Bücher am Sonntag - Neue Zürcher Zeitung

Transcrição

Bücher am Sonntag - Neue Zürcher Zeitung
Nr. 10 | 25. November 2012
Bertolt Brecht, Helene Weigel Briefwechsel | Bodo Kirchhoff Die Liebe in
groben Zügen | Ernst Burren Dr Troum vo Paris | Geschenktipps Kinderund Jugendbuch | Urs Altermatt Das historische Dilemma der CVP | Porträt
Maurice Chappaz | Weitere Rezensionen zu Hildegard von Bingen, Mira
Magén, Paul Kennedy, Karl Heinz Bohrer und vielen anderen
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Hier werden Wünsche wahr …
Die schönsten Geschenkideen für Ihre Liebsten!
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Vincent Pomarède
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Inhalt
Was Bücher mit
Tabletten
gemein haben
Bertolt Brecht
(Seite 23).
Illustration von
André Carrilho
Belletristik
4
Bodo Kirchhoff: Die Liebe in groben Zügen
6
Karl Heinz Bohrer: Granatsplitter
7
Thomas Lehr: Grössenwahn passt in die
kleinste Hütte
Von Sieglinde Geisel
Von Sandra Leis
Von Markus Bundi
8
Mira Magén: Wodka und Brot
9
Ken Bruen: Jack Taylor geht zum Teufel
Sollten Sie nach der Lektüre von «Bücher am Sonntag» manchmal ein
unbehagliches Gefühl verspüren – in der Art: «Was! So viele Bücher,
die ich lesen möchte! Doch wann?» –, sind Sie nicht allein. Mir zum
Beispiel geht es dauernd so – wenn ich eine Buchhandlung betrete, in
einer Lesung sitze oder auf eine begeisternde Besprechung stosse.
Schlimmer noch: Leute wie Sie und ich sind gierig, getrieben und labil;
haben eine schwache Immunabwehr. Wir sind süchtig nach neuen
Biografien, Romanen oder Gedichten. Versessen auf Briefwechsel
fremder Personen – ja, Schlüsselloch-Fetischisten. Lassen uns von den
unglaublichsten Stories verführen. Hängen am Tropf grosser Autoren.
Sie kennen das? Eben: Sie sind infiziert vom Lesefieber. Eine unheilbare
Krankheit, höchstens Schmerzstillung ist möglich.
Als Palliativum können wir Ihnen auf den folgenden Seiten ein paar
Bücher empfehlen: Von Burren bis Brecht, Mira Magén bis Michèle
Desbordes, Maurice Chappaz und S. Corinna Bille, Paul Kennedy oder
Urs Altermatt. Für vom Virus befallene Jugendliche haben wir auf der
Doppelseite 14/15 Suchtstillendes zusammengetragen.
Nun wünschen wir Ihnen frohe Festtage. Nutzen Sie die freie Zeit, um
Ihrer Seele und ihren Sinnen etwas Linderung zu verschaffen, bevor Sie
2013 der unerbittliche Alltag wieder in den Griff nimmt. Unsere nächste
Ausgabe erscheint am 27. Januar. Urs Rauber
Meg Rosoff: Oh. Mein. Gott.
Von Christine Knödler
15 Alice Gabathuler: Matchbox Boy
Bettina Wegenast, Jud. Zaugg: Ist da jemand?
Von Daniel Ammann
Jürgen Brater: Was macht der U-Bahn-Fahrer,
wenn er muss?
Von Andrea Lüthi
Silke Vry: 13 optische Tricks, die du kennen
solltest
Von Stefana Sabin
Von Verena Hoenig
Von Bruno Steiger
Von Hans ten Doornkaat
10 Ernst Burren: Dr Troum vo Paris
Von Manfred Papst
11 Michèle Desbordes: Die Bitte
Von Simone von Büren
Bernard Schultze – Gegenwelten
Von Gerhard Mack
12 E-Krimi des Monats
Mika Bechtheim: Bruderschatten
Von Christine Brand
Kurzkritiken Belletristik
12 Wisława Szymborska: Glückliche Liebe
Von Manfred Papst
Felix Homann: Erneuerbare Energien
Ruth Omphalius: Das geheimnisvolle
Universum der Ozeane
Von Sabine Sütterlin
Porträt
16 Abtrünniger Sohn aus dem Wallis
Von Martin Zingg
Kolumne
19 Charles Lewinsky
Das Zitat von Juvenal
Marie NDiaye: Ein Tag zu lang
Kurzkritiken Sachbuch
Nancy Mitford: Englische Liebschaften
19 Peter Bieri: Eine Erzählung schreiben und
verstehen
Von Regula Freuler
Von Regula Freuler
Dino Buzzati: Die Tatarenwüste
Von Manfred Papst
Kinder- und Jugendbuch
14 Tobias Elsässer: Wie ich fast berühmt wurde
Von Andrea Lüthi
Paul Biegel: Eine Geschichte für den König
Von Verena Hoenig
Von Urs Rauber
Stef Stauffer: Steile Welt
Von Urs Rauber
Joachim Wahl: 15 000 Jahre Mord und
Totschlag
Von Martin Walder
24 Paul Kennedy: Die Casablanca-Strategie
Von Urs Bitterli
25 Haide Tenner: «Ich möchte so lange leben, als
ich Ihnen dankbar sein kann»
Von Fritz Trümpi
Alberta Campitelli, Alessandro Cremona:
Die Villen und Gärten Roms
Von Geneviève Lüscher
26 Shulamit Volkov: Walter Rathenau
Von Peter Durtschi
Andrea Fink-Kessler: Milch – Vom Mythos zur
Massenware
Von Adrian Krebs
27 Brian Greene: Die verborgene Wirklichkeit
Ernst Peter Fischer: Niels Bohr
Walter J. Moore: Erwin Schrödinger
Von André Behr
28 Urs Altermatt: Das histor. Dilemma der CVP
Von Felix E. Müller
29 Michaela Diers: Hildegard von Bingen
Von Geneviève Lüscher
Mouhanad Khorchide: Islam ist
Barmherzigkeit
Von Klara Obermüller
30 Gisela Tobler: Hüter der Ehre
Von Urs Rauber
Das amerikanische Buch
Bill O’Reilly, Martin Dugard: Killing Kennedy
Von Andreas Mink
Agenda
Von Reinhard Meier
31 André Tschan, Lurker Grand: Heute u. danach
Sachbuch
Ingrid Olsson: Als würde man (...) schnipsen
20 Eric Kandel: Das Zeitalter der Erkenntnis
Von Andrea Lüthi
Von Tobias Kaestli
23 Bertolt Brecht, Helene Weigel: Briefe 1923–
1956. «ich lerne: gläser + tassen spülen»
Jan Knopf: Brecht
Von Geneviève Lüscher
Alexander Schrepfer-Proskurjakov: Speznas
Rosemary Wells: Die Reise des Oscar Ogilvie
Von Verena Hoenig
22 Daniele Ganser: Europa im Erdölrausch
Von Kathrin Meier-Rust
Von Manfred Papst
Bestseller November 2012
Belletristik und Sachbuch
Agenda Dezember 2012
Veranstaltungshinweise
Chefredaktion Felix E. Müller (fem.) Redaktion Urs Rauber (ura.) (Leitung), Regula Freuler (ruf.), Geneviève Lüscher (glü.), Kathrin Meier-Rust (kmr.), Manfred Papst (pap.)
Ständige Mitarbeit Urs Altermatt, Urs Bitterli, Andreas Isenschmid, Manfred Koch, Gunhild Kübler, Charles Lewinsky, Beatrix Mesmer, Andreas Mink, Klara Obermüller, Angelika Overath,
Stefan Zweifel Produktion Eveline Roth, Hans Peter Hösli (Art Director), Urs Schilliger (Bildredaktion), Manuela Klingler (Layout), Korrektorat St. Galler Tagblatt AG
Verlag NZZ am Sonntag, «Bücher am Sonntag», Postfach, 8021 Zürich, Telefon 044 258 11 11, Fax 044 261 70 70, E-Mail: [email protected]
25. November 2012 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 3
Belletristik
Roman Bodo Kirchhoffs neues Buch erzählt von einer alten Ehe. Es wird von der Kritik als
literarisches Schwergewicht der Saison gehandelt
Wohlfühl-Lektüre
für Winterabende
Bodo Kirchhoff: Die Liebe in groben
Zügen. Frankfurter Verlags-Anstalt,
Frankfurt 2012. 669 Seiten, Fr. 38.50,
E-Book Fr. 24.20.
Von Sieglinde Geisel
«Die letzten Spuren von etwas Jungem
perlten von ihm ab und von ihr die ersten Stückchen.» Für Vila (53) und Renz
(65) geht es allmählich ans Eingemachte,
man sieht den drohenden Herzinfarkt
kommen und damit die bange Frage:
War’s das schon – oder kann alles noch
einmal anders werden?
Bodo Kirchhoff versetzt diese Frage
nach dem Glück und die «Liebessehnsucht», die daraus folgt, in ein Milieu,
das für Sinnkrisen wie geschaffen ist: in
jenes von Medienleuten, die das Fernsehen hassen, von dem sie ganz gut leben,
LAURA JAY
Bodo Kirchhoff
Bodo Kirchhoff wurde 1948 geboren, er
lebt als Schriftsteller in Frankfurt am
Main sowie in seinem Haus in Torri del
Benaco am Gardasee. 1979 erschien sein
erstes Werk, «Ohne Eifer, ohne Zorn»,
1981 der Erzählband «Die Einsamkeit der
Haut». Zu seinen wichtigsten Romanen
gehören der Bestseller «Infanta» (1990),
«Der Sandmann» (1992), «Parlando»
(2001) und «Eros und Asche» (2007).
Sein neuster Roman, «Die Liebe in
groben Zügen», war diesen Herbst unter
den zwanzig Titeln der Auswahlliste des
Deutschen Buchpreises.
4 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 25. November 2012
wenn auch weniger glamourös, als sie es
gerne hätten. Die beiden verdanken dem
Fernsehen das Ferienhaus am Gardasee
(«jeder Stein ihres Hauses ein leeres
Wort»); Renz ist der «Vorabend-NiveauAnheber-Pionier», Vila die «Mitternachtskultur-Vorkämpferin mit abwärtsgehender Quote». Die krebskranke Producerin Marlies und Geliebte von
Renz wäre eine tragische Figur, wenn
das bei Fernsehleuten denkbar wäre.
Keine grossen Stoffe hat sie je realisiert,
so ihre Bilanz, als sie im Sterben liegt:
«Immer nur den Liebesmüll am Sonntagabend. Und Problemmüll am Mittwoch. Und Polizeimüll am Freitag.» Die
Accessoires des gehobenen Lebens sind
wichtig, etwa der «nicht mehr ganz taufrische Jaguar» und Weinsorten («ein
Cà dei Frati, genau das Richtige während eines Gewitterregens»). Wir befinden uns in der gemässigten Zone der
Gefühle, wo nichts weiter droht als «die
sanfte Vergiftung durch das Banale wie
durch ein geruchloses Gas». Einer der
brillanten Sätze, mit denen Kirchhoffs
biedere Mittelstandsprosa immer wieder überrascht.
Die Liebe als Rettung aus der Banalität – eine erzählerische Behauptung, die
nicht unbedingt ins Abgeschmackte kippen muss. Denn genau dazu ist die Liebe
ja da, zwischen Menschen das Grösste
und das Niedrigste, das Einfachste und
das Komplizierteste – «ein Schrecken
fast ohne Vorzeichen, wohl der heilsamste, den das Leben bereithält». Vila
und Renz verlieben sich beide in jemand
anderen, und es ist schwer zu sagen, ob
Vila mit Bühl, dem Wintermieter des
Hauses am Gardasee, mehr Glück hat
(und erlebt) als Renz in der begrenzten
Zeit mit Marlies.
Er habe für Liebe und Sexualität eine
neue Sprache finden wollen, sagt Kirchhoff derzeit gern in Interviews, und er
geht damit eines der grössten Wagnisse
ein, die das Schreiben zu bieten hat.
Nicht immer gelingt es Kirchhoff, die
Klippen von Kitsch und Peinlichkeit zu
umschiffen. Liebessehnsucht sei «die
Krankheit, die man selbst engen Freunden verschweigt», heisst es, doch es ist
nicht irgendeine Krankheit, sondern
eine Art Krebs: «… der einzige Tumor,
mit dem man mitwächst», so Vila,
«darin ihr geheimes Leben, gesammelt
zu einer, wenn sie nicht aufpasst, nach
aussen strahlenden Wahrheit: dass sie
endlich wieder liebt.» So wuchert eine
fragwürdige Metaphorik. «Für Liebe ist
die Musik zuständig; schon bei Worten
wird es grob», sinniert Vila, in einer
Wendung, aus der sich immerhin der
Titel des Romans speist. Eine Warnung
an Leser, die auf «Stellen» aus sind?
Grobe Worte benutzt Kirchhoff kaum
(abgesehen von dem etwas lächerlichen
halbherzigen Versuch, das Verb «ficken» wieder zu rehabilitieren).
Man ist berührt von der Unschuld in
Liebesdingen und der fast jugendlichen
Zartheit, die sich die Figuren bewahrt
haben, trotz früherer Affären. Und doch
gehen dem Autor unerwartet schnell die
Worte aus für das, was geschieht, wenn
zwei miteinander ins Bett gehen, «kein
harmloses Tun, ein riskantes hinter den
Linien, es gibt kein Wort dafür, bloss
leere Wörter», wie er selbst weiss. Ständig ist die Rede von diesem «Tun» und
vom «Kommen» – «und schliesslich
kam er in ihr, ein Glück wie mit Händen
zu greifen», «und dann gleich noch den
Slip herunterzuziehen und sie dort zu
liebkosen, wo nur Gutes zusammenläuft
und am Ende in Wogen verströmt»,
«bevor er sich verströmte in ihr» usw.
Duschen mit San Pellegrino
Doch betulich sind nicht nur die Worte,
sondern auch der Liebesrausch. Dem
heimlichen Treffen mit Bühl in der Kapelle von Campo fiebert Vila seit Tagen
entgegen, sie ist pünktlich, und Bühl erwartet sie in dem alten Gemäuer mit
drei Flaschen San Pellegrino – weiss er
doch, dass sie erst einmal wird duschen
wollen, verschwitzt, wie sie ist, nach
dem zwanzigminütigen steilen Anstieg!
Das Duschen ist in diesem Roman so
wichtig wie die Weinsorten und die
Renz, schreibt eine ethnologische For­
schungsarbeit über das Liebesleben
eines Amazonasstamms; die Textpassa­
ge, die sie ihren Eltern von Brasilien aus
per Mail zuschickt, lässt sich ebenfalls
als Kommentar zum Romangeschehen
lesen: «… aber unter allen bekannten
Kulturen [...] gibt es keine, die das Sexu­
elle nicht regelt, es ist zu gefährlich.»
Worte fliessen atemlos
Grosse Literatur sei, so Gilles Deleuze,
«die Befreiung einer Lebensmacht» und
damit ein Akt des Widerstands. Dieses
Buch befreit nichts, und es leistet keinen
Widerstand, deshalb liest es sich so
leicht: Wohlfühllektüre für den Herbst
und für die Couch, ohne Konsequenzen
für das Leben. «Und am Morgen kalter
Rauch im Wohnraum, auf dem Esstisch
ein fremdes Notebook, Apple, daneben
Zettel mit Notizen, ein voller Aschenbe­
cher, Wasserglas und Schmerztabletten,
das Päckchen aufgerissen; die Tür zum
Gästezimmer war geschlossen, im Bad
brannte Licht. Marlies?» Die Worte
fliessen nur so über die Zeilen, etwas
atemlos und ohne viel Gewicht. Bei den
Dialogen fehlen Anführungszeichen –
Am Gardasee suchen
Bodo Kirchhoffs
Romanfiguren ihr
Glück, ihre grosse
Liebe und verstricken
sich in Banalitäten.
ein Verfahren, welches das Lesen zu­
sätzlich beschleunigt, indem es alle
Worte in dieselbe Distanz rückt.
Bodo Kirchhoff trifft den berühmten
Nerv, jedenfalls dort, wo er blank liegt,
also bei der Generation jenseits der
fünfzig: Männer und Frauen, die sich in
einer soliden Ehe massvoll langweilen
und das Herzrasen in der Liebe noch
einmal spüren wollen ebenso wie den
belebenden Sex. Stört es dabei, dass
kaum einer der glatten Sätze für sich al­
lein bestehen könnte, dass keine der Fi­
guren grösser ist als wir selbst, «Elfi und
Lutz, Anne und Edgar, die Gebhards, die
Hollmanns, die Schaubs», die Namen
muten so durchschnittlich an wie die
Leute. Sind es also keine literarischen
Figuren, sondern eben Fernsehpersonal,
«Vorabendzeug», wie Renz es nennen
würde? Am Ende bleibt in der alten Ehe
alles beim Alten. Marlies ist tot, Bühl
verschollen, zurück bleiben Vila und
Renz, «zwei Menschen mit Umgangslie­
be» – und ein klassischer Zeitroman. So
unwiderstehlich die Verführungskraft
des Heutigen auf uns Heutige wirken
mag, so gestrig wirken solche Bücher
wenige Jahre später. l
BERTHOLD STEINHILBER / LAIF
Kleinigkeiten der ständigen Reisen zwi­
schen Frankfurt, München, dem Garda­
see und Assisi, alles Ablenkungen von
allem, was in dieser Geschichte existen­
ziell sein könnte.
Dabei ist Bodo Kirchhoff ein versier­
ter Autor, der sich mit Konstruktion und
Dramaturgie auskennt und auf raffinier­
te Weise die Fäden zwischen den par­
allel geschalteten Liebesgeschichten
knüpft. Bühl, der ehemalige Latein­ und
Ethiklehrer, ist der Widerpart zur Me­
dienschickeria, einer, der Wörter wie
«professionell» verabscheut («zu leb­
los») und der schöne Dinge sagt («Le­
bendig heisst liebend»), ein vom Miss­
brauch Gezeichneter auch, der trotz
seiner rätselhaften Anziehungskraft
vielleicht gar nicht fähig ist zur Liebe.
Bühl hat als einzige Figur das, was man
«eine Vergangenheit» nennen könnte,
und er schreibt ausserdem ein Buch
über das Liebessehnen des Franz von
Assisi und der heiligen Klara, dessen
frisch in den Laptop getippte Seiten in
die Erzählhandlung eingestreut werden
– ein allerdings bemühter Kommentar
aus der Ferne der Geschichte. Katrin
wiederum, die Tochter von Vila und
25. November 2012 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 5
Belletristik
Erinnerungen Karl Heinz Bohrer ist ein intellektuelles Schwergewicht: Er attackierte die Linke und
irritierte die Rechte. Im jüngsten Buch denkt der 80-Jährige über seine Jugend nach
Wie einer wurde, was er ist
Karl Heinz Bohrer: Granatsplitter.
Erzählung einer Jugend. Hanser,
München 2012. 317 Seiten, Fr. 27.90.
Von Sandra Leis
Überraschende Perspektive
Parallel dazu schrieb er zwanzig Bücher
und versucht sich nun mit «Granatsplitter» in einem weiteren Genre: der Erzählung. Im Postskriptum schreibt Bohrer, dass seine «Erzählung einer Jugend»
nicht Teil einer Autobiographie sei, sondern «Phantasie einer Jugend». Das
klingt nach «Ich schreibe Literatur!»,
doch die Stationen dieser Kindheit und
Jugend stimmen mit der Realität überein: Bohrer kommt 1932 in Köln zur
Welt. Der prinzipientreue Vater ist Nationalökonom und ein erklärter Gegner
des aufkommenden Nationalsozialismus; die elegante, etwas liederliche
Mutter stammt aus einfachen Verhältnissen, schaut aus wie Greta Garbo und
träumt von einer Filmkarriere. Weil die
Eltern sich früh scheiden lassen, lebt der
Knabe zunächst bei der Mutter, dann im
humanistischen Gymnasium und Landschulheim Birklehof im Hochschwarzwald, während des Krieges bei den
Grosseltern auf dem Land und nach dem
Krieg wieder im Internat. Nach der Matura reist er als Student erstmals nach
England, wo er sich als Apfelpflücker
verdingt und seine Liebe zu Grossbritannien entbrennt.
Die Erzählung «Granatsplitter» umspannt die Jahre 1939 bis 1953 und ist gegliedert in drei Kapitel: Kriegsjahre, Internat und England. Überraschend an
diesem Erinnerungsbuch ist die Perspektive: Bohrer schreibt weder in der
Ich-Form noch in der Rolle des allwissenden Erzählers. Held dieses Buches
6 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 25. November 2012
WALTER DICK / BPK
Kürzlich feierte Karl Heinz Bohrer seinen 80. Geburtstag – von der konservativen «Welt» bis zur linken Tageszeitung «taz» versäumte es in Deutschland
kein namhaftes Blatt, diesem europäischen Denker die Ehre zu erweisen.
Denn der Linkskonformismus war ihm
genauso ein Greuel wie die grassierende
Verspiesserung unter Helmut Kohl.
Vielleicht lebt Bohrer deshalb seit vielen Jahren in London und Paris.
Im deutschsprachigen Raum bekannt
wurde Bohrer 1968, als er zum Literaturchef der «Frankfurter Allgemeinen Zeitung» (FAZ) ernannt wurde. Sechs Jahre
später löste ihn Marcel Reich-Ranicki
ab. Im Jahr 1975 ging Bohrer als Korrespondent für die FAZ nach London. Er
war Professor für Literaturwissenschaft
an der Universität in Bielefeld und viele
Jahre Mitherausgeber des «Merkurs»,
einer «Zeitschrift für europäisches Denken». Die Zeitschrift positionierte Bohrer als Kontrapunkt zum «Kursbuch»
von Hans Magnus Enzensberger.
Die Kriegsjahre in
Deutschland bilden
Teil von K. H. Bohrers
Jugenderzählung.
Kinder in Köln
wärmen sich an einem
Feuer inmitten der
Trümmer, 1945/46.
ist «der Junge», der seinem Alter entsprechend seine Erlebnisse schildert.
Das ist ein hoher literarischer Anspruch,
und Bohrer setzt ihn immer wieder vorzüglich um. Beispielsweise wenn der
7-Jährige sein erstes Bild des Krieges in
Worte fasst: Es sind die Granatsplitter,
die es als kleine funkelnde Überbleibsel
der Munition vom Himmel regnet. «Der
Junge war regelrecht entzückt von dieser Schönheit. Er hatte das gleiche Gefühl wie damals, als man ihm aus Tausendundeiner Nacht [...] vorgelesen
hatte.» Etwas später ist es die katholische Liturgie, die ihn als Messdiener in
Bann schlägt. Bis zu dem Tag, an dem
ein Priester dem Buben im Beichtstuhl
unziemliche Fragen stellt. Und plötzlich
ist der Zauber unwiederbringlich verflogen und der Glaube dahin.
Die von Bohrer gewählte Perspektive
funktioniert dann, wenn er ganz bei seinem Helden bleibt. Unglaubwürdig ist
es, wenn er einem 8-Jährigen Sätze in
den Mund legt, wonach die Mutter «zu
jung und zu desinteressiert an seinen
Fragen» gewesen sei. Oder wenn der
Junge Sätze von sich gibt wie «Frauen
[...] waren manchmal so gedankenfrei
wie Hühner». Solcherlei Plattitüden lassen eher Rückschlüsse auf den Autor zu
als auf den Knaben.
Ergötzt sich der Junge während des
Krieges an Granatsplittern, so leidet er
nach dem Krieg unter der bleiernen
Sprachlosigkeit. Nicht einmal ein Plakat
von toten Gefangenen des Konzentrationslagers Bergen-Belsen, das die Engländer auf jede Kölner Litfasssäule ge-
klebt haben, löst die Zungen. Das erscheint dem Teenager genauso unheimlich wie die Tatsache, dass er unter Menschen lebt, die Nationalsozialisten gewesen waren.
Beklemmend wären diese Nachkriegsjahre im zerbombten Köln, könnte
der Junge seine Schulzeit nicht im Internat im Hochschwarzwald fortsetzen. Er
flieht die Wirklichkeit und stellt sich
vor, er befände sich an «einem altgriechischen Ort». Er lernt begeistert Griechisch und Latein, spielt leidenschaftlich Theater und ist fasziniert vom Film.
Er liest sich durch die Weltliteratur und
kommt so zu einer umfassenden Bildung, die den Grundstock bildet für seinen beruflichen Werdegang.
Passt in keine Schublade
Doch auch das Internat ist keine Insel
der Glückseligen: Der Schuldirektor
Georg Picht war ein erklärter Gegner
des Regimes und stellt etwa die Witwe
eines Widerstandskämpfers vom 20. Juli
1944 ein. Auf der anderen Seite unterrichten auch Lehrer an der Schule, die
das NS-Regime gestützt haben und deshalb nicht mehr an der Universität lehren dürfen. Eines Tages fragt der Junge
die Witwe, wie sie damit umgehe. «Das
Leben müsse weitergehen, meinte sie.
[...] Er sah das ein, aber es ging ihm nicht
aus dem Kopf.»
Widersprüche sind Teil jedes Lebens.
Das Buch «Granatsplitter» zeigt dies exemplarisch und macht nachvollziehbar,
warum Karl Heinz Bohrer in keine
Schublade passt. l
Aphorismen Thomas Lehrs Texte sind knappste
Sinneinheiten, die den Leser herausfordern
Thomas Lehr: Grössenwahn passt in die
kleinste Hütte. Kurze Prozesse. Hanser,
München 2012. 106 Seiten, Fr. 18.90.
Von Markus Bundi
Wenn schon die Lyrik ein Schattendasein führt, dann gilt das für die Aphoristik noch in verschärftem Mass. Diese
Gattung scheint so prekär zu sein, dass
selbst dann, wenn ein Buch mit Aphorismen erscheint, dieser Umstand lieber
verschwiegen und besser stellvertretend etwas anderes angekündigt wird,
«Kurze Prozesse» zum Beispiel. So lautet der Zusatz zu Thomas Lehrs jüngstem Band mit dem Titel «Grössenwahn
passt in die kleinste Hütte». Es handelt
sich dabei um eine Sammlung von
Aphorismen, die keineswegs kaschiert
zu werden brauchte.
Das Konzise, Merkmal jedes geglückten Aphorismus, zeichnet so manche
Sentenz Lehrs aus. Vielleicht liegt gera-
de darin das Unbehagen, die Sorge um
ein bald nicht mehr vorhandenes Zielpublikum: «Das letzte intellektuelle
Problem scheinen heutzutage die letzten Intellektuellen zu sein. Sie müssen
sich schon selber wegdenken.»
Denn was ebenso notwendig für diese
Gattung gilt, hielt Harald Fricke noch im
vergangenen Jahrhundert in seinem
Standardwerk «Aphorismus» fest: Er ist
ein Text «für zwei Mitspieler». Nun bedarf jeder literarische Text zweier Mitspieler, doch fällt bei Aphorismen eben
ganz viel Denkarbeit dem Leser zu. So
muss dieser auch damit rechnen, von
der Lektüre so einiges abzubekommen:
«Die Hoffnungslosigkeit einer gesicherten Existenz muss man erst einmal ertragen lernen.»
Erstaunlich vielleicht auch, dass ausgerechnet Thomas Lehr, Jahrgang 1957,
der sich bislang mit opulenten Romanen
wie «Nabokovs Katze» (1999) oder zuletzt «September. Fata Morgana» (2010)
einen Namen gemacht hat, nun vorstel-
ISOLDE OHLBAUM / LAIF
Denkarbeit
und Präzision
Thomas Lehr, Autor und Mitglied der Akademie der Künste, in Berlin.
lig wird mit dieser knappsten Form.
Oder vielleicht doch nicht? Die epische
Präzision, welche in den Romanen Unfassbarkeiten birgt, findet sich nun gezielt fragmentiert in den Aphorismen
aufgeho ben. In diesem Sinne lässt sich
auch der Titel der Aphorismen-Sammlung verstehen: «Grössenwahn passt in
die kleinste Hütte». Denn er geht in
jeden Kopf, wenn dieser denn überhaupt
zu lesen und zu verstehen imstande ist.
Sodann mag einer womöglich Platons
Höhlengleichnis neu lesen, wenn er zu
ergründen versucht, was in einem der
kürzesten Lehrismen steckt: «Text ohne
Schatten.» l
Eigentlich könnte die Welt
12 Milliarden Menschen ernähren.
Doch: Wir lassen sie verhungern.
Ein aufrüttelnder, provokanter Appell, die Massenvernichtung durch den Hunger endlich zu stoppen –
vom bekannten, gefeierten wie bekämpften
Globalisierungskritiker Jean Ziegler.
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»Ein großes Buch, hervorragend recherchiert.«
Süddeutsche Zeitung
Lesen Sie auf: www.cbertelsmann.de
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25. November 2012 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 7
Belletristik
Roman Die israelische Autorin Mira Magén erzählt die berührende Geschichte einer Alltagsheldin
Wenn das Leben neu beginnt
© Sören Stache
Die Psychologin
und Autorin Mira
Magén thematisiert
in ihrem Roman den
Umgang mit einer
Krisensituation.
TORSTEN SILZ / DAPD
Sie sind das Musterbeispiel des modernen erfolgreichen Paares: Amia ist hohe
Bankangestellte, Gideon ist ein Star
unter den Staatsanwälten, sie haben
einen netten, klugen Sohn und eine
schöne Wohnung in der besten Gegend
von Jerusalem. Aber eines Tages hat Gideon mitten in einem Plädoyer einen
Aussetzer, und von da an ist nichts mehr,
wie es war. Der Himmel, erinnert sich
Amia, «verlor seine blaue Farbe, mein
Herz sagte mir, es sei die richtige Zeit,
sich dem erstickenden Druck der Karriere zu entziehen.» Und so beschliesst
Amia auszusteigen.
Die beiden geben ihre Berufe auf und
tauschen die schicke Stadtwohnung
gegen eine einfache Hütte auf dem Land
ein. Amia übernimmt den elterlichen
Lebensmittelladen, während Gideon
sich als Fischer versucht. «An Neujahr,
wenn alle ihre Vergangenheit bedenken,
bedachte ich gegen meinen Willen unsere Zukunft.»
Dieses Neujahrsfest ist der Höhepunkt im neuen Roman von Mira Magén.
Wie schon in ihren früheren Romanen
erzählt Magén die Geschichte einer
Frau, die in einer Lebenskrise steckt.
Denn der neue Lebensentwurf wird sogleich von schrecklichen Sorgen konterkariert, als sich herausstellt, dass Gideons Aussetzer das Symptom einer
schweren Krankheit war. «Wir haben
beide gedacht», sagt Gideon zu Amia,
«ich hätte zu viel im Kopf, dabei ist er
eigentlich immer leerer geworden.»
Zwar wird diese Krankheit im Roman
nie genannt, aber in der emphatischen
Beschreibung von Gideons Verhalten
werden bekannte Muster von Alzheimer
erkennbar. Der Roman ist jenem israelischen Richter gewidmet, der, wie Gideon im Roman, im frühen Alter an Alz-
»Peter war wie eine Sternschnuppe
in meinem Leben ...« Angelika Schrobsdorff
Erstmals in Deutschland veröffentlicht: Die Briefe von
Angelika Schrobsdorffs Bruder Peter Schwiefert an die Mutter.
Ein einzigartiges, intimes und zeitgeschichtliches Dokument
mit zahlreichen Photographien und Faksimiles.
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Leseprobe
www.dtv.de
8 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 25. November 2012
erhältlich
Von Stefana Sabin
tare Vitalität und somit auch ihre
Selbstrettungskraft. Am Ende findet sie
einen angemessen Weg, um mit der
Krankheit ihres Mannes, den Fragen
ihres Sohnes und ihren eigenen Gefühlen fertig zu werden. «Ich kann die Zukunft nicht steuern», denkt Amia und
überlässt sich einer Vorsehung, an die
sie nicht mehr glaubt. «Nimm es, wie es
ist, sagte ich mir, eine Mutter und ein
Sohn und Glück, von dem man nicht
wissen kann, wie lange es anhält.»
Mira Magén konzentriert sich auf die
emotionale Realität der Hauptfigur. Wie
schon in früheren Romanen erzählt sie
eine beispielhafte Geschichte vom angemessenen Umgang mit einer Krisensituation. Die Autorin ist ausgebildete
Psychologin und versteht ihre Romane
durchaus auch als eine Art Lebenshilfe.
Dass Amia keine Powerfrau, sondern
eine Heldin des Alltags ist, die sich ganz
ohne Bitterkeit einer neuen Realität anzupassen lernt und ein neues Leben beginnt, macht ihre Geschichte umso
nachvollziehbarer. l
Auch als
Hebräischen von Mirjam Pressler. dtv
premium, München 2012. 393 Seiten,
Fr. 23.90, E-Book 17.90.
heimer erkrankte und seinen Beruf,
seine Familie und seine Freunde verliess, um in Würde allein mit dem langsamen Sterben fertig zu werden.
«Der Mensch weiss nicht mehr, was
er tun soll und was nicht», sagt Amia,
für die auch Gott keine helfende Instanz
mehr ist, immer wieder verzweifelt. Wie
alle Frauenfiguren in Magéns Romanen
hadert auch Amia mit der hergebrachten Tradition: Ihr modern-säkularer Lebensstil steht im Gegensatz zu den religiösen Gebräuchen ihrer Familie.
Aber den Konflikt zwischen säkularer
und religiöser Lebensführung trägt in
diesem Roman eine Nebenfigur aus:
eine junge Obdachlose, die sich Madonna nennt und sich bei Amia einnistet.
Mit ihrem christlichen – selbstgewählten – Namen, ihrer vulgär aufreizenden
Kleidung und ihrem frivolen Benehmen
ist sie eine ständige Provokation des religiösen und bürgerlichen Anstands.
Madonnas unerwartetes Auf- und Abtauchen und ihre gut gemeinte Übergriffigkeit aktivieren in Amia eine elemen-
Hardcover Deutsche Erstausgabe
312 Seiten CHF 27,90
Mira Magén: Wodka und Brot. Aus dem
_
MOLTEN ROCK MEDIA
Racheengel und
Erlöserfigur: der
Ermittler Jack Taylor
(dargestellt von Iain
Glen) in der neuen
Serie, die 2013 im
ZDF ausgestrahlt
wird.
Kriminalroman In seinem achten Abenteuer macht Jack Taylor Bekanntschaft mit dem Teufel
Blutspur durch Galway
Ken Bruen: Jack Taylor geht zum Teufel.
Aus dem Englischen von Harry Rowohlt.
Atrium, Zürich 2012. 244 Seiten, Fr. 23.50.
Von Bruno Steiger
Die an der irischen Westküste gelegene
Stadt Galway, die dem Besucher so
freundlich, licht und südländisch erscheint, hat offenbar auch ihre dunklen
Seiten: In Ken Bruens bislang sieben
brandschwarzen, von Harry Rowohlt
souverän ins Deutsche gebrachten Romanen um den Privatermittler Jack Taylor werden Schwäne massakriert, Nichtsesshafte reihenweise umgebracht,
junge Männer gekreuzigt, Schulmädchen von katholischen Nonnen zu Tode
gequält. Zum Beispiel im vierten Band
geht ein Killer um, der bei seinen Opfern jeweils ein Buch des irischen Dramatikers John Millington Synge zurücklässt. Oder in Band 5 findet Taylor nach
seiner Entlassung aus der Nervenklinik
den abgetrennten Kopf eines Priesters.
Typischer Telegrammstil
Das Böse in seinen grauslichsten Formen hält die Stadt in den Klauen. Dagegen stemmt sich Taylor mit allen ihm
zur Verfügung stehenden Mitteln, seinerseits gebeutelt von übermässigem
Alkohol- und Drogenkonsum. Gegen die
unvermeidlichen Folgeerscheinungen
helfen ihm die Bücher, die er sich regelmässig im Trödelladen einer Wohlfahrtsinstitution besorgt. Augustinus
und Pascal sind seine Favoriten, in den
schlimmsten Stunden des Entzugs hält
er sich an das Neue Testament und die
Noir-Klassiker David Goodis und Jim
Thompson. Seinem Unmut über die
Greueltaten gibt er mit einem HurlingSchläger tödlichen Ausdruck, zuweilen
kommen auch Messer und Pistole zum
Einsatz. Viel Worte mag Taylor über
seine einsamen Racheaktionen nicht
verlieren, das zu Erledigende wurde erledigt, und damit hat es sich.
Zu Beginn des soeben erschienenen
achten Bands der Serie scheint Taylor es
mit dem Teufel persönlich zu tun zu bekommen. In der Flughafenbar von Galway hat er, nach einer sechsmonatigen,
mit Xanax knapp in Schach gehaltenen
Trockenphase und dem erfolglosen Versuch, sich nach Amerika abzusetzen,
den üblichen «doppelten Jameson, dazu
eine Pint vom Schwarzen» geordert, als
er des Typen auf dem Nebenstuhl gewahr wird. So wird der unheimliche
Fremde in dem für Bruen typischen Telegrammstil, in welchem Sätze fast
durchweg mit Absätzen identisch sind,
kolportiert: «Grosser schlanker Mann,
wunderhübscher Anzug. / Armani oder
sonst was für mich Unerschwingliches.
/ Langes Haar, blond mit Strähnchen,
hübsches Gesicht, aber irgendwie … daneben. / Vielleicht der gemeine, nach
unten gezogene Mund. / Ein umwerfendes Lächeln, nur leicht beeinträchtigt
von zwei schiefen Zähnen. / Und sein
Eau de Cologne – ganz oben angesiedelt,
keine Frage, aber darunter etwas anderes, wie Knoblauch, der zu lange in der
Sonne gelegen hat.»
Am unheimlichsten erscheint Jack
Taylor der Name des Fremden: Kurt.
Dieser «Kurt» nun ist es, der auf den folgenden 200 Seiten des Buches unter
dem nicht minder verstörenden Namen
Carl eine sinnloser nicht denkbare Blutspur durch Galway zieht und gleichzeitig Jack Taylor als den einzigen ihm
ebenbürtigen Widersacher für seine
Zwecke einzuspannen versucht, mit satanistischen Drohungen und Bestechungsversuchen. Dazu gehören ein
postalisch übermitteltes Gewinnlos
über 250 000 Euro ebenso wie die 50
schwarzen Kerzen und der ausgeweidete Hund in Taylors Wohnung, womit der
Teufel seiner nie fassbaren Allgegenwart Nachdruck verleiht. In einer Hollywood-reifen Endabrechnung scheint
Taylor schliesslich die Oberhand zu gewinnen; mit drei gezielten Schüssen,
erst ins Gemächt, dann ins Herz und
schliesslich «zwischen die Zähne»
bringt er den Unheilsbringer zur Strecke. Doch die Morde gehen weiter.
Kaputter Held
Ken Bruen, 1951 in Galway zur Welt gekommen und heute nach einem bewegten Leben wieder in seiner Geburtsstadt
ansässig, hat am berühmten Trinity College in Dublin einen Doktortitel in Philosophie erworben, bevor er sich dem
Schreiben von Krimis zuwandte. Mit
seiner Figur Jack Taylor hat der vielfach
preisgekrönte Autor einen der ungewöhnlichsten und in verschiedener Hinsicht kaputtesten Helden der neueren
Kriminalliteratur geschaffen. Taylor erscheint als Inkarnation eines Schmerzensmannes von geradezu biblischem
Format. Im Verlauf der acht Romane –
sie sind dank geschickt eingefügter
Rückblenden auch einzeln problemlos
zu lesen – entwickelt er sich vom geschassten Verkehrspolizisten zu einem
wild um sich schlagenden Racheengel.
Gleichzeitig nimmt er zusehends die
Züge einer eigentlichen Erlöserfigur an.
Ein Heiliger ist Taylor dennoch nicht,
ganz im Gegenteil. Allen einschlägigen
Freuden des Lebens zugetan, hat er
gleichwohl etwas merkwürdig Asketisches an sich. Seine stellenweise fast ansteckend wirkende Sauflust wie auch
sein Drogen- und Medikamentenkonsum nehmen sich mehr und mehr als
eine Art Selbstkasteiung aus.
Beinah scheint es, als sehne er sich
nach einem für alle Zeiten gültigen Katergefühl, mit dem sich die Schuld, ein
Mensch – und dazu erst noch Ire! – zu
sein, abgelten liesse. l
25. November 2012 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 9
Belletristik
Erzählungen Der Solothurner Mundartautor Ernst Burren beschreibt eine ländliche Welt im
Umbruch – kritisch, desillusioniert, doch mit dichterischer Kraft
Nume no säute Bsuech
Der 68-jährige Ernst
Burren gehört zu den
grossen Autoren der
Schweizer Literatur.
Hier in seinem Haus
in Oberdorf (SO),
November 2012.
Ernst Burren: Dr Troum vo Paris. Cosmos,
Muri bei Bern 2012. 144 Seiten, Fr. 29.–.
Der Solothurner Autor Ernst Burren arbeitet mit der Präzision eines Uhrwerks.
Alle zwei Jahre, jeweils im Herbst, legt
er einen neuen schmalen Band mit Geschichten vor. Sie spielen in seiner engeren oder weiteren Heimat Oberdorf am
Fuss des Weissensteins, und sie sind in
der von funkelnden und schimmernden
Doppellauten geprägten Mundart der
Region geschrieben: in einer bildstarken, direkten Sprache, die indes nichts
Altertümelndes hat, sondern unsere gegenwärtige Lebenswelt reflektiert.
Lange galt Mundartliteratur per se als
weltabgewandt und provinziell, als Verweigerung der Teilnahme an einer übergreifenden Sprachgemeinschaft. Schon
Gottfried Keller spricht einmal spöttisch von «Quabblern und Nasenkünstlern». Wir sehen das heute anders. Es
gibt in der Schweiz ein neues Selbstbewusstsein, das sich im Sprachgebrauch
spiegelt. Barden von Mani Matter über
Büne Huber bis zu Manuel Stahlberger
haben dem Dialekt zu neuer künstlerischer Akzeptanz verholfen, ohne in
Nostalgie zu verfallen, Schriftsteller wie
Pedro Lenz melden sich mit zeitgemässen Büchern in Mundart zu Wort.
Mundart als adäquate Form
Auch Ernst Burren schreibt seit je in
Mundart. Er kann nicht anders. Nach
frühen Versuchen im Hochdeutschen,
die er später vernichtete, hat er seit 1970
Texte in Mundart vorgelegt: Gedichte
zunächst, dann kürzere und längere Geschichten, auch Dramen. Anfangs stand
er noch unter dem Einfluss Kurt Martis
und Ernst Eggimanns, doch bald schon
schrieb er sich frei. Er wusste: Das
Schriftdeutsche wäre die falsche Sprache für seine Alltagsgeschichten.
Seit er als Bub in einer Ecke der elterlichen Beiz sass und den Gästen zuhörte,
während er seine Hausaufgaben machte,
seit er jedes ihn seltsam anmutende
Wort auf langen Listen notierte, ist er
der Sprache seiner Region zugeschworen. «Nicht dass dieser Mann in Dialekt
gedichtet hat, sondern dass der Dialekt
in ihm dichterisch geworden ist, das ist
das Entscheidende.» Der Satz, den Carl
J. Burckhardt in einem Gespräch über
Hebels «Alemannische Gedichte» Rainer Maria Rilke in den Mund legt («Ein
Vormittag beim Buchhändler»), trifft
auch auf Ernst Burren exakt zu.
Auf den Erfolg hat der 1944 geborene
Autor, der bis zu seiner Pensionierung
als Primarschullehrer tätig war, dabei
nicht geschielt. Er hat sich stets mit
einer kleinen Schweizer Leserschaft zufrieden gegeben. Das war 1970 so, als
sein Erstling «Derfür und derwider» erschien, und es ist heute nicht anders.
10 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 25. November 2012
TOMAS WÜTHRICH
Von Manfred Papst
Denn darüber dürfen wir uns keine Illusionen machen: Geschriebene Mundartliteratur hat sich, Berner Rock hin, Slam
Poetry her, beim breiteren Publikum
selten durchgesetzt. Der Roman «Dr
Goalie bin ig» von Pedro Lenz ist eine
jener Ausnahmen, die die Regel bestätigen. In den meisten Fällen bringt es
Mundartliteratur nur auf kleine Auflagen. Auch Menschen, die gern Dialekt
sprechen und hören, tun sich eher
schwer damit, ihn zu lesen. Das kann die
SMS-Kultur vielleicht ändern.
Wer zum ersten Mal Texte von Burren vor sich hat, muss Wörter wie
«schueu», «ruei», «äuä», «ömu», «aube» (Burren schreibt konsequent klein)
entziffern. Doch man liest sich ziemlich
schnell ein, und der Gewinn rechtfertigt
den Aufwand allemal. Plötzlich bewegt
man sich in einer neuen Welt. Das Glück
ist mit jenem zu vergleichen, das man
empfindet, wenn man zum ersten Mal
schwimmt oder Velo fährt.
Ernst Burren gehört zu den grossen
Autoren der Schweizer Literatur. Es ist
kurios, dass sich das noch immer nicht
wirklich herumgesprochen hat. Er hat
seine Gemeinde, gewiss. Aber er hat
mehr verdient. Denn er hat eine kleine
Schweizer Region auf der Landkarte der
Weltliteratur eingetragen – so wie Faulkner das im Grossen mit seiner Yoknapa-
tawpha County getan hat. Man mag Burren vorwerfen, dass er dabei seine poetischen Mittel kaum variiert hat. Aber
würde man einem exzellenten Bäcker
vorhalten, dass er sich nicht auch an
Sushi versucht?
Düsterer geworden
Ernst Burren schreibt immer am gleichen grossen Lebensbuch. Er schildert
seine polyphone Welt, in der vor allem
sogenannt kleine Leute zu Wort kommen, mit beeindruckender Konsequenz.
Eine «Entwicklung» lässt sich in seinem
Werk nur schwer festmachen. In seinem
neuen Band fällt auf: Die Geschichten
sind düsterer geworden, Krankheit und
Tod sind allgegenwärtig, Vergänglichkeit ist nicht mehr etwas Fernes. Sie nistet sich in den Möbeln ein, den Kleidern,
den verfallenden Körpern. Da, wo andere Autoren milder werden, bleibt Burren
ungerührt: Er beobachtet den Zerfall gesellschaftlicher Strukturen, die Überforderung des Individuums durch eine sich
unentwegt beschleunigende Technologie. Für wohlfeile Tröstungen ist er
nicht zuständig. Aber er setzt sich weiterhin der Welt aus und fasst in präzise,
dichterische Worte, was die Menschen
umtreibt. Sich selbst nimmt er dabei
nicht so wichtig. Auch das bestimmt seinen Rang als Autor mit. l
Erzählung Die ungewöhnliche Beziehung zwischen einem Renaissance-Künstler und einer Dienerin
Zwiegespräch ohne Worte
scheint. Denn «die grossen Fresken, die
ihn nicht überleben würden», sind ebenso vergänglich wie ihr lebenslanges
spätabendliches und frühmorgendliches
Tragen, Schrubben und Rüsten.
Im Bewusstsein um die Vergänglichkeit der Dinge, «im Einverständnis mit
der kommenden Nacht», in ihren gebrechlich werdenden Körpern sind sich
Herr und Dienerin, Mann und Frau,
Berühmter und Unbedeutende nahe:
«unter ein und demselben Dach vereint,
wie sie auf einem Schiff gewesen wären,
das gegen das feindliche Meer ankämpft.» Aus dieser meist wortlosen
Nähe heraus trägt sie in einem aufgewühlten Redeschwall die ungewöhnliche, titelgebende Bitte an ihn heran – die
Bitte einer Frau, die ihren einzigen
Zweck im Dienen sieht und hofft, dass
Michèle Desbordes: Die Bitte. Eine
Geschichte. Aus dem Französischen von
Barbara Heber-Schärer. Klaus
Wagenbach, Berlin 2012. 120 Seiten,
Fr. 21.90.
Von Simone von Büren
Informelle Kunst Zwischen Abstraktion und Empfindung
PRO LITTERIS
«Er sah sie an, ohne sie zu sehen, dachte
sie schliesslich, und dann sah sie sein
Gesicht sich beleben, ein vages Lächeln
auf seinen Lippen erscheinen. Eine Bewegung zu ihr hin. Ob Interesse oder
schlichte Höflichkeit, hätte sie nicht
sagen können. Da lächelte auch sie.»
Diese Beschreibung der ersten Begegnung zwischen einem berühmten italienischen «Maler-Bildhauer-ArchitektenIngenieur» – es könnte Leonardo da
Vinci sein – und seiner Dienerin enthält
schon die ganze Handlung von «Die
Bitte». Michèle Desbordes (1940–2006)
schildert in diesem dichten Text die
ungewöhnliche Beziehung zwischen
einem Künstler des 16. Jahrhunderts und
einer einfachen Frau.
Er ist vom französischen König beauftragt worden, an der Loire ein Schloss
mit 215 Zimmern zu bauen. Wenn nötig,
würde man dafür den Lauf des Flusses
umlenken. So berühmt ist der Meister.
Sie hingegen erinnert an eine dieser Nebenfiguren, die in den Gemälden flämischer Renaissance-Maler im Halbdunkel neben dem Herd kauern.
Zwischen diesen beiden Ungleichen
webt die französische Autorin ein sachtes Hin und Her von Blicken und Handreichungen. Indem sie mitten in ihren
langen, verschlungenen Sätzen von
einer Perspektive zur anderen wechselt,
vermittelt sie, wie aufmerksam die beiden Figuren die Gesten, Körperhaltungen und Tagesabläufe des anderen registrieren und wie gross der Raum ist, den
dieser in ihrem Bewusstsein einnimmt.
Fast unmerklich verschiebt sich dabei
der Fokus – des Künstlers, des Texts, des
Lesers – von Marienbildern, Marmorsäulen und Dante auf diese schmale
Graugekleidete, die so vorsichtig geht,
«dass man glauben konnte, sie befürchte, den Raum um sich zu zerknittern».
Wie die regelmässig wiederkehrenden Jahreszeiten und Hausarbeiten wiederholen sich auch die Worte und Motive in Desbordes’ sorgsam komponiertem Text immer wieder: der Fluss und
der Himmel; bellende Hunde; zitternde
Hände; Licht in allen Abstufungen und
Einfallswinkeln; seine anatomischen
Skizzen und «das tausendmal gezeichnete Gesicht» seiner Engel; das Rascheln ihrer Röcke und ihre gefalteten
Hände im Schoss.
Diese inhaltlichen und sprachlichen
Wiederholungen geben dem 2000 erstmals auf Deutsch erschienenen Text seinen stillen Rhythmus. Und sie stellen
Dienerin und Meister mit ihren Sehnsüchten und Enttäuschungen in die
grossen Zusammenhänge, angesichts
deren ihr Wirken unbedeutend er-
sie tot «vielleicht noch nützlicher sein
würde als zu ihren Lebzeiten».
Desbordes malt mit Wörtern einen
lautlosen Dialog, den man immer und
immer wieder lesen möchte. Sie malt in
ihrer präzis komponierten poetischen
Sprache das viele, das die Figuren sich
nicht sagen und niemals sagen könnten.
Sie malt das Bewusstsein des schwächer
werdenden Malers: die von ihm gezeichneten Engel, «schön und sinnenverwirrend, schlugen über den Eiben mit den
Flügeln und fielen sanft ins Gras der
Blumenbeete zurück». Sie malt den
Fluss und die Wälder, die Abgeschiedenheit, den Winter. Sie schreibt, kraftvoll und roh, die Bilder der flämischen
Meister: den Lichtstrahl auf der weissen
Haube, die gefalteten Hände im Schoss,
den gebückten Rücken. l
Wenn man gerne von Malerei verschlungen werden
möchte, muss man die Bilder von Bernard Schultze
anschauen. Da öffnen sich Schlunde, rotieren Wirbel
und jagen sich Formen. Dunkle Zonen brechen ab,
damit man in hellere stürzen kann. Die Farbe ist das
Magma eines Vulkans, der keine Pausen kennt. Das
Bild eine ununterbrochene Explosion von Energien.
Dass eine Psyche das aushält, dass der Verstand es
schafft, darin nicht unterzugehen, grenzt an ein
Wunder. Dass das Bild von 1987 «Fratzentanz um
Atomängste» heisst, bestätigt nur den Anspruch
dieser Malerei, einer untergründigen Dynamik Form
zu geben. Mit solchen Bildern zwischen Abstraktion
und gestischem Empfindungsprotokoll hat Bernard
Schultze sich schnell in die europäische Kunst der
Nachkriegsjahrzehnte eingeschrieben. Der 2005 in
Köln fast 90-jährig verstorbene Maler gilt zu Recht
als einer der Väter der deutschen «art informel» und
hat sich doch auf eigenwillige Weise davon gelöst. Der
surrealistische Impuls, der das im Zweiten Weltkrieg
fast gänzlich zerstörte Frühwerk bestimmt, bleibt
weiterhin als Interesse an der Welt spürbar. Die
Materialschlacht der Farbe will für Assoziationen
offen bleiben und sogar erzählen. Der Band, der eine
Ausstellung begleitet (bis 20. Januar im Museum
Küppersmühle, Duisburg), macht das etwas in
Vergessenheit geratene Werk wieder präsent. In
seiner Mischung aus Geistigkeit und Aktivität ist es
auch für jüngere Künstler attraktiv. Gerhard Mack
Bernard Schultze – Gegenwelten. Hrsg. von
W. Smerling und E. Müller-Remmert. Wienand, Köln
2012. 150 Seiten, 89 Abbildungen, Fr. 41.50.
25. November 2012 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 11
Belletristik
E-Krimi des Monats
Lügen der Vergangenheit
Mika Bechtheim: Bruderschatten.
Goldmann, München 2012. 379 Seiten,
Fr. 13.40, E-Book 9.90.
«Einen guten Kriminalroman erkennt
man daran, dass es nur einen Toten
gibt, einen ermittelnden Kommissar
und am Schluss einen überführten
Täter», sagte einst ein Schweizer Verleger. In Mika Bechtheims Krimi gibt es
eine Menge Tote, der Kommissar ist in
eine Nebenrolle verbannt, und am
Schluss wird kein Täter verhaftet. Stattdessen bleibt nach einem eigentlichen
Familiendrama nichts als ein Scherbenhaufen. Trotzdem ist «Bruderschatten»
ein guter Kriminalroman − gerade weil
er das Schema «Toter – Ermittler –
überführter Täter» sprengt.
Der Plot des Krimis ist die Geschichte einer Hamburger Journalistin. Julie
Lambert, Gerichtsreporterin, führt als
Ich-Erzählerin durch ihr zuweilen
etwas chaotisch anmutendes Leben: Sie
ist voll berufstätig, Mutter eines Sohnes, von dessen Existenz der Vater
nichts weiss, und schwanger mit einem
Kind, dessen Vater sie gerade verlässt.
Und das sie um ein Haar verliert. Und
für das sie dann doch noch einen Vater
findet. Weit verwirrender ist − auch für
sie selbst − ihre Vergangenheit: Julie
Lambert, aufgewachsen im überblickbaren Solthaven in der damaligen DDR,
ist die Schwester eines Mörders. Mutmasslich. Ihr Bruder Leo soll vor über
zwanzig Jahren ihren Freund erschossen haben. Wenige Tage danach starb
auch Leos Freundin gewaltsam. Er
selbst ist seither verschwunden.
Zwanzig Jahre lang zweifelt Julie
Lambert an der Schuld ihres Bruders.
Bis sie einen Anruf erhält, der sie zurückkatapultiert in eine Zeit, in der die
Welt noch eine andere war. Ein verurteilter Serienmörder, der auch den
Mord an Leos Freundin gestanden
hatte, kommt nach Jahren im Gefängnis frei. Er eröffnet Julie Lambert, dass
er den Mord an Leos Freundin dazumal gestanden habe, obwohl er die Tat
nicht begangen habe. Er deutet an,
dass ihr Bruder sein Nachahmungstäter war. Kurz danach bringt er sich um.
Julie Lambert beginnt zu ermitteln. Stösst auf Wahrheiten, die
zu DDR-Zeiten keine sein durften. Erkennt, wie das System
der Lügen und der Vertuschungen funktionierte. Und
begreift, dass vieles anders
war, als sie ihr halbes Leben
lang gedacht hatte.
Die deutsche Autorin
Mika Bechtheim – sie
ist selbst ein Kind der
DDR – hält die Spannung aufrecht bis im
letzten Augenblick.
Und sie macht deutlich, wie damals vor
dem Fall der Mauer
im Osten Deutschlands ermittelt
wurde.
Von Christine Brand l
12 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 25. November 2012
Kurzkritiken Belletristik
Wisława Szymborska: Glückliche Liebe
und andere Gedichte. Suhrkamp, Berlin
2012. 103 Seiten, Fr. 24.90, E-Book 19.40.
Marie NDiaye: Ein Tag zu lang. Roman.
Deutsch von Claudia Kalscheuer. Suhrkamp,
Berlin 2012. 112 Seiten, Fr. 25.90.
Die polnische Lyrikerin Wisława Szymborska (1923−2012), Nobelpreisträgerin
von 1996, lebte zurückgezogen in Krakau und schuf ein Werk von einzigartiger Schönheit, Anmut und Gedankentiefe. Karl Dedecius und dem SuhrkampVerlag gebührt das Verdienst, die Autorin seit 1973 im deutschen Sprachraum
bekannt gemacht zu haben, mit vielen
schönen Büchern und lange bevor man
in Stockholm auf sie aufmerksam wurde.
Auch in den hier vorgelegten Gedichten,
einer Auswahl aus ihrem Schaffen der
Jahre 2005 bis 2011, zeigt sich nochmals
ihr unverwandter Blick auf die Welt, die
von feinem Humor durchzogene Melancholie, die Aufmerksamkeit für alles Lebendige, die genuine Musikalität im Parlando nach dem Ende der strengen Formen, die kritische Neugier für unsere
modernen Zeiten. «Eigentlich könnte
jedes Gedicht den Titel ‹Augenblick›
tragen», lesen wir. Wie wahr!
Manfred Papst
Als Marie NDiaye 2009 den Prix Goncourt erhielt, sorgte das für Aufregung.
Nicht nur war die 1967 geborene Tochter einer Französin und eines Senegalesen die erste schwarze Frau, die den renommierten Preis gewann; NDiaye hat
sich auch dezidiert gegen die Politik
Sarkozys geäussert, nach dessen Wahl
sie nach Berlin umzogen ist. Obwohl seit
1993 bereits sieben ihrer Romane auf
Deutsch erschienen sind, ist NDiaye
hierzulande erst seit dem Goncourt-gekrönten Buch «Drei starke Frauen»
einer breiten Leserschaft bekannt. «Ein
Tag zu lang» von 1994 erzählt vom Lehrer Herman, der jeden Sommer in der
Provinz verbringt. Als die Familie heuer
die Abreise um einen Tag verschiebt,
verschwinden Frau und Sohn. Herman
macht sich auf die Suche − und kommt
sich selbst abhanden. Ein atmosphärisch
ungemein starkes Buch in der Tradition
des magischen Realismus.
Regula Freuler
Nancy Mitford: Englische Liebschaften.
Roman. Aus dem Englischen von Reinhard
Kaiser. Graf, Berlin 2012. 335 Seiten, Fr. 24.50.
Dino Buzzati: Die Tatarenwüste. Roman.
Deutsch von Percy Eckstein u.a. Die Andere
Bibliothek, Berlin 2012. 255 Seiten, Fr. 45.90.
Während so manches Leben geruhsamer nicht sein könnte, gab jenes der
britischen Adelstochter Nancy Mitford
(1904−1973) und ihrer exzentrischen Familie gleich Stoff für mehrere Romane,
ab, die in den Fünfzigern Bestsellerstatus genossen. Nancy war die älteste der
sechs legendären Mitford-Schwestern
(der einzige Bruder fiel 1945 im Krieg),
zwei von ihnen glühende Faschistinnen,
eine glühende Kommunistin. Nancy, die
eine ebenso spitze wie humorvolle
Feder schwang, führte seit dem Zweiten
Weltkrieg eine heimliche Liaison mit
einem engen Mitarbeiter de Gaulles.
Wie alle ihre fiktionalen Werke ist auch
«Englische Liebschaften» («The Pursuit
of Happiness», 1945) stark autobiografisch geprägt und erzählt die reichlich
komische Story einer Upperclass-Familie zwischen den Kriegen. Sie ist endlich
wieder auf Deutsch lieferbar.
Regula Freuler
Albert Camus hat dieses Buch geliebt
und ein anderes Werk des italienischen
Autors ins Französische übersetzt. «Die
Tatarenwüste» von Dino Buzzati
(1906−1972) erschien im Juni 1940, unmittelbar vor Mussolinis Kriegserklärung. Leutnant Drogo erwartet jede
Nacht einen Angriff der Tataren. Die
Machtstrukturen in der Festung Bastinai
zeigen, wie totalitäre Systeme funktionieren. Als die Tataren nach Jahrzehnten tatsächlich kommen, ist Drogo alt
und hilflos. Buzzati wurde zu dieser
existenzialistischen Parabel inspiriert
durch die zahllosen Nachtdienste, die er
während seiner 43 Jahre als Journalist
und Blattmacher beim Mailänder «Corriere della Sera» leistete. Der elegante
Exzentriker, der fast sein ganzes Leben
bei seiner Mutter lebte, hat mit diesem
Buch sein Meisterwerk geschaffen. Mit
klugem Nachwort von Maike Albath.
Manfred Papst
Jetzt
best
elle
n
Ein Stück lebendige
Schweizer Wirtschaftsgeschichte
Das Buch «Schweizer Wirtschaftsdynastien» für Leserinnen und Leser
der «NZZ am Sonntag» zum Vorzugspreis von 38 statt 48 Franken
Das Buch erzählt die Geschichten von 16 erfolgreichen Schweizer
Unternehmerfamilien, die hinter Firmen wie Swatch Group, Roche,
Con�serie Sprüngli, Fonjallaz Weine, Caran d’Ache, Audemars Piguet,
Straumann, Julius Bär oder Holcim stehen. Sie berichten von Pionieren und ihren Nachkommen, von Errungenschaften und Rückschlägen, von Vergangenheit und Zukunft. Angesichts der Dominanz der
Börsennachrichten geht oft unter, dass Familienunternehmen das
älteste und am weitesten verbreitete Geschäftsmodell weltweit sind.
Das Buch «Schweizer Wirtschaftsdynastien» entstand aus der gleichnamigen erfolgreichen Serie in der «NZZ am Sonntag» – und ist ein
Stück lebendige Schweizer Wirtschaftsgeschichte geworden.
«Mich rühren diese Unternehmensgeschichten oft schier
zu Tränen: weil sie dem Lumpenpack, das die letzten zwanzig
Jahre auf Beute aus war und unermesslichen Schaden
angerichtet hat, so leuchtend entgegenstehen.»
Hans Widmer, Unternehmer, ehemaliger Konzernchef von Oerlikon
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Schweizer Wirtschaftsdynastien. Mit einer Analyse
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Kurzkritiken
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Evolution Wer verantwortet die
Schöpfung? Meg Rosoff erklärt es uns
Paul Biegel: Eine Geschichte für den
König. Urachhaus, Stuttgart 2012.
160 Seiten, Fr. 21.90 (ab 8 Jahren).
Eine unkeusche
göttliche Komödie
Meg Rosoff: Oh. Mein. Gott. Fischer,
Frankfurt a. M. 2012. 224 Seiten, Fr. 21.90,
E-Book 19.40 (ab 14 Jahren).
In Zeiten von TV-Shows, die Superstars
und Topmodels suchen, ist der Roman
aktueller denn je, auch wenn er in den
90er Jahren spielt. Der 21-jährige Erik
glaubt, das grosse Los gezogen zu haben,
als ihn ein raubeiniger Produzent und
ein zwielichtiger Manager als Sänger
einer Boygroup engagieren. Erik ist bereit, auf seichte Popmusik umzustellen,
sich eine neue Biografie zuzulegen und
seine Ausbildungsstelle zu riskieren.
Sein grosser Bruder spricht von Ausbeutung und Selbstverleugnung, doch
Erik will nur eins: im Mittelpunkt stehen. Der Autor Tobias Elsässer, früher
selbst Mitglied einer Boygroup, arbeitet
heute unter anderem als Gesangslehrer.
Er erweist sich nicht nur als Kenner der
Musikindustrie, sondern berichtet auch
lebensnah und ungeschminkt von Illusionen, Träumen und Ernüchterung.
Andrea Lüthi
Der alte König Mansolin ist krank und
wird mit Geschichten am Leben gehalten. Doch nicht nur diese Rahmengeschichte ist ernst und heiter zugleich:
Jedes der Tiere, das herbeieilt, eine Geschichte zu erzählen, ist auf seine Weise
besorgt, und doch blitzt überall Situationskomik auf. Im Verlauf des Buches
stossen Kinder so auf Einsichten wie:
Jedem kann Trauriges widerfahren, und
Erzähltes kann buchstäblich herzerquickend sein. In Holland erschien das
Buch erstmals 1964 und später auch in
Deutsch unter dem Titel «Das Schlüsselkraut». Zum Glück liegt der Band
jetzt wieder vor, mit neuen Illustrationen von Linde Faas, deren Zartheit und
Schalk die Stimmungen von Paul Biegels
Prosa genial ausbauen. Vor allem funkelt in den 15 Geschichten ein Vorleseschatz mit poetischem Zauber.
Verena Hoenig
Rosemary Wells: Die rätselhafte Reise
des Oscar Ogilvie. dtv-junior, München
2012. 368 S., Fr. 21.90, E-Book 15.90 (ab 11 J.).
Ingrid Olsson: Als würde man mit den
Fingern schnipsen. Bloomsbury, Berlin
2012. 22 Seiten, Fr. 21.90 (ab 12 Jahren).
«Früher war alles gut. Dad und ich hatten Lammkoteletts und Eiscreme. Jetzt
kommt nur noch Rübeneintopf auf den
Tisch.» Oscars Vater hat, wie viele andere, seine Arbeit verloren. Auf der
Suche nach einer neuen Stelle muss er
schweren Herzens seinen Sohn zurücklassen. Die Weltwirtschaftskrise nach
1929 und die Faszination für Eisenbahnen bilden die Angelpunkte für die Geschichte aus einer Zeit, als Telefonieren
noch etwas Besonderes und Joan Crawford ein Hollywoodstar war. Eine zufällige Entdeckung ermöglicht es Oscar,
durch die Zeit zu reisen, angetrieben
von der Sehnsucht. Durch diesen Umstand ist er nicht nur elf Jahre alt, sondern mal einundzwanzig und dann wieder sechs, woraus sich spannende Konstellationen ergeben. Eine mitreissende
Lektüre für Jungen – und ihre Väter.
Verena Hoenig
Plötzlich ist die Erinnerung wieder da –
an den Sonnenfleck auf dem Küchenboden, auf dem der tote Vater lag. Jetzt
liegt Calles Grossmutter auf der Intensivstation, und er hat Angst, auch sie zu
verlieren. Seine Erinnerungen und Gefühle möchte er weder mit der Mutter
teilen noch mit dem kleinen Bruder, der
nur von Meerschweinchen spricht und
Komik in die traurige Stimmung bringt.
Calle interessiert sich mehr für das neue
Nachbarsmädchen mit der Gitarre. Bilder der Vergänglichkeit begegnen Calle,
dem Hobbyfotografen, überall; vom zerfallenden Kuchen in Grossmutters Wohnung bis zum gelbblättrigen Baum. Passend zu Calles fotografischem Blick ist
der feinfühlige Roman gestaltet. Auf
jeder Seite gibt es einen kurzen Textabschnitt – ein Schnappschuss, eine Momentaufnahme, die viel Raum lässt.
Andrea Lüthi
14 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 25. November 2012
Von Christine Knödler
Ins kuschlige Lamettanest oder in die
feierliche Adventszeit passt das Buch
«Oh. Mein. Gott» von Meg Rosoff, wie
– nun ja – sagen wir einmal: die Faust
aufs Auge. Denn gegen Weihnachtsduseleien aller Art schlägt die Autorin
einen ganz und gar unheiligen Ton an.
Ihre Themen: Entstehung und Zustand
der Welt, das Verhältnis Gottes zu seiner Schöpfung, Zufall, Schicksal und die
Freiheit des Einzelnen.
Schon der Beginn (denn am Anfang
war das Wort) ist eine Erleuchtung: In
romantischer Schwärmerei – oder Ironie – wird ein Frühlingstag imaginiert,
der für die Liebe wie gemacht ist, findet
Lucy. Prompt wird ihr Gebet erhört, und
Gott persönlich nimmt sich ihrer an.
Doch der ist kein ehrwürdiger Herr mit
Rauschebart, sondern ein jugendlicher
Flegel, launisch bis zum Abwinken: Bob,
19, steht unter Testosteron-Dauerbeschuss, seine Lieblingsbeschäftigung
neben Knutschen und Onanieren ist
Chillen. Das ist schlecht für Lucy und
den Rest der Welt. Und wäre da nicht
Mr. B., der eigentliche Kopf der Mission
Erde, ginge diese den Bach runter.
Wer je angesichts der «Krönung der
Schöpfung» ins Grübeln geraten ist und
ob unübersehbarer Produktionsfehler in
ernsthafte Zweifel, wer als Erwachsener
angesichts hormonell gesteuerten Nachwuchses verzweifelt ist oder als Jugendlicher nichts als seine Ruhe haben will
vor ewig nörgelnden Erziehungsberechtigten, bekommt in diesem Jugendroman aberwitzige Antworten: Die Schöpfung? Die zufällige Entgleisung eines
pubertierenden Grössenwahnsinnigen,
der alles will, nur nicht erwachsen werden. Die Mutter Gottes? Eine Spielerin!
Die Heilige Familie? Zerrüttet! Die Welt?
Eine Hölle, mit Naturkatastrophen und
Herzschmerz. Der Himmel? Die Chefetage eines Unternehmens mit mieser
Bilanz. Das Verhältnis Gottes zu den
Menschen? Bettgeschichten!
Ungeniert projiziert die Buchautorin
Meg Rosoff die Auswüchse unserer Zeit
auf die himmlischen Protagonisten, und
sie schickt Gott und Menschen auf die
Couch und hält der im Jugendbuch grassierenden allgemeinen Weltuntergangsstimmung ein herzhaftes «Wer zuletzt
lacht» entgegen. Dass das im Halse stecken bleibt, versteht sich von selbst:
eine abgefahrene göttliche Komödie. l
Internet Ratgeber für Jugendliche
Cybermobbing
Kurzkritiken
Jürgen Brater: Was macht der U-BahnFahrer, wenn er muss? Beltz & Gelberg,
Weinheim 2012. 160 S., Fr. 21.90 (ab 10 J.).
Silke Vry: 13 optische Tricks, die du
kennen solltest. Prestel, München 2012.
48 Seiten, Fr. 18.90 (ab 9 Jahren).
Wer keinen Hunger hat, ist satt. Was ist
man aber, wenn man nicht durstig ist?
Sehen Blinde im Traum Bilder? Weshalb
sind Kanaldeckel rund und strecken
Wappentiere oft die Zunge raus? In seinem neuen Sachbuch geht Jürgen Brater
verblüffenden Fragen nach. Aber auch
geläufigere Themen werden behandelt
wie zum Beispiel: Weshalb essen Chinesen mit Stäbchen? Da geht es um Redewendungen, um Körper, Tiere und Umwelt – Comics und Ritter bekommen gar
ein eigenes Kapitel. Brater, von Beruf
Mediziner, findet ein Gleichgewicht
zwischen präziser Erklärung und lockerleichtem Ton, selbst bei komplexen naturwissenschaftlichen Themen. Ab und
an regt er zu einfachen Experimenten
an, etwa um herauszufinden, ob der
Wasserspiegel steigt, wenn man einen
Stein in den See wirft.
Andrea Lüthi
Es braucht nicht viel, um unseren Sehsinn zu überlisten. Victor Vasarely
reichte dazu im Jahr 1944 eine diagonal
schwarzweiss gestreifte Fläche. Indem
er die schwarzen Linien an bestimmten
Stellen aus der Geraden schob, an- und
wieder abschwellen liess, erweckte er
auf seinem Bild «Zebra» ein solches
Tier so zum Leben, dass man es gleich
streicheln möchte. Insgesamt 13 optische Tricks erläutert die Kunsthistorikerin Silke Vry anhand der Werke grosser
Künstler von der griechischen Antike
über René Magritte bis Bridget Riley. Es
geht um Scheinarchitektur, versteckte
Botschaften, Luftperspektive oder surrealistische Verwirrbilder. Am Ende erkennt man: Kunst ist immer auch Täuschung, aber eine, die Spass macht.
Selbst wenn man sich bei so vielen Illusionen oft verwundert die Augen reibt.
Verena Hoenig
Felix Homann: Erneuerbare Energien.
Sonne, Wind und Wasser. Kosmos Geolino,
Stuttgart 2012. 64 S., Fr. 18.90 (ab 10 Jahren).
Ruth Omphalius: Das geheimnisvolle
Universum der Ozeane. Arena, Würzburg
2012. 220 Seiten, Fr. 19.50 (ab 12 Jahren).
Ein Handkarren, auf dem ein Dieselgenerator von Dorf zu Dorf gefahren wird.
Besser lässt sich die instabile Stromversorgung in ländlichen Gebieten Afrikas
oder Asiens nicht illustrieren. Was dieser Band zum Thema Energie erklärt,
findet sich verstreut zwar in einigen
Kindersachbüchern. Überzeugend sind
hier aber die Konzentration und die
Aufbereitung. Didaktisch positiv wirken
sich die Redaktionskompetenz der Zeitschrift «Geolino» aus und die Vermittlungserfahrung des Physikers Felix Homann. Er gehört zur jungen Spezies der
«Wissenschaftskünstler», die mit bühnenwirksamen Shows durch die Lande
tingeln. In seinem Buch bringt er trotz
kurzer Texte viele Aspekte der erneuerbaren Energie ein. Eine «kinderleichte»
Einführung, die ideal den Weg ebnet in
diese komplexe Thematik.
Hans ten Doornkaat
Am Anfang blicken wir aus dem All auf
den Blauen Planeten. Die Aussensicht
verursacht Staunen und bereitet uns auf
die Botschaft vor, mit der das Buch
endet: Trotz ihrer Weite sind die Weltmeere durch das Wirken des Menschen
gefährdet. Die ZDF-Redaktorin Ruth
Omphalius hat bereits ein Jugendsachbuch über Klimawandel geschrieben
und 2011 die Dokumentation «Universum der Ozeane» betreut. Den Stand
meereskundlichen Wissens hat sie nun
für junge Leser aufbereitet: Kontinentaldrift, Entstehung des Lebens im Wasser,
Rolle der Ozeane als Klimamotoren,
Tankerunfälle, Tiefseebohrungen und
Überfischung. Ein gründlicheres Lektorat hätte nicht geschadet. Insgesamt ist
diese Reise durch die Erdgeschichte mit
Ausblicken in die Zukunft aber abwechslungsreich und gut aufgebaut.
Sabine Sütterlin
Alice Gabathuler: Matchbox Boy.
Thienemann, Stuttgart 2012. 288 Seiten,
Fr. 17.90, E-Book 14.40 (ab 14 Jahren).
Bettina Wegenast, Judith Zaugg: Ist da
jemand? Umgang mit digitalen Medien.
SJW, Zürich 2012. 56 S., Fr. 5.90 (ab 11 J.).
JUDITH ZAUGG
Von Daniel Ammann
Die 17-jährige Jori erwacht benommen
an einem leeren Pool, angekettet ans
Sprungbrett. Eine Webcam hält sie in
Schach, und ein unbekannter Racheengel lässt die Meute im Netz entscheiden,
ob sie eine Chance verdient. Zwischen
Vorausblenden und Chatprotokollen
kehrt die Geschichte an den Anfang zurück: Im Sommer sind die Eltern in die
Ferien gefahren, und Ich-Erzählerin Jori
räkelt sich mit ihren beiden Freundinnen am heimischen Pool. Vielleicht
bringt der attraktive Aushilfsgärtner
etwas Abwechslung und Action. Die
Girls schikanieren ihn und bringen ihn
mit aufreizenden Posen in Verlegenheit.
Aus Spass wird Ernst, als eine von ihnen
behauptet, er hätte versucht, sie zu vergewaltigen. Der Unbekannte verschwindet, aber nach den Ferien droht er im
Netz, ihre schmutzigen Geheimnisse zu
offenbaren.
Durch Aufklärung und Verbote will
die Schule das Cybermobbing unterbinden. Aber als erste Details aus dem Privatleben der Mädchen im Web auftauchen, nimmt die Netz- und Hetzkampagne ihren Lauf, und auch die Schulleitung macht Druck auf die Opfer. Alice
Gabathulers unzimperlicher und brisanter Roman demonstriert die Sprengkraft digitaler Übergriffe und zeigt,
dass fehlender Respekt und Gewaltbereitschaft nicht von Medien, sondern
Menschen ausgehen.
Cybermobbing und soziale Netzwerke sind auch Themen eines neuen SJWHeftes. In neun kurzen Kapiteln erfährt
man hier Nützliches im Umgang mit
Netzdaten, Games, Passwörtern oder jugendgefährdenden Angeboten. Neben
praktischen Tipps vermittelt das präventive Sachheft für die Mittelstufe viel
Hintergrund- und Lexikonwissen und
wirkt so über weite Strecken informationslastig. Ratschläge wie «Benutze
beim Bedienen des Computers deinen
gesunden Menschenverstand» wirken
dabei pauschal und knüpfen kaum an eigene Erlebnisse an. Überdies ist nicht
immer klar, ob sich der Text an die Zielgruppe Mittelstufe oder nicht
eher an Oberstufenschüler, Eltern
und Lehrkräfte richtet. Durchwegs erfrischend und anregend
wirken hingegen Judith Zauggs
Comic-Illustrationen.
Beide Neuerscheinungen sind
geeignet, mediale Erfahrungen
neu zu diskutieren. l
25. November 2012 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 15
Porträt
Maurice Chappaz (1916–2009) war ein wortmächtiger Erzähler. Ein von
Charles Linsmayer herausgegebenes vorzügliches Lesebuch erinnert an
den widerspenstigen Schriftsteller, der über drei Jahrzehnte mit der
Autorin S. Corinna Bille (1912–1979) verheiratet war. Von Martin Zingg
Abtrünniger Sohn
aus dem Wallis
Er hätte Notar werden sollen, Advokat, wie
seine männlichen Vorfahren auch. Sein Gross­
vater und sein Vater waren beide erfolgreiche
Juristen, und Maurice Troillet, sein Onkel müt­
terlicherseits, war gar Jurist, Bankier und Walli­
ser Staatsrat, Nationalrat und Ständerat. Eine
Familie von staatstragenden Persönlichkeiten
im Wallis. Maurice Chappaz mag diese Tradi­
tion nicht fortsetzen. Maurice, das älteste von
zehn Kindern, 1916 geboren, wird sich zwar
eine Weile lang in der juristischen Fakultät der
Universität Lausanne umsehen, er scheint einer
Karriere als Rechtsanwalt zunächst nicht abge­
neigt, aber er wird das Studium vorzeitig abbre­
chen. Er wird Dichter werden, er wird schrei­
ben, ein wortmächtiger Erzähler.
Das ist mehr als nur eine Absage an die Juris­
prudenz: Das ist vor allem eine Entscheidung
für eine Lebensweise, die mit Entbehrungen
rechnen muss und die nichts Repräsentatives
Chappaz und Bille – das Werk
• Maurice Chappaz: In Wahrheit erleben wir
das Ende der Welt. Ein Lesebuch, zusammengestellt und Nachwort von Charles Linsmayer.
Huber, Frauenfeld 2012. 352 Seiten, Fr. 42.–.
• Maurice Chappaz: Evangelium nach Judas.
Erzählung. Waldgut, Frauenfeld 2006.
171 Seiten, Fr. 36.–.
• S. Corinna Bille: Schwarze Erdbeeren.
Erzählungen. Nachwort von Monique Schwitter.
Nagel & Kimche, Zürich 2012. 172 Seiten, Fr. 27.90.
• S. Corinna Bille: Alpenblumenlese. Kleine
Prosa. Rotpunktverlag, Zürich 2012.
67 Seiten, Fr. 24.–.
• S. Corinna Bille: Dunkle Wälder. Roman,
Vorwort von Maurice Chappaz. Rotpunktverlag,
Zürich 2012. 157 Seiten, Fr. 24.–.
• S. Corinna Bille: Das Vergnügen, eine eigene
Welt in der Hand zu halten. Ein Lesebuch.
Nachwort von Charles Linsmayer. Huber,
Frauenfeld 2008. 352 Seiten, Fr. 48.–.
• Themenabend zu Maurice Chappaz mit
Charles Linsmayer und Regula Imboden.
Literaturhaus Zürich, 12. Dezember, 19.30 Uhr.
Restlos verliebt
Der Prosaerstling ist die hymnische Feier eines
Ausbruchs: Ein junger Mann streift in einem
Park Anzug, Hemd und Krawatte ab, schnürt
alles zu einem Bündel und wirft die Kleider
weg. In blauer Hose, Pullover und alter Mütze
macht sich der junge Mann dann auf den Weg
und geniesst seine neue Freiheit: «Er war aus
der Gemeinde geflohen, in der sein Vater die
Verwaltung innehatte, als eine Art Notar oder
Sheriff. Er hatte beschlossen, sich der albernen
Aufgaben wegen, die ihm jedermann in Familie
und Gesellschaft aufdrängen wollte, nicht mehr
den Kopf zu zerbrechen.» Das ist unübersehbar
der Text eines jungen Autors. Und es ist auch
ein Programm, der Abschied Chappaz’ von
einem Milieu.
Mit diesem Text des 23­jährigen Jungautors
setzt das grossartige Lesebuch ein, das Charles
Linsmayer zu Werk und Leben von Maurice
Chappaz eingerichtet hat: «In Wahrheit erleben
wir das Ende der Welt». Auf über 200 Seiten
präsentiert Linsmayer Prosatexte, Gedichte
und Briefe und spannt damit einen weiten
Bogen über das Werk des ungewöhnlichen
Schriftstellers, der vor drei Jahren im hohen
Alter gestorben ist. Die Texte sind alle von
Hilde und Rolf Fieguth neu übersetzt worden,
zum grossen Teil erstmals, auch das kann nicht
genug gerühmt werden. Mit seiner Auswahl
und vor allem mit der Anordnung der Texte ge­
lingt es dem Herausgeber, Leben und Werk auf
anschauliche Weise miteinander in Beziehung
zu setzen. Dabei wird vor allem deutlich, wie
sehr das Werk von Chappaz autobiografisch
geprägt ist und wie stark sich die Prägung der
frühen Jahre noch bis ins Alter auswirkt. Ein­
drücklich sind etwa die Briefe, in denen sich
Chappaz an seinen Onkel Maurice Troillet
Auf eine einfache, bündige
Formel lässt sich sein
umfangreiches Werk nicht
herunterbrechen. Und in
allem hat Chappaz seinen
eigenen Ton gefunden.
wendet oder an seine Schriftstellerkollegen.
Und wenn er seiner späteren Frau S. Corinna
Bille schreibt, spürt man den restlos Verliebten,
der gerne bei seiner schreibenden Freundin
wäre, aber zugleich seine eigene Arbeit nicht
aus den Augen verlieren mag.
Die entscheidende Klammer zwischen Leben
und Werk stiftet in diesem Lesebuch das Nach­
wort von Charles Linsmayer: Auf 120 dichten
Seiten entfaltet er darin die Biografie des Wal­
lisers, die ziemlich ungewöhnlich ist. Und wie
nebenher beleuchtet deren Darstellung auch
das Bild einer literarischen Region, die in der
deutschsprachigen Schweiz immer noch weit­
gehend unbekannt ist. Für das Verständnis von
Maurice Chappaz und dessen Werk sind die In­
formationen des Herausgebers von grossem
Nutzen, auch weil sie das Angebot machen, die
Primärtexte in deren biografischen Kontext zu
stellen.
Über sieben Jahrzehnte lang hat Maurice
Chappaz geschrieben, und selbst wenn sein
Themen­ und Stoffrepertoire überschaubar er­
scheint: auf eine einfache, bündige Formel lässt
sich sein umfangreiches Werk nicht herunter­
brechen. Und in allem hat er seinen eigenen,
durchaus unverwechselbaren Ton gefunden.
Eine prägende Erfahrung ist die Ablehnung,
▲
16 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 25. November 2012
haben kann. Der Bruch mit der bürgerlichen
Welt, den er früh vollzieht, wird seine Familie
denn auch lange Zeit in beträchtlichen Schre­
cken versetzen.
Eine erste, auch einer breiteren Öffentlich­
keit sichtbare literarische Publikation kann
Maurice Chappaz bereits Ende 1939 vorweisen.
In einer Zeitschrift erscheint ein Text, mit dem
er sich an einem Wettbewerb beteiligt hat:
«Von einem, der auf einer Bank liegend lebte».
Den ersten Preis haben ihm die Juroren – unter
ihnen Charles­Ferdinand Ramuz und Gustave
Roud – nicht zuerkannt. Aber Chappaz hat ihr
Interesse geweckt, und sie werden seine schrift­
stellerische Entwicklung fortan mit grossem
Respekt begleiten und mit ihm freundschaftlich
verbunden bleiben, vor allem Gustave Roud.
FONDS MAURICE CHAPPAZ / SCHWEIZERISCHES LITERATURARCHIV, BERN
Produktives Westschweizer Schriftsteller-Paar: S. Corinna Bille und Maurice Chappaz in Geesch, Niedergesteln (Wallis), ca. 1942/43.
25. November 2012 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 17
Porträt
▲
die Chappaz’ Familie der schriftstellerischen
Tätigkeit ihres Sprösslings gegenüber hegt. Die
verweigerte Anerkennung hat den Autor lange
beschäftigt, indirekt in Texten, direkter in Briefen. Noch 1955 schreibt der abtrünnige Sohn an
Maurice Troillet, seine Familie werfe ihm eine
«lächerliche und schändliche Lebensweise»
vor. Zu diesem Zeitpunkt hat Chappaz längst
ein zwar kleines, aber sehr respektables Werk
vorzuweisen. Daran hat Troillet, das ClanOberhaupt, übrigens keinen geringen Anteil.
Denn während der Vater stets ein gespanntes
Verhältnis zum jungen Schriftsteller hat und
die Geschwister kühle Distanz zu ihrem Bruder
wahren, verwendet sich der erfolgreiche Onkel
Maurice ein Leben lang für seinen Neffen, und
das, obschon die Meinungen der beiden in vielem auseinander gehen. Bis zuletzt wird Troillet dem Neffen finanziell aushelfen und ihn moralisch unterstützen.
Hymne an Walliser Landschaft
Wichtiger als die Verwandten werden für Maurice Chappaz die «Wahlverwandten», eine
Handvoll Lehrer und Mitschüler aus der Schulzeit im Gymnasium der Abtei Saint-Maurice.
Einige seiner Klassenkameraden werden sich
wie er als Schriftsteller betätigen, etwa Jean
Cuttat oder Georges Borgeaud. Mit ihnen bleibt
er ein Leben lang verbunden. Auch mit den bewunderten Lehrern wird der Kontakt bis zu-
letzt nicht abreissen, und in berührenden Texten wird er Jahrzehnte später an sie erinnern.
«Die erste Schulstunde» etwa beschreibt den
unvergesslichen Moment, da der verehrte Lehrer Edmond Humeau der Klasse korrigierte
Aufsätze zurückgibt und kommentiert: Für
Chappaz wird das eine Lektion fürs Leben.
Als 1939 der Zweite Weltkrieg beginnt und
die Schweiz ihre Truppen mobilisiert, ist Maurice Chappaz noch Student der Jurisprudenz. Er
sieht in der Mobilmachung eine gute Gelegenheit, das Studium endgültig an den Nagel zu
hängen. Fortan wird er – im Rang eines Leutnants – abwechselnd Militärdienst leisten oder
sich zurückziehen, um zu schreiben. Auf langen
Wanderungen, wie er sie ein Leben lang unternehmen wird, erkundet er die Walliser Landschaft, die er in frühen Prosatexten und Gedichten mit grosser Emphase besingt, etwa in
«Der Pfynwald» oder in «Und ich wandere weiter», Texte, die im Lesebuch allesamt präsentiert werden.
Ins Jahr 1942 fällt die entscheidende und lebensprägende Begegnung mit S. Corinna Bille.
Bille – vier Jahre älter als er und zu dem Zeitpunkt noch verheiratet – ist angehende Schriftstellerin und hat schon erste kleine Erfolge vorzuweisen. Die beiden werden nach der vom
Vatikan gebilligten Annullation von Billes Ehe
heiraten und haben drei Kinder. Ein Schriftstellerpaar mit vielen Sorgen, vor allem finanziellen Nöten.
Die fünfköpfige, junge Familie wird immer
wieder, ähnlich wie Nomaden, den Wohnort
wechseln und hat viele Krisen zu bestehen, mitunter auch, was den schriftstellerischen Erfolg
der beiden angeht. Chappaz arbeitet zum Beispiel eine Zeitlang als Verwalter in den Rebber18 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 25. November 2012
CHARLY RAPPO
Ins Jahr 1942 fällt die
entscheidende Begegnung
mit S. Corinna Bille. Sie ist
vier Jahre älter, zu dieser
Zeit noch verheiratet und
angehende Schriftstellerin.
Maurice Chappaz ging leidenschaftlich seinen eigenen Weg, hier 2005 in seiner Wohnung in Le Châble (VS).
gen seines Onkels, in den Jahren 1956 bis 1958
wird er gar Hilfsgeometer beim Bau des Staudamms der Grande-Dixence.
Empörung und Zärtlichkeit
Nach dem plötzlichen Tod seiner Gattin 1979
wird er ihre unveröffentlicht gebliebenen
Werke herausgeben und Vergriffenes neu erscheinen lassen. 79 Titel sind es insgesamt, wie
Linsmayer errechnet hat. Zum hundertsten Geburtstag der Autorin sind in diesem Jahr beim
Rotpunktverlag und bei Nagel & Kimche verschiedene Publikationen erschienen, die sehr
nachdrücklich an die Bedeutung von S. Corinna
Bille erinnern. Dazu gehört auch der Prosaband
«Schwarze Erdbeeren», zu dessen Neuausgabe
Monique Schwitter ein schönes Nachwort beigesteuert hat. Charles Linsmayers vor vier Jahren erschienenes Bille-Lesebuch, ein frühes
Gegenstück zur vorliegenden Chappaz-Auswahl, gehört auch in diese Reihe: «Das Vergnügen, eine eigene Welt in der Hand zu halten».
Im deutschsprachigen Raum hat Maurice
Chappaz bis heute nicht die Beachtung bekom-
men, die er verdient hat, obschon sich Verlage
wie Limmat, Suhrkamp oder Waldgut immer
wieder für ihn eingesetzt haben.
Vorübergehende Aufmerksamkeit bekam der
widerspenstige Walliser 1976 mit der Veröffentlichung einer schmalen Schrift, in welcher er
die – nicht nur durch den expansiven Tourismus verursachte – Umweltzerstörung im Wallis
anprangerte, «Les maquereaux des cimes blanches» («Die Zuhälter des ewigen Schnees»).
Hier kam ein enttäuschter, polemischer Chappaz zum Vorschein, der sich leidenschaftlich
für die Landschaft zur Wehr setzte, die er unzählige Male durchstreift und besungen hatte.
Im Wallis wurde er für diese Publikation und
weitere Interventionen, etwa gegen Waffenplätze und Bodenspekulation, eine Weile lang
heftig angegriffen. Maurice Chappaz bleibt zu
entdecken, mit seinen Reisebüchern, seinen
Briefen, seinen feinfühligen Notaten, mit einem
reichen Alterswerk, in all seiner Empörung und
Zärtlichkeit – das vorliegende Lesebuch lädt
dazu ein, und es ist zugleich auch ein ausgezeichneter Steigbügel. l
Kolumne
Charles Lewinskys Zitatenlese
GAËTAN BALLY / KEYSTONE
Es ist schwierig,
keine Satire zu
schreiben.
Der Autor Charles
Lewinsky arbeitet in
den verschiedensten
Sparten. Sein letztes
Buch «Bühne frei!»
hat er mit Bruno Hitz
im Unionsverlag
herausgegeben.
Kurzkritiken Sachbuch
Peter Bieri: Eine Erzählung schreiben
und verstehen. J. Burckhardt-Gespräche.
Bd. 26. Schwabe, Basel 2012. 38 S., Fr. 14.–.
Stef Stauffer: Steile Welt. Leben im
Onsernone. Lokwort, Bern 2012. 204 Seiten,
Fr. 31.90, E-Book 21.20.
Dreimal jährlich finden auf dem Landgut Castelen bei Augst (BL) die Jacob
Burckhardt-Gespräche statt. Der neueste Band (26) der Vortragsreihe enthält
den Essay des Philosophen und Schriftstellers Peter Bieri. Dieser lädt in luzider und eleganter Weise dazu ein, Erzählungen zu verstehen: ihre Handlung
und Figuren, das Thema, die Erzählperspektive, die Art der Spannung, Wortwahl, Rhythmus und Melodie eines Textes. Mehr noch: Peter Bieri alias Pascal
Mercier verfertigt beim Entwickeln der
Gedanken vor Publikum eine Anleitung
zum Selberschreiben einer Geschichte.
Zuerst anhand von Dürrenmatts Novelle
«Das Versprechen», danach an einer
noch ungeschriebenen Episode über
einen Anstaltssekretär, die Bieri in seinen Jugenderinnerungen ausgegraben
hat. Der leidenschaftliche Geschichtenerzähler lässt einen teilhaben an einem
beglückenden Erkenntnisprozess.
Urs Rauber
Die Berner Lehrerin und Galeristin Stef
Stauffer (47) gehört zur wachsenden
Zahl Besucher, die das Tessiner Onsernone-Tal entdecken, sich in die steilschroffe Landschaft oder ins mediterran-alpine Klima verlieben, ein Rustico
erwerben und seither dort ihre Ferien
verbringen. Stauffers Begeisterung geht
aber weiter, sie hat 15 bewegende Geschichten von Einheimischen aufgezeichnet: Erzählungen vom kargen Leben der Anziani, von alten Berufen wie
der Strohflechterei, von Geburt, Auswanderung und Tod, Freude und Not.
Die Beobachterin hat die Oral-HistoryZeugnisse in eine literarische Form
gebracht und poetisch-zurückhaltend
kommentiert. Eine gelungene Hommage
an das Tal mit den 300 Kurven, zwei
Läden und einem Postauto. Und eine
Liebeserklärung an die OnsernoneFrauen, die hier seit je für Leben und
Überleben ihrer Angehörigen sorgen.
Urs Rauber
Joachim Wahl: 15 000 Jahre Mord und
Totschlag. Theiss, Stuttgart 2012.
208 Seiten, Fr. 24.40.
Alexander Schrepfer-Proskurjakov:
Speznas. Russlands Einheiten. Motorbuch
Verlag, Stuttgart 2012. 175 Seiten, Fr. 40.90.
Obwohl die Menschen, von denen in
diesem Buch die Rede ist, schon seit
Hunderten oder gar Tausenden von Jahren tot sind, ermöglicht die Untersuchung ihrer sterblichen Reste ungeahnte Einblicke in ihr einstiges Leben. Der
Anthropologe Joachim Wahl stellt in seinem Buch wahre Fälle aus Deutschland
vor, die erschauern lassen: ein Massaker
vor 7000 Jahren, in einem Brunnen ersäufte Römer, Erhängte und Geköpfte
aus dem Mittelalter. Bilder von gespaltenen Schädeln und Beckenschaufeln
machen die grausigen Fälle erst recht
anschaulich. Wahl erläutert die historischen Zusammenhänge und die anthropologischen Methoden der Skelettuntersuchung; ein Glossar erklärt Fachbegriffe wie zum Beispiel den Endokannibalismus; damit bezeichnen Wissenschafter das Verspeisen von Toten aus
der eigenen Lebensgemeinschaft.
Geneviève Lüscher
Militärisch-polizeilichen Begriffen wie
Spezialeinheit oder Antiterrortruppe
haftet in der Öffentlichkeit oft eine heroisch-abenteuerliche Aura an. Man
denkt an die legendäre deutsche GSG 9
oder die amerikanischen Navy Seals, die
2011 den Kaida-Chef Bin Ladin in Pakistan unschädlich gemacht haben. Natürlich hat auch Russland solche Einheiten.
Sie heissen dort Speznas, was nichts anderes ist als ein Zusammenzug aus den
Wörtern «zur speziellen Verfügung».
Der in Russland aufgewachsene und in
der Schweiz lebende Autor Alexander
Schrepfer-Proskurjakov will in seinem
Buch einen Überblick über die verwirrende Vielfalt russischer Speznas
vermitteln. Eine kritisch-vergleichende
Einordnung entsteht dabei nicht. Doch
verweist der Band für Interessenten auf
viele weiterführende russische Informationsquellen.
Reinhard Meier
Juvenal
Und dabei hätte es doch einfach ein
Buch werden sollen und gar keine
Satire. «Klick mich» heisst das Werk,
trägt den werbewirksamen Untertitel
«Bekenntnisse einer InternetExhibitionistin», und für sechzehn
Euro neunundneunzig kann man es bei
Amazon bestellen.
Julia Schramm, die Autorin, ist Mitglied im Bundesvorstand der deutschen
Piratenpartei. (Oder müsste das Mitgliedin heissen? Ich bin mit solchen
Feinheiten der politischen Korrektheit
oft überfordert.)
Als führende Piratin vertritt sie
selbstverständlich die Forderung aus
dem Programm ihrer Partei, «das nichtkommerzielle Kopieren, Zugänglichmachen, Speichern und Nutzen von Werken nicht nur zu legalisieren, sondern
explizit zu fördern». Das gilt für Filme,
für Musik und natürlich auch für Bücher. Auch für solche, die man selber
geschrieben hat.
Oops.
Denn damit setzt die Satire ein. Jetzt,
wo die Politikerin Julia Schramm
gemerkt hatte, wie viel Arbeit so ein
Buch macht, und wo sie die Tantièmen
schon verplant hatte, jetzt fand sie die
Forderung, die sie gerade noch so heftig
vertreten hatte, zwar immer noch gut.
Nur nicht im eigenen Fall.
Als jemand ihre Bekenntnisse zum
kostenlosen Herunterladen ins Netz
stellte, liess sie ihren Verlag gegen
diese Urheberrechtsverletzung juristisch einschreiten. Auch wer andere
Autoren enteignen will, verteidigt den
eigenen Geldbeutel mit Zähnen und
Klauen.
Die Geschichte erinnert ein bisschen
an die – vielleicht apokryphe –
Anekdote über A. S. Neill, einen der
Begründer der antiautoritären Erziehung. Er habe, so wird gemunkelt,
einem Schüler, der mit beschuhten
Füssen auf den Tasten seines Pianos
herumgetrampelt sei, eine Ohrfeige
verpasst. Mit der Begründung:
«Natürlich bin ich gegen jede Autorität.
Aber das ist mein Klavier.»
Bei A. S. Neill weiss man nicht so
genau, ob die Geschichte stimmt. Julia
Schramm hingegen war ganz eindeutig
der Meinung: «Aber das ist mein
Buch!» Worauf im Netz ein Shitstorm
über sie hereinbrach. In der Flut von
Verwünschungen, mit denen sie
eingedeckt wurde, war «geldgierige
Hure» noch eine der freundlicheren
Formulierungen.
Frau Schramm hat ihren Rücktritt
aus dem Parteivorstand der Piraten
erklärt. Ihre politische Karriere ist
vielleicht zu Ende. Aber
in die Annalen der
ungewollten Satire ist
sie ganz bestimmt
eingegangen.
25. November 2012 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 19
Sachbuch
Kunstgeschichte Der Neurowissenschafter Eric Kandel versöhnt Kunst und Hirnforschung – am
Beispiel der Wiener Salon-Kultur um Sigmund Freud, Arthur Schnitzler und Gustav Klimt
Eric Kandel: Das Zeitalter der Erkenntnis.
Die Erforschung des Unbewussten in
Kunst, Geist und Gehirn von der
Wiener Moderne bis heute. Siedler,
München 2012. 704 Seiten, Fr. 59.90,
E-Book 39.90.
Von Kathrin Meier-Rust
Seine Autobiografie «Auf der Suche
nach dem Gedächtnis» (2006), die auch
dem wunderbaren gleichnamigen Film
zugrunde liegt, hat den Neurowissenschafter Eric Kandel zu einem Bilderbuch-Nobelpreisträger werden lassen:
Weisshaarig, mit grosser Brille und roter
Fliege bewehrt, verstand es der damals
schon fast 80-jährige Forscher, einem
allgemeinen Publikum nicht nur seine
lebenslange Gedächtnisforschung darzustellen, sondern diese überdies mit
der Geschichte der Neurowissenschaften und mit seinen eigenen Lebenserinnerungen zu verbinden.
1929 in Wien geboren, wurde Kandel
nach dem Anschluss Österreichs 1938
mit seiner jüdischen Familie in die Emigration gezwungen. Er kam als 9-Jähriger in die USA, studierte später Geschichte in Harvard, danach Medizin in
New York mit dem Ziel, Psychoanalytiker zu werden. Er entschied sich dann
aber für die neurobiologische For-
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Gesch�ch�en, L�eder und Ged�ch�e
96 se��en, GeBunden, ��� cd,
Fr. 34.–
L���a� VerLaG
20 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 25. November 2012
schung, um die biologischen Grundlagen psychischer und geistiger Vorgänge
zu erhellen, von deren Existenz schon
Freud überzeugt gewesen war. Für seine
Erforschung der molekularbiologischen
Grundlagen des Erinnerns bei der Meeresschnecke Aplysia erhielt Kandel
2000 den Nobelpreis für Medizin.
Nun legt Eric Kandel ein zweites gewichtiges Alterswerk vor, das sich wiederum an ein allgemeines Publikum
richtet. Mit dem reich illustrierten
«Zeitalter der Erkenntnis» möchte Kandel nichts weniger als eine grosse Synthese von Kunst, Geist und Biologie entwerfen, einen ersten Versuch einer Kognitionspsychologie der Kunst wagen,
einer «Neuroästhetik», die dereinst dem
Geheimnis der Kreativität und der emotionalen Wirkung von Kunst auf die
Spur kommen und gleichzeitig die tiefe
Kluft schliessen könnte, die heute zwischen der Geisteswissenschaft und der
(Natur-)Wissenschaft vom Geist klafft.
Die Elite traf sich im Salon
Ausgangs- und Bezugspunkt für dieses
Unternehmen ist eine Darstellung von
«Wien um 1900», einer Zeit, die Kandel
zwar nicht erlebt hat, die er aber mit geradezu persönlicher Begeisterung schildert, weil sie für ihn eine Art Idealzustand darstellt: «Ich musste Wien schon
als Kind verlassen», schreibt er, «doch
das Geistesleben vom Wien der Jahrhundertwende liegt mir im Blut – mein
Herz schlägt im Dreivierteltakt.» Dies
nicht nur, weil damals Wissenschaft und
Kunst eine grosse Blüte erlebten, sondern auch, weil ihre Protagonisten über
alle Disziplin- und Fächergrenzen hinweg in regem Austausch miteinander
standen. Anders als in London oder
Paris kannte und mischte sich im kleinen Wien die naturwissenschaftliche
und die künstlerische Elite, man traf
sich im Kaffeehaus, bei Vorträgen und
vor allem im Salon der ebenso klugen
JOSEF POLLEROSS / ASABLANCA.COM
«Mein Herz schlägt
Dreivierteltakt»
Rote Fliege als Markenzeichen: Nobelpreisträger Eric Kandel, 2005.
wie reichen Jüdin Bertha Zuckerkandl.
Darwin und Freud wurden hier ebenso
lebhaft diskutiert wie die damals skandalösen Bilder eines Gustav Klimt, der,
seinerseits von den neuen Erkenntnissen der Biologie tief beeindruckt, oft stilisierte Ei- und Spermienzellen in seine
prachtvoll-üppige
Hintergrundornamentik einbaute.
Hier also nahm jener Dialog von
Kunst, Geist und Wissenschaft seinen
Anfang, den Kandel als grosse Aufgabe
unserer Zeit sieht. Zugleich sieht er
Wien zwischen 1890 und 1914 als Schauplatz einer grossen «Wende nach
innen», die sich gleichzeitig in der Forschung wie auch in Kunst und Literatur
vollzog. Über alle Fachgrenzen hinweg
ging es um ein neues, modernes Bild
vom Menschen, das auch unbewusste
Triebe der Sexualität und der Aggression mit einbezog. Da war in erster Linie
natürlich Sigmund Freud, der damals
«den Begriff der Psyche aus der Sphäre
der Philosophie» holte, um ihn «zum
im
napsen, Zapfen und der Hirnregion eher
schwer tun. Das schöpferische begabte
Individuum in seiner historischen und
gesellschaftlichen Bedingtheit kommt in
der allgemeinen Biologie des menschlichen Gehirns eben nicht vor, so staunenswert dessen Leistungen auch sind.
Und gerade zu den brennenden Fragen
um Kreativität und Kunst – etwa zur
Frage, warum mich persönlich gerade
dieses Bild, gerade dieser Künstler emotional berührt – kann neurowissenschaftliches Wissen wenig beitragen.
Was uns an Kunst berührt
«Noch nicht» – sagt Eric Kandel. Im
Schlussteil des Buches resümiert der
Autor nebst anderen interessanten
Themen, wie evolutionsbiologische Erklärungen für das künstlerische Schaffen oder die künstlerische Spitzenleistung bei autistischen Menschen, auch
die wachsende Aufspaltung der Wissenschaft in Teildisziplinen seit dem
18. Jahrhundert und die Brücken, die
etwa zwischen Physik und Chemie oder
zwischen Chemie und Biologie im
20. Jahrhundert geschlagen wurden.
Die Annäherungen zwischen Kunst,
Kunstgeschichte, Kognitionspsychologie und Hirnforschung sieht auch Kandel hierbei noch in ihren ersten Anfängen. Trotzdem ist er überzeugt, dass das
Wissen um neurobiologische Vorgänge
im menschlichen Hirn für zukünftige
Künstler dereinst ebenso nützlich und
befruchtend sein werde, wie es die
Kenntnis der Anatomie für die Künstler
der Renaissance war.
Wirklich? Auch Kandel gesteht ja
nicht nur seinen Lieblingskünstlern des
österreichischen Expressionismus, sondern den Künstlern aller Zeiten zu,
genau diese Vorgänge intuitiv schon
immer besonders gut erfasst und genutzt zu haben. Wie anders könnten sie
uns, die Betrachter ihrer Werke, so begeistern und im Innersten treffen. l
ULLSTEIN BILD
Objekt der jungen Psychologie» und
damit der Wissenschaft zu machen.
Doch da ist etwa auch der Mediziner
Carl von Rokitansky, der die medizinische Diagnostik durch die systematische Obduktion von Leichen revolutionierte, womit Wien weltweit führend
wurde in der Medizin. Auf Seiten der
Kunst sind es die Maler Gustav Klimt,
Oskar Kokoschka und Egon Schiele,
denen Kandel (selbst ein Sammler
österreichischer
expressionistischer
Kunst) besonders reich illustrierte Kapitel widmet, ebenso wie der Schriftsteller
Arthur Schnitzler, der im inneren Monolog Freuds Erkenntnisse menschlich
dramatisierte.
Das Bild, das Kandel auf 200 Seiten
von Wien zeichnet, besticht in seiner
Geschlossenheit, die «reduktionistische» Methode der Begrenzung auf
einige wenige Künstler und Mediziner
erweist sich als ausgesprochen leserfreundlich. Ganz anders die daran anschliessenden neurowissenschaftlichen
Teile des Buches. Zwar gelingt es Kandel
durchaus, wissenschaftliche Erkenntnisse verständlich und interessant darzustellen: zur Komplexität des Sehprozesses etwa, zur Wahrnehmung von
Gesichtern oder zur Fähigkeit unseres
Hirns, eine bemalte zweidimensionale
Fläche automatisch in dreidimensionale
Figuren oder Landschaften zu verwandeln. Einen Höhepunkt stellt die neurobiologische Erklärung für das rätselhafte Lächeln der Mona Lisa dar: je nachdem ob die Schöne über das periphere
Sehen oder über eine zentrale Fixierung
betrachtet wird, zeigt ihr Mund eine
etwas andere Krümmung.
Doch jene Annäherung zwischen
Kunst und Hirnforschung, die Kandel so
am Herzen liegt, findet bei dieser Lektüre merkwürdigerweise kaum statt. Im
Gegenteil – wer die lebendig-pralle
Schilderung der Szene von Wien um
1900 geschätzt hat, wird sich mit den Sy-
«Die Hoffnung» von Gustav Klimt. Der damals skandalumwitterte Wiener
Künstler war von den Erkenntnissen der Biologie tief beeindruckt.
25. November 2012 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 21
Sachbuch
Rohstoffe Der Zürcher Friedensforscher Daniele Ganser plädiert für die Energiewende
Die Gier nach Erdöl
bestimmt die Weltpolitik
Daniele Ganser: Europa im Erdölrausch.
Die Folgen einer gefährlichen
Abhängigkeit. Orell Füssli, Zürich 2012.
414 Seiten, Fr. 37.90.
Von Tobias Kaestli
Peak Oil ist überschritten
In Deutschland etwa sind die Anlagen
für Wind- und Solarenergie kräftig ausgebaut worden, so dass dort an einem
wolkenlosen Tag die Solaranlagen eine
höhere Leistung erzeugen als 20 Atomkraftwerke. Dies ist eine Voraussetzung
dafür, dass vermehrt nachhaltig erzeugte elektrische Energie auch für die individuelle Mobilität eingesetzt werden
kann. Ganser erwähnt in dem Zusammenhang, dass Ferdinand Porsche schon
an der Weltausstellung 1900 in Paris ein
Auto vorführte, dass sowohl über einen
Verbrennungsmotor als auch über einen
Elektromotor verfügte.
Der Elektroantrieb schien damals
durchaus eine Chance zu haben, doch
das billige Erdöl lief ihm den Rang ab. In
den letzten Jahren ist der Preis pro Fass
Erdöl auf etwa das Zehnfache gestiegen,
doch er ist immer noch zu niedrig, um
eine drastische Reduktion des Erdölkonsums zu erzwingen. Die USA haben
gegenwärtig einen Tageskonsum von
Alternative Energiequellen
Während in Europa
und den USA
die Ölförderung
zurückgeht, wächst
in China der
Hunger nach Erdöl.
Tankwartin in Huaibei
(China), 2012.
REUTERS
Nach der Mitte des 19. Jahrhunderts begannen Unternehmer in den USA im
grösseren Stil nach Erdöl zu bohren.
Schon bald wurden einzelne Personen
und Familien durch diesen Geschäftszweig sehr reich, etwa die Rockefellers.
Es entstanden Monopolgesellschaften,
die ihre Interessen skrupellos durchzusetzen und Politiker für ihre Zwecke
einzuspannen wussten. Scharf fasst der
Wirtschaftshistoriker Daniele Ganser
die sich rasch entwickelnde Gier nach
Erdöl und die dadurch motivierte Politik
ins Auge.
Als wichtige Etappen schildert er die
beiden Weltkriege, die Suezkrise 1956,
die erste Erdölkrise von 1973, die zweite
Erdölkrise im Gefolge der iranischen
Revolution von 1979, die Kriege im Irak,
in Afghanistan und in Libyen. Es ist
hochinteressant, die Weltgeschichte des
20. Jahrhunderts unter dem Aspekt des
Zugriffs aufs Erdöl Revue passieren zu
lassen. Ganser versteht es, spannend zu
erzählen. Seine Tendenz, hinter der Erdölpolitik der USA immer wieder geheime Absprachen weniger mächtiger Personen und Institutionen zu sehen,
vermag allerdings nicht immer zu überzeugen. Nüchterner und quellenmässig
besser abgestützt sind die Kapitel, in
denen er sich mit der gegenwärtigen
Energiesituation in der Schweiz und in
20 Mio. Fass Erdöl, Europa kommt auf
15 Mio. Fass. China verbraucht täglich
«nur» 9 Mio. Fass, hat aber als bevölkerungsreichstes Land der Erde ein gewaltiges Steigerungspotenzial. Der aus der
bisherigen Entwicklung extrapolierte
Bedarf wird schon bald nicht mehr
gedeckt werden können, denn der sogenannte Peak Oil, die maximale Fördermenge, ist bereits überschritten. Die Ergiebigkeit der Ölfelder nimmt laufend
ab. Die USA, bis zum Zweiten Weltkrieg
die grösste Ölfördernation, erreichten
den Peak Oil schon 1970. Norwegen und
Grossbritannien als wichtigste Ölförderländer Europas überschritten ihn im
Jahr 2000.
Die Internationale Energieagentur
(IEA), die während Jahren die Erdölfunde und -fördermengen viel zu optimistisch prognostizierte, ging 2010 erstmals
davon aus, dass 2006 der Peak Oil weltweit erreicht worden sei. Trotz zunehmender Ausbeutung von Tiefseeöl, von
Ölschiefer und auch Ölsand nehmen die
Fördermengen ab. Die noch vorhandenen Reserven können nur mit wachsenden Investitionskosten und auch mit
wachsendem Energieeinsatz nutzbar gemacht werden.
Europa befasst. Schon im Jahr 2003 beschloss Ganser, im Bereich der globalisierten Wirtschaft, der Energiesicherheit und der Friedenssicherung zu forschen. Er gründete das «Swiss Institute
for Peace and Energy Research» (SIPER)
und gilt heute als Energieexperte, der
speziell im Zusammenhang mit der bundesrätlichen Energiestrategie 2050 in
Wirtschaft und Politik beratend tätig ist.
In seinem Buch legt er einleuchtend dar,
warum der Ersatz des Erdöls durch
nachhaltige Energietechniken dringend
notwendig ist, und er zeigt am Beispiel
einzelner Länder, wo wir heute stehen.
22 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 25. November 2012
Klüger wäre es nach Ganser, Kapital und
Energie vermehrt für die Entwicklung
alternativer Energieformen einzusetzen.
Denn die Energiewende darf nicht länger hinausgeschoben werden. Würden
wir nämlich den heutigen Lebensstil
grosso modo fortsetzen, dann würde bei
gleichbleibender Weltbevölkerung im
Jahr 2050 nur noch die Hälfte davon ausreichend mit Erdöl versorgt werden
können. Eine solche enorme Verknappung des Angebots würde notwendig zu
Verteilungskämpfen, zu Gewaltanwendung und neuen Kriegen führen.
Die Energiewende ist spätestens seit
Fukushima eingeleitet worden, aber wir
stehen auch in der Schweiz erst am Anfang. Zwar haben wir einen hohen Anteil an Wasserkraft, hinken aber bei der
Gewinnung von Windkraft und Solarenergie stark hinten nach. Wie ist das
gekommen? War die Schweiz nicht einst
führend in Solartechnik? Ganser nennt
die Fakten, ordnet sie, schafft Überblick.
Neben den offiziellen lässt er auch alternative Meinungen zum Zug kommen
und seine Sympathie gilt denjenigen, die
schon früh die Notwendigkeit anmahnten, vom Erdöl wegzukommen. Seine
Botschaft: Der Krieg ums Öl mit allen
Opfern, die er bis dahin schon forderte,
ist nicht unausweichlich. Eine Entwicklung hin zur friedlichen Aushandlung
und zur Förderung alternativer Energieformen ist möglich, setzt aber einen
Mentalitätswandel und einen neuen Lebensstil voraus. l
Literatur Zwei Publikationen zu Bertolt Brecht und Helene Weigel fördern Neues zum
Jahrhundertpaar zutage: Kurzfutter, aber auch schwere Kost
Alltagsdetails und Sottisen
Bertolt Brecht, Helene Weigel: Briefe
1923–1956. «ich lerne: gläser + tassen
spülen». Suhrkamp, Berlin 2012.
250 Seiten, Fr. 39.50.
Jan Knopf: Brecht. Lebenskunst in
finsteren Zeiten. Biografie. Hanser,
München 2012. 558 Seiten, Fr. 37.90,
E-Book 25.40.
Von Martin Walder
Beerdigt werden wollte sie zu seinen
Füssen. Sie war ihm und seiner Arbeit
treu, all seinen Nebenfrauen zum Trotz.
Und schliesslich durchlebten Helene
Weigel und Bert Brecht Ehejahre eines
zermürbenden Exils durch Skandinavien und die USA zurück nach Deutschland, wo sie in Ostberlin das berühmte
Berliner Ensemble (BE) gründeten, er
experimentieren und sie endlich wieder
spielen konnte und dann als Intendantin
des BE lange über seinen Tod hinaus
herrschte. Im Sommer 1923 hatten sie
sich in Berlin kennengelernt.
Die von Liebe und Krisen gebeutelte Lebens- und Arbeitsbeziehung des Jahrhundertpaars auch in den Briefen nachzuerleben, ist verlockend. Was an ihrer
Korrespondenz über 33 Jahre hinweg
noch erhalten oder erreichbar ist – 250
Briefe –, präsentiert sich nun unter dem
augenzwinkernden Zitat «ich lerne: gläser + tassen spülen» (Zitat Brecht). Von
Brecht sind es 48 in der Gesamtausgabe
noch nicht erfasste und erst 1999 in Zürich wieder aufgetauchte Schreiben, vor
allem aus dem amerikanischen Exil. Von
Weigel ist sehr viel weniger erhalten,
das meiste aus der Zeit am BE. In Brief
120 von Anfang Mai 1939 aus Paris taucht
«Helli» erstmals in Erscheinung.
Zum erhofften Dialog oder gar
«Roman» in Briefen kann sich das von
Erdmut Wizisla in den grösseren biografischen Abläufen gut situierte und minutiös kommentierte Material nicht
fügen. Überdies ist, was Brecht und Weigel einander schreiben, dominiert von
den sachlichen Details, die den Emigrationsalltag überwuchern – ist also weitgehend SMS-Stoff sozusagen: zu Wohnungssuche, Kontakten, Postautokosten,
Kinder- und anderen Krankheiten, Engagements, Reiseplanung, Familienlogistik, Verträgen und Namen im grossen
Unterwegssein.
Da fehlen dann auch persönliche
Kommentare und hübsche Sottisen
nicht. Nur: Die wirklichen «Szenen»
dieser Ehe sind kaum Thema. Da und
dort freilich müssen sie es einander
schriftlich geben, weil beiden das Reden
offenbar zu schwer fällt – derlei ist aber
an den Fingern einer Hand abzuzählen.
So sind Nichtspezialisten nach wie
vor eher auf die Biografien verwiesen:
in Weigels Fall an jene von Sabine Kebir,
wogegen über Brecht nun bei Hanser
ULLSTEIN
SMS-Stoff sozusagen
Bertolt Brecht und
Helene Weigel (Mitte)
bei ihrer Ankunft in
Paris am Neujahrstag
1954.
neu «die erste Biografie nach dem Fall
der Mauer» angepriesen und ein unideologischer Blick auf den Mann versprochen wird. Was hat es damit auf
sich? Ersteres trifft höchstens in Sachen
grossem Umfang zu, letzteres aber
stimmt auf erfrischende Weise. Der
Autor Jan Knopf legt kein Bedürfnis
nach Hagiografie an den Tag, nach
unersättlicher Auseinandersetzung mit
Brechts Theorie, Praxis und «Lebenskunst in finsteren Zeiten» indessen
schon. Denn die vorliegende Biografie
sei sein inzwischen fünfter Gesamt«Durchlauf» durch Brechts Leben und
Werk, registriert der Verfasser in der
Nachbemerkung trocken. Als Mitherausgeber der grossen kommentierten
Berliner und Frankfurter Ausgabe und
als Kopf der Karlsruher Arbeitsstelle
Bertolt Brecht ist Knopf ein erstrangiger
Kenner, der sein Wissen zum Beispiel
im grossen Brecht-Handbuch (bei Metzler 1980) und bereits in zwei gedrängten
biografischen Darstellungen (bei Reclam 2000 und Suhrkamp 2012) ausgebreitet hat.
Hier nun ist der ganze immense Horizont des sprachgewaltigen Dichters und
hellwach widerborstigen Zeit-Seismografen BB angepeilt. Und «da bestand
meine Hauptaufgabe darin: wegzulassen», heisst es einsichtig in Knopfs
Nachbemerkung. Sagen wir so: Es ist
immer noch mehr als genug, und oft zu
viel. Denn eindeutig hat der Archivar
und Analytiker Knopf über den biografischen Erzähler Knopf die Oberhand.
Syntax und Darstellungsfluss mäandern
in Kapiteln der komplizierteren Art, voll
von Klammereinschüben und Exkursen.
Oft ist das genau und erhellend gegenüber der intellektuell sarkastischen
Spieler- und Probierernatur Brecht,
etwa in der Situierung von Brechts Marxismus-Verständnis. Oft jedoch geht es
auf Kosten argumentativer Eingängigkeit und Stringenz – um nur ein Beispiel
zu nennen: bei der Interpretation des
unentwegt unverdaulichen LehrstückBrockens «Die Massnahme», eines von
BBs Hauptwerken.
Nichts für Anfänger
Die Fülle des ausgebreiteten Materials
ist erdrückend, ein Delegieren mancher
Details in Anmerkungen wäre wohltuend gewesen. Grundsätzlich nämlich
lässt sich dem Gestaltungsprinzip dieser
Biografie viel abgewinnen, nimmt es
doch Brechts gleich eingangs zitiertes
Diktum ernst, dass «das kontinuierliche
Ich eine Mythe» sei. Entsprechend «erzählt» eben Knopf Brechts Leben hier
nicht eng chronologisch, sondern kristallisiert kapitelweise Themen und Motive und Stationen über die grossen
Zeiträume (Kaiserreich, Weimarer Republik, Deutscher Faschismus, Exil in
Skandinavien und den USA, Nachkriegszeit), so dass sich die inneren Verknüpfungen ergeben sollen. Nie ist das uninteressant, aber das Dilemma zwischen
Brecht-Handbuch-Kondensat, kursorischer Interpretation und erzählender
Biografie bleibt auch über 560 Seiten
(ohne ein einziges Bild) bestehen. Nein,
kein Brecht für Anfänger. l
25. November 2012 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 23
Sachbuch
Zweiter Weltkrieg Der britische Historiker Paul Kennedy richtet sein Augenmerk auf das Jahr 1943
Stunde der Taktiker
Paul Kennedy: Die Casablanca-Strategie.
Wie die Alliierten den Zweiten
Weltkrieg gewannen. C. H. Beck,
München 2012. 448 Seiten, Fr. 35.40.
Die Geschichte des Zweiten Weltkriegs
ist oft erzählt worden: von Siegern und
Besiegten, von Heerführern und Soldaten, von Schriftstellern und Historikern.
Kaum je aber ist ein altbekanntes Thema
auf so originelle und erhellende Weise
angegangen und erörtert worden wie in
der Darstellung, die der renommierte
britische Historiker Paul Kennedy, seines Zeichens Professor an der Yale University, nun vorlegt.
Im Unterschied zu seinem Landsmann John Keegan, der in seinem umfassenden Werk das ganze Kriegsgeschehen von Hitlers Polenfeldzug bis
zum Abwurf der Atombomben über Hiroshima und Nagasaki abhandelt, konzentriert sich Kennedy auf eine kürzere
Zeitspanne und auf wenige, eingehend
abgehandelte Themenbereiche. Sein
Hauptinteresse gilt der Zeit zwischen
der Casablanca-Konferenz vom Januar
1943 und der Eroberung der Seeherrschaft im Pazifik durch die Amerikaner
im Jahre 1944. In Casablanca trafen sich
Roosevelt und Churchill, um den weiteren Kriegsverlauf zu diskutieren und die
folgenschwere Entscheidung zu treffen,
den Krieg bis zur «bedingungslosen Kapitulation» Deutschlands und seiner
Verbündeten fortzusetzen. Zu diesem
Zeitpunkt stand die deutsche Niederlage von Stalingrad fest und die Schlacht
von El Alamein war verloren. Im Rückblick ist 1943 das Jahr der Wende. Was
folgte, die Flächenbombardements auf
deutsche Städte, die Offensiven der
Roten Armee, die Invasion in der Normandie, schien sich mit zwingender
Logik aus der zunehmenden kriegstechnischen und numerischen Überlegenheit der Alliierten zu ergeben.
Neue Fragen stellen
Kennedy vermag schön herauszuarbeiten, dass der Endsieg in der Sicht der
Staatsmänner und Militärs, die sich 1943
in Casablanca trafen, noch keineswegs
feststand. Der Schutz der amerikanischen Geleitzüge vor den Rudeln der
deutschen U-Boote war noch immer unzureichend. Die «Battle of Britain» war
zwar gewonnen, aber die Lufthoheit
über Westeuropa noch nicht gesichert.
Die Landung grosser Truppenverbände
auf dem europäischen Festland konfrontierte die Alliierten mit ebenso grossen
organisatorischen und technologischen
Herausforderungen wie die Sicherung
der Nachschublinien im unermesslichen Raum des Pazifiks.
Solchen Problemen und ihrer Lösung
widmet Paul Kennedy sein Hauptaugenmerk. Er tut dies nicht, indem er
bekannten Stoff nacherzählt, sondern
24 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 25. November 2012
BPK
Von Urs Bitterli
US-Präsident
Franklin D. Roosevelt
(links) und der
britische Premier Sir
Winston Churchill
an der Konferenz
von Casablanca, im
Januar 1943.
indem er Fragen an die Geschichte stellt
und diese zu beantworten sucht. Den
Autor interessiert weniger das Frontgeschehen als die Leistung der «Problemlöser» im Hinterland, der Taktiker,
Techniker und Tüftler, die oft mit sehr
beschränkten Mitteln und unter grossem Zeitdruck daran arbeiteten, immer
neuen gegnerischen Herausforderungen
entgegenzutreten.
So erfahren wir in detaillierter, aber
immer spannender Analyse, wie Dechiffrierung und Funkaufklärung sowie
neue Technologien zur Aufspürung und
Abwehr des Feindes den U-Boot-Krieg
im Atlantik gewinnen halfen. Und wir
erfahren, welche Entwicklungen im
Flugzeugbau die Flächenbombardements auf deutsche Städte möglich
machten und welchen enormen materiellen und intellektuellen Aufwand die
Durchführung der alliierten Landung in
der Normandie erforderte.
Kennedy berichtet aber nicht nur von
den Erfolgen kriegstechnischer und taktischer Problemlösung, sondern auch
von Fehlentscheidungen. So verfehlten
Hitlers verheerende Bombardierungen
Londons im Jahre 1940 das Ziel der Demoralisierung der Bevölkerung und erreichten genau das Gegenteil, und es
bleibt schwer verständlich, wie der Chef
der englischen Bomberflotte, Harris, der
es doch besser hätte wissen müssen,
dasselbe Ziel mit der Zerstörung deutscher Städte zu erreichen hoffte. Von
besonderem Wert ist das letzte Kapitel
von Kennedys Buch, das unter dem Titel
«Wie überwindet man die ‹Tyrannei der
Distanz›?» dem amerikanisch-japani-
schen Ringen im Pazifik gewidmet ist,
einem Thema, das in der deutschsprachigen Fachliteratur kaum je eingehender behandelt wird.
Klug und nüchtern beurteilt
Paul Kennedy hat seinen im Vorwort geäusserten Vorsatz, eine «neue Sichtweise» auf den Zweiten Weltkrieg zu versuchen, auf beeindruckende Weise eingelöst. Sein Buch stimmt aber auch nachdenklich. Es zeigt nicht nur, dass der
Krieg den technischen Fortschritt vorantreibt, sondern auch, wie sehr der
Frontsoldat im modernen Konflikt vom
Techniker abgelöst wird und in welchem Grade die Kriegsmaschinerie eine
Eigengesetzlichkeit entwickelt, die sich
ethischer und selbst politischer Kontrolle entzieht. Kein Zweifel, dass diese
Entwicklung, die der Frontkämpfer
Ernst Jünger bereits im Ersten Weltkrieg
kommen sah, bis zur aktuellen Diskussion über den Kriegseinsatz bewaffneter
Drohnen und Roboter stetig vorangeschritten ist.
Wer das kluge und nüchtern urteilende Buch von Paul Kennedy gelesen hat,
nimmt mit durchaus gemischten Gefühlen zur Kenntnis, dass die Schweizer
Rüstungsindustrie in der Entwicklung
solcher Waffensysteme an der internationalen «Forschungsfront» führend ist.
Und mit einiger Skepsis erfährt man,
dass sich die Experten vom Einsatz solchen Kriegsgeräts versprechen, die Opferzahlen künftiger Konflikte niedriger
zu halten. l
Urs Bitterli ist emeritierter Professor für
Neuere Geschichte an der Uni Zürich.
Briefwechsel Die Briefe von Alma Mahler und Arnold Schönberg gewähren Einblick ins Privatleben
der beiden schillernden Figuren aus der Musikwelt
Die Mäzenin schickt Champagner
zur Versöhnung
einen Menschen kommen, der sich
nichts gefallen lässt.»
Schönberg, der 1933 mit seiner Familie über Frankreich in die USA emigriert, korrespondiert auch vom Exil aus
keineswegs ironiefrei. Statt mit Christbäumen würden sie Weihnachten in Kalifornien mit einem Kaktus feiern,
schreibt er 1934: «Eigentlich sehr praktisch, denn man braucht keine Kerzenhalter, die sind schon drauf!» Als Pragmatiker tut er sich mit dem Exil nicht
allzu schwer.
«Und man soll nicht zögern zu sagen:
wir sind sehr glücklich hier zu sein», berichtet er 1939 an Alma Mahler. Diese
schreibt ihm wiederum verzweifelte
Notizen aus Frankreich zurück: «Der
Fremdenhass beginnt fühlbar zu wer-
Haide Tenner (Hrsg.): «Ich möchte so
lange leben, als ich Ihnen dankbar sein
kann». Alma Mahler – Arnold
Schönberg. Der Briefwechsel. Residenz,
St. Pölten 2012. 304 Seiten, Fr. 35.40.
Von Fritz Trümpi
Stadtansichten Roms grüne Lungen
BAMS PHOTO RODELLA
«Gott, wenn ich Geld hätte, solche Menschen wie Sie, sollten sich um den leidigen ‹Tag› nicht kümmern müssen!!»
Alma Mahlers Bewunderung für Arnold
Schönberg war so gross, dass sie keinen
Aufwand scheute, dem Komponisten
zeitlebens beträchtliche finanzielle Mittel zu verschaffen. Dieser quittierte
ebenso euphorisch: «Sie sind gewiss
eine der prachtvollsten Frauen, die es je
gegeben hat.»
Trotz der offenkundigen Hochschätzung zwischen der kunstbegabten Komponistenwitwe und dem radikalen Musikerneuerer, die eine enge Vertrautheit
miteinschloss, wurde ihr Briefwechsel
bisher stiefmütterlich behandelt. Haide
Tenner hat diesem Missstand nun abgeholfen. Mittels aufwendiger Recherchen
hat sie den Schriftverkehr rekonstruiert
und in akribischer Feinarbeit mit hilfreichen biografischen Kurzkommentaren
versehen. Darin nutzte sie auch die Gelegenheit, festgefahrene Leitmotive der
Schönberg- und der Alma-Mahler-Biografik zu korrigieren.
Die Briefedition liefert aber nicht nur
ein willkommenes Hilfsmittel für die
Wissenschaft, sondern funktioniert darüber hinaus auch bestens als spannungsvolle Geschichte um zwei schillernde
Figuren des Musiklebens: Der Briefwechsel gewährt pikante Einblicke ins
Private und legt ausserdem aufschlussreiche künstlerische und politische Positionierungen frei.
«Aber jetzt kommt die Abrechnung!
Jetzt werfen wir diese mediokrenen Kitschisten wieder in die Sklaverei und sie
sollen den deutschen Geist verehren
und den deutschen Gott anbeten lernen», gibt sich der kriegsbegeisterte
Schönberg im August 1914 überzeugt.
Alma Mahler stimmt postwendend zu:
«Seien Sie froh, dass Sie in Deutschland
sind, dem Land, von wo allein das Heil
uns winkt!»
Als Arnold Schönberg nach dem
Krieg im April 1923 ans Bauhaus berufen
werden sollte, lehnt er jedoch ab: Er
folgt dem Hinweis von Alma Mahler,
wonach offenbar viele der dortigen Professoren antisemitisch eingestellt seien.
Schönberg kommentiert seine Absage
mit Galgenhumor: «… denn mit mir ist
es ein Hakenkreuz: ich bin ein schuftiger, unverständlicher Jude.» Alma Mahler schätzt Schönbergs widerständige
Haltung: «Aber andrerseits tut es diesen
Ariern schon gut – wenn sie einmal an
den.» Erst im September 1940 flüchtet
sie mit ihrem Gatten Franz Werfel auf
beschwerlichen Wegen nach New York.
Im nachfolgenden Streit zwischen
Thomas Mann und Arnold Schönberg,
der sich im Tonsetzer Leverkühn aus
Manns «Doktor Faustus» wiederzuerkennen glaubt, schlägt sich Alma Mahler auf die Seite des Schriftstellers. Es ist
allerdings nicht der erste Bruch zwischen ihr und Schönberg, doch wie die
vorherigen verheilt auch dieser. 1949
schickt Alma Mahler zu Schönbergs Geburtstag Champagner, worauf der bereits kranke Komponist erwidert: «Bitt
für mich, dass ich noch einmal gesund
genug werde, um mir mit diesem Champagner einen wohlverdienten Rausch
anzutrinken.» l
Wer glaubt, Rom sei eine Steinwüste mit Ruinenfeldern, Barockkirchen und Strassenschluchten, der
wird sich wundern. Und wer meint, Italiens
Hauptstadt lasse seine Kulturdenkmäler verkommen,
der wird hier eines besseren belehrt. Herrliche
Luftaufnahmen auf prachtvollen Doppelseiten
bringen verborgene Gärten zutage und offenbaren die
Grosszügigkeit der herrschaftlichen Palazzi.
Die grünen Bepflanzungen sind akkurat geschnitten
und gepflegt (im Bild die Villa Medici); die
Marmorfassaden erstrahlen im gleissenden Licht des
Südens. Gärten und Villen sind Zeugnisse eines
römischen Erbes und der Fortsetzung einer
selbstbewussten Grandezza der Stadt Rom und des
Vatikans vom Mittelalter bis heute. Sie haben
jahrhundertelang Künstler, Maler und Literaten
inspiriert. Viele der prächtigen Anlagen sind privat;
allein der Papst darf beispielsweise in den
vatikanischen Gärten lustwandeln, und nur dem
italienischen Staatspräsidenten stehen die Parks
auf dem Quirinal offen. Anderes aber ist öffentlich
wie die Villa Borghese oder – ein Geheimtipp – die
erst in den letzten Jahren frisch renovierte Villa
Torlonia. Geneviève Lüscher
Alberta Campitelli, Alessandro Cremona (Hrsg.): Die
Villen und Gärten Roms. Deutscher Kunstverlag,
Berlin 2012. 340 Seiten, zahlreiche farbige
Abbildungen, Fr. 128.90.
25. November 2012 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 25
Sachbuch
Weimarer Republik Walther Rathenau war Industrieller, Essayist und schliesslich Aussenminister
Ermordet von Rechtsextremen
jüdisches Leben in Deutschland.
C. H. Beck, München 2012. 250 Seiten,
Fr. 32.90, E-Book 22.90.
Von Peter Durtschi
Als Walther Rathenau 1867 zur Welt
kommt, erlebt sein Geburtsort Berlin gerade einen Aufschwung. In der ehemals
provinziellen preussischen Garnisonsstadt leben rund eine Million Menschen.
Im Wachstum begriffen ist auch das Unternehmen seines Vaters Emil, eines
deutsch-jüdischen Industriellen. Und
besonders dynamisch verläuft die gesellschaftliche Entwicklung für die Jüdinnen und Juden in Deutschland: Innerhalb von zwei, drei Generationen
sind sie vom Rand der Gesellschaft in
ihr Zentrum gerückt.
Vor allem die freien Berufe bieten
Aufstiegsmöglichkeiten, Emil Rathenau
beispielsweise gründet die Allgemeine Elektrizitätsgesellschaft (AEG). Im
Staatsdienst hingegen und in der preussischen Armee haben Juden nur sehr
geringe Aufstiegschancen.
Ab 1899 nimmt Walther Rathenau in
der AEG leitende Positionen ein. Der
studierte Physiker ist erfolgreich, und
doch ist er zerrissen – er hat literarisches Talent und erwägt zeitweilig, sich
ganz aus der Wirtschaft zurückzuziehen. Und er versucht, in der Politik Fuss
zu fassen, vorerst aber mit nur mageren
Resultaten. 1914 wird der Wirtschaftsexperte zum Leiter der Kriegsrohstoffabteilung berufen. Doch als Jude und Zivilist fühlte sich Rathenau im Kriegsministerium als Aussenseiter. Er und seine
Vorfahren hätten ihrem Land nach besten Kräften gedient, schreibt er in diesen Jahren einer Bekannten, gleichwohl
bleibe er «als Jude Bürger zweiter Klasse. Ich könnte nicht politischer Beamter
werden, nicht einmal in Friedenszeiten
Leutnant.» Obwohl fast ständig im Austausch mit wichtigen Politikern, schreibt
die israelische Historikerin Shulamit
Volkov, hatte Rathenau das Gefühl, im
Bereich der Politik an eine gläserne
Decke zu stossen. Die Möglichkeit, seine
Chancen durch einen Übertritt zum
Christentum zu verbessern, lehnte Rathenau aber entschieden ab.
Dem Judentum stand er gleichwohl
skeptisch gegenüber – ein deutscher
Jude sei zuerst deutscher Staatsbürger,
dann Jude, hielt Rathenau fest. Sein
IBA
Shulamit Volkov: Walter Rathenau. Ein
Ein deutscher Jude sei zuerst deutscher Staatsbürger, dann Jude – sagte
Walther Rathenau (1867–1922), hier im Auto als Aussenminister (undat.).
Essay «Höre, Israel!», 1897 veröffentlicht, stellt einen Frontalangriff auf die
deutschen Juden dar, seien diese doch
unfähig, sich vollständig zu assimilieren. Erst zwanzig Jahre später, in seiner
«Streitschrift vom Glauben», nimmt Rathenau gegenüber seinen Glaubensgenossen eine versöhnlichere Haltung ein.
Ähnlich komplex gestalten sich Rathenaus Stellungnahmen zu wirtschaftlichen Fragen: In seinem 1917 erschienenen Buch «Von kommenden Dingen»,
skizziert der Grossindustrielle ein gesellschaftliches Leben, das sich am Gemeinwohl orientiert, ohne in die Fallstricke des Sozialismus oder des «Materialismus» zu geraten.
In den Nachkriegswirren bringt ihn
diese Haltung in Konflikt mit den anderen Industriellen; aus der Arbeiterbewegung wiederum schlägt dem Präsidenten der AEG, diesem Inbegriff des
Grossbürgertums, Skepsis entgegen.
Trotz allem wird Rathenau 1920 Berater der deutschen Delegation, die mit
den Alliierten über die Entwaffnung und
Reparationszahlungen verhandelt. Man
braucht ihn, weil er Geschick in Verhandlungen bewiesen hat und über diplomatisches Gespür verfügt. Ein Jahr
später wird er Wiederaufbauminister –
noch Wochen zuvor schien dies undenkbar. 1922 schliesslich bekleidet Walther
Rathenau in der Weimarer Republik das
Amt des Aussenministers. Aber der Ton
der antisemitischen Angriffe gegen ihn
wird immer schriller. Als der Minister
am 24. Juni in seinem offenen Wagen zur
Arbeit fährt, ermorden ihn Mitglieder
einer rechtsgerichteten Terrororganisation. Walther Rathenau mag zweitweilen mit seiner doppelten Identität als
Deutscher und Jude gekämpft haben,
schreibt Volkov. Aber er hat bewiesen,
dass beides vereinbar ist. l
Nahrungsmittel Kurzweilige Kulturgeschichte der Milch während der letzten 10 000 Jahre
Chronologie eines Lebenselixiers
Andrea Fink-Kessler: Milch – Vom Mythos
zur Massenware. Band 8 der Reihe
Stoffgeschichten. Oekom, München 2012.
285 Seiten, Fr. 27.90.
Von Adrian Krebs
Soeben ist im Münchner Oekom-Verlag
ein Buch erschienen, welches das Zeug
zum Standardwerk hat. Die deutsche
Agrarökonomin Andrea Fink-Kessler
nähert sich auf knapp 300 Seiten der
Milch und deren Entwicklung – so der
Untertitel – vom Mythos zur Massenware. Die Autorin geht chronologisch vor.
Dies tut sie mit Augenmass; statt akribisch die Historie von Milchproduktion
und -konsum zu sezieren, konzentriert
sie sich in sechs Kapiteln auf die wichtigsten Marken am Weg des Lebenssafts,
26 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 25. November 2012
der 8000 v. Chr. im Orient beginnt und
in einer schick designten Packung im
modernen Discounter-Kühlregal endet.
Die Lektüre ist kurzweilig, weil FinkKessler ein Flair für (geschichtliche)
Anekdoten hat, ohne dabei ins Ungefähre abzudriften. So erklärt sie zum Beispiel die Zusammenhänge zwischen
Milchproduktion und der tödlichen
Auseinandersetzung von Kain und Abel
oder zwischen dem Ablasshandel und
der Entstehung des Dresdner Butterstollens gegen Ende des 15. Jahrhunderts.
Dazwischen finden sich zur Auflockerung immer wieder Textkästen, die
einen speziellen Aspekt des Themas
vertiefen. Ist zum Beispiel von der Muttermilch die Rede, folgt kurz darauf eine
Box zu deren Zusammensetzung.
Kommt die Autorin auf Cato zu sprechen, findet sich alsbald ein Kasten zum
Thema römische Agrarschriftsteller.
Journalistisch ist Fink-Kesslers Arbeitsweise auch dort, wo sie dem kenianischen Volk der Rendille einen Besuch
abstattet, um ihr Verhältnis zum Kamel
und seiner Milch zu beleuchten. Abgerundet wird das Buch von informativen
Bildern, einem Anhang mit einer kurzen
Anleitung zum Käsen, zahlreichen Anmerkungen und einem ausführlichen
Literaturverzeichnis.
Der Band ist eine interessante Mischung aus wissenschaftlicher Arbeit,
Geschichtsbuch und Produktionsmanual, garniert mit spirituell angehauchten
Empfehlungen zum Schluss. Auf diese
hätte ebenso gut verzichtet werden können, letztlich unterstreichen sie aber,
dass der Autorin an einem umfassenden
Ansatz gelegen ist, der ihr insgesamt
sehr gut gelingt. l
Naturwissenschaft Der amerikanische Physiker Brian Greene schreibt ein umfassendes Buch über
die Vorstellung paralleler Universen
Aufregender als Science-Fiction
Brian Greene: Die verborgene
Wirklichkeit. Paralleluniversen und die
Gesetze des Kosmos. Siedler, München
2012. 448 Seiten, Fr. 37.90, E-Book 24.20.
Ernst Peter Fischer: Niels Bohr. Physiker
und Philosoph des Atomzeitalters.
Siedler, München 2012. 272 Seiten,
Fr. 32.90, E-Book 22.90.
Walter J. Moore: Erwin Schrödinger. Eine
Biografie. Primus, Darmstadt 2012.
423 Seiten, Fr. 40.90.
Die angloamerikanischen Physiker dominieren nicht nur den Nobelpreis, sie sind
auch ungemein produktiv im Schreiben
von populärwissenschaftlichen Sachbüchern. Allen voran Brian Greene, der nun
innert zehn Jahren einen dritten voluminösen Band vorlegt, in welchem er den
staunenden Laien an der aktuellen Forschung teilnehmen lässt.
Der heute 49-jährige, an der Columbia University lehrende Forscher, bestätigt mit seinen Publikationen, was der
bekennende Science-Fiction-Fan und
Nobelpreisträger Martinus Veltman in
einem Interview mit dieser Zeitung einmal sinngemäss gesagt hat: «Die Physik
selbst ist aufregender, als jeder futuristische Roman.»
Idee eines Paralleluniversums
Diese Behauptung erschliesst sich bereits aus dem Titel von Greenes neuem
Werk: «Die verborgene Wirklichkeit».
Angesprochen wird damit die Idee von
Paralleluniversen. Sie ist älter, als man
meinen könnte, wird aber in jüngerer
Zeit wieder vermehrt ernsthaft diskutiert. Schon bei der Formulierung der
Quantenmechanik gab es unterschiedliche Meinungen, wie die Gleichungen
der neuen Theorie zu interpretieren
seien – wie übrigens auch bei der Allgemeinen Relativitätstheorie. Greene analysiert nun die Möglichkeit, dass unsere
Realität nicht die einzige ist, so selbstverständlich und begeistert, als rede er
von noch unentdeckten Singvögeln.
Greenes Werk ist nicht das erste allgemeinverständliche Buch zum Thema
Parallel- oder Multiuniversen, aber das
umfassendste, das zudem gekonnt geschrieben ist. Gewisse Redundanzen
werden höchstens Fachleute bemängeln. Sie ergeben sich, weil Greene neun
Varianten von möglichen Multiuniversen in ihrem historischen Kontext
durchdiskutiert, die von theoretischen
Physikern verschiedenster Forschungsrichtungen bisher erwogen wurden. Je
nach Ausrichtung dieser Forscher,
schreibt Greene, «sind diese Paralleluniversen von unserem durch ungeheure
räumliche oder zeitliche Abstände getrennt, treiben sich nur wenige Millimeter entfernt herum oder erweist sich
schon die Vorstellung von einem Aufenthaltsort als bedeutungslos».
SPITZER SPACE TELESCOPE / NASA
Von André Behr
Helixnebel, gesehen
durchs SpitzerTeleskop der Nasa.
Nicht nur die Formen von Paralleluniversen sind verschieden, sie würden
zudem von unterschiedlichsten Gesetzen bestimmt. In manchen gälten noch
dieselben physikalischen Regeln wie bei
uns, in anderen wären die Gesetze nur
noch ähnlich, in wiederum anderen
gänzlich anders. Solche Vorstellungen
sind nicht nur für Laien happig. Auch in
der Fachwelt herrscht alles andere als
Einigkeit. Und Greene wäre kein gestandener Wissenschafter, wenn er nicht
gleich im ersten Kapitel klarstellen
würde, dass Paralleluniversen ein höchst
spekulatives Thema sind. Kein Experiment und keine Beobachtung konnte
ihre Existenz bisher belegen.
Dispute unter Physikern
Allerdings, gibt Greene zu bedenken,
haben sich diese Optionen unverhofft
aus der mathematischen Struktur von
Theorien ergeben, deren Ziel es war,
herkömmliche Beobachtungen zu erklären. Insofern darf man sich in der Tat
wundern. Einsteins Gravitationstheorie
und die Quantentheorie sind noch keine
100 Jahre alt und empirisch bestens bestätigt, sie führen im Zusammenspiel
jedoch zu einer Welt, «die in ihrer
Grösse und Unübersichtlichkeit beängstigend wirkt. Einfach und harmonisch
sind nur noch die grundlegenden Begriffe und Prinzipien», wie es der philosophisch gebildete Kölner Physiker
Claus Kiefer formuliert. Dass wir in
einer Art Superuniversum leben, von
dem unser beobachtbares Universum
nur ein Teil ist, könnte demnach ein Bild
sein, zu dem uns unsere Erfahrung mit
der Theorie selbst führt.
Ernsthafte Dispute werden auch in
der Physik vor allem in Zeiten des Um-
bruchs geführt. Exemplarisch dafür
waren das zweite Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts, als die deterministische Sicht
auf die Natur innert erstaunlich kurzer
Zeit von der Quantenmechanik in Frage
gestellt wurde. Niels Bohr und Erwin
Schrödinger, zwei der wichtigsten Protagonisten von sehr unterschiedlichem
Naturell, gerieten damals besonders
heftig aneinander. Von ihrem Konflikt
kann man auch bei der Frage nach Paralleluniversen lernen.
Über den 1885 geborenen Dänen
Bohr, dessen Todestag sich heuer zum
50. Mal jährt, hat Ernst Peter Fischer
eine Biografie geschrieben, die vor
allem auf Bohrs Weg zur Atomtheorie
fokussiert. Endlich ins Deutsche übersetzt wurde nun auch Walter Moores
umfangreiche Biografie über Schrödinger von 1994. Der zwei Jahre jüngere
Wiener, der unter anderem an der Universität Zürich forschte, hatte mit seiner
Wellenmechanik dafür plädiert, dass
Elementarteilchen Wellenphänomene
sind und seine berühmte Gleichung
nicht nur im mikroskopischen Bereich
Sinn macht. Bohr, dem Doyen der Quantenphysik, widerstrebte dieser universale Anspruch. Er hat unangenehme Folgen für das klassische Bild der makroskopischen Welt, und musste deshalb
mittels des von John von Neumann eingeführten «Kollaps der SchrödingerGleichung» weginterpretiert werden.
Der «gut durchschnittliche Physiker», schrieb Schrödinger gegen Ende
seines Lebens, sei unfähig einzusehen,
«dass ein vernünftiger Mensch es ablehnen könnte, sich des Kopenhagener Orakels anzunehmen». Die Bohr’sche Interpretation der Quantenmechanik hat
heute noch viel Gewicht. l
25. November 2012 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 27
Sachbuch
Parteien Der Freiburger Historiker Urs Altermatt legt eine umfassende Geschichte der CVP vor
Erst Integration, dann Abstieg
und bürgerlicher Mittepartei. Hier +
Jetzt, Baden 2012. 263 Seiten, Fr. 52.90.
Von Felix E. Müller
Der Historiker Urs Altermatt befasst
sich seit jeher mit Themen, die in der
Zunft möglicherweise als «unmodisch»
gelten, aber für das Verständnis der
Schweiz wichtig sind. Niemand sonst
verfügt heute über ein ähnlich fundiertes Wissen über die Entwicklung des
Bundesstaats seit 1848, und zwar in seinen institutionellen Aspekten: Parteien,
Bundesrat, Parlament. In spezieller
Weise beschäftigt sich der emeritierte
Freiburger Professor mit der politischen
Geschichte des Katholizismus, ein
Thema, für das sich die sonst in den
liberalen oder protestantischen Kantonen angesiedelte universitäre Historikerzunft wenig interessierte. Seine wegweisende Publikation «Der Weg der
Schweizer Katholiken ins Ghetto» von
1991 legte das Fundament für seine weiteren Forschungen. Nun hat er zum 100.
Geburtstag der CVP im Jahr 2012 eine
überblicksartige, sehr lesbare Geschichte dieser Partei vorgelegt. Keine andere
Bundesratspartei bildet die Entwicklungen der modernen Schweiz besser ab als
diese Gruppierung, die während Jahrzehnten katholisch-konservative Volkspartei hiess.
Katholische Einwanderer
Ihre Wurzeln liegen im Sonderbundskrieg von 1847, der mit dem Sieg der liberalen Kräfte über die katholische
Schweiz endete. Dies ebnete den Weg
für die Totalrevision der Bundesverfassung nach liberalen Vorstellungen. Die
Verlierer zogen sich in die «Stammlande» zurück, da sie von den politischen
und administrativen Schlüsselpositionen im neuen Bundesstaat weitgehend
ausgeschlossen wurden. Diese «Sonderbundspartei» erhielt zunehmend Sukkurs aus der Diaspora, wo die liberalen
Freiheitsrechte es den Katholiken erlaubte, sich zu organisieren. Deren Zahl
wuchs zudem rasch an, weil die Einwanderung vor allem aus Italien, Süddeutschland und Österreich in die wirtschaftlich dynamischen Zentren erfolgte. So entwickelte sich die Partei zu
einer katholischen Milieupartei.
Für die Katholiken brachte die total
revidierte Bundesverfassung von 1874
eine Zäsur, weil der Ausbau der Volksrechte die «Milieupartei» referendumsfähig machte. Sie brachte darauf die
freisinnige Regierungsmaschinerie zum
Stocken, worauf diese mit der Wahl des
ersten Vertreters der katholisch-konservativen Opposition, Josef Zemp, in den
Bundesrat im Jahr 1891 reagierte. Damit
begann die langsame Integration der Katholiken in den modernen Bundesstaat.
Für Altermatt drückt sich dieser Integ28 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 25. November 2012
Von links: Bundesrat
Ludwig von Moos,
Bundespräsident
Roger Bonvin und
Bundeskanzler
Karl Huber beim
traditionellen Essen
der KonservativChristlichsozialen
Volkspartei am
14. Dezember 1967.
rationswille unter anderem in der Tatsache aus, dass sich die Innerschweizer
Soldaten ohne Wenn und Aber an der
Unterdrückung des Generalstreiks von
1918 beteiligten. Sie drückten damit aus,
dass sie den Staat Schweiz in seiner modernen Form akzeptiert hatten und ihn
gar manu militari verteidigen wollten.
Von diesem Zeitpunkt an verstanden
sich die Katholisch-Konservativen als
Juniorpartner der FDP; der gemeinsame
Gegner stand links.
Deshalb bauten die Katholiken in der
Diaspora eine institutionelle Gegenwelt
zu den Sozialisten auf: christliche Gewerkschaften, christliche Versicherungen, christliche Konsumgenossenschaften, christliche Vereine. Die Blütezeit
begann nach dem Zweiten Weltkrieg, im
Sog der zentralen Rolle, welche die
christlichen Parteien beim Wiederaufbau Europas spielten. In Italien,
Deutschland, Österreich erwies sich die
zentristische Politik dieser Parteien,
verbunden mit einem klar deklarierten
Wertekanon, als die Zauberformel, um
die Schatten der Vergangenheit zu überwinden. Die katholisch-konservative
Partei der Schweiz profitierte davon; sie
öffnete sich nach links, was schliesslich
zur Folge hatte, dass sie sich 1957 einen
neuen Namen gab: «Konservativ-Christlichsoziale Volkspartei».
Politisch gesehen rückte sie immer
stärker ins Zentrum und erlangte bald
die berühmte Scharnierfunktion der
«Mehrheitsbeschafferin in der Mitte».
Unter dem Eindruck der Entwicklung
der anderen christlichen Parteien in Europa trennte sie sich schliesslich 1970
von beiden «K» im bisherigen Namen:
Sie hiess fortan «Christlichdemokrati-
sche Volkspartei» und warb explizit
auch um Mitglieder anderer christlicher
Konfessionen.
Der Schritt hatte, wie Altermatt
schreibt, durchaus eine gewisse Logik:
Die Säkularisierung der Gesellschaft
führte zu einer Lockerung der konfessionellen Bindungen. Das katholische
Sondermilieu verschwand in dem Ausmass, wie die Katholiken überall in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft akzeptiert wurden. Aber längerfristig waren
die Auswirkungen gravierend: Die Katholiken fühlten sich fortan frei, auch
andern Parteien beizutreten. Heute gibt
es mehr Katholiken bei der SVP, die das
Label konservativ wie ein Banner vor
sich herträgt, als bei der CVP. Diese verlor kontinuierlich Wähleranteile, sackte
auf den vierten Platz der Bundesratsparteien ab und verlor 2003 ihren zweiten
Bundesratssitz an die SVP.
Zukunft der CVP
Altermatt stellt sich auch der Frage, um
die sich mancher an seiner Stelle gedrückt hätte: wie weiter? Gemäss seiner
Diagnose befinde sich die CVP «auf
dem langen und mühsamen Weg von
einer katholischen Milieupartei zu einer
christlich-konservativen oder zu einer
säkularen Wertepartei mit bürgerlichem
Hintergrund». Ohne eine Konsolidierung im heute zersplitterten politischen
Zentrum sieht der Historiker dafür nur
eine beschränkte Chance. Deshalb plädiert er für eine Allianz oder Fusion mit
der BDP, welche die CVP in geografischer und konfessioneller Hinsicht ideal
ergänze. Damit ist der Historiker dort
angelangt, wo viele seiner Zunftgenossen nie auftauchen: in der Gegenwart. l
PHOTOPRESS / KEYSTONE
Urs Altermatt: Das historische Dilemma
der CVP. Zwischen katholischem Milieu
Religion Im Mai 2012 wurde Hildegard von Bingen heiliggesprochen. Im Oktober erhielt die Mystikerin die seltene
Weihe als Kirchenlehrerin
Michaela Diers: Hildegard von Bingen.
Aktualisierte Neuausgabe. dtv, München
2012. 254 Seiten, farbig illustriert,
Fr. 26.90.
Von Geneviève Lüscher
Die offizielle Heiligsprechung der Hildegard von Bingen im Mai 2012 hat fast
800 Jahre auf sich warten lassen. Bereits
zu Lebzeiten (1098–1179) wurde die
Fromme verehrt, und sie selbst hatte
diese Weihung schon immer angestrebt
– Bescheidenheit gehörte nicht zu ihren
Tugenden. Aus kirchlicher Sicht hatte
sie noch weitere Fehler, die aber heute
grosszügig unter den Teppich gekehrt,
respektive anders «gelesen» werden.
Papst Benedikt XVI. habe «eine ins Konservative gewendete Hildegard» geheiligt, eine, die sich der Autorität der
Kirche unterstelle, schreibt die Historikerin Michaela Diers in ihrer neu aufgelegten Biografie. Aber als Mystikerin
habe Hildegard bewusst auf die Mittlerrolle der Kirche verzichtet und ihre Visionen direkt von Gott empfangen. Auch
ihre Rolle als Frau in Theologie und Kirche sei vom Papst verwedelt worden.
Hildegard, Tochter einer reichen adligen Familie, wurde 1098 geboren, wo
genau, ist in der Forschung umstritten.
Schon im Kindesalter hatte sie Visionen
und wurde ins Kloster Disibodenberg
(Bad Sobernheim, Rheinland-Pfalz) ge-
geben. Über ihr Leben berichtet ihre
Vita zwar recht ausführlich, da sie jedoch im Hinblick auf die Heiligsprechung zusammengestellt worden sei
und deshalb bestimmten Mustern zu
folgen hatte, sei sie mit Vorsicht zu
lesen, betont Diers.
1150 hatten sich so viele Frauen um
Hildegard geschart, dass sie auf dem
Rupertsberg bei Bingen ein eigenes
Benediktinerinnenkloster gründete, ein
zweites folgte 1165 in Ebingen bei Rüdesheim. Beiden stand Hildegard als Äbtissin vor. Sie starb mit 81 Jahren und wie
es sich für eine zukünftige Heilige gehörte mit einem Lichtwunder.
Hildegard schrieb drei grosse Werke
mit Visionen und Prophetien. Sie thematisiert darin die Grundfragen ihrer
Zeit: Schöpfung, Christentum, Kirche,
Endzeit. Darin scheinen laut Diers
durchaus weibliche Akzente auf, aber
«Grund zu einer feministischen Hagiographie besteht nicht». Die Nonne war
weder Feministin noch Umweltaktivistin, weil sie das im 12. Jahrhundert gar
nicht sein konnte. Diers bezeichnet sie
als «visionäre Theologin», die sich souverän über das biblische Schweigegebot
für Frauen hinwegsetzte, öffentlich predigte und den Klerus kritisierte.
Ob die ebenfalls Hildegard zugeschriebenen natur- und heilkundlichen
Schriften, für die sie heute vor allem berühmt ist, wirklich von ihr stammen, ist
stark umstritten. Hildegard geriet für
CREDIT ???????????????
Freche Frau kommt
in den Himmel
Hildegard von Bingen
(Mitte), die ihre
Visionen direkt von
Gott empfangen
haben soll, war schon
zu Lebzeiten populär.
Jahrhunderte in Vergessenheit. In den
siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts, einer Zeit des Um- und Aufbruchs,
erlebte ihre Verehrung eine Renaissance. «Alternativ» war das Stichwort,
aber auch Mystik, Frauenemanzipation,
Ökologie, geheimnisvolles Mittelalter,
spirituelle Neuorientierung – all das bildete eine für das Revival fruchtbare Gemengelage. Noch heute ist ihre Verehrung ungebrochen, Hildegard ist zu
einer Marke geworden, unter der allerlei
Esoterisches gewinnbringend verkauft
werden kann. Aber, warnt Diers: «Es ist
nicht überall, wo Hildegard drauf steht,
auch Hildegard drin.»
Auch ihre eher problematischen Seiten – die intolerante Begeisterung für
die Kreuzzüge, ihre Verdammung der
Katharer und ihr penetranter Standesdünkel, der für gesellschaftliche Veränderungen keinen Platz liess, – fallen bei
der heutigen Popularität völlig unter
den Tisch. Für die Heiligsprechung
waren sie hingegen kein Hindernis. l
Islam Plädoyer für eine moderne Religion, die auf Barmherzigkeit und Toleranz beruht
Jenseits von Fundamentalismus
Mouhanad Khorchide: Islam ist
Barmherzigkeit. Grundzüge einer
modernen Religion. Herder,
Freiburg i. Br. 2012. 220 Seiten, Fr. 27.90.
Von Klara Obermüller
Über den Islam wird viel Unsinn geredet – sowohl von denen, die ihn verteidigen, wie auch von denen, die ihn bekämpfen. Mouhanad Khorchide, Leiter
des Zentrums für Islamische Theologie
an der Universität Münster, ist angetreten, den Zerrbildern seiner Religion
eine theologisch fundierte und mit modernem Denken kompatible Interpretation entgegenzusetzen. Sein Buch richtet sich an Muslime, die bereit sind,
ihren Glauben im Lichte einer humanistischen Koranhermeneutik neu zu entdecken. Es ist aber auch gedacht für
Nicht-Muslime, die sich vorurteilsfrei
auf einen Dialog mit ihren muslimischen Nachbarn einlassen wollen.
Der Autor ist in Beirut in eine Familie
hineingeboren, für die Toleranz gegenüber Andersgläubigen selbstverständlich war. In Riad hingegen, wo er aufwuchs, wurde er mit der fundamentalistischen Lesart des Islam konfrontiert
und sah sich zwischen den beiden Lagern hin und her gerissen. Einen Ausweg aus dem Konflikt suchte Khorchide,
indem er zunächst in Beirut, später in
Wien islamische Theologie studierte
und mit einer Arbeit über islamischen
Religionsunterricht promovierte.
Diese persönlichen Erfahrungen
haben ihn geprägt und zum Verfechter
eines Islam gemacht, der bereit ist, sich
der eigenen Tradition wie den Herausforderungen der Moderne zu stellen.
Khorchide geht es nicht darum, einen
für den westlichen Geschmack weichgespülten Islam zu propagieren. Sein Ziel
ist vielmehr aufzuzeigen, dass der Koran
mehr ist als ein rigides Regelwerk von
Geboten und Verboten, mit dem ein
strafender Gott seine Gläubigen bei der
Stange zu halten versucht. Khorchide
liest die heiligen Schriften sehr genau.
Im Gegensatz zu den fundamentalistischen Verfechtern des «wahren Islam»
interpretiert er das Gelesene aus dem
historischen Kontext heraus und geht
Widersprüchen nicht durch selektive
Lektüre aus dem Weg. Auf diese Weise
räumt er Vorurteile, Missverständnisse
und Fehlinterpretationen aus und lässt
das Bild einer Religion entstehen, die
auf Barmherzigkeit, nicht auf Strafe beruht und sich in ihrer Achtung vor der
Würde des Menschen mit den Wertvorstellungen demokratischer Gesellschaften durchaus vereinbaren lässt. l
25. November 2012 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 29
Sachbuch
Auslandsvertretungen In der Schweiz amtieren 140 Honorarkonsuln. Wer sie sind und was sie tun
Exklusives Hobby für Freizeit-Diplomaten
Gisela Tobler: Hüter der Ehre.
Honorarkonsuln im Porträt. Stämpfli,
Bern 2012. 191 Seiten, Fr. 37.90.
Von Urs Rauber
In der Schweiz residieren zurzeit rund
140 Honorarkonsuln für 80 auswärtige
Staaten. 22 davon – darunter drei Frauen
– porträtiert die St. Galler Journalistin
Gisela Tobler in einem kurz gefassten,
abwechslungsreich geschriebenen Sammelband. Unter Honorarkonsuln stellt
man sich ältere weisshaarige Männer
vor, die mit dem CC-Autoschild herum
brausen, Parkbussen ignorieren und keinem richtigen Broterwerb nachgehen.
Schillernde Gestalten wie der deutsche
Honorarkonsul Weyer, der mit Titeln
handelt und dem Jetset angehört, verhalfen zum Anschein, dieser Spezies
gehe es vor allem darum, grosse Honorare einzustreichen.
So ist es natürlich nicht, wie die Autorin mit ihren Beispielen belegt. Honorarkonsuln regeln zivilstandsrechtliche
Angelegenheiten der Bürger ihres Entsendestaates und vertreten dessen wirtschaftlichen Interessen in der Schweiz.
Die meisten verdienen nichts an ihrem
Amt – ausser Prestige. Einige berappen
gar die Spesen und den Lohn ihrer Angestellten: so die Anwälte Werner Stauffacher (für Tschechien) und Brigitta
Arve-Jahreskog (Schweden), der Zahnarzt Michal Cierny (Slowakei), der pensionierte Baumanager Franz Hidber
(Grenada) oder die Kauffrau Annemarie
Ernst-Kotob (Mauretanien). Entschädigt werden hingegen die Konsulatsvertreter für Deutschland und die USA.
Die meisten betonen ihre Freude am
aussergewöhnlichen «Hobby» und an
den Kontakten. Honorarkonsuln heissen
sie, weil sie im Unterschied zu den Berufskonsuln ihre Tätigkeit als Ehrendienst leisten. Der Basler Thomas E.
Preiswerk, früher Kommunikationschef
bei Novartis, hat zum Spass das CCSchild auf sein Velo geklebt.
Neben den still im Hintergrund arbeitenden Diplomaten gibt es auch Schwergewichte wie den Zürcher Anwalt und
Unternehmer Markus A. Frey, der in
Thailand eine Hotelkette betreibt, den
St. Galler Professor Fredmund Malik
(Österreich) oder den begüterten Investor des Zürcher Dolder-Hotels Urs E.
Schwarzenbach. Wie er zum Ehrenamt
kam? Nicht wegen der Mongolenpferde,
die der Poloclub-Besitzer als eher ungeeignet für sein Hobby hält, sondern weil
«ich von mongolischen Freunden angefragt wurde». Schwarzenbach weiss natürlich, dass sich seine Aufgabe nicht
darauf beschränkt, als Erster mongolischen Wodka in Europa zu vertreiben,
sondern dass die Mongolei zu den zehn
rohstoffreichsten Ländern der Welt gehört. Was für eine enorme Verlockung
für einen Anleger mit Weitblick. l
Das amerikanische Buch «Killing Kennedy» – Anatomie eines Bestsellers
Viel gebraucht und oft zitiert, ist «Bestseller» in den USA ein relativer Begriff.
Der Branchendienst Nielsen Bookscan
verfolgt zwar die Absätze diverser Formate minutiös und erstellt daraus wöchentliche Verkaufslisten. Aber die
harten Zahlen werden nur an Verlage
weitergegeben. Allerdings informiert
Amazon neuerdings auch Autoren über
ihre Verkäufe. Die Öffentlichkeit hört
von Umsätzen dagegen nur, wenn diese
wirklich imposant sind. Aus Branchenkreisen ist jedoch zu hören, dass eine
Verkaufsauflage von 50 000 auch für
namhafte Autoren als Erfolg gilt.
Nun haben O’Reilly und sein Co-Autor
Martin Dugard nachgelegt. Wie der Titel
ankündigt, schildert Killing Kennedy.
The End of Camelot (Henry Holt, 336
Seiten) das Leben des Präsidenten als
Vorgeschichte seiner Ermordung am
22. November 1963 im texanischen Dallas. Das Buch schoss prompt an die
Spitze der Bestsellerlisten. Einen erkennbaren Anlass gibt es für den Titel
jedoch nicht. Das scheint auch O’Reilly
bewusst zu sein, der im Vorwort zu30 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 25. November 2012
KEYSTONE
nächst die Brücke zu «Killing Lincoln»
schlägt und eine Reihe «erstaunlicher
Verbindungen» zwischen den Attentaten auf die Präsidenten auflistet: So
seien beide im Abstand von einhundert
Jahren erschossen worden, ihre Nachfolger hätten die Namen Johnson getragen
und wären in den Südstaaten geboren
worden. Doch dann vollzieht der Autor
einen Schwenk und schreibt, er und
Dugard seien keineswegs «Verschwörungstypen». Stattdessen präsentiere
«Killing Kennedy» neue Informationen
über Leben und Tod ihres Protagonisten
in unterhaltsamer, spannender Manier.
Jacqueline Kennedy
ruft um Hilfe für
ihren Mann John F.
Kennedy, der am
22. November 1963
in Texas erschossen
wird.
Autor Bill O’Reilly
(unten).
REUTERS
Da bewegt sich Bill O’Reilly in ganz anderen Dimensionen. Dank seiner Show
auf FoxNews der populärste TV-Moderator Amerikas, fand O’Reilly eigenen
Angaben zufolge seit dem vergangen
Jahr weit über zwei Millionen Käufer
für sein Sachbuch «Killing Lincoln».
Das Buch bot zwar keine neuen Fakten
über die Ermordung Abraham Lincolns
und wurde auch von der seriösen
Presse kaum beachtet. Aber offenkundig hungert das amerikanische Publikum nach Titeln, die historische
Grossereignisse in der Manier eines
Thrillers aufbereiten und somit einem
breiten Publikum zugänglich machen.
ben die Autoren auf altbekannte Quellen zurückgegriffen. Doch wie die
«New York Times» zähneknirschend,
aber anerkennend notiert, bietet das
Buch tatsächlich packende Lektüre. Die
Rezension merkt jedoch zu Recht an,
dass dies auf Kosten historischer Details und Zusammenhänge geschieht.
So finden die Ursachen und Anliegen
der Bürgerrechtsbewegung weniger
Beachtung, als die Frauengeschichten
Kennedys und von Martin Luther King.
Dafür rollt das Buch JFKs Vita – beginnend mit seiner heroischen Leistung
als Kapitän eines Torpedobootes im Pazifikkrieg 1943 – als Sammlung dramatischer Höhepunkte und Tragödien ab.
Das Duo hält dieses Versprechen nur
teilweise. Von Neuigkeiten zu diesem
intensiv bearbeiteten Thema fehlt jede
Spur. Laut der knappen Bibliografie ha-
Diese werden minutiös im Stil des Boulevardjournalismus dargestellt und
häufig mit zeitgenössischen Fotos und
Karten begleitet. Auf Anschaulichkeit
fokussiert, walzen O’Reilly und Dugard
den Tod des frühgeborenen KennedySohns Patrick im August 1963 und dann
als Höhepunkt die Mordtat von Lee
Harvey Oswald schonungslos aus.
Hautnah mit Kennedys «explodierender Hirnschale» konfrontiert, kann sich
der Leser diesen Schilderungen nur
schwer entziehen.
Um die Spannung trotz des wohlbekannten Ausgangs ihrer Geschichte
aufrecht zu erhalten, konstruieren die
Autoren die Biografien Kennedys und
Oswalds als Züge, die schicksalshaft
aufeinander zurasen. Die Motive des
Mörders bleiben jedoch unklar. Dafür
erinnert jedes Kapitel am Ende in ominösen Tönen an die dem Präsidenten
noch verbleibende Zeit, bevor Oswald
den Finger an den Abzug seines Mannlicher-Carcano-Gewehrs legt.
Von Andreas Mink l
Agenda
Achtziger Jahre Als es brodelte in der Schweiz
Agenda Dezember 12
Basel
Montag, 3. Dezember, 20 Uhr
Jean Ziegler: Wir lassen sie verhungern.
Lesung, Fr. 15.–. Thalia, Freie Strasse 32,
Tel. 061 264 26 55.
Donnerstag, 6. Dezember, 20 Uhr
Eugen und Nora Gomringer. Lesung,
Fr. 17.–. Literaturhaus, Barfüssergasse 3,
Tel. 061 261 29 50.
Mittwoch, 12. Dezember, 19 Uhr
Manfred Koch: Faulheit. Lesung für angehende Faulenzerinnen und Müssiggänger mit Glühwein und Guetzli.
Fr. 17.–. Literaturhaus (s. oben).
Bern
Mittwoch, 5. Dezember, 19 Uhr
JÜRG RAMSEIER
Christine Kopp: Betsy Berg.
Lesung, Fr. 15.–. Alpines
Museum, Helvetiaplatz 4.
Info: www.alpinesmuseum.ch.
Mittwoch, 5. Dezember, 20 Uhr
Die 1980er Jahre waren für die Schweizer Kulturszene eine Zeit des Aufbruchs und der Rebellion:
Nach dem ersten Zürcher Opernhauskrawall vom
30. Mai 1980 kam Bewegung in die Jugendszene. In
zahlreichen Schweizer Städten wurde um neue Freiräume gekämpft. Die Aktionen wurden oft von Musik
begleitet, wenn nicht gar in Gang gesetzt. Der vorliegende Band beschreibt diesen Prozess in Essays
sowie Porträts und zeigt die Protagonisten in Hunderten von Bildern. Eine umfassende, illustrierte Disko-
grafie stellt fast 1500 Tonträger (Schallplatten und
Musikkassetten) vor, viele von ihnen Eigenproduktionen in Kleinstauflagen. Unser Bild stammt von
Jürg Ramseier und zeigt die bis heute aktive Band
Züri West im Jahr 1989 vor ihrem Übungslokal im
Keller des Pickwick-Pubs in Bern. Manfred Papst
André Tschan, Lurker Grand (Hrsg.): Heute und
danach. The Swiss Underground Music Scene of the
80’s. Deutsch und französisch. Edition Patrick Frey,
Zürich 2012. 672 Seiten, Fr. 84.90.
Urs Mannhart: Gazprom heizt ein – Wahren Geschichten auf der Spur. Lesung
und Gespräch mit Daniel Puntas Bernet.
Thalia im Loeb, Spitalgasse 47/51,
Tel. 031 320 20 40.
Montag, 17. Dezember, 12.30 Uhr
Adventsgeschichten in der Mittagspause,
mit Roswitha Zenke. Lesung mit Tee und
Guetzli. Buchhandlung Haupt, Falkenplatz 4. Info: www.haupt.ch.
Zürich
Belletristik
Sachbuch
1 Diogenes. 296 Seiten, Fr. 29.90.
2 Carl’s Books. 412 Seiten, Fr. 21.90.
3 Carlsen. 574 Seiten, Fr. 24.20.
4 Bastei Lübbe. 1023 Seiten, Fr. 27.90.
5
Fischer. 402 Seiten, Fr. 32.90.
6 Krüger. 397 Seiten, Fr. 24.50.
7 Carl’s Books. 366 Seiten, Fr. 18.90.
8 Diogenes. 297 Seiten, Fr. 32.90.
9 Dtv. 539 Seiten, Fr. 27.90.
10 Blanvalet. 575 Seiten, Fr. 29.90.
1 Bibliographisches Institut. 285 S., Fr. 32.40.
2 Hanser. 248 Seiten, Fr. 24.90.
3 Hanser. 246 Seiten, Fr. 24.90.
4 Wörterseh. 184 Seiten, Fr. 34.90.
5 DVA. 250 Seiten, Fr. 29.90.
6 C. H. Beck. 207 Seiten, Fr. 29.90.
7 Bertelsmann. 319 Seiten, Fr. 28.40.
8 Droemer/Knaur. 425 Seiten, Fr. 23.20.
9 Giger. 349 Seiten, Fr. 39.90.
10
Heyne. 383 Seiten, Fr. 29.90.
Martin Suter: Die Zeit, die Zeit.
Jonas Jonasson: Der Hundertjährige.
Joanne K. Rowling: Ein plötzlicher Todesfall.
Ken Follett: Winter der Welt.
Carlos Ruiz Zafón: Der Gefangene des
Himmels.
Cecelia Ahern: Hundert Namen.
Vina Jackson: 80 Days – Die Farbe der Lust.
Donna Leon: Himmlische Juwelen.
Jussi Adler-Olsen: Verachtung.
Charlotte Link: Im Tal des Fuchses.
Guinness World Records 2013.
Rolf Dobelli: Die Kunst des klugen Handelns.
Rolf Dobelli: Die Kunst des klaren Denkens.
Leonie: Federleicht.
Blaine Harden: Flucht aus Lager 14.
Gian D. Borasio: Über das Sterben.
Jean Ziegler: Wir lassen sie verhungern.
Rhonda Byrne: The Magic.
Bo Katzman: Zwei Minuten Ewigkeit.
Jörg und Miriam Kachelmann: Recht und
Gerechtigkeit.
Erhebung Media Control im Auftrag des SBVV; 13.11. 2012. Preise laut Angaben von www.buch.ch.
Züri Littéraire: Adolf
Muschg und Mike Müller.
Live-Literaturclub, Fr. 25.–.
Kaufleuten, Pelikanplatz 1, Tel. 044 225 33 77.
CHRISTIAN BEUTLER
Montag, 3. Dezember, 20 Uhr
Bestseller November 2012
Dienstag, 4. Dezember, 19.30 Uhr
Pedro Lenz und Anne Cuneo reden über
die Liebe. Lesung, Fr. 18.– inkl. Apéro.
Literaturhaus, Limmatquai 62,
Tel. 044 254 50 00.
Samstag, 8. Dezember, 19.30 Uhr
Krimitag Zürich. 6 Krimiautoren lesen
gegen die Gewalt; Ehrengast Peter
Zeindler. Pestalozzi-Bibliothek, Zähringerstrasse 17. Info: www.krimitag.com.
Montag, 10. Dezember, 19.30 Uhr
Ruth Lewinsky und Ursula Hohler: Wendebuch. Lesung. Hotel du Théâtre, Seilergraben 69. Info: www.literarischerclub.ch.
Donnerstag, 20. Dezember, 20 Uhr
Tausend Meter Stille. Ein Abend zu
S. Corinna Bille. Präsentation dreier ihrer
erstmals auf Deutsch erschienenen Bücher. Remise, Lagerstrasse 98.
Bücher am Sonntag Nr. 1
erscheint am 27. 1. 2013
Weitere Exemplare der Literaturbeilage «Bücher am
Sonntag» können bestellt werden per Fax 044 258 13 60
oder E-Mail [email protected]. Oder sind – solange
Vorrat – beim Kundendienst der NZZ, Falkenstrasse 11,
8001 Zürich, erhältlich.
25. November 2012 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 31
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