Artikel als pdf - Lebensmittel Hillmann

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Artikel als pdf - Lebensmittel Hillmann
DIE ZEIT − Untermieter in der Käserinde
Willmann
DIE ZEIT
48/2003
Untermieter in der Käserinde
In unserem Essen tummeln sich Gut und Böse. Bakterien und Pilze, die Nahrungsmittel schmackhaft machen,
liefern sich Kriege mit tödlichen Krankheitserregern. Nun steht ihnen die Forschung bei
Von Urs Willmann
Die Mörderinnen sind überall. Sie mögen Brühwürste, mögen Krautsalat. Vor zwei Jahren versteckten sie sich
in amerikanischem Labkäse. Sie suchten sich auch schon französische Schweinezunge in Aspik aus. 1999
tummelten sie sich in finnischer Butter, Mitte der neunziger Jahre in geräuchertem schwedischem Fisch. Und
im Gewand von Hart− und Blauschimmelkäse überfielen sie Dänemark.
Wo Mikroben der Art Listeria monocytogenes in großer Zahl aufmarschieren, hinterlassen sie Tote. Ihre
Truppen in verseuchten Schweinezungen kosteten über dreihundert Franzosen das Leben. Die
widerstandsfähigen, mithilfe einer Geißel vorwärts taumelnden Bakterien gehören zu den gefährlichsten
Lebensmittelverseuchern der Erde. Sie lösen Listeriose, Hirn− und Hirnhautentzündungen aus. Dass sie
Leckereien schätzen, bewiesen sie in den achtziger Jahren in der Schweiz. Damals befielen Listerien eine der
größten Delikatessen überhaupt: den Vacherin Mont dOr aus dem Vallée de Joux (122 Tote).
Dieser Weichkäse aus Rohmilch, der im schimmligen Mantel und mittels Bakterien würzige Reife erlangt,
handelte sich damals bei seiner Veredelung oft die garstigen Untermieterinnen ein. Nach dem Genuss drohte
der qualvolle Tod. Was dem Japaner der Kugelfisch, war dem Schweizer damals diese Rotschimmelspezialität
mit erstaunlicher Fließgeschwindigkeit und gewöhnungsbedürftigem Odeur. Von den infizierten
Käseliebhabern segneten 38 Prozent das Zeitliche.
Trotzdem findet man den schnell fließenden Vacherin Mont dOr jetzt im Winterhalbjahr wieder in den
Feinschmecker−Abteilungen. Die Käser aus dem Jura haben ihre Köstlichkeit wieder sicher gemacht. Seit
Jahren keine Vergiftung. Das Rezept, das die Vacherin−Mont−dOr−Produzenten strikt befolgen, lautet
Pasteurisieren, Reinigen, wöchentlich neu Impfen. Schon auf 70 Grad erwärmte Milch treibt Listerien in den
sicheren Hitzetod. Da eine neuerliche Verseuchung ihrer Delikatesse den finanziellen Ruin bedeuten könnte,
sind die Käser permanent mit Prüfen beschäftigt. Die ganze Tagesproduktion wird vernichtet, wenn in den
Proben Listerien stecken.
Der Sauberkeitsfimmel ihrer Hersteller hat der Delikatesse ein Imageproblem eingebrockt. Denn viele
Gourmets sind auf möglichst naturbelassene, urig hergestellte Rohmilchkäse fixiert und bevorzugen
französischen, fast identischen Mont dOr. Galliens Käser bieten weiterhin ihre Rohmilchvariante an.
Sicherheitsbewusste Mont−dOr−Freaks frönen einer originellen Verzehrmethode: Sie schieben zuvor den
Laib in den heißen Ofen und löffeln dann warmen, flüssigen Käse aus der sterilisierten Rinde.
Bei Hartkäse ist das sture Festhalten am Rohmilchkäse praktisch gefahrlos. Listerien haben in trockenen
Käserinden wenig Überlebenschancen. Rotschimmelkäse mit kurzer Reifezeit und daher hohem Wasseranteil
gehören zu den besten Freunden der Mikrobe Junge, Alte, Schwangere zu ihren häufigsten Opfern. Da der
Vacherin Mont dOr solch optimale Bedingungen bietet, empfiehlt Erich Windhab,
Lebensmittelwissenschaftler an der Eidgenössischen Technischen Hochschule (ETH) in Zürich, das
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DIE ZEIT − Untermieter in der Käserinde
Pasteurisieren: Es gibt keinen Grund, bei der Rohmilch zu bleiben. Das Hohelied auf den unerwärmten
Rohstoff ortet er im Bereich der Halbmystik. Nur absolute Kenner merkten überhaupt einen Unterschied.
Schlechter wird der Käse durch die Wärmebehandlung auf gar keinen Fall, sagt Windhab.
Nicht nur die Prinzipientreue schwer belehrbarer Gourmets motiviert Forscher, der Listeria monocytogenes
den Kampf anzusagen. Sie sehen in diesem hochgradig adaptierten humanen Infektionserreger eines der
hartnäckigsten Probleme der gesamten Nahrungsmittelindustrie. Die steigende Nachfrage nach
Fertigprodukten erhöhe sogar die Risiken, sagt Siegfried Scherer, Mikrobiologe an der TU München in
Weihenstephan. Weil in vorgekochten Lebensmitteln die guten Keime abgetötet sind, böten sie Listerien
quasi ein freies Feld zur ungehinderten Vermehrung, wenn bei der Herstellung, Lagerung oder im Handel die
Sorgfalt fehlt. Die Thermokeule bietet, bei der Fertigpizza wie beim Käse, nur begrenzte Sicherheit.
Scherer will die Listerien daher mikrobiologisch bekämpfen und verfügt inzwischen über gleich zwei Waffen,
eine im Prinzip alte und eine neue, selbst fabrizierte. Letztere will jedoch keiner haben, denn sie stammt aus
Scherers Gen−Tech−Küche. Die Kreation ist ein Lactococcus lactis. Dieses Milchsäurebakterium dient als
transgener Starter und hilft, Milch gerinnen zu lassen. Scherers getunte Mikroben können jedoch mehr, als
nur die Käsebildung zu starten. Ihr Meister hat ihnen die Fähigkeit eines Virus, eines natürlichen Feindes der
Listerie, eingebaut, sich gegen den hässlichen Keim durchzusetzen.
Dies war ein unerhört gezielter, rationaler Eingriff in die uralte Koevolution von Mensch und Käse. Schon seit
5000 Jahren erzeugt Homo sapiens caseovorus dieses lebendige Stück Kulinarie aus tierischen Rohstoffen.
Meist durch Säuern oder mithilfe von Lab, ursprünglich einem Enzym aus dem Magen von Kalb, Lamm oder
Zicklein. In diesem ersten Schritt flocken feste Milchinhaltsstoffe aus der wässrigen Molke aus. Die dick
gelegte Milch wird in größere oder kleinere Flocken aus Eiweiß und Fett zerteilt, danach helfen beim Reifen
der Laibe Gewürze, Pilze, Bakterien. Entstanden neue Sorten, war meist der Zufall schuld. Den berühmtesten
Unfall verursachte ein französischer Hirte. Er ließ, um der Geliebten nachzujagen, vor den Höhlen von
Cambalou alles stehen und liegen. Als er zurückkam, war die hart gewordene Milch blau gesprenkelt: Der
vom Liebesspiel erschöpfte Hirte ließ sich zum Wiederaufbau den ersten Roquefort der Käsegeschichte
schmecken. Noch heute reift die Köstlichkeit in diesen Höhlen.
Jedem Käse beschert die vitale Umgebung von Alm, Bauernhof oder Käserei eine kunterbunte Begleitflora.
Ein Laib ist deswegen oft Schauplatz heftiger Fehden. Da liefern sich krank machende Enterokokken,
Staphylokokken, Escherichia coli oder Salmonellen einen munteren Schlagabtausch mit uns wohlgesinnten
Mikroben, den Reifungs− und Schutzkulturen. Zu ihnen zählen Propionibakterien, die als
Konservierungsmittel unter anderem auch Hefen und unpassende Schimmelpilze in Schach halten oder den
Emmentaler mit imposanten Löchern ausstaffieren. Bei gelungener Produktion verhindert Gut das
Überhandnehmen von Böse. Um unliebsamen Schimmel abzuhalten, wird Weißschimmelkäse mit Penicillium
camembertii, Blauschimmelkäse mit Penicillium roquefortii bestückt. Für so genannte rotgeschmierte Käse
wie Tilsiter, Appenzeller, Vacherin oder Munsterkäse sorgt Brevibacterium linens. Rotgeschmiert heißen
diese Sorten, weil die für den Außenschutz zuständige rotbräunliche Flora, mit Salzlake vermischt, auf die
noch jungen Exemplare geschmiert wird. Je häufiger die Schmierung, je länger die Reife, desto würziger oder
geradezu scharf macht die rote Flora den Käse.
Doch ungebetene Gäste schleichen sich immer wieder ein. Zum Glück hat jeder dieser Unholde natürliche
Feinde. Genau das nutzten Siegfried Scherer und sein ehemaliger Kollege Martin Loessner, inzwischen
Professor für Lebensmittelmikrobiologie an der ETH Zürich. Ihr Listerien zerstörendes Virus ist ein
Bakteriophage, zu Deutsch: Bakterienfresser. Dieser setzt sich auf einzelne Bakterien, infiziert sie mit seiner
DNA und zwingt sie zur Bildung von je rund hundert neuen Bakteriophagen. Sie produzieren ein Enzym, das
die Zellwand zersetzt, ihr Wirt stirbt.
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Dieses zersetzende Enzym produziert auch Scherers transgene Bakterie Lactococcus lactis. Wenn die
Münchner Forscher ihre Kreation in einer Petrischale auf den Rasenteppich von Listerien sprühen, dann
diffundiert das Enzym in die Umgebung, wie Scherer sagt. Das killt die Listerien. Wir haben den
natürlichen Feind gesucht, und gefunden, sagt er. Doch seine Biowaffe ruht nur im Kühlkeller seines
Instituts. Sie ist patentiert, könnte auch Salate, Hackfleisch oder Meeresfrüchte listerienfrei halten und
Scherer ärgert sich, dass niemand sie haben will. Weder Nestlé noch ein anderer Konzern. Keiner setzt bei
Naturprodukten derzeit auf Gentechnik. In der Medikamentenherstellung ist sie akzeptiert, nicht aber bei
Nahrungsmitteln, sagt Scherer.
Allerdings ist der Zürcher ETH−Mikrobiologe Michael Teuber skeptisch, ob ein einzelner, antibiotisch
wirkender Keim dem Feind den Garaus machen könnte. Zu raffiniert agierten im Mikrokosmos die
Bösewichte, zu groß sei die Gefahr, dass sie auch gegen den neuen Feind Resistenzen bilden. Verheerend
wäre, wenn einer den Scherer−Keim kauft und dann die Hygiene reduziert, weil er sich in Sicherheit wiegt,
sagt Teuber. Anderer Meinung ist sein ETH−Kollege Windhab. Er lobt Scherers Arbeit als hoch kreativen
Weg, sich eine Werkzeugkiste zu basteln: Hygiene und Pasteurisieren seien unerlässlich in der
Lebensmittelherstellung. Aber es ist immer gut, einen zweiten Colt zur Verfügung zu haben. Vielleicht
birgt Scherers angriffslustiges Bakterium gar einen weiteren Nutzen. Das Konzept eines Keims, der ein
Killerenzym produziert, könnte auch für die Humanmedizin von Nutzen sein, sagt Windhab.
Seit der verheerenden Serie von Todesfällen verzichten die Schweizer Hersteller des Vacherin Mont dOr auf
eine traditionsreiche, aber riskante Technik namens Alt−Neu−Schmieren: Hierbei wird die Schutzflora reifer
Laibe abgeschabt und auf junge Käse übertragen. Steckt der böse Keim einmal drin, bleibt er drin. Aus
Sicherheitsgründen wird der Vacherin Mont dOr daher Woche für Woche mit frischer Flora aus den Labors
der Eidgenössischen Forschungsstation für Milchwirtschaft in Bern−Liebefeld neu geimpft.
Ausgerechnet diesem riskanten Alt−Neu−Schmieren verdankt der Münchner Siegfried Scherer seine zweite
Listerien vernichtende Waffe. Auch sie ruht in seinem Kühlkeller. Die Wahrscheinlichkeit ist groß, dass sie
vor den transgenen Bakterien zum Einsatz kommt. Eigentlich macht sie schon längst Listerien den Garaus,
allerdings ohne dass die Anwender etwas von ihrer Schlagkraft wissen. Es sind Käser, die in ihren Betrieben
zufällig eine Rotschmiereflora aufgebaut haben, die Listerien keinen Stich lässt.
Die Alt−Neu−Schmiertechnik ließ nämlich in den Betrieben über Jahrzehnte eine einmalige Reifungsflora
heranwachsen, abhängig von Räumen, Gerätschaften, Luftfeuchtigkeit, Sauberkeit von Stiefeln und
Spritzwasser, von Gullys und umliegenden Misthaufen. Jede Molkerei entwickelt mit der Vielzahl eigener
Bakterienstämme auch eigene Geschmacks− und Duftnoten. Diese kulturelle Vielfalt kann jedoch, wenn die
Listerie mal drin ist, tödlich wirken. Im Idealfall hatten die Käser mit ihrer urigen Schmierage das Problem
gelöst und im Lauf der Jahre ihre Flora resistent gegen Listerien gemacht.
Auf ihrer Suche nach den geheimnisvollen Listerienkillern gingen die Weihenstephaner gezielt einkaufen. In
acht Monaten besorgten sie sich im deutschen Handel 415 Käse und untersuchten die Beute. 6,4 Prozent der
Rotschmiere−, 4,8 Prozent der Sauermilch− und 4,4 Prozent der Hartkäse waren an der Oberfläche mit
Listerien kontaminiert. Die größte Überraschung war jedoch, dass Produkte aus pasteurisierter Milch fast
doppelt so häufig Befall zeigten wie Rohmilchkäse. Damit glauben die Bayern den weitverbreiteten
Irrglauben widerlegt zu haben, wonach Listerien−Infektionen primär ein Problem der Rohmilchkäsereien
sind.
Von den Oberflächen gesunder Käse schabten die Münchner Biologen schließlich die Flora und untersuchten
deren Wehrverhalten gegenüber Listerien. Die Flora eines französischen Raclette−Käses und Proben aus einer
bayerischen Käserei waren am wackersten. Bei diesen Kulturen gehen die Listerien auf null, Tabula rasa!,
freut sich Scherer. Die wehrhafte Rotschmiere produziert Eiweißmoleküle, die für Listerien toxisch sind. Sie
zerstören die Zellwände der ungeliebten Keime.
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Die Forscher haben 2000 Bakterien auf ihre Eignung untersucht. Zwanzig davon taugen für den Einsatz,
verschiedene Kombinationen von jeweils 12 bis 20 Kulturen haben sich in Modellversuchen bewährt. Nun
verhandelt Scherers Institut mit Kulturenherstellern, die Listerien tötende Rotschmiere anbieten könnten.
Das Prinzip funktioniert, sagt Scherer. Jetzt muss sich weisen, wie gut sich unsere Kulturen in
industriellen Betrieben einleben können. Sollte seinen Schützlingen dies gelingen, dann könnten sich
vielleicht auch die helvetischen Vacherin−Mont−dOr−Produzenten wieder getrauen, rohe Milch einzusetzen.
Ob sie damit die abergläubigen Gourmets zurückgewinnen, ist allerdings offen. ETH−Forscher Erich
Windhab verweist darauf, dass eine neue Kultur dem Käse beim Reifen ihren Stempel aufdrückt. Zunächst
müsste sich der sensible Gaumen der unbeugsamen Feinschmecker an die Geschmacksnuancen eines
möglicherweise neuen Rohmilch−Vacherin−Mont−dOr gewöhnen. Erst dann könnten auch sie wieder in
Sicherheit genießen.
Allerdings wäre es ein Wunder, gäbe sich Listeria monocytogenes geschlagen. Einen Trick hat die
Killermikrobe bestimmt noch auf Lager.
[Abstract]
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