer, einen bieder-grimmig dreinschauenden
Rentner mit Hut, tanzt mit einem Menschen, der im GanzkörperBatterie­kostüm vor dem Supermarkt steht (solch demütigende Jobs
als personifizierte Utensilien oder Plüschtiere kennt man nicht
zuletzt aus amerikanischen Filmen als Indiz dafür, dass jemand sehr
weit unten in der Arbeitswelt und auf der sozialen Leiter angekommen ist) und trinkt einen Smoothie mit ihm (Abb. 1). Eine ebenso entspannte wie noble Geste, denn entspricht nicht das, was der
Lieder­macher Rainald Grebe in seinem Song Karoshi blafft – »Am
Tag steht im Supermarkt so’n Arsch und sagt: Das ist kein Saft, das
ist ein Smoothie« – viel eher unserem kulturellen Reflex gegenüber
diesem Getränk? In Impresariomanier lässt sich Liechtenstein ferner
von Tänzerinnen in viel Bein zeigenden Edeka-Schürzen umgarnen. Schließlich sitzt er an der Kasse, wo er alle über den Scanner
Supergeil
16
 
Abb. 1
gezogenen Waren – Bioprodukte, Fritten, Dorsch, Klopapier – als
›sehr, sehr geil‹ feiert. Statt rasch über die kalkulierte Hipstermasche
als zielgruppenorientierte Korrektur des Markenimages zu urteilen
oder über eine unpolitische Jugend, deren letzter Rest Aufmüpfigkeit hier auch noch in willfährige Kundschaft umcodiert wird, oder
über diesen Song als »Anfeuerung und Selbstberuhigung« (Pauer
2014) der Konsumenten, würde ich dafür plädieren, darüber nachzudenken, was mit diesem Clip auf der Basis von welcher Ästhetik
von wem, wie und warum genossen wird.
In Bezug auf die Darstellungsstrategie liegt Rebecca Schuman
nicht schlecht mit ihrer Einschätzung, dass hier auf ähnliche Weise verfahren wird wie in Gangnam Style des koreanischen Rappers
Psy. Es geht um eine »gleeful celebration and wicked satire of an
area’s defining traits, performed in the spirit of that area« (Schuman
2004), also um die Gleichzeitigkeit von fröhlicher Feier und Satire
auf die für ein Areal bestimmenden Kennzeichen, aufgeführt just im
Geiste dieses Ortes. Feier und Kritik, sich eingebettet zu fühlen in
die Atmosphäre einer Lebenswelt und diese zugleich nicht ernst zu
nehmen, sie zu verspotten, eine solche Form der Ambivalenz oder
der Ironie scheint besonders gegenüber jenen heute mehr denn je
›alternativlos‹ scheinenden kapitalistischen Verhältnissen als plausible, immerhin aber höchst erfolgreiche, von vielen geteilte und
Über Konsumgefühle 17
womöglich entlastende Strategie. Gangnam Style ist mit über zwei
Milliarden Klicks der erfolgreichste YouTube-Clip überhaupt. Sogar
das Zählsystem der Videoplattform musste eigens für ihn geändert
werden. Ich würde daher vorschlagen, einen solchen popkulturellen
Erfolg als »Barometer« für »Werte und Einstellungen« zu lesen, »die
entweder bereits hegemonial und weithin institutionalisiert oder
immerhin schon so weit verbreitet sind, daß sie mittels eines kulturellen Mediums in den Mainstream vordringen können« (Illouz
2013, 7, 11).
Diese hellsichtige Bemerkung der Soziologin Eva Illouz gilt freilich weder einem Videoclip noch einer Werbung, sondern einem
Buch: dem BDSM-Bestseller 50 Shades of Grey und der darin verhandelten »neuen Liebesordnung«. Ausdrücklich vermerkt Illouz
sogar, dass es in der Werbung anders als in Romanen um pure
Aufmerksamkeitserregung gehe, der »Spielraum […] für die Vorstellungskraft der Rezipienten« dort aber nur minimal sei. An diesem Punkt würde ich widersprechen. Es mag schon sein, dass zu
Gangnam Style vorwiegend getanzt wird oder dass viele Supergeil
nur flüchtig betrachten, lustig finden und nicht groß weiter darüber
nachdenken. Dennoch lässt sich sehr wohl in und mit den dargebotenen Bildern, Accessoires und Moves, den Sounds, und den Lyrics
träumen. Und da hilft kein Purismus, wie wollte man bestreiten,
dass auch Werbespots ein mitunter sogar besonders wirkungsvolles, weil von vielen geteiltes imaginatives Material generieren? Man
könnte sich sogar vorstellen, so der Kunstwissenschaftler Wolfgang
Ullrich, dass es, würde man das kreative Potenzial von Werbung erst
einmal wirklich anerkennen, mehr und mehr zu einem »Qualitätsmerkmal einer Werbung werden [könnte], die Initialzündung für
einen Variationsreigen an Bildern« zu liefern (Ullrich 2013, 167).
Weshalb sollte es dann aber abwegig sein, auch im Hinblick auf
Konsumgüter von »Fiktionswerten« (Ullrich 2011, 127) zu reden?
Wenn also Eva Illouz das Erfolgsgeheimnis von E. L. James’ Buch
darin vermutet, dass es »noch nicht artikulierten« oder vielleicht
besser noch nicht so pointiert gebündelten und als »kognitive und
emotionale Herausforderung erlebten« »sozialen Erfahrungen« eine
Form verleiht (Illouz, 20, 24 f.), so ließe sich Ähnliches versuchs-
18 Supergeil
weise auch für den Clip Supergeil reklamieren. Vielleicht liegt darin
ja, und nicht bloß in der witzigen Abweichung von der Norm, das
Geheimnis der immens hohen Klickzahl.
Die von Supergeil im ›Gangnam-Style‹ verfolgte Doppelstrategie des Feierns und der Affirmation auf der einen und der Kritik
auf der anderen Seite ist aus der Pop-Ästhetik bekannt. Schon der
angesprochene Richard Hamilton, einer der wichtigsten Vertreter
der britischen Pop Art, hatte in Bezug auf Pop von einem Standpunkt der »affirmation« gesprochen, einem »respect for the culture
of the masses«, der allerdings, und dies erstmals in der Geschichte
der Formen, im Bewusstsein einer »avant-garde« zu formulieren sei.
Ersetzt man formale Avantgarde durch Rebellion, dann ist man bei
der Haltung der Poplinken, wie sie Diedrich Diederichsen vertritt:
»Pop hat eine positive Beziehung zur wahrnehmbaren Seite der sie
umgebenden Welt, ihren Tönen und Bildern. Das ist auch insofern
radikal, weil sich kritische und rebellische Energien bis dato nie
aus so einer Beziehung zur Welt ergeben haben. […] Die Revolte
ergibt sich aus einem großen Ja (zu Leben, Welt, Moderner Welt)«
(Diederichsen 2013 [1999], 190). Auch in seinem jüngsten Buch
Über Pop-Musik streicht Diederichsen diese Ambivalenz als »ermutigende, freundliche Verneinung des Bestehenden« heraus: »Sie [die
Pop-Musik, HD] ist affirmativ, sie sagt ja. Und will doch nein sagen.
I can’t get no. It ain’t me.« (Diederichsen 2014, XIII)
Auch wenn Diederichsen nie auf die Idee käme, solchen Energien
im Bereich der Warensphäre nachzuspüren, spottet er doch immerhin über den »horror commoditatis«, wie er »typisch fürs bürgerliche
Bewusstsein« sei (Diederichsen 2014, XII, 4). Es ist nicht von der
Hand zu weisen, so der britische Anthropologe Daniel Miller: »We
live today in a world of ever more stuff – what sometimes seems a
deluge of goods and shopping«. Die Rede von der Sintflut markiert
die Überforderung als gängiges Gefühl, das Überflussgesellschaften
gegenüber Waren hegen: zuviel, ständig, penetrant. Dies führt zu
einer Abwehrhaltung: »We tend to assume that this has two results:
that we are more superficial, and that we are more materialistic, our
relationsships to things coming at the expense of our relationships
to people« (Miller 2008, 1). Hier ist freilich von einem Gemein-
Über Konsumgefühle 19
platz die Rede, einem »cliché«, und nicht von Millers eigener Position. Dieser untersucht nämlich eher die sozietätsstabilisierende
Wirkung von Waren und betont, dass warenkritisch meist eher die
Reden der Akteure sind, nicht so sehr ihr Handeln: »Loads of people
around me bemoan some existential loss as a result of having too
many things. But I can count the genuine ascetics I know on less
than one hand. I simply don’t know any at all« (Miller 2010, 62).
Damit redet Miller freilich auch keinem entfesselten Konsum das
Wort. Er unterstreicht vielmehr die Tatsache, dass wir alle nolens
volens Konsumenten sind und dass der alltägliche, vorderhand ganz
unglamouröse Konsum das deutlich zentralere Phänomen ist als
der medial ausführlich bestaunte Konsum von Luxusgütern. Möglicherweise sollte man, wenn es um Konsum geht, mehr von Dorsch
und meinetwegen auch von Sushi, Edeka-Sushi wohlgemerkt, reden
statt von Bling Bling. Es ist in unseren Überflussgesellschaften nur
um den Preis der Unaufrichtigkeit möglich, in third person-Manier
über unsere Identität als Konsumenten zu sprechen – d.i. in Form
einer Argumentation, der zufolge es immer ›die anderen‹ sind, die
es mit dem Konsum übertreiben, jene ›Ungebildeten‹, ›Edeka-Kunden‹ und ›RTL 2-Gucker‹.
Statt es mit der Analyse von Supergeil auf Entlarvungseffekte anzulegen, ist darüber nachzudenken, in welcher Art hier grundlegende
›kognitive und emotionale Herausforderungen‹ im Zusammenhang
mit dem Konsum zum Ausdruck gebracht werden. Rebecca Schuman schlägt vor, den Blick auf jenen Ort zu richten, dem Supergeil entstammt. Wenn sich, argumentiert sie, der spirit des reichen
Seouler Stadtteils Gangnam als »frenetic, sparkling and dripping
with aggressive wealth« benennen lässt, dann gilt »Germany’s capital,
Berlin«, der Handlungsort von Supergeil, demgegenüber als »dour,
dark (especially this time of year), and self-flagellating about its own
perceived banality. But it is also, legitimately, super-cool« (Schuman
2014). Freilich verfängt diese Charakteristik für den Edeka-Spot
so noch nicht. Für eine Berlinspezifik muss man den Blick auf die
mediale Konstellation von Supergeil weiten, auf den komplexen
Zitat- und Variationsbezug auf andere Songs und Spots.
Da wäre an erster Stelle das namensgleiche Video Supergeil zu
Supergeil
20
nennen, welches das Berliner Elektropop-Projekt Der Tourist mit
Friedrich Liechtenstein im Jahr 2013 zur selben Melodie produziert
hat. Handlungsort des älteren Supergeil ist die Berliner Volksbühne.
Stets alleine im Bild stapft Friedrich Liechtenstein hier vom kalten
Grauingrau mit Pappschnee des Berliner Winters (dour, dark) in
den glasverklinkerten Probeneingang des Theaters, raucht eine Zigarette am fast lichtlosen Hinterausgang (Abb. 2–4), später kommt
noch ein Flachmann mit ins Spiel, und landet in der fensterlosen
Schauspielergarderobe. Der Text auf die sanften Beats in dieser
 
 
Abb. 2 & 3

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