istanbul - chilli:freiburg:stadtmagazin
Transcrição
istanbul - chilli:freiburg:stadtmagazin
reise Eurasien Die Megastadt am Bosporus Ein Besuch in der europäischen Kulturhauptstadt von 2010 – Istanbul E s ist nur eine Brücke, unter uns liegt der Bosporus, die Meerenge zwischen Mittelmeer und Schwarzem Meer, hinter uns Europa, vor uns Asien. Einen Kilometer lang ist die erste BosporusBrücke, es gibt auch einen Fußweg, der ist aber nach ungezählten Suiziden schon lange gesperrt. Istanbul ist die einzige Metropole der Welt, die sich auf zwei Kontinenten befindet. 13,1 Millionen Einwohner hat 59 CHILLI Juni 2012 das türkische Institut für Statistik im März 2011 gemeldet. „Da können Sie sicher noch ein paar Millionen dazunehmen“, sagt der Taxifahrer. „In der Stadt und an den Rändern leben sicher 20 Millionen Menschen“, erzählt unser Reiseleiter Umut Kus. In Istanbul geboren, lebt Kus schon seit vielen Jahren in Hannover. Er kennt sich trotzdem aus in der alten und neuen Geschichte dieser atemberaubenden Metropole. Während unseres Besuchs eröffnet der Literaturnobelpreisträger Orhan Pamuk gerade sein „Museum der Unschuld“, das erste Museum der Welt, das einen Roman greifbar macht, seinen Roman „Istanbul“. Kein Literatur-Museum, ein Roman-Museum, wie die Wochenzeitung Die Zeit trefflich schreiben wird. Von Unschuld geprägt ist die Stadtgeschichte indes beileibe nicht: Kriege, Plünderungen, Brände zeichnen die Geschichte von Byzanz, Konstantinopel und schließlich Istanbul (was so viel wie „In die Stadt“ bedeutet) aus. Vor allem wegen der vielen Baustile der Griechen und Römer, Byzantiner und Osmanen, Türken und Europäer erklärte die Unesco die historische Altstadt Sultanahmet 1985 zum Weltkulturerbe. 2010 wurde der Ballungsraum am Bosporus europäische Kulturhauptstadt – wofür sich zugegebenermaßen leichter Gründe finden lassen als für Freiburg, das sich vielleicht ebenfalls bewerben will. Brücken überspannen auch das Goldene Horn, die Wasserstraße, die vom Bosporus abzweigt und viele europäische Stadtteile trennt. Es ist ein bisschen so wie im Roten Meer, aus dem der SuezKanal (der Bosporus) und der Golf von Akaba (das Goldene Horn) werden. Die Galata-Brücke verbindet das Viertel Eminönü im Stadtteil Fatih mit dem Hafenviertel von Karaköy (Galata) im Stadtteil Beyoglu. Oben auf der zweigeschossigen Betonbrücke (übrigens vom deutschen Bauingenieur Fritz Leonhardt entworfen) stehen die Angler und fangen Fisch, unten gibt es zahlreiche Restaurants und Bars in allen Preisklassen, vor allem für Touristen. „Sie haben hier mal vor der aktuellen Brücke eine Galatabrücke gebaut, die sich für größere Schiffe öffnen sollte, das hat genau einmal geklappt, dann musste man die wieder abbauen und eine neue bauen“, erzählt Kus. Die alte hat man ein bisschen weiter hinten im Goldenen Horn von den beiden Landseiten aus als Denkmal wieder aufgebaut – mit einem großen fehlenden Stück in der Mitte. Die Folge: Unfähige Autofahrer fuhren Fünfsternehotel ohne Genehmigung drauf und versanken mit ihren Karossen dann im Wasser. Kus zuckt die Schultern. Als wäre das für Istanbul nichts Besonderes. Eine Stunde später fahren wir am Riz Carlton vorbei, ein Fünfsternehaus, gut 40 Stockwerke – für das es nie eine Baugenehmigung gab. An den Stadträndern entstehen ganze Stadtteile ohne behördliche Erlaubnis, die Gecekondus, über Nacht erbaute Häuser. Sie dürfen offenbar einer alten Tradition zufolge stehen bleiben. Und vor Wahlen versprechen dann die jeweiligen Kandidaten, dass sie dieses oder jenes Viertel an die Kanalisation anschließen – um die Stimmen der Bewohner zu kassieren. Der Albtraum der Istanbuler ist ein trockener Bosporus. Ihn beschreibt Pamuk in seinem Roman „Das schwarzen Buch“. „Es gibt nicht nur Pamuks Buch, es gibt viele Sagen, die das Ende des Bosporus verkünden. Das ist zwar alles Quatsch, aber wenn es so wäre, geht es steil bergab mit Istanbul“, weiß auch Kus. Wer nach Istanbul kommt, der sollte sich die Hagia Sofia ansehen, natürlich, die Blaue Moschee (die schönste von knapp 2800 in Istanbul), den Topkapi-Palast, die Istiklal Caddesi, die Einkaufs- und Flaniermeile mit historischer Straßenbahn, die am verkehrsumtosten Taksi-Platz endet, den 30 Fußballfelder großen Basar (in dem ein kleinerer Stand mit 20 Quadratmetern unter einer Million türkischer Lira nicht zu haben ist) auch, aber eines darf der Gast auf gar keinen Fall versäumen: Eine Schifffahrt auf dem Bosporus, mit auch unter alten Seebären gefürchteten Strömungen, hoch zum Schwarzen Meer, runter zum Marmarameer, vorbei an den alten Befestigungsanlagen Rumeli Hisari (wo die Meerenge mit 660 Metern ihre engste Stelle hat), vorbei am sagenreichen Mädchen- oder Leanderturm, der dicht bei der asiatischen Seite im Eingangsdelta zum Bosporus steht und ein Juni 2012 CHILLI 58 s s Fotos: © Lars Bargmann reise Türkei REISE megacities Blickfänge: Wer zu Gebetszeiten in die Blaue Moschee (oben) will, muss seine Kamera verstecken. Die Hagia Sofia ist der Pflichttermin für Normaltouristen. An der Einfahrt in den Bosporus teht der sagenumwobene Mädchen- oder Leanderturm. Auf der Galatabrücke angeln oben Einheimische den Fisch, der unten in Brückenrestaurants gegessen wird. 57 CHILLI Juni 2012 Wahrzeichen dieser pulsierenden, melancholischen, chaotischen, latent desinteressierten, nie schlafenden Stadt ist, in der mittlerweile die halbe Türkei lebt. Dieses geopolitisch so hochinteressante EU-Anwärterland, das im Westen auf den ersten Blick harmlose Nachbarn wie Griechenland und Bulgarien hat, aber auch Syrien, den Iran und Irak. Wenn die Türkei einst in die EU kommt, dann hat die EU ihre Außengrenzen gleichsam vor Damaskus, Teheran und Bagdad. Oben im Mädchenturm gibt es eine kleine Bar, wir stehen erst mit Kaffee, später mit Bier draußen, am Nachmittag kommen die großen Schiffe aus dem Schwarzen Meer vorbei, vormittags ziehen die Tanker aus dem Marmarameer ins Schwarze Meer. Gegenverkehr gibt es keinen. Am Ufer warten die gelben Taxis. Die Lizenzen sind heiß begehrt. Die Istanbuler Stadtregierung um Bürgermeister Kadir Topbas (Architekt) von der islamisch-konservativen AKP gibt für so eine riesige Metropole, für die größte Stadt auf europäischem Boden, nur eine sehr geringe Zahl Konzessionen fürs Gewerbe her. „Wenn du dir in Istanbul eine Lizenz kaufen willst, musst du eine Million Lira hinlegen. Das ist kein Witz“, sagt unser Reiseleiter. Eine solche Lizenz, wie auch ein Restaurant, sind eher Statussymbole denn gute Geldanlagen. Geld macht der reiche Teil mit Immobilien, mit Grundstücken. Nach einer 2011er Studie von den Wirtschaftsprüfern von PwC und dem Urban Land Institute (ULI) sind die Renditechancen für Immobilieninvestoren in keiner anderen Stadt so hoch wie in Istanbul. Istanbul hat auch ein ordentliches Nahverkehrssystem. Dominant sind die Busse, es gibt auch große Metrobusse, die auf dem Weg von West nach Ost nicht an jeder Milchkanne halten, wie Ex-Bahnchef Hartmut Mehdorn sagen würde. Spektakulärer ist etwa die Tünel-Bahn, die auf 614 Metern Karaköy am Hafen und den Tünel-Platz an der Istiklal Caddesi im Stadtteil Beyoğlu auf einem Hügel verbindet. Weil die Tünel am 12. Januar 1875 eröffnet wurde, ist sie übrigens die drittälteste U-Bahn der Welt. Mit dem Eisenbahnverkehr indes steht es nicht zum Besten. In den architektonisch herrlichen Bahnhof Sirkeci, historischer End- Info Istanbul Lage: Eurasien Flugverbindungen: Istanbul gehört am EuroAirport Basel-Mulhouse-Freiburg zu den am meisten gebuchten Zielen. 2011 zählt der Airport allein 240.842 Passagiere nach Istanbul, 157.357 nach Antalya und 32.074 nach Izmir. Turkish Airlines fliegt 8 Mal/Woche an den Airport Atatürk, EasyJet und Pegasus täglich nach Sabiha Gökcen. SunExpress fliegt täglich nach Antalya, Air Berlin und Pegasus freitags, Hello montags, mittwochs und freitags. Zudem steuern Pegasus (mi. + fr.) und SunExpress (di. + sa.) Izmir an. Und es gibt auch Charterflüge sowie weitere Flugmöglichkeiten mit Lufthansa via München oder Frankfurt, mit Air France via Paris, mit KLM via Amsterdam, mit British Airways via London oder mit Austrian via Wien. Alle Infos: www.euroairport.com Nachbarländer der Türkei: Armenien, Aserbaidschan, Bulgarien, Georgien, Griechenland, Irak, Iran, Syrien. Einwohner: 13,1 Millionen Einwohner (Türkisches Institut für Statistik). Presse: In Istanbul erscheinen 34 Tageszeitungen und 14 Stadtteilzeitungen. Moscheen: Knapp 2800. Hoteltipps: Kempinksi (ganz großer Geldbeutel), Hotel Conrad in Besiktas (großer Geldbeutel), Boutique Maywood Hotel (zentral, preiswert). Internet: http://english.istanbul.com punkt des Orient-Express und heute Endhaltestelle für alle Eisenbahnlinien auf der europäischen Seite, trudelt nur ab und an mal eine Lok ein. Am Abend schlendern wir direkt am Fenerbahce-Stadion vorbei, drinnen schießen die Hausherren von der asiatischen Seite gerade das 1:0 gegen Besiktas auf dem anderen Kontinent. Fans umarmen sich, ein Fanartikelhändler stürmt auf uns zu, will uns die gelb-blaue Fahne zu einem günstigen Preis anbieten. Später sitzen wir wieder am Bosporus, auf der asiatischen Seite, staunen in die Spiegelbilder auf dem Wasser, schauen den Schiffen hinterher, der verlässliche Südwestwind weht uns um die Nasen, wir schauen ein paar Älteren stundenlang beim Kartenspiel zu und versinken in der Abendstimmung. Die Betten stehen in Europa, nur eine Brücke liegt dazwiLars Bargmann schen.