Freihandel – Ja, aber wie? - Notenstein La Roche Privatbank AG

Transcrição

Freihandel – Ja, aber wie? - Notenstein La Roche Privatbank AG
«Notenstein White Paper Series»
Zusammenfassung und kritische Würdigung des White Papers «Gains from trade, the WTO and the recent trends towards
mega-regionals» von Jagdish Bhagwati
Freihandel – Ja, aber wie?
Nach mehreren Dekaden erfolgreicher Liberalisierungsschritte ist das internationale Handelsgeschehen in den
letzten Jahren wieder vermehrt durch protektionistische Tendenzen geprägt. Den jüngsten Rückschlag erlitt die
Welthandelsorganisation (WTO) diesen Sommer durch Indiens Entscheid, von dem in Bali ausgehandelten globalen Abkommen über Handelserleichterungen zurückzutreten. Derweil sind auch die Verhandlungen für ein transatlantisches Freihandelsabkommen sowie die Weiterentwicklung der transpazifischen Freihandelszone ins Stocken geraten. Vor diesem eher düsteren Hintergrund beleuchtet Prof. Jagdish Bhagwati – renommierter Experte
für Freihandel an der Columbia University – die Herausforderungen und Grenzen des globalen Freihandels.
Liberalisierung des internationalen Handels – kein Nullsummenspiel
Eine positive Bilanz. Empirische Studien zeigen, dass der Abbau von Zöllen, Einfuhrkontingenten sowie anderen
Handelshemmnissen in den Jahrzehnten nach dem zweiten Weltkrieg entscheidend zur Erhöhung des globalen
Wohlstands beigetragen hat. Zum einen begünstigten mehrere Liberalisierungsrunden im Rahmen des im Jahre
1947 abgeschlossenen Allgemeinen Zoll- und Handelsabkommens (GATT) das weltweite Wirtschaftswachstum.
Zum anderen trugen einseitige Marktöffnungen gegenüber dem Welthandel insbesondere in Entwicklungs- und
Schwellenländern zu einer substantiellen Verringerung der Armut bei.
Spezialisierung schafft Wohlstand. Mit seinem im Jahre 1776 erschienenen Werk «An Inquiry into the Nature and
Causes of the Wealth of Nations» schuf Adam Smith – Begründer der klassischen Nationalökonomie – das wissenschaftliche Fundament für eine freie Marktwirtschaft. Der schottische Ökonom plädierte unter anderem für Freihandel und Spezialisierung, da diese für eine optimale Nutzung von Produktionsfaktoren wie Arbeit, Know-how
und Maschinen sorgen würden. Macht jedes Land das, worin es relativ betrachtet am besten ist, wird die globale
Wertschöpfung und damit auch der insgesamt zu verteilende «Kuchen» maximiert.
Verteilungseffekte: Am Ende profitieren oftmals alle. Während ein Abbau internationaler Handelshemmnisse die
aggregierte Wertschöpfung zweifellos erhöht, ist die Frage, ob sich der Wohlstand in allen beteiligten Staaten verbessert – d.h., ob die einzelnen «Kuchenstücke» grösser werden – umstritten. In der Tendenz ist diese Fragestellung
mit Ja zu beantworten. So verzeichneten Entwicklungs- und Schwellenländer mit einer ausgeprägten Marktöffnung
ein deutlich höheres Wirtschaftswachstum als jene, die an der Abschottung ihrer Binnenwirtschaft festhielten.
Auch freier Handel hat seine Grenzen. Internationaler Handel mit Gütern und Dienstleistungen birgt naturgemäss
auch Risiken. Ein augenfälliges Beispiel hierfür stammt aus der Kolonialzeit, als europäische Händler im Zuge der
wirtschaftlichen Erschliessung des amerikanischen Kontinents gefährliche Krankheiten einschleppten, die für die
indigene Bevölkerung oftmals tödlich waren. Heute liegen potentielle Gefahren für die Gesundheit beispielsweise
bei genmanipulierten Lebensmitteln, giftigen Kinderspielzeugen oder laxen Medikamentenstandards. So ist die Regulierung des Handels mit gesundheitsschädigenden Produkten denn auch ein zentrales Anliegen der Welthandelsorganisation.
Kultur und Freihandel sind nicht unvereinbar. Einige Freihandelskritiker monieren, dass ein ungehinderter Tausch
von Gütern und Dienstleistungen in einer zu starken Verwässerung der lokalen Kultur resultiert (Fast Food statt
Haute Cuisine, Steven Spielberg statt Jean Renoir). Verfechter der freien Marktwirtschaft wiederum argumentieren, dass es sich hierbei um versteckten Protektionismus handelt. Doch für diesen Zielkonflikt gibt es eine effiziente
Seite 1/3
wirtschaftspolitische Kompromisslösung. So können «schützenswerte kulturelle Güter» mittels massvoller Subventionierung gestärkt werden, ohne auf Mengenbeschränkungen von Importwaren zurückzugreifen.
Globale versus regionale Lösung – es gibt kein Patentrezept
Eine globale Lösung wäre optimal. Die meisten Ökonomen erachten einen global koordinierten Abbau von Handelsrestriktionen – wie von der WTO angestrebt – als am effizientesten. Im Gegensatz dazu weisen regionale Freihandelsabkommen beträchtliche Nachteile auf. Zum einen resultiert die bevorzugte Behandlung von nichtkompetitiven Mitgliedstaaten (gegenüber kompetitiven Nicht-Mitgliedstaaten) in einer Negativselektion und damit
in Produktivitätsverlusten. Zum anderen verursacht eine grosse Anzahl multilateraler Abkommen ein Zolltarif- und
Vorschriftenwirrwarr, was die Effizienz des globalen Handelssystems negativ beeinflusst.
WTO in einer Sackgasse. Die WTO wurde 1994 aus dem GATT gegründet und umfasst heute rund 160 Mitglieder,
die mehr als 90 Prozent des Welthandelsvolumens erwirtschaften. Nachdem die Öffnung nationaler Gütermärkte
anfangs erfolgreich vorangetrieben wurde, kämpft die WTO seit der 2001 in Doha initiierten Welthandelsrunde
permanent mit Rückschlägen. Nach Jahren erfolgloser Verhandlungen schienen sich die Mitglieder im Dezember
2013 in Bali letztlich auf eine Art «Doha-Abkommen in stark abgeschwächter Form» geeinigt zu haben. Doch wider
Erwarten liess Indien diesen Minimalkompromiss Ende Juli 2014 platzen, da es mit Blick auf die Ernährungssicherung die derzeitigen Subventionen von Lebensmitteln nicht reduzieren will.
Regionale Freihandelsabkommen vor grossen Hürden. Die Transpazifische Partnerschaft (TPP) wurde von Brunei,
Chile, Neuseeland und Singapur ins Leben gerufen. In den letzten Jahren übernahmen aber die USA hier eine führende Rolle, um US-Unternehmen in Asien einen möglichst ungehinderten Marktzutritt zu verschaffen. Angesichts
der geopolitischen Spannungen rund um das Chinesische Meer zeigten sich Staaten wie Singapur oder Vietnam offen für eine Beteiligung der USA, um ein machtpolitisches Gegengewicht zu China zu erhalten. Dies ist jedoch nicht
unproblematisch, da Peking die handelspolitischen Eingriffe der USA als gezielten Angriff werten könnte, was die
Region letztlich destabilisieren würde. Zudem knüpfen die USA die Mitgliedschaft in der TPP an Nebenbedingungen – etwa Standards im Bereich des Arbeitsrechts –, welche China und Indien nicht akzeptieren. Somit droht eine
Spaltung Asiens in TPP-Länder, China und Indien. Bei der geplanten Transatlantischen Handels- und Investitionspartnerschaft (TTIP) stehen sich dagegen die USA und die EU gegenüber. Hier liegt der Fokus auf einer Beseitigung von nichttarifären Handelsbeschränkungen, beispielsweise mittels einer Harmonisierung von Lebensmittelgesetzen und Umweltstandards. Mit Blick auf fundamentale Meinungsunterschiede zwischen den USA und der EU –
sowie teils entgegengesetzte Standpunkte innerhalb der EU – dürfte die Kompromissfindung bei vielen dieser
Themen zu einer Herkulesaufgabe werden.
Notenstein Kommentar
Ein weltweit koordinierter Abbau von Handelshemmnissen wird in der Theorie als optimal betrachtet. Doch ist
dies überhaupt umsetzbar? Die Antwort lautet Ja und Nein. Die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts zeigte, dass eine
solche globale Lösung «praxistauglich» sein kann. Mittels einer beispiellosen Öffnung nationaler Gütermärkte ebneten das GATT und die WTO in dieser Zeit den Weg für die wirtschaftliche Globalisierung. Die Zahlen sprechen
für sich: Nach dem zweiten Weltkrieg wurden rund 7 Prozent der global produzierten Güter und Dienstleistungen
im Ausland abgesetzt. Im Jahr 2000 waren es bereits 24 Prozent. Seit der Jahrtausendwende hat die WTO indes mit
Rückschlägen zu kämpfen. In jüngster Vergangenheit identifizierten einige Beobachter die globale Finanz- und
Wirtschaftskrise als mögliche Ursache – schliesslich wurden Krisenzeiten in der Vergangenheit oftmals von protektionistischen Tendenzen begleitet. Bei genauerer Betrachtung wird hingegen klar, dass die WTO vor sehr viel fundamentaleren Problemen steht. Nicht wenige Experten erkennen im jüngst geplatzten Abkommen von Bali gar den
Anfang vom Ende der WTO. Denn nachdem die USA das globale Wirtschaftsgeschehen während Jahrzehnten dominiert hatten, änderten sich die Machtverhältnisse in den letzten 20 Jahren zu Gunsten von aufstrebenden Volkswirtschaften wie China oder Indien. Heute leben wir in einer multipolaren, machtpolitisch deutlich komplexeren
Seite 2/3
Welt. Die neuen Mächte fordern mehr Mitspracherecht und weniger westliche (amerikanische) Bevormundung.
Dies ist insofern problematisch, als die Interessen dieser Staaten – sei es im Bereich der Agrarwirtschaft oder etwa
bei Umweltstandards – oftmals diametral verschieden sind. Währenddessen sind die Strukturen der WTO beinahe
unverändert geblieben. Insbesondere gilt weiterhin das Prinzip der Einstimmigkeit, wodurch jeder Mitgliedstaat ein
Vetorecht hat. Vor diesem Hintergrund erstaunt es nicht, dass konstruktive Kompromisslösungen de facto verunmöglicht werden – die WTO scheint ihrem Ende tatsächlich näher als je zuvor.
Wenn sich die beste Option politisch nicht mehr umsetzen lässt, sind «zweitbeste Lösungen» gefragt: regionale oder
bilaterale Freihandelsabkommen. Doch auch bei Liberalisierungsprojekten wie der TPP oder der TTIP stellen sich
ähnliche Herausforderungen wie bei einer globalen Lösung. Gefragt sind Kompromisse und damit Eingeständnisse
aller Parteien. Dass der bi- oder multilaterale Weg auch in der heutigen Welt erfolgreich sein kann, zeigt das am
1. Juli 2014 in Kraft getretene Freihandelsabkommen zwischen China und der Schweiz – bleibt zu hoffen, dass die
Chancen für solche Kompromisse in Zukunft wieder zunehmen.
Was sind die Konsequenzen für die Anleger? Die stockende Handelsliberalisierung dürfte die globalen Finanzmärkte nur bedingt tangieren, solange es nicht zu einer starken Zunahme von protektionistischen Massnahmen
kommt. Regionale Auswirkungen sind hingegen deutlich wahrscheinlicher. Obschon nicht handelspolitisch motiviert, zeigen die jüngsten Sanktionen im Zusammenhang mit der Russland-Ukraine-Krise, dass staatliche Massnahmen gegen ausländische Unternehmen schneller als erwartet in Schliessungen von Produktionsanlagen, Aktienkursverlusten und Preiseinbrüchen an den Obligationenmärkten resultieren. Solche lokale Risiken sollten sowohl in
der Analyse von Makroumfeld und Einzeltiteln als auch bei der Festlegung der Anlagetaktik berücksichtigt werden.
Für ein Szenario einer globalen Protektionismus-Welle können sich Investoren hingegen nur wappnen, indem sie
den Grundsatz der Diversifikation in ihrer Anlagestrategie konsequent einhalten – und zwar über alle Anlageklassen hinweg.
St. Gallen, September 2014
Über die White Paper Series von Notenstein
Die Notenstein Privatbank publiziert regelmässig Studien und Forschungsberichte von namhaften Wissenschaftlern. Diese White Papers vermitteln
Hintergrundwissen zu den Finanzmärkten und bieten damit eine solide Basis für die eigene Meinungsbildung. Das vollständige White Paper von
Jagdish Bhagwati sowie weitere White Papers finden Sie unter www.notenstein.ch.
Seite 3/3