Bücher am Sonntag - Neue Zürcher Zeitung
Transcrição
Bücher am Sonntag - Neue Zürcher Zeitung
Nr. 10 | 25. November 2012 Bertolt Brecht, Helene Weigel Briefwechsel | Bodo Kirchhoff Die Liebe in groben Zügen | Ernst Burren Dr Troum vo Paris | Geschenktipps Kinderund Jugendbuch | Urs Altermatt Das historische Dilemma der CVP | Porträt Maurice Chappaz | Weitere Rezensionen zu Hildegard von Bingen, Mira Magén, Paul Kennedy, Karl Heinz Bohrer und vielen anderen ber m e z . De nen im 1 b A ktio ender! A e toll ntskal e Adv Hier werden Wünsche wahr … Die schönsten Geschenkideen für Ihre Liebsten! <wm>10CAsNsjY0MDAx1TU0NTGyNAMA44borA8AAAA=</wm> BUCH | gebunden BUCH | gebunden BUCH | gebunden BUCH | gebunden BUCH | gebunden BUCH | gebunden Anja Grebe, Vincent Pomarède Pepe Regazzi, Fabio Corfú, Juliette Chrétien Paul Duncan Ed Douglas Dominik Flammer teNeues Verlag Der Louvre. Alle Gemälde Ticino ti cucino Das James Bond Archiv Bergsteiger Das kulinarische Erbe der Alpen The Bike Book CHF 52.90 CHF 84.90 CHF 202.40 CHF 59.90 CHF 109.00 Service pur: schnell und zuverlässig geliefert Sie können auf Rechnung einkaufen einfach und mobil bestellen 14 Tage Rückgaberecht w w w. b u c h . c h / w e i h n a c h t e n CHF 69.90 Alle Preise inkl. MwSt. und ohne Gewähr. <wm>10CFWMMQ7DMAwDXySDlCXZrsYiW5Ah6O6l6Nz_T4m7FcQthwP3Pb3gx3M7XtuZBMyFbjoifXjRFtlVC6wlyVBQH8Rat_jrBRxRUedqhBTGJARNiEnTSV0Pt8NAlO_7cwFhjv6GgAAAAA==</wm> Inhalt Was Bücher mit Tabletten gemein haben Bertolt Brecht (Seite 23). Illustration von André Carrilho Belletristik 4 Bodo Kirchhoff: Die Liebe in groben Zügen 6 Karl Heinz Bohrer: Granatsplitter 7 Thomas Lehr: Grössenwahn passt in die kleinste Hütte Von Sieglinde Geisel Von Sandra Leis Von Markus Bundi 8 Mira Magén: Wodka und Brot 9 Ken Bruen: Jack Taylor geht zum Teufel Sollten Sie nach der Lektüre von «Bücher am Sonntag» manchmal ein unbehagliches Gefühl verspüren – in der Art: «Was! So viele Bücher, die ich lesen möchte! Doch wann?» –, sind Sie nicht allein. Mir zum Beispiel geht es dauernd so – wenn ich eine Buchhandlung betrete, in einer Lesung sitze oder auf eine begeisternde Besprechung stosse. Schlimmer noch: Leute wie Sie und ich sind gierig, getrieben und labil; haben eine schwache Immunabwehr. Wir sind süchtig nach neuen Biografien, Romanen oder Gedichten. Versessen auf Briefwechsel fremder Personen – ja, Schlüsselloch-Fetischisten. Lassen uns von den unglaublichsten Stories verführen. Hängen am Tropf grosser Autoren. Sie kennen das? Eben: Sie sind infiziert vom Lesefieber. Eine unheilbare Krankheit, höchstens Schmerzstillung ist möglich. Als Palliativum können wir Ihnen auf den folgenden Seiten ein paar Bücher empfehlen: Von Burren bis Brecht, Mira Magén bis Michèle Desbordes, Maurice Chappaz und S. Corinna Bille, Paul Kennedy oder Urs Altermatt. Für vom Virus befallene Jugendliche haben wir auf der Doppelseite 14/15 Suchtstillendes zusammengetragen. Nun wünschen wir Ihnen frohe Festtage. Nutzen Sie die freie Zeit, um Ihrer Seele und ihren Sinnen etwas Linderung zu verschaffen, bevor Sie 2013 der unerbittliche Alltag wieder in den Griff nimmt. Unsere nächste Ausgabe erscheint am 27. Januar. Urs Rauber Meg Rosoff: Oh. Mein. Gott. Von Christine Knödler 15 Alice Gabathuler: Matchbox Boy Bettina Wegenast, Jud. Zaugg: Ist da jemand? Von Daniel Ammann Jürgen Brater: Was macht der U-Bahn-Fahrer, wenn er muss? Von Andrea Lüthi Silke Vry: 13 optische Tricks, die du kennen solltest Von Stefana Sabin Von Verena Hoenig Von Bruno Steiger Von Hans ten Doornkaat 10 Ernst Burren: Dr Troum vo Paris Von Manfred Papst 11 Michèle Desbordes: Die Bitte Von Simone von Büren Bernard Schultze – Gegenwelten Von Gerhard Mack 12 E-Krimi des Monats Mika Bechtheim: Bruderschatten Von Christine Brand Kurzkritiken Belletristik 12 Wisława Szymborska: Glückliche Liebe Von Manfred Papst Felix Homann: Erneuerbare Energien Ruth Omphalius: Das geheimnisvolle Universum der Ozeane Von Sabine Sütterlin Porträt 16 Abtrünniger Sohn aus dem Wallis Von Martin Zingg Kolumne 19 Charles Lewinsky Das Zitat von Juvenal Marie NDiaye: Ein Tag zu lang Kurzkritiken Sachbuch Nancy Mitford: Englische Liebschaften 19 Peter Bieri: Eine Erzählung schreiben und verstehen Von Regula Freuler Von Regula Freuler Dino Buzzati: Die Tatarenwüste Von Manfred Papst Kinder- und Jugendbuch 14 Tobias Elsässer: Wie ich fast berühmt wurde Von Andrea Lüthi Paul Biegel: Eine Geschichte für den König Von Verena Hoenig Von Urs Rauber Stef Stauffer: Steile Welt Von Urs Rauber Joachim Wahl: 15 000 Jahre Mord und Totschlag Von Martin Walder 24 Paul Kennedy: Die Casablanca-Strategie Von Urs Bitterli 25 Haide Tenner: «Ich möchte so lange leben, als ich Ihnen dankbar sein kann» Von Fritz Trümpi Alberta Campitelli, Alessandro Cremona: Die Villen und Gärten Roms Von Geneviève Lüscher 26 Shulamit Volkov: Walter Rathenau Von Peter Durtschi Andrea Fink-Kessler: Milch – Vom Mythos zur Massenware Von Adrian Krebs 27 Brian Greene: Die verborgene Wirklichkeit Ernst Peter Fischer: Niels Bohr Walter J. Moore: Erwin Schrödinger Von André Behr 28 Urs Altermatt: Das histor. Dilemma der CVP Von Felix E. Müller 29 Michaela Diers: Hildegard von Bingen Von Geneviève Lüscher Mouhanad Khorchide: Islam ist Barmherzigkeit Von Klara Obermüller 30 Gisela Tobler: Hüter der Ehre Von Urs Rauber Das amerikanische Buch Bill O’Reilly, Martin Dugard: Killing Kennedy Von Andreas Mink Agenda Von Reinhard Meier 31 André Tschan, Lurker Grand: Heute u. danach Sachbuch Ingrid Olsson: Als würde man (...) schnipsen 20 Eric Kandel: Das Zeitalter der Erkenntnis Von Andrea Lüthi Von Tobias Kaestli 23 Bertolt Brecht, Helene Weigel: Briefe 1923– 1956. «ich lerne: gläser + tassen spülen» Jan Knopf: Brecht Von Geneviève Lüscher Alexander Schrepfer-Proskurjakov: Speznas Rosemary Wells: Die Reise des Oscar Ogilvie Von Verena Hoenig 22 Daniele Ganser: Europa im Erdölrausch Von Kathrin Meier-Rust Von Manfred Papst Bestseller November 2012 Belletristik und Sachbuch Agenda Dezember 2012 Veranstaltungshinweise Chefredaktion Felix E. Müller (fem.) Redaktion Urs Rauber (ura.) (Leitung), Regula Freuler (ruf.), Geneviève Lüscher (glü.), Kathrin Meier-Rust (kmr.), Manfred Papst (pap.) Ständige Mitarbeit Urs Altermatt, Urs Bitterli, Andreas Isenschmid, Manfred Koch, Gunhild Kübler, Charles Lewinsky, Beatrix Mesmer, Andreas Mink, Klara Obermüller, Angelika Overath, Stefan Zweifel Produktion Eveline Roth, Hans Peter Hösli (Art Director), Urs Schilliger (Bildredaktion), Manuela Klingler (Layout), Korrektorat St. Galler Tagblatt AG Verlag NZZ am Sonntag, «Bücher am Sonntag», Postfach, 8021 Zürich, Telefon 044 258 11 11, Fax 044 261 70 70, E-Mail: [email protected] 25. November 2012 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 3 Belletristik Roman Bodo Kirchhoffs neues Buch erzählt von einer alten Ehe. Es wird von der Kritik als literarisches Schwergewicht der Saison gehandelt Wohlfühl-Lektüre für Winterabende Bodo Kirchhoff: Die Liebe in groben Zügen. Frankfurter Verlags-Anstalt, Frankfurt 2012. 669 Seiten, Fr. 38.50, E-Book Fr. 24.20. Von Sieglinde Geisel «Die letzten Spuren von etwas Jungem perlten von ihm ab und von ihr die ersten Stückchen.» Für Vila (53) und Renz (65) geht es allmählich ans Eingemachte, man sieht den drohenden Herzinfarkt kommen und damit die bange Frage: War’s das schon – oder kann alles noch einmal anders werden? Bodo Kirchhoff versetzt diese Frage nach dem Glück und die «Liebessehnsucht», die daraus folgt, in ein Milieu, das für Sinnkrisen wie geschaffen ist: in jenes von Medienleuten, die das Fernsehen hassen, von dem sie ganz gut leben, LAURA JAY Bodo Kirchhoff Bodo Kirchhoff wurde 1948 geboren, er lebt als Schriftsteller in Frankfurt am Main sowie in seinem Haus in Torri del Benaco am Gardasee. 1979 erschien sein erstes Werk, «Ohne Eifer, ohne Zorn», 1981 der Erzählband «Die Einsamkeit der Haut». Zu seinen wichtigsten Romanen gehören der Bestseller «Infanta» (1990), «Der Sandmann» (1992), «Parlando» (2001) und «Eros und Asche» (2007). Sein neuster Roman, «Die Liebe in groben Zügen», war diesen Herbst unter den zwanzig Titeln der Auswahlliste des Deutschen Buchpreises. 4 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 25. November 2012 wenn auch weniger glamourös, als sie es gerne hätten. Die beiden verdanken dem Fernsehen das Ferienhaus am Gardasee («jeder Stein ihres Hauses ein leeres Wort»); Renz ist der «Vorabend-NiveauAnheber-Pionier», Vila die «Mitternachtskultur-Vorkämpferin mit abwärtsgehender Quote». Die krebskranke Producerin Marlies und Geliebte von Renz wäre eine tragische Figur, wenn das bei Fernsehleuten denkbar wäre. Keine grossen Stoffe hat sie je realisiert, so ihre Bilanz, als sie im Sterben liegt: «Immer nur den Liebesmüll am Sonntagabend. Und Problemmüll am Mittwoch. Und Polizeimüll am Freitag.» Die Accessoires des gehobenen Lebens sind wichtig, etwa der «nicht mehr ganz taufrische Jaguar» und Weinsorten («ein Cà dei Frati, genau das Richtige während eines Gewitterregens»). Wir befinden uns in der gemässigten Zone der Gefühle, wo nichts weiter droht als «die sanfte Vergiftung durch das Banale wie durch ein geruchloses Gas». Einer der brillanten Sätze, mit denen Kirchhoffs biedere Mittelstandsprosa immer wieder überrascht. Die Liebe als Rettung aus der Banalität – eine erzählerische Behauptung, die nicht unbedingt ins Abgeschmackte kippen muss. Denn genau dazu ist die Liebe ja da, zwischen Menschen das Grösste und das Niedrigste, das Einfachste und das Komplizierteste – «ein Schrecken fast ohne Vorzeichen, wohl der heilsamste, den das Leben bereithält». Vila und Renz verlieben sich beide in jemand anderen, und es ist schwer zu sagen, ob Vila mit Bühl, dem Wintermieter des Hauses am Gardasee, mehr Glück hat (und erlebt) als Renz in der begrenzten Zeit mit Marlies. Er habe für Liebe und Sexualität eine neue Sprache finden wollen, sagt Kirchhoff derzeit gern in Interviews, und er geht damit eines der grössten Wagnisse ein, die das Schreiben zu bieten hat. Nicht immer gelingt es Kirchhoff, die Klippen von Kitsch und Peinlichkeit zu umschiffen. Liebessehnsucht sei «die Krankheit, die man selbst engen Freunden verschweigt», heisst es, doch es ist nicht irgendeine Krankheit, sondern eine Art Krebs: «… der einzige Tumor, mit dem man mitwächst», so Vila, «darin ihr geheimes Leben, gesammelt zu einer, wenn sie nicht aufpasst, nach aussen strahlenden Wahrheit: dass sie endlich wieder liebt.» So wuchert eine fragwürdige Metaphorik. «Für Liebe ist die Musik zuständig; schon bei Worten wird es grob», sinniert Vila, in einer Wendung, aus der sich immerhin der Titel des Romans speist. Eine Warnung an Leser, die auf «Stellen» aus sind? Grobe Worte benutzt Kirchhoff kaum (abgesehen von dem etwas lächerlichen halbherzigen Versuch, das Verb «ficken» wieder zu rehabilitieren). Man ist berührt von der Unschuld in Liebesdingen und der fast jugendlichen Zartheit, die sich die Figuren bewahrt haben, trotz früherer Affären. Und doch gehen dem Autor unerwartet schnell die Worte aus für das, was geschieht, wenn zwei miteinander ins Bett gehen, «kein harmloses Tun, ein riskantes hinter den Linien, es gibt kein Wort dafür, bloss leere Wörter», wie er selbst weiss. Ständig ist die Rede von diesem «Tun» und vom «Kommen» – «und schliesslich kam er in ihr, ein Glück wie mit Händen zu greifen», «und dann gleich noch den Slip herunterzuziehen und sie dort zu liebkosen, wo nur Gutes zusammenläuft und am Ende in Wogen verströmt», «bevor er sich verströmte in ihr» usw. Duschen mit San Pellegrino Doch betulich sind nicht nur die Worte, sondern auch der Liebesrausch. Dem heimlichen Treffen mit Bühl in der Kapelle von Campo fiebert Vila seit Tagen entgegen, sie ist pünktlich, und Bühl erwartet sie in dem alten Gemäuer mit drei Flaschen San Pellegrino – weiss er doch, dass sie erst einmal wird duschen wollen, verschwitzt, wie sie ist, nach dem zwanzigminütigen steilen Anstieg! Das Duschen ist in diesem Roman so wichtig wie die Weinsorten und die Renz, schreibt eine ethnologische For schungsarbeit über das Liebesleben eines Amazonasstamms; die Textpassa ge, die sie ihren Eltern von Brasilien aus per Mail zuschickt, lässt sich ebenfalls als Kommentar zum Romangeschehen lesen: «… aber unter allen bekannten Kulturen [...] gibt es keine, die das Sexu elle nicht regelt, es ist zu gefährlich.» Worte fliessen atemlos Grosse Literatur sei, so Gilles Deleuze, «die Befreiung einer Lebensmacht» und damit ein Akt des Widerstands. Dieses Buch befreit nichts, und es leistet keinen Widerstand, deshalb liest es sich so leicht: Wohlfühllektüre für den Herbst und für die Couch, ohne Konsequenzen für das Leben. «Und am Morgen kalter Rauch im Wohnraum, auf dem Esstisch ein fremdes Notebook, Apple, daneben Zettel mit Notizen, ein voller Aschenbe cher, Wasserglas und Schmerztabletten, das Päckchen aufgerissen; die Tür zum Gästezimmer war geschlossen, im Bad brannte Licht. Marlies?» Die Worte fliessen nur so über die Zeilen, etwas atemlos und ohne viel Gewicht. Bei den Dialogen fehlen Anführungszeichen – Am Gardasee suchen Bodo Kirchhoffs Romanfiguren ihr Glück, ihre grosse Liebe und verstricken sich in Banalitäten. ein Verfahren, welches das Lesen zu sätzlich beschleunigt, indem es alle Worte in dieselbe Distanz rückt. Bodo Kirchhoff trifft den berühmten Nerv, jedenfalls dort, wo er blank liegt, also bei der Generation jenseits der fünfzig: Männer und Frauen, die sich in einer soliden Ehe massvoll langweilen und das Herzrasen in der Liebe noch einmal spüren wollen ebenso wie den belebenden Sex. Stört es dabei, dass kaum einer der glatten Sätze für sich al lein bestehen könnte, dass keine der Fi guren grösser ist als wir selbst, «Elfi und Lutz, Anne und Edgar, die Gebhards, die Hollmanns, die Schaubs», die Namen muten so durchschnittlich an wie die Leute. Sind es also keine literarischen Figuren, sondern eben Fernsehpersonal, «Vorabendzeug», wie Renz es nennen würde? Am Ende bleibt in der alten Ehe alles beim Alten. Marlies ist tot, Bühl verschollen, zurück bleiben Vila und Renz, «zwei Menschen mit Umgangslie be» – und ein klassischer Zeitroman. So unwiderstehlich die Verführungskraft des Heutigen auf uns Heutige wirken mag, so gestrig wirken solche Bücher wenige Jahre später. l BERTHOLD STEINHILBER / LAIF Kleinigkeiten der ständigen Reisen zwi schen Frankfurt, München, dem Garda see und Assisi, alles Ablenkungen von allem, was in dieser Geschichte existen ziell sein könnte. Dabei ist Bodo Kirchhoff ein versier ter Autor, der sich mit Konstruktion und Dramaturgie auskennt und auf raffinier te Weise die Fäden zwischen den par allel geschalteten Liebesgeschichten knüpft. Bühl, der ehemalige Latein und Ethiklehrer, ist der Widerpart zur Me dienschickeria, einer, der Wörter wie «professionell» verabscheut («zu leb los») und der schöne Dinge sagt («Le bendig heisst liebend»), ein vom Miss brauch Gezeichneter auch, der trotz seiner rätselhaften Anziehungskraft vielleicht gar nicht fähig ist zur Liebe. Bühl hat als einzige Figur das, was man «eine Vergangenheit» nennen könnte, und er schreibt ausserdem ein Buch über das Liebessehnen des Franz von Assisi und der heiligen Klara, dessen frisch in den Laptop getippte Seiten in die Erzählhandlung eingestreut werden – ein allerdings bemühter Kommentar aus der Ferne der Geschichte. Katrin wiederum, die Tochter von Vila und 25. November 2012 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 5 Belletristik Erinnerungen Karl Heinz Bohrer ist ein intellektuelles Schwergewicht: Er attackierte die Linke und irritierte die Rechte. Im jüngsten Buch denkt der 80-Jährige über seine Jugend nach Wie einer wurde, was er ist Karl Heinz Bohrer: Granatsplitter. Erzählung einer Jugend. Hanser, München 2012. 317 Seiten, Fr. 27.90. Von Sandra Leis Überraschende Perspektive Parallel dazu schrieb er zwanzig Bücher und versucht sich nun mit «Granatsplitter» in einem weiteren Genre: der Erzählung. Im Postskriptum schreibt Bohrer, dass seine «Erzählung einer Jugend» nicht Teil einer Autobiographie sei, sondern «Phantasie einer Jugend». Das klingt nach «Ich schreibe Literatur!», doch die Stationen dieser Kindheit und Jugend stimmen mit der Realität überein: Bohrer kommt 1932 in Köln zur Welt. Der prinzipientreue Vater ist Nationalökonom und ein erklärter Gegner des aufkommenden Nationalsozialismus; die elegante, etwas liederliche Mutter stammt aus einfachen Verhältnissen, schaut aus wie Greta Garbo und träumt von einer Filmkarriere. Weil die Eltern sich früh scheiden lassen, lebt der Knabe zunächst bei der Mutter, dann im humanistischen Gymnasium und Landschulheim Birklehof im Hochschwarzwald, während des Krieges bei den Grosseltern auf dem Land und nach dem Krieg wieder im Internat. Nach der Matura reist er als Student erstmals nach England, wo er sich als Apfelpflücker verdingt und seine Liebe zu Grossbritannien entbrennt. Die Erzählung «Granatsplitter» umspannt die Jahre 1939 bis 1953 und ist gegliedert in drei Kapitel: Kriegsjahre, Internat und England. Überraschend an diesem Erinnerungsbuch ist die Perspektive: Bohrer schreibt weder in der Ich-Form noch in der Rolle des allwissenden Erzählers. Held dieses Buches 6 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 25. November 2012 WALTER DICK / BPK Kürzlich feierte Karl Heinz Bohrer seinen 80. Geburtstag – von der konservativen «Welt» bis zur linken Tageszeitung «taz» versäumte es in Deutschland kein namhaftes Blatt, diesem europäischen Denker die Ehre zu erweisen. Denn der Linkskonformismus war ihm genauso ein Greuel wie die grassierende Verspiesserung unter Helmut Kohl. Vielleicht lebt Bohrer deshalb seit vielen Jahren in London und Paris. Im deutschsprachigen Raum bekannt wurde Bohrer 1968, als er zum Literaturchef der «Frankfurter Allgemeinen Zeitung» (FAZ) ernannt wurde. Sechs Jahre später löste ihn Marcel Reich-Ranicki ab. Im Jahr 1975 ging Bohrer als Korrespondent für die FAZ nach London. Er war Professor für Literaturwissenschaft an der Universität in Bielefeld und viele Jahre Mitherausgeber des «Merkurs», einer «Zeitschrift für europäisches Denken». Die Zeitschrift positionierte Bohrer als Kontrapunkt zum «Kursbuch» von Hans Magnus Enzensberger. Die Kriegsjahre in Deutschland bilden Teil von K. H. Bohrers Jugenderzählung. Kinder in Köln wärmen sich an einem Feuer inmitten der Trümmer, 1945/46. ist «der Junge», der seinem Alter entsprechend seine Erlebnisse schildert. Das ist ein hoher literarischer Anspruch, und Bohrer setzt ihn immer wieder vorzüglich um. Beispielsweise wenn der 7-Jährige sein erstes Bild des Krieges in Worte fasst: Es sind die Granatsplitter, die es als kleine funkelnde Überbleibsel der Munition vom Himmel regnet. «Der Junge war regelrecht entzückt von dieser Schönheit. Er hatte das gleiche Gefühl wie damals, als man ihm aus Tausendundeiner Nacht [...] vorgelesen hatte.» Etwas später ist es die katholische Liturgie, die ihn als Messdiener in Bann schlägt. Bis zu dem Tag, an dem ein Priester dem Buben im Beichtstuhl unziemliche Fragen stellt. Und plötzlich ist der Zauber unwiederbringlich verflogen und der Glaube dahin. Die von Bohrer gewählte Perspektive funktioniert dann, wenn er ganz bei seinem Helden bleibt. Unglaubwürdig ist es, wenn er einem 8-Jährigen Sätze in den Mund legt, wonach die Mutter «zu jung und zu desinteressiert an seinen Fragen» gewesen sei. Oder wenn der Junge Sätze von sich gibt wie «Frauen [...] waren manchmal so gedankenfrei wie Hühner». Solcherlei Plattitüden lassen eher Rückschlüsse auf den Autor zu als auf den Knaben. Ergötzt sich der Junge während des Krieges an Granatsplittern, so leidet er nach dem Krieg unter der bleiernen Sprachlosigkeit. Nicht einmal ein Plakat von toten Gefangenen des Konzentrationslagers Bergen-Belsen, das die Engländer auf jede Kölner Litfasssäule ge- klebt haben, löst die Zungen. Das erscheint dem Teenager genauso unheimlich wie die Tatsache, dass er unter Menschen lebt, die Nationalsozialisten gewesen waren. Beklemmend wären diese Nachkriegsjahre im zerbombten Köln, könnte der Junge seine Schulzeit nicht im Internat im Hochschwarzwald fortsetzen. Er flieht die Wirklichkeit und stellt sich vor, er befände sich an «einem altgriechischen Ort». Er lernt begeistert Griechisch und Latein, spielt leidenschaftlich Theater und ist fasziniert vom Film. Er liest sich durch die Weltliteratur und kommt so zu einer umfassenden Bildung, die den Grundstock bildet für seinen beruflichen Werdegang. Passt in keine Schublade Doch auch das Internat ist keine Insel der Glückseligen: Der Schuldirektor Georg Picht war ein erklärter Gegner des Regimes und stellt etwa die Witwe eines Widerstandskämpfers vom 20. Juli 1944 ein. Auf der anderen Seite unterrichten auch Lehrer an der Schule, die das NS-Regime gestützt haben und deshalb nicht mehr an der Universität lehren dürfen. Eines Tages fragt der Junge die Witwe, wie sie damit umgehe. «Das Leben müsse weitergehen, meinte sie. [...] Er sah das ein, aber es ging ihm nicht aus dem Kopf.» Widersprüche sind Teil jedes Lebens. Das Buch «Granatsplitter» zeigt dies exemplarisch und macht nachvollziehbar, warum Karl Heinz Bohrer in keine Schublade passt. l Aphorismen Thomas Lehrs Texte sind knappste Sinneinheiten, die den Leser herausfordern Thomas Lehr: Grössenwahn passt in die kleinste Hütte. Kurze Prozesse. Hanser, München 2012. 106 Seiten, Fr. 18.90. Von Markus Bundi Wenn schon die Lyrik ein Schattendasein führt, dann gilt das für die Aphoristik noch in verschärftem Mass. Diese Gattung scheint so prekär zu sein, dass selbst dann, wenn ein Buch mit Aphorismen erscheint, dieser Umstand lieber verschwiegen und besser stellvertretend etwas anderes angekündigt wird, «Kurze Prozesse» zum Beispiel. So lautet der Zusatz zu Thomas Lehrs jüngstem Band mit dem Titel «Grössenwahn passt in die kleinste Hütte». Es handelt sich dabei um eine Sammlung von Aphorismen, die keineswegs kaschiert zu werden brauchte. Das Konzise, Merkmal jedes geglückten Aphorismus, zeichnet so manche Sentenz Lehrs aus. Vielleicht liegt gera- de darin das Unbehagen, die Sorge um ein bald nicht mehr vorhandenes Zielpublikum: «Das letzte intellektuelle Problem scheinen heutzutage die letzten Intellektuellen zu sein. Sie müssen sich schon selber wegdenken.» Denn was ebenso notwendig für diese Gattung gilt, hielt Harald Fricke noch im vergangenen Jahrhundert in seinem Standardwerk «Aphorismus» fest: Er ist ein Text «für zwei Mitspieler». Nun bedarf jeder literarische Text zweier Mitspieler, doch fällt bei Aphorismen eben ganz viel Denkarbeit dem Leser zu. So muss dieser auch damit rechnen, von der Lektüre so einiges abzubekommen: «Die Hoffnungslosigkeit einer gesicherten Existenz muss man erst einmal ertragen lernen.» Erstaunlich vielleicht auch, dass ausgerechnet Thomas Lehr, Jahrgang 1957, der sich bislang mit opulenten Romanen wie «Nabokovs Katze» (1999) oder zuletzt «September. Fata Morgana» (2010) einen Namen gemacht hat, nun vorstel- ISOLDE OHLBAUM / LAIF Denkarbeit und Präzision Thomas Lehr, Autor und Mitglied der Akademie der Künste, in Berlin. lig wird mit dieser knappsten Form. Oder vielleicht doch nicht? Die epische Präzision, welche in den Romanen Unfassbarkeiten birgt, findet sich nun gezielt fragmentiert in den Aphorismen aufgeho ben. In diesem Sinne lässt sich auch der Titel der Aphorismen-Sammlung verstehen: «Grössenwahn passt in die kleinste Hütte». Denn er geht in jeden Kopf, wenn dieser denn überhaupt zu lesen und zu verstehen imstande ist. Sodann mag einer womöglich Platons Höhlengleichnis neu lesen, wenn er zu ergründen versucht, was in einem der kürzesten Lehrismen steckt: «Text ohne Schatten.» l Eigentlich könnte die Welt 12 Milliarden Menschen ernähren. Doch: Wir lassen sie verhungern. Ein aufrüttelnder, provokanter Appell, die Massenvernichtung durch den Hunger endlich zu stoppen – vom bekannten, gefeierten wie bekämpften Globalisierungskritiker Jean Ziegler. <wm>10CAsNsjY0MDAx0gUSJmYmAH7SisgPAAAA</wm> <wm>10CE2MOw7DMAxDTyRD1MeNqrHwZmQounspMuf-U5ROHUhA5BPnTG_802vsn_FOMJtQmXVLD2_y6KkRrW-eAEwY8uTQAlHVP0-M6Mq6boYAgi0OkiDXFXVA7oXKtB7a-T0uorGAYIAAAAA=</wm> »Ein großes Buch, hervorragend recherchiert.« Süddeutsche Zeitung Lesen Sie auf: www.cbertelsmann.de © C.Bertelsmann Verlag 320 Seiten Gebunden CHF 28,50 Besuchen Sie uns auf Facebook! 25. November 2012 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 7 Belletristik Roman Die israelische Autorin Mira Magén erzählt die berührende Geschichte einer Alltagsheldin Wenn das Leben neu beginnt © Sören Stache Die Psychologin und Autorin Mira Magén thematisiert in ihrem Roman den Umgang mit einer Krisensituation. TORSTEN SILZ / DAPD Sie sind das Musterbeispiel des modernen erfolgreichen Paares: Amia ist hohe Bankangestellte, Gideon ist ein Star unter den Staatsanwälten, sie haben einen netten, klugen Sohn und eine schöne Wohnung in der besten Gegend von Jerusalem. Aber eines Tages hat Gideon mitten in einem Plädoyer einen Aussetzer, und von da an ist nichts mehr, wie es war. Der Himmel, erinnert sich Amia, «verlor seine blaue Farbe, mein Herz sagte mir, es sei die richtige Zeit, sich dem erstickenden Druck der Karriere zu entziehen.» Und so beschliesst Amia auszusteigen. Die beiden geben ihre Berufe auf und tauschen die schicke Stadtwohnung gegen eine einfache Hütte auf dem Land ein. Amia übernimmt den elterlichen Lebensmittelladen, während Gideon sich als Fischer versucht. «An Neujahr, wenn alle ihre Vergangenheit bedenken, bedachte ich gegen meinen Willen unsere Zukunft.» Dieses Neujahrsfest ist der Höhepunkt im neuen Roman von Mira Magén. Wie schon in ihren früheren Romanen erzählt Magén die Geschichte einer Frau, die in einer Lebenskrise steckt. Denn der neue Lebensentwurf wird sogleich von schrecklichen Sorgen konterkariert, als sich herausstellt, dass Gideons Aussetzer das Symptom einer schweren Krankheit war. «Wir haben beide gedacht», sagt Gideon zu Amia, «ich hätte zu viel im Kopf, dabei ist er eigentlich immer leerer geworden.» Zwar wird diese Krankheit im Roman nie genannt, aber in der emphatischen Beschreibung von Gideons Verhalten werden bekannte Muster von Alzheimer erkennbar. Der Roman ist jenem israelischen Richter gewidmet, der, wie Gideon im Roman, im frühen Alter an Alz- »Peter war wie eine Sternschnuppe in meinem Leben ...« Angelika Schrobsdorff Erstmals in Deutschland veröffentlicht: Die Briefe von Angelika Schrobsdorffs Bruder Peter Schwiefert an die Mutter. Ein einzigartiges, intimes und zeitgeschichtliches Dokument mit zahlreichen Photographien und Faksimiles. <wm>10CAsNsjY0MDAx0gUSJsYmADsm_bUPAAAA</wm> <wm>10CFWMKw4DMQxET-TIY8d2soFV2GpBVR5SFff-qM6ygvlJT3OewwrfeszrNZ8DzFUorWod1q1I-ECXEpYJuDDkgKBpC40_nhjdlXVthgCCryzsBFldIsd-2NHYyvf9-QGmC5wLgAAAAA==</wm> Leseprobe www.dtv.de 8 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 25. November 2012 erhältlich Von Stefana Sabin tare Vitalität und somit auch ihre Selbstrettungskraft. Am Ende findet sie einen angemessen Weg, um mit der Krankheit ihres Mannes, den Fragen ihres Sohnes und ihren eigenen Gefühlen fertig zu werden. «Ich kann die Zukunft nicht steuern», denkt Amia und überlässt sich einer Vorsehung, an die sie nicht mehr glaubt. «Nimm es, wie es ist, sagte ich mir, eine Mutter und ein Sohn und Glück, von dem man nicht wissen kann, wie lange es anhält.» Mira Magén konzentriert sich auf die emotionale Realität der Hauptfigur. Wie schon in früheren Romanen erzählt sie eine beispielhafte Geschichte vom angemessenen Umgang mit einer Krisensituation. Die Autorin ist ausgebildete Psychologin und versteht ihre Romane durchaus auch als eine Art Lebenshilfe. Dass Amia keine Powerfrau, sondern eine Heldin des Alltags ist, die sich ganz ohne Bitterkeit einer neuen Realität anzupassen lernt und ein neues Leben beginnt, macht ihre Geschichte umso nachvollziehbarer. l Auch als Hebräischen von Mirjam Pressler. dtv premium, München 2012. 393 Seiten, Fr. 23.90, E-Book 17.90. heimer erkrankte und seinen Beruf, seine Familie und seine Freunde verliess, um in Würde allein mit dem langsamen Sterben fertig zu werden. «Der Mensch weiss nicht mehr, was er tun soll und was nicht», sagt Amia, für die auch Gott keine helfende Instanz mehr ist, immer wieder verzweifelt. Wie alle Frauenfiguren in Magéns Romanen hadert auch Amia mit der hergebrachten Tradition: Ihr modern-säkularer Lebensstil steht im Gegensatz zu den religiösen Gebräuchen ihrer Familie. Aber den Konflikt zwischen säkularer und religiöser Lebensführung trägt in diesem Roman eine Nebenfigur aus: eine junge Obdachlose, die sich Madonna nennt und sich bei Amia einnistet. Mit ihrem christlichen – selbstgewählten – Namen, ihrer vulgär aufreizenden Kleidung und ihrem frivolen Benehmen ist sie eine ständige Provokation des religiösen und bürgerlichen Anstands. Madonnas unerwartetes Auf- und Abtauchen und ihre gut gemeinte Übergriffigkeit aktivieren in Amia eine elemen- Hardcover Deutsche Erstausgabe 312 Seiten CHF 27,90 Mira Magén: Wodka und Brot. Aus dem _ MOLTEN ROCK MEDIA Racheengel und Erlöserfigur: der Ermittler Jack Taylor (dargestellt von Iain Glen) in der neuen Serie, die 2013 im ZDF ausgestrahlt wird. Kriminalroman In seinem achten Abenteuer macht Jack Taylor Bekanntschaft mit dem Teufel Blutspur durch Galway Ken Bruen: Jack Taylor geht zum Teufel. Aus dem Englischen von Harry Rowohlt. Atrium, Zürich 2012. 244 Seiten, Fr. 23.50. Von Bruno Steiger Die an der irischen Westküste gelegene Stadt Galway, die dem Besucher so freundlich, licht und südländisch erscheint, hat offenbar auch ihre dunklen Seiten: In Ken Bruens bislang sieben brandschwarzen, von Harry Rowohlt souverän ins Deutsche gebrachten Romanen um den Privatermittler Jack Taylor werden Schwäne massakriert, Nichtsesshafte reihenweise umgebracht, junge Männer gekreuzigt, Schulmädchen von katholischen Nonnen zu Tode gequält. Zum Beispiel im vierten Band geht ein Killer um, der bei seinen Opfern jeweils ein Buch des irischen Dramatikers John Millington Synge zurücklässt. Oder in Band 5 findet Taylor nach seiner Entlassung aus der Nervenklinik den abgetrennten Kopf eines Priesters. Typischer Telegrammstil Das Böse in seinen grauslichsten Formen hält die Stadt in den Klauen. Dagegen stemmt sich Taylor mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln, seinerseits gebeutelt von übermässigem Alkohol- und Drogenkonsum. Gegen die unvermeidlichen Folgeerscheinungen helfen ihm die Bücher, die er sich regelmässig im Trödelladen einer Wohlfahrtsinstitution besorgt. Augustinus und Pascal sind seine Favoriten, in den schlimmsten Stunden des Entzugs hält er sich an das Neue Testament und die Noir-Klassiker David Goodis und Jim Thompson. Seinem Unmut über die Greueltaten gibt er mit einem HurlingSchläger tödlichen Ausdruck, zuweilen kommen auch Messer und Pistole zum Einsatz. Viel Worte mag Taylor über seine einsamen Racheaktionen nicht verlieren, das zu Erledigende wurde erledigt, und damit hat es sich. Zu Beginn des soeben erschienenen achten Bands der Serie scheint Taylor es mit dem Teufel persönlich zu tun zu bekommen. In der Flughafenbar von Galway hat er, nach einer sechsmonatigen, mit Xanax knapp in Schach gehaltenen Trockenphase und dem erfolglosen Versuch, sich nach Amerika abzusetzen, den üblichen «doppelten Jameson, dazu eine Pint vom Schwarzen» geordert, als er des Typen auf dem Nebenstuhl gewahr wird. So wird der unheimliche Fremde in dem für Bruen typischen Telegrammstil, in welchem Sätze fast durchweg mit Absätzen identisch sind, kolportiert: «Grosser schlanker Mann, wunderhübscher Anzug. / Armani oder sonst was für mich Unerschwingliches. / Langes Haar, blond mit Strähnchen, hübsches Gesicht, aber irgendwie … daneben. / Vielleicht der gemeine, nach unten gezogene Mund. / Ein umwerfendes Lächeln, nur leicht beeinträchtigt von zwei schiefen Zähnen. / Und sein Eau de Cologne – ganz oben angesiedelt, keine Frage, aber darunter etwas anderes, wie Knoblauch, der zu lange in der Sonne gelegen hat.» Am unheimlichsten erscheint Jack Taylor der Name des Fremden: Kurt. Dieser «Kurt» nun ist es, der auf den folgenden 200 Seiten des Buches unter dem nicht minder verstörenden Namen Carl eine sinnloser nicht denkbare Blutspur durch Galway zieht und gleichzeitig Jack Taylor als den einzigen ihm ebenbürtigen Widersacher für seine Zwecke einzuspannen versucht, mit satanistischen Drohungen und Bestechungsversuchen. Dazu gehören ein postalisch übermitteltes Gewinnlos über 250 000 Euro ebenso wie die 50 schwarzen Kerzen und der ausgeweidete Hund in Taylors Wohnung, womit der Teufel seiner nie fassbaren Allgegenwart Nachdruck verleiht. In einer Hollywood-reifen Endabrechnung scheint Taylor schliesslich die Oberhand zu gewinnen; mit drei gezielten Schüssen, erst ins Gemächt, dann ins Herz und schliesslich «zwischen die Zähne» bringt er den Unheilsbringer zur Strecke. Doch die Morde gehen weiter. Kaputter Held Ken Bruen, 1951 in Galway zur Welt gekommen und heute nach einem bewegten Leben wieder in seiner Geburtsstadt ansässig, hat am berühmten Trinity College in Dublin einen Doktortitel in Philosophie erworben, bevor er sich dem Schreiben von Krimis zuwandte. Mit seiner Figur Jack Taylor hat der vielfach preisgekrönte Autor einen der ungewöhnlichsten und in verschiedener Hinsicht kaputtesten Helden der neueren Kriminalliteratur geschaffen. Taylor erscheint als Inkarnation eines Schmerzensmannes von geradezu biblischem Format. Im Verlauf der acht Romane – sie sind dank geschickt eingefügter Rückblenden auch einzeln problemlos zu lesen – entwickelt er sich vom geschassten Verkehrspolizisten zu einem wild um sich schlagenden Racheengel. Gleichzeitig nimmt er zusehends die Züge einer eigentlichen Erlöserfigur an. Ein Heiliger ist Taylor dennoch nicht, ganz im Gegenteil. Allen einschlägigen Freuden des Lebens zugetan, hat er gleichwohl etwas merkwürdig Asketisches an sich. Seine stellenweise fast ansteckend wirkende Sauflust wie auch sein Drogen- und Medikamentenkonsum nehmen sich mehr und mehr als eine Art Selbstkasteiung aus. Beinah scheint es, als sehne er sich nach einem für alle Zeiten gültigen Katergefühl, mit dem sich die Schuld, ein Mensch – und dazu erst noch Ire! – zu sein, abgelten liesse. l 25. November 2012 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 9 Belletristik Erzählungen Der Solothurner Mundartautor Ernst Burren beschreibt eine ländliche Welt im Umbruch – kritisch, desillusioniert, doch mit dichterischer Kraft Nume no säute Bsuech Der 68-jährige Ernst Burren gehört zu den grossen Autoren der Schweizer Literatur. Hier in seinem Haus in Oberdorf (SO), November 2012. Ernst Burren: Dr Troum vo Paris. Cosmos, Muri bei Bern 2012. 144 Seiten, Fr. 29.–. Der Solothurner Autor Ernst Burren arbeitet mit der Präzision eines Uhrwerks. Alle zwei Jahre, jeweils im Herbst, legt er einen neuen schmalen Band mit Geschichten vor. Sie spielen in seiner engeren oder weiteren Heimat Oberdorf am Fuss des Weissensteins, und sie sind in der von funkelnden und schimmernden Doppellauten geprägten Mundart der Region geschrieben: in einer bildstarken, direkten Sprache, die indes nichts Altertümelndes hat, sondern unsere gegenwärtige Lebenswelt reflektiert. Lange galt Mundartliteratur per se als weltabgewandt und provinziell, als Verweigerung der Teilnahme an einer übergreifenden Sprachgemeinschaft. Schon Gottfried Keller spricht einmal spöttisch von «Quabblern und Nasenkünstlern». Wir sehen das heute anders. Es gibt in der Schweiz ein neues Selbstbewusstsein, das sich im Sprachgebrauch spiegelt. Barden von Mani Matter über Büne Huber bis zu Manuel Stahlberger haben dem Dialekt zu neuer künstlerischer Akzeptanz verholfen, ohne in Nostalgie zu verfallen, Schriftsteller wie Pedro Lenz melden sich mit zeitgemässen Büchern in Mundart zu Wort. Mundart als adäquate Form Auch Ernst Burren schreibt seit je in Mundart. Er kann nicht anders. Nach frühen Versuchen im Hochdeutschen, die er später vernichtete, hat er seit 1970 Texte in Mundart vorgelegt: Gedichte zunächst, dann kürzere und längere Geschichten, auch Dramen. Anfangs stand er noch unter dem Einfluss Kurt Martis und Ernst Eggimanns, doch bald schon schrieb er sich frei. Er wusste: Das Schriftdeutsche wäre die falsche Sprache für seine Alltagsgeschichten. Seit er als Bub in einer Ecke der elterlichen Beiz sass und den Gästen zuhörte, während er seine Hausaufgaben machte, seit er jedes ihn seltsam anmutende Wort auf langen Listen notierte, ist er der Sprache seiner Region zugeschworen. «Nicht dass dieser Mann in Dialekt gedichtet hat, sondern dass der Dialekt in ihm dichterisch geworden ist, das ist das Entscheidende.» Der Satz, den Carl J. Burckhardt in einem Gespräch über Hebels «Alemannische Gedichte» Rainer Maria Rilke in den Mund legt («Ein Vormittag beim Buchhändler»), trifft auch auf Ernst Burren exakt zu. Auf den Erfolg hat der 1944 geborene Autor, der bis zu seiner Pensionierung als Primarschullehrer tätig war, dabei nicht geschielt. Er hat sich stets mit einer kleinen Schweizer Leserschaft zufrieden gegeben. Das war 1970 so, als sein Erstling «Derfür und derwider» erschien, und es ist heute nicht anders. 10 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 25. November 2012 TOMAS WÜTHRICH Von Manfred Papst Denn darüber dürfen wir uns keine Illusionen machen: Geschriebene Mundartliteratur hat sich, Berner Rock hin, Slam Poetry her, beim breiteren Publikum selten durchgesetzt. Der Roman «Dr Goalie bin ig» von Pedro Lenz ist eine jener Ausnahmen, die die Regel bestätigen. In den meisten Fällen bringt es Mundartliteratur nur auf kleine Auflagen. Auch Menschen, die gern Dialekt sprechen und hören, tun sich eher schwer damit, ihn zu lesen. Das kann die SMS-Kultur vielleicht ändern. Wer zum ersten Mal Texte von Burren vor sich hat, muss Wörter wie «schueu», «ruei», «äuä», «ömu», «aube» (Burren schreibt konsequent klein) entziffern. Doch man liest sich ziemlich schnell ein, und der Gewinn rechtfertigt den Aufwand allemal. Plötzlich bewegt man sich in einer neuen Welt. Das Glück ist mit jenem zu vergleichen, das man empfindet, wenn man zum ersten Mal schwimmt oder Velo fährt. Ernst Burren gehört zu den grossen Autoren der Schweizer Literatur. Es ist kurios, dass sich das noch immer nicht wirklich herumgesprochen hat. Er hat seine Gemeinde, gewiss. Aber er hat mehr verdient. Denn er hat eine kleine Schweizer Region auf der Landkarte der Weltliteratur eingetragen – so wie Faulkner das im Grossen mit seiner Yoknapa- tawpha County getan hat. Man mag Burren vorwerfen, dass er dabei seine poetischen Mittel kaum variiert hat. Aber würde man einem exzellenten Bäcker vorhalten, dass er sich nicht auch an Sushi versucht? Düsterer geworden Ernst Burren schreibt immer am gleichen grossen Lebensbuch. Er schildert seine polyphone Welt, in der vor allem sogenannt kleine Leute zu Wort kommen, mit beeindruckender Konsequenz. Eine «Entwicklung» lässt sich in seinem Werk nur schwer festmachen. In seinem neuen Band fällt auf: Die Geschichten sind düsterer geworden, Krankheit und Tod sind allgegenwärtig, Vergänglichkeit ist nicht mehr etwas Fernes. Sie nistet sich in den Möbeln ein, den Kleidern, den verfallenden Körpern. Da, wo andere Autoren milder werden, bleibt Burren ungerührt: Er beobachtet den Zerfall gesellschaftlicher Strukturen, die Überforderung des Individuums durch eine sich unentwegt beschleunigende Technologie. Für wohlfeile Tröstungen ist er nicht zuständig. Aber er setzt sich weiterhin der Welt aus und fasst in präzise, dichterische Worte, was die Menschen umtreibt. Sich selbst nimmt er dabei nicht so wichtig. Auch das bestimmt seinen Rang als Autor mit. l Erzählung Die ungewöhnliche Beziehung zwischen einem Renaissance-Künstler und einer Dienerin Zwiegespräch ohne Worte scheint. Denn «die grossen Fresken, die ihn nicht überleben würden», sind ebenso vergänglich wie ihr lebenslanges spätabendliches und frühmorgendliches Tragen, Schrubben und Rüsten. Im Bewusstsein um die Vergänglichkeit der Dinge, «im Einverständnis mit der kommenden Nacht», in ihren gebrechlich werdenden Körpern sind sich Herr und Dienerin, Mann und Frau, Berühmter und Unbedeutende nahe: «unter ein und demselben Dach vereint, wie sie auf einem Schiff gewesen wären, das gegen das feindliche Meer ankämpft.» Aus dieser meist wortlosen Nähe heraus trägt sie in einem aufgewühlten Redeschwall die ungewöhnliche, titelgebende Bitte an ihn heran – die Bitte einer Frau, die ihren einzigen Zweck im Dienen sieht und hofft, dass Michèle Desbordes: Die Bitte. Eine Geschichte. Aus dem Französischen von Barbara Heber-Schärer. Klaus Wagenbach, Berlin 2012. 120 Seiten, Fr. 21.90. Von Simone von Büren Informelle Kunst Zwischen Abstraktion und Empfindung PRO LITTERIS «Er sah sie an, ohne sie zu sehen, dachte sie schliesslich, und dann sah sie sein Gesicht sich beleben, ein vages Lächeln auf seinen Lippen erscheinen. Eine Bewegung zu ihr hin. Ob Interesse oder schlichte Höflichkeit, hätte sie nicht sagen können. Da lächelte auch sie.» Diese Beschreibung der ersten Begegnung zwischen einem berühmten italienischen «Maler-Bildhauer-ArchitektenIngenieur» – es könnte Leonardo da Vinci sein – und seiner Dienerin enthält schon die ganze Handlung von «Die Bitte». Michèle Desbordes (1940–2006) schildert in diesem dichten Text die ungewöhnliche Beziehung zwischen einem Künstler des 16. Jahrhunderts und einer einfachen Frau. Er ist vom französischen König beauftragt worden, an der Loire ein Schloss mit 215 Zimmern zu bauen. Wenn nötig, würde man dafür den Lauf des Flusses umlenken. So berühmt ist der Meister. Sie hingegen erinnert an eine dieser Nebenfiguren, die in den Gemälden flämischer Renaissance-Maler im Halbdunkel neben dem Herd kauern. Zwischen diesen beiden Ungleichen webt die französische Autorin ein sachtes Hin und Her von Blicken und Handreichungen. Indem sie mitten in ihren langen, verschlungenen Sätzen von einer Perspektive zur anderen wechselt, vermittelt sie, wie aufmerksam die beiden Figuren die Gesten, Körperhaltungen und Tagesabläufe des anderen registrieren und wie gross der Raum ist, den dieser in ihrem Bewusstsein einnimmt. Fast unmerklich verschiebt sich dabei der Fokus – des Künstlers, des Texts, des Lesers – von Marienbildern, Marmorsäulen und Dante auf diese schmale Graugekleidete, die so vorsichtig geht, «dass man glauben konnte, sie befürchte, den Raum um sich zu zerknittern». Wie die regelmässig wiederkehrenden Jahreszeiten und Hausarbeiten wiederholen sich auch die Worte und Motive in Desbordes’ sorgsam komponiertem Text immer wieder: der Fluss und der Himmel; bellende Hunde; zitternde Hände; Licht in allen Abstufungen und Einfallswinkeln; seine anatomischen Skizzen und «das tausendmal gezeichnete Gesicht» seiner Engel; das Rascheln ihrer Röcke und ihre gefalteten Hände im Schoss. Diese inhaltlichen und sprachlichen Wiederholungen geben dem 2000 erstmals auf Deutsch erschienenen Text seinen stillen Rhythmus. Und sie stellen Dienerin und Meister mit ihren Sehnsüchten und Enttäuschungen in die grossen Zusammenhänge, angesichts deren ihr Wirken unbedeutend er- sie tot «vielleicht noch nützlicher sein würde als zu ihren Lebzeiten». Desbordes malt mit Wörtern einen lautlosen Dialog, den man immer und immer wieder lesen möchte. Sie malt in ihrer präzis komponierten poetischen Sprache das viele, das die Figuren sich nicht sagen und niemals sagen könnten. Sie malt das Bewusstsein des schwächer werdenden Malers: die von ihm gezeichneten Engel, «schön und sinnenverwirrend, schlugen über den Eiben mit den Flügeln und fielen sanft ins Gras der Blumenbeete zurück». Sie malt den Fluss und die Wälder, die Abgeschiedenheit, den Winter. Sie schreibt, kraftvoll und roh, die Bilder der flämischen Meister: den Lichtstrahl auf der weissen Haube, die gefalteten Hände im Schoss, den gebückten Rücken. l Wenn man gerne von Malerei verschlungen werden möchte, muss man die Bilder von Bernard Schultze anschauen. Da öffnen sich Schlunde, rotieren Wirbel und jagen sich Formen. Dunkle Zonen brechen ab, damit man in hellere stürzen kann. Die Farbe ist das Magma eines Vulkans, der keine Pausen kennt. Das Bild eine ununterbrochene Explosion von Energien. Dass eine Psyche das aushält, dass der Verstand es schafft, darin nicht unterzugehen, grenzt an ein Wunder. Dass das Bild von 1987 «Fratzentanz um Atomängste» heisst, bestätigt nur den Anspruch dieser Malerei, einer untergründigen Dynamik Form zu geben. Mit solchen Bildern zwischen Abstraktion und gestischem Empfindungsprotokoll hat Bernard Schultze sich schnell in die europäische Kunst der Nachkriegsjahrzehnte eingeschrieben. Der 2005 in Köln fast 90-jährig verstorbene Maler gilt zu Recht als einer der Väter der deutschen «art informel» und hat sich doch auf eigenwillige Weise davon gelöst. Der surrealistische Impuls, der das im Zweiten Weltkrieg fast gänzlich zerstörte Frühwerk bestimmt, bleibt weiterhin als Interesse an der Welt spürbar. Die Materialschlacht der Farbe will für Assoziationen offen bleiben und sogar erzählen. Der Band, der eine Ausstellung begleitet (bis 20. Januar im Museum Küppersmühle, Duisburg), macht das etwas in Vergessenheit geratene Werk wieder präsent. In seiner Mischung aus Geistigkeit und Aktivität ist es auch für jüngere Künstler attraktiv. Gerhard Mack Bernard Schultze – Gegenwelten. Hrsg. von W. Smerling und E. Müller-Remmert. Wienand, Köln 2012. 150 Seiten, 89 Abbildungen, Fr. 41.50. 25. November 2012 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 11 Belletristik E-Krimi des Monats Lügen der Vergangenheit Mika Bechtheim: Bruderschatten. Goldmann, München 2012. 379 Seiten, Fr. 13.40, E-Book 9.90. «Einen guten Kriminalroman erkennt man daran, dass es nur einen Toten gibt, einen ermittelnden Kommissar und am Schluss einen überführten Täter», sagte einst ein Schweizer Verleger. In Mika Bechtheims Krimi gibt es eine Menge Tote, der Kommissar ist in eine Nebenrolle verbannt, und am Schluss wird kein Täter verhaftet. Stattdessen bleibt nach einem eigentlichen Familiendrama nichts als ein Scherbenhaufen. Trotzdem ist «Bruderschatten» ein guter Kriminalroman − gerade weil er das Schema «Toter – Ermittler – überführter Täter» sprengt. Der Plot des Krimis ist die Geschichte einer Hamburger Journalistin. Julie Lambert, Gerichtsreporterin, führt als Ich-Erzählerin durch ihr zuweilen etwas chaotisch anmutendes Leben: Sie ist voll berufstätig, Mutter eines Sohnes, von dessen Existenz der Vater nichts weiss, und schwanger mit einem Kind, dessen Vater sie gerade verlässt. Und das sie um ein Haar verliert. Und für das sie dann doch noch einen Vater findet. Weit verwirrender ist − auch für sie selbst − ihre Vergangenheit: Julie Lambert, aufgewachsen im überblickbaren Solthaven in der damaligen DDR, ist die Schwester eines Mörders. Mutmasslich. Ihr Bruder Leo soll vor über zwanzig Jahren ihren Freund erschossen haben. Wenige Tage danach starb auch Leos Freundin gewaltsam. Er selbst ist seither verschwunden. Zwanzig Jahre lang zweifelt Julie Lambert an der Schuld ihres Bruders. Bis sie einen Anruf erhält, der sie zurückkatapultiert in eine Zeit, in der die Welt noch eine andere war. Ein verurteilter Serienmörder, der auch den Mord an Leos Freundin gestanden hatte, kommt nach Jahren im Gefängnis frei. Er eröffnet Julie Lambert, dass er den Mord an Leos Freundin dazumal gestanden habe, obwohl er die Tat nicht begangen habe. Er deutet an, dass ihr Bruder sein Nachahmungstäter war. Kurz danach bringt er sich um. Julie Lambert beginnt zu ermitteln. Stösst auf Wahrheiten, die zu DDR-Zeiten keine sein durften. Erkennt, wie das System der Lügen und der Vertuschungen funktionierte. Und begreift, dass vieles anders war, als sie ihr halbes Leben lang gedacht hatte. Die deutsche Autorin Mika Bechtheim – sie ist selbst ein Kind der DDR – hält die Spannung aufrecht bis im letzten Augenblick. Und sie macht deutlich, wie damals vor dem Fall der Mauer im Osten Deutschlands ermittelt wurde. Von Christine Brand l 12 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 25. November 2012 Kurzkritiken Belletristik Wisława Szymborska: Glückliche Liebe und andere Gedichte. Suhrkamp, Berlin 2012. 103 Seiten, Fr. 24.90, E-Book 19.40. Marie NDiaye: Ein Tag zu lang. Roman. Deutsch von Claudia Kalscheuer. Suhrkamp, Berlin 2012. 112 Seiten, Fr. 25.90. Die polnische Lyrikerin Wisława Szymborska (1923−2012), Nobelpreisträgerin von 1996, lebte zurückgezogen in Krakau und schuf ein Werk von einzigartiger Schönheit, Anmut und Gedankentiefe. Karl Dedecius und dem SuhrkampVerlag gebührt das Verdienst, die Autorin seit 1973 im deutschen Sprachraum bekannt gemacht zu haben, mit vielen schönen Büchern und lange bevor man in Stockholm auf sie aufmerksam wurde. Auch in den hier vorgelegten Gedichten, einer Auswahl aus ihrem Schaffen der Jahre 2005 bis 2011, zeigt sich nochmals ihr unverwandter Blick auf die Welt, die von feinem Humor durchzogene Melancholie, die Aufmerksamkeit für alles Lebendige, die genuine Musikalität im Parlando nach dem Ende der strengen Formen, die kritische Neugier für unsere modernen Zeiten. «Eigentlich könnte jedes Gedicht den Titel ‹Augenblick› tragen», lesen wir. Wie wahr! Manfred Papst Als Marie NDiaye 2009 den Prix Goncourt erhielt, sorgte das für Aufregung. Nicht nur war die 1967 geborene Tochter einer Französin und eines Senegalesen die erste schwarze Frau, die den renommierten Preis gewann; NDiaye hat sich auch dezidiert gegen die Politik Sarkozys geäussert, nach dessen Wahl sie nach Berlin umzogen ist. Obwohl seit 1993 bereits sieben ihrer Romane auf Deutsch erschienen sind, ist NDiaye hierzulande erst seit dem Goncourt-gekrönten Buch «Drei starke Frauen» einer breiten Leserschaft bekannt. «Ein Tag zu lang» von 1994 erzählt vom Lehrer Herman, der jeden Sommer in der Provinz verbringt. Als die Familie heuer die Abreise um einen Tag verschiebt, verschwinden Frau und Sohn. Herman macht sich auf die Suche − und kommt sich selbst abhanden. Ein atmosphärisch ungemein starkes Buch in der Tradition des magischen Realismus. Regula Freuler Nancy Mitford: Englische Liebschaften. Roman. Aus dem Englischen von Reinhard Kaiser. Graf, Berlin 2012. 335 Seiten, Fr. 24.50. Dino Buzzati: Die Tatarenwüste. Roman. Deutsch von Percy Eckstein u.a. Die Andere Bibliothek, Berlin 2012. 255 Seiten, Fr. 45.90. Während so manches Leben geruhsamer nicht sein könnte, gab jenes der britischen Adelstochter Nancy Mitford (1904−1973) und ihrer exzentrischen Familie gleich Stoff für mehrere Romane, ab, die in den Fünfzigern Bestsellerstatus genossen. Nancy war die älteste der sechs legendären Mitford-Schwestern (der einzige Bruder fiel 1945 im Krieg), zwei von ihnen glühende Faschistinnen, eine glühende Kommunistin. Nancy, die eine ebenso spitze wie humorvolle Feder schwang, führte seit dem Zweiten Weltkrieg eine heimliche Liaison mit einem engen Mitarbeiter de Gaulles. Wie alle ihre fiktionalen Werke ist auch «Englische Liebschaften» («The Pursuit of Happiness», 1945) stark autobiografisch geprägt und erzählt die reichlich komische Story einer Upperclass-Familie zwischen den Kriegen. Sie ist endlich wieder auf Deutsch lieferbar. Regula Freuler Albert Camus hat dieses Buch geliebt und ein anderes Werk des italienischen Autors ins Französische übersetzt. «Die Tatarenwüste» von Dino Buzzati (1906−1972) erschien im Juni 1940, unmittelbar vor Mussolinis Kriegserklärung. Leutnant Drogo erwartet jede Nacht einen Angriff der Tataren. Die Machtstrukturen in der Festung Bastinai zeigen, wie totalitäre Systeme funktionieren. Als die Tataren nach Jahrzehnten tatsächlich kommen, ist Drogo alt und hilflos. Buzzati wurde zu dieser existenzialistischen Parabel inspiriert durch die zahllosen Nachtdienste, die er während seiner 43 Jahre als Journalist und Blattmacher beim Mailänder «Corriere della Sera» leistete. Der elegante Exzentriker, der fast sein ganzes Leben bei seiner Mutter lebte, hat mit diesem Buch sein Meisterwerk geschaffen. Mit klugem Nachwort von Maike Albath. Manfred Papst Jetzt best elle n Ein Stück lebendige Schweizer Wirtschaftsgeschichte Das Buch «Schweizer Wirtschaftsdynastien» für Leserinnen und Leser der «NZZ am Sonntag» zum Vorzugspreis von 38 statt 48 Franken Das Buch erzählt die Geschichten von 16 erfolgreichen Schweizer Unternehmerfamilien, die hinter Firmen wie Swatch Group, Roche, Con�serie Sprüngli, Fonjallaz Weine, Caran d’Ache, Audemars Piguet, Straumann, Julius Bär oder Holcim stehen. Sie berichten von Pionieren und ihren Nachkommen, von Errungenschaften und Rückschlägen, von Vergangenheit und Zukunft. Angesichts der Dominanz der Börsennachrichten geht oft unter, dass Familienunternehmen das älteste und am weitesten verbreitete Geschäftsmodell weltweit sind. Das Buch «Schweizer Wirtschaftsdynastien» entstand aus der gleichnamigen erfolgreichen Serie in der «NZZ am Sonntag» – und ist ein Stück lebendige Schweizer Wirtschaftsgeschichte geworden. «Mich rühren diese Unternehmensgeschichten oft schier zu Tränen: weil sie dem Lumpenpack, das die letzten zwanzig Jahre auf Beute aus war und unermesslichen Schaden angerichtet hat, so leuchtend entgegenstehen.» Hans Widmer, Unternehmer, ehemaliger Konzernchef von Oerlikon <wm>10CAsNsjY0MDAx1TW0MDa0NAAAh2GKIg8AAAA=</wm> <wm>10CFWMIQ7DMBAEX3TW7jq--GJYhUUBUbhJVdz_o9phBUNGozmOVhIeXvt571cjsBRjzYzhoySt3qqUsKyNpAvURoiZEv96A8Mzcp-NkUbvhDFM3kvUTs3DcAI8fd-fH7xWqaiAAAAA</wm> Schweizer Wirtschaftsdynastien. Mit einer Analyse von Dr. Joachim Schwass, Professor für Family Business an der IMD Business School in Lausanne, 2012. 248 Seiten, mit zahlreichen farbigen Abbildungen. Klappenbroschur. Sonderangebot für Leserinnen und Leser der «NZZ am Sonntag»: Fr. 38.– statt Fr. 48.– (zzgl. Versandspesen) Ab 28. November 2012 im Handel. Bestellung ✃ Bitte senden Sie mir mit Rechnung: Schweizer Wirtschaftsdynastien für Fr. 38.– statt Fr. 48.– (zzgl. Versandspesen) für Leserinnen und Leser der «NZZ am Sonntag» ISBN 978-3-03823-795-2 Einsenden an: NZZ Libro, «Leserangebot NZZ am Sonntag», Postfach, 8021 Zürich. Bestellung per Fax: 044 258 13 99. Bestellung per Mail: [email protected] mit Vermerk «Leserangebot NZZaS». Vorname Name Adresse Telefon E-Mail Datum Unterschrift * Angebot nur in der Schweiz gültig, solange Vorrat. Das Buch wird ab 28. November 2012 zugestellt. Die Lieferung erfolgt innerhalb von 6 Tagen. Kinder- und Jugendbuch Kurzkritiken Tobias Elsässer: Wie ich einmal fast berühmt wurde. Sauerländer, Mannheim 2012. 233 Seiten, Fr. 24.90 (ab 14 Jahren). Evolution Wer verantwortet die Schöpfung? Meg Rosoff erklärt es uns Paul Biegel: Eine Geschichte für den König. Urachhaus, Stuttgart 2012. 160 Seiten, Fr. 21.90 (ab 8 Jahren). Eine unkeusche göttliche Komödie Meg Rosoff: Oh. Mein. Gott. Fischer, Frankfurt a. M. 2012. 224 Seiten, Fr. 21.90, E-Book 19.40 (ab 14 Jahren). In Zeiten von TV-Shows, die Superstars und Topmodels suchen, ist der Roman aktueller denn je, auch wenn er in den 90er Jahren spielt. Der 21-jährige Erik glaubt, das grosse Los gezogen zu haben, als ihn ein raubeiniger Produzent und ein zwielichtiger Manager als Sänger einer Boygroup engagieren. Erik ist bereit, auf seichte Popmusik umzustellen, sich eine neue Biografie zuzulegen und seine Ausbildungsstelle zu riskieren. Sein grosser Bruder spricht von Ausbeutung und Selbstverleugnung, doch Erik will nur eins: im Mittelpunkt stehen. Der Autor Tobias Elsässer, früher selbst Mitglied einer Boygroup, arbeitet heute unter anderem als Gesangslehrer. Er erweist sich nicht nur als Kenner der Musikindustrie, sondern berichtet auch lebensnah und ungeschminkt von Illusionen, Träumen und Ernüchterung. Andrea Lüthi Der alte König Mansolin ist krank und wird mit Geschichten am Leben gehalten. Doch nicht nur diese Rahmengeschichte ist ernst und heiter zugleich: Jedes der Tiere, das herbeieilt, eine Geschichte zu erzählen, ist auf seine Weise besorgt, und doch blitzt überall Situationskomik auf. Im Verlauf des Buches stossen Kinder so auf Einsichten wie: Jedem kann Trauriges widerfahren, und Erzähltes kann buchstäblich herzerquickend sein. In Holland erschien das Buch erstmals 1964 und später auch in Deutsch unter dem Titel «Das Schlüsselkraut». Zum Glück liegt der Band jetzt wieder vor, mit neuen Illustrationen von Linde Faas, deren Zartheit und Schalk die Stimmungen von Paul Biegels Prosa genial ausbauen. Vor allem funkelt in den 15 Geschichten ein Vorleseschatz mit poetischem Zauber. Verena Hoenig Rosemary Wells: Die rätselhafte Reise des Oscar Ogilvie. dtv-junior, München 2012. 368 S., Fr. 21.90, E-Book 15.90 (ab 11 J.). Ingrid Olsson: Als würde man mit den Fingern schnipsen. Bloomsbury, Berlin 2012. 22 Seiten, Fr. 21.90 (ab 12 Jahren). «Früher war alles gut. Dad und ich hatten Lammkoteletts und Eiscreme. Jetzt kommt nur noch Rübeneintopf auf den Tisch.» Oscars Vater hat, wie viele andere, seine Arbeit verloren. Auf der Suche nach einer neuen Stelle muss er schweren Herzens seinen Sohn zurücklassen. Die Weltwirtschaftskrise nach 1929 und die Faszination für Eisenbahnen bilden die Angelpunkte für die Geschichte aus einer Zeit, als Telefonieren noch etwas Besonderes und Joan Crawford ein Hollywoodstar war. Eine zufällige Entdeckung ermöglicht es Oscar, durch die Zeit zu reisen, angetrieben von der Sehnsucht. Durch diesen Umstand ist er nicht nur elf Jahre alt, sondern mal einundzwanzig und dann wieder sechs, woraus sich spannende Konstellationen ergeben. Eine mitreissende Lektüre für Jungen – und ihre Väter. Verena Hoenig Plötzlich ist die Erinnerung wieder da – an den Sonnenfleck auf dem Küchenboden, auf dem der tote Vater lag. Jetzt liegt Calles Grossmutter auf der Intensivstation, und er hat Angst, auch sie zu verlieren. Seine Erinnerungen und Gefühle möchte er weder mit der Mutter teilen noch mit dem kleinen Bruder, der nur von Meerschweinchen spricht und Komik in die traurige Stimmung bringt. Calle interessiert sich mehr für das neue Nachbarsmädchen mit der Gitarre. Bilder der Vergänglichkeit begegnen Calle, dem Hobbyfotografen, überall; vom zerfallenden Kuchen in Grossmutters Wohnung bis zum gelbblättrigen Baum. Passend zu Calles fotografischem Blick ist der feinfühlige Roman gestaltet. Auf jeder Seite gibt es einen kurzen Textabschnitt – ein Schnappschuss, eine Momentaufnahme, die viel Raum lässt. Andrea Lüthi 14 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 25. November 2012 Von Christine Knödler Ins kuschlige Lamettanest oder in die feierliche Adventszeit passt das Buch «Oh. Mein. Gott» von Meg Rosoff, wie – nun ja – sagen wir einmal: die Faust aufs Auge. Denn gegen Weihnachtsduseleien aller Art schlägt die Autorin einen ganz und gar unheiligen Ton an. Ihre Themen: Entstehung und Zustand der Welt, das Verhältnis Gottes zu seiner Schöpfung, Zufall, Schicksal und die Freiheit des Einzelnen. Schon der Beginn (denn am Anfang war das Wort) ist eine Erleuchtung: In romantischer Schwärmerei – oder Ironie – wird ein Frühlingstag imaginiert, der für die Liebe wie gemacht ist, findet Lucy. Prompt wird ihr Gebet erhört, und Gott persönlich nimmt sich ihrer an. Doch der ist kein ehrwürdiger Herr mit Rauschebart, sondern ein jugendlicher Flegel, launisch bis zum Abwinken: Bob, 19, steht unter Testosteron-Dauerbeschuss, seine Lieblingsbeschäftigung neben Knutschen und Onanieren ist Chillen. Das ist schlecht für Lucy und den Rest der Welt. Und wäre da nicht Mr. B., der eigentliche Kopf der Mission Erde, ginge diese den Bach runter. Wer je angesichts der «Krönung der Schöpfung» ins Grübeln geraten ist und ob unübersehbarer Produktionsfehler in ernsthafte Zweifel, wer als Erwachsener angesichts hormonell gesteuerten Nachwuchses verzweifelt ist oder als Jugendlicher nichts als seine Ruhe haben will vor ewig nörgelnden Erziehungsberechtigten, bekommt in diesem Jugendroman aberwitzige Antworten: Die Schöpfung? Die zufällige Entgleisung eines pubertierenden Grössenwahnsinnigen, der alles will, nur nicht erwachsen werden. Die Mutter Gottes? Eine Spielerin! Die Heilige Familie? Zerrüttet! Die Welt? Eine Hölle, mit Naturkatastrophen und Herzschmerz. Der Himmel? Die Chefetage eines Unternehmens mit mieser Bilanz. Das Verhältnis Gottes zu den Menschen? Bettgeschichten! Ungeniert projiziert die Buchautorin Meg Rosoff die Auswüchse unserer Zeit auf die himmlischen Protagonisten, und sie schickt Gott und Menschen auf die Couch und hält der im Jugendbuch grassierenden allgemeinen Weltuntergangsstimmung ein herzhaftes «Wer zuletzt lacht» entgegen. Dass das im Halse stecken bleibt, versteht sich von selbst: eine abgefahrene göttliche Komödie. l Internet Ratgeber für Jugendliche Cybermobbing Kurzkritiken Jürgen Brater: Was macht der U-BahnFahrer, wenn er muss? Beltz & Gelberg, Weinheim 2012. 160 S., Fr. 21.90 (ab 10 J.). Silke Vry: 13 optische Tricks, die du kennen solltest. Prestel, München 2012. 48 Seiten, Fr. 18.90 (ab 9 Jahren). Wer keinen Hunger hat, ist satt. Was ist man aber, wenn man nicht durstig ist? Sehen Blinde im Traum Bilder? Weshalb sind Kanaldeckel rund und strecken Wappentiere oft die Zunge raus? In seinem neuen Sachbuch geht Jürgen Brater verblüffenden Fragen nach. Aber auch geläufigere Themen werden behandelt wie zum Beispiel: Weshalb essen Chinesen mit Stäbchen? Da geht es um Redewendungen, um Körper, Tiere und Umwelt – Comics und Ritter bekommen gar ein eigenes Kapitel. Brater, von Beruf Mediziner, findet ein Gleichgewicht zwischen präziser Erklärung und lockerleichtem Ton, selbst bei komplexen naturwissenschaftlichen Themen. Ab und an regt er zu einfachen Experimenten an, etwa um herauszufinden, ob der Wasserspiegel steigt, wenn man einen Stein in den See wirft. Andrea Lüthi Es braucht nicht viel, um unseren Sehsinn zu überlisten. Victor Vasarely reichte dazu im Jahr 1944 eine diagonal schwarzweiss gestreifte Fläche. Indem er die schwarzen Linien an bestimmten Stellen aus der Geraden schob, an- und wieder abschwellen liess, erweckte er auf seinem Bild «Zebra» ein solches Tier so zum Leben, dass man es gleich streicheln möchte. Insgesamt 13 optische Tricks erläutert die Kunsthistorikerin Silke Vry anhand der Werke grosser Künstler von der griechischen Antike über René Magritte bis Bridget Riley. Es geht um Scheinarchitektur, versteckte Botschaften, Luftperspektive oder surrealistische Verwirrbilder. Am Ende erkennt man: Kunst ist immer auch Täuschung, aber eine, die Spass macht. Selbst wenn man sich bei so vielen Illusionen oft verwundert die Augen reibt. Verena Hoenig Felix Homann: Erneuerbare Energien. Sonne, Wind und Wasser. Kosmos Geolino, Stuttgart 2012. 64 S., Fr. 18.90 (ab 10 Jahren). Ruth Omphalius: Das geheimnisvolle Universum der Ozeane. Arena, Würzburg 2012. 220 Seiten, Fr. 19.50 (ab 12 Jahren). Ein Handkarren, auf dem ein Dieselgenerator von Dorf zu Dorf gefahren wird. Besser lässt sich die instabile Stromversorgung in ländlichen Gebieten Afrikas oder Asiens nicht illustrieren. Was dieser Band zum Thema Energie erklärt, findet sich verstreut zwar in einigen Kindersachbüchern. Überzeugend sind hier aber die Konzentration und die Aufbereitung. Didaktisch positiv wirken sich die Redaktionskompetenz der Zeitschrift «Geolino» aus und die Vermittlungserfahrung des Physikers Felix Homann. Er gehört zur jungen Spezies der «Wissenschaftskünstler», die mit bühnenwirksamen Shows durch die Lande tingeln. In seinem Buch bringt er trotz kurzer Texte viele Aspekte der erneuerbaren Energie ein. Eine «kinderleichte» Einführung, die ideal den Weg ebnet in diese komplexe Thematik. Hans ten Doornkaat Am Anfang blicken wir aus dem All auf den Blauen Planeten. Die Aussensicht verursacht Staunen und bereitet uns auf die Botschaft vor, mit der das Buch endet: Trotz ihrer Weite sind die Weltmeere durch das Wirken des Menschen gefährdet. Die ZDF-Redaktorin Ruth Omphalius hat bereits ein Jugendsachbuch über Klimawandel geschrieben und 2011 die Dokumentation «Universum der Ozeane» betreut. Den Stand meereskundlichen Wissens hat sie nun für junge Leser aufbereitet: Kontinentaldrift, Entstehung des Lebens im Wasser, Rolle der Ozeane als Klimamotoren, Tankerunfälle, Tiefseebohrungen und Überfischung. Ein gründlicheres Lektorat hätte nicht geschadet. Insgesamt ist diese Reise durch die Erdgeschichte mit Ausblicken in die Zukunft aber abwechslungsreich und gut aufgebaut. Sabine Sütterlin Alice Gabathuler: Matchbox Boy. Thienemann, Stuttgart 2012. 288 Seiten, Fr. 17.90, E-Book 14.40 (ab 14 Jahren). Bettina Wegenast, Judith Zaugg: Ist da jemand? Umgang mit digitalen Medien. SJW, Zürich 2012. 56 S., Fr. 5.90 (ab 11 J.). JUDITH ZAUGG Von Daniel Ammann Die 17-jährige Jori erwacht benommen an einem leeren Pool, angekettet ans Sprungbrett. Eine Webcam hält sie in Schach, und ein unbekannter Racheengel lässt die Meute im Netz entscheiden, ob sie eine Chance verdient. Zwischen Vorausblenden und Chatprotokollen kehrt die Geschichte an den Anfang zurück: Im Sommer sind die Eltern in die Ferien gefahren, und Ich-Erzählerin Jori räkelt sich mit ihren beiden Freundinnen am heimischen Pool. Vielleicht bringt der attraktive Aushilfsgärtner etwas Abwechslung und Action. Die Girls schikanieren ihn und bringen ihn mit aufreizenden Posen in Verlegenheit. Aus Spass wird Ernst, als eine von ihnen behauptet, er hätte versucht, sie zu vergewaltigen. Der Unbekannte verschwindet, aber nach den Ferien droht er im Netz, ihre schmutzigen Geheimnisse zu offenbaren. Durch Aufklärung und Verbote will die Schule das Cybermobbing unterbinden. Aber als erste Details aus dem Privatleben der Mädchen im Web auftauchen, nimmt die Netz- und Hetzkampagne ihren Lauf, und auch die Schulleitung macht Druck auf die Opfer. Alice Gabathulers unzimperlicher und brisanter Roman demonstriert die Sprengkraft digitaler Übergriffe und zeigt, dass fehlender Respekt und Gewaltbereitschaft nicht von Medien, sondern Menschen ausgehen. Cybermobbing und soziale Netzwerke sind auch Themen eines neuen SJWHeftes. In neun kurzen Kapiteln erfährt man hier Nützliches im Umgang mit Netzdaten, Games, Passwörtern oder jugendgefährdenden Angeboten. Neben praktischen Tipps vermittelt das präventive Sachheft für die Mittelstufe viel Hintergrund- und Lexikonwissen und wirkt so über weite Strecken informationslastig. Ratschläge wie «Benutze beim Bedienen des Computers deinen gesunden Menschenverstand» wirken dabei pauschal und knüpfen kaum an eigene Erlebnisse an. Überdies ist nicht immer klar, ob sich der Text an die Zielgruppe Mittelstufe oder nicht eher an Oberstufenschüler, Eltern und Lehrkräfte richtet. Durchwegs erfrischend und anregend wirken hingegen Judith Zauggs Comic-Illustrationen. Beide Neuerscheinungen sind geeignet, mediale Erfahrungen neu zu diskutieren. l 25. November 2012 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 15 Porträt Maurice Chappaz (1916–2009) war ein wortmächtiger Erzähler. Ein von Charles Linsmayer herausgegebenes vorzügliches Lesebuch erinnert an den widerspenstigen Schriftsteller, der über drei Jahrzehnte mit der Autorin S. Corinna Bille (1912–1979) verheiratet war. Von Martin Zingg Abtrünniger Sohn aus dem Wallis Er hätte Notar werden sollen, Advokat, wie seine männlichen Vorfahren auch. Sein Gross vater und sein Vater waren beide erfolgreiche Juristen, und Maurice Troillet, sein Onkel müt terlicherseits, war gar Jurist, Bankier und Walli ser Staatsrat, Nationalrat und Ständerat. Eine Familie von staatstragenden Persönlichkeiten im Wallis. Maurice Chappaz mag diese Tradi tion nicht fortsetzen. Maurice, das älteste von zehn Kindern, 1916 geboren, wird sich zwar eine Weile lang in der juristischen Fakultät der Universität Lausanne umsehen, er scheint einer Karriere als Rechtsanwalt zunächst nicht abge neigt, aber er wird das Studium vorzeitig abbre chen. Er wird Dichter werden, er wird schrei ben, ein wortmächtiger Erzähler. Das ist mehr als nur eine Absage an die Juris prudenz: Das ist vor allem eine Entscheidung für eine Lebensweise, die mit Entbehrungen rechnen muss und die nichts Repräsentatives Chappaz und Bille – das Werk • Maurice Chappaz: In Wahrheit erleben wir das Ende der Welt. Ein Lesebuch, zusammengestellt und Nachwort von Charles Linsmayer. Huber, Frauenfeld 2012. 352 Seiten, Fr. 42.–. • Maurice Chappaz: Evangelium nach Judas. Erzählung. Waldgut, Frauenfeld 2006. 171 Seiten, Fr. 36.–. • S. Corinna Bille: Schwarze Erdbeeren. Erzählungen. Nachwort von Monique Schwitter. Nagel & Kimche, Zürich 2012. 172 Seiten, Fr. 27.90. • S. Corinna Bille: Alpenblumenlese. Kleine Prosa. Rotpunktverlag, Zürich 2012. 67 Seiten, Fr. 24.–. • S. Corinna Bille: Dunkle Wälder. Roman, Vorwort von Maurice Chappaz. Rotpunktverlag, Zürich 2012. 157 Seiten, Fr. 24.–. • S. Corinna Bille: Das Vergnügen, eine eigene Welt in der Hand zu halten. Ein Lesebuch. Nachwort von Charles Linsmayer. Huber, Frauenfeld 2008. 352 Seiten, Fr. 48.–. • Themenabend zu Maurice Chappaz mit Charles Linsmayer und Regula Imboden. Literaturhaus Zürich, 12. Dezember, 19.30 Uhr. Restlos verliebt Der Prosaerstling ist die hymnische Feier eines Ausbruchs: Ein junger Mann streift in einem Park Anzug, Hemd und Krawatte ab, schnürt alles zu einem Bündel und wirft die Kleider weg. In blauer Hose, Pullover und alter Mütze macht sich der junge Mann dann auf den Weg und geniesst seine neue Freiheit: «Er war aus der Gemeinde geflohen, in der sein Vater die Verwaltung innehatte, als eine Art Notar oder Sheriff. Er hatte beschlossen, sich der albernen Aufgaben wegen, die ihm jedermann in Familie und Gesellschaft aufdrängen wollte, nicht mehr den Kopf zu zerbrechen.» Das ist unübersehbar der Text eines jungen Autors. Und es ist auch ein Programm, der Abschied Chappaz’ von einem Milieu. Mit diesem Text des 23jährigen Jungautors setzt das grossartige Lesebuch ein, das Charles Linsmayer zu Werk und Leben von Maurice Chappaz eingerichtet hat: «In Wahrheit erleben wir das Ende der Welt». Auf über 200 Seiten präsentiert Linsmayer Prosatexte, Gedichte und Briefe und spannt damit einen weiten Bogen über das Werk des ungewöhnlichen Schriftstellers, der vor drei Jahren im hohen Alter gestorben ist. Die Texte sind alle von Hilde und Rolf Fieguth neu übersetzt worden, zum grossen Teil erstmals, auch das kann nicht genug gerühmt werden. Mit seiner Auswahl und vor allem mit der Anordnung der Texte ge lingt es dem Herausgeber, Leben und Werk auf anschauliche Weise miteinander in Beziehung zu setzen. Dabei wird vor allem deutlich, wie sehr das Werk von Chappaz autobiografisch geprägt ist und wie stark sich die Prägung der frühen Jahre noch bis ins Alter auswirkt. Ein drücklich sind etwa die Briefe, in denen sich Chappaz an seinen Onkel Maurice Troillet Auf eine einfache, bündige Formel lässt sich sein umfangreiches Werk nicht herunterbrechen. Und in allem hat Chappaz seinen eigenen Ton gefunden. wendet oder an seine Schriftstellerkollegen. Und wenn er seiner späteren Frau S. Corinna Bille schreibt, spürt man den restlos Verliebten, der gerne bei seiner schreibenden Freundin wäre, aber zugleich seine eigene Arbeit nicht aus den Augen verlieren mag. Die entscheidende Klammer zwischen Leben und Werk stiftet in diesem Lesebuch das Nach wort von Charles Linsmayer: Auf 120 dichten Seiten entfaltet er darin die Biografie des Wal lisers, die ziemlich ungewöhnlich ist. Und wie nebenher beleuchtet deren Darstellung auch das Bild einer literarischen Region, die in der deutschsprachigen Schweiz immer noch weit gehend unbekannt ist. Für das Verständnis von Maurice Chappaz und dessen Werk sind die In formationen des Herausgebers von grossem Nutzen, auch weil sie das Angebot machen, die Primärtexte in deren biografischen Kontext zu stellen. Über sieben Jahrzehnte lang hat Maurice Chappaz geschrieben, und selbst wenn sein Themen und Stoffrepertoire überschaubar er scheint: auf eine einfache, bündige Formel lässt sich sein umfangreiches Werk nicht herunter brechen. Und in allem hat er seinen eigenen, durchaus unverwechselbaren Ton gefunden. Eine prägende Erfahrung ist die Ablehnung, ▲ 16 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 25. November 2012 haben kann. Der Bruch mit der bürgerlichen Welt, den er früh vollzieht, wird seine Familie denn auch lange Zeit in beträchtlichen Schre cken versetzen. Eine erste, auch einer breiteren Öffentlich keit sichtbare literarische Publikation kann Maurice Chappaz bereits Ende 1939 vorweisen. In einer Zeitschrift erscheint ein Text, mit dem er sich an einem Wettbewerb beteiligt hat: «Von einem, der auf einer Bank liegend lebte». Den ersten Preis haben ihm die Juroren – unter ihnen CharlesFerdinand Ramuz und Gustave Roud – nicht zuerkannt. Aber Chappaz hat ihr Interesse geweckt, und sie werden seine schrift stellerische Entwicklung fortan mit grossem Respekt begleiten und mit ihm freundschaftlich verbunden bleiben, vor allem Gustave Roud. FONDS MAURICE CHAPPAZ / SCHWEIZERISCHES LITERATURARCHIV, BERN Produktives Westschweizer Schriftsteller-Paar: S. Corinna Bille und Maurice Chappaz in Geesch, Niedergesteln (Wallis), ca. 1942/43. 25. November 2012 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 17 Porträt ▲ die Chappaz’ Familie der schriftstellerischen Tätigkeit ihres Sprösslings gegenüber hegt. Die verweigerte Anerkennung hat den Autor lange beschäftigt, indirekt in Texten, direkter in Briefen. Noch 1955 schreibt der abtrünnige Sohn an Maurice Troillet, seine Familie werfe ihm eine «lächerliche und schändliche Lebensweise» vor. Zu diesem Zeitpunkt hat Chappaz längst ein zwar kleines, aber sehr respektables Werk vorzuweisen. Daran hat Troillet, das ClanOberhaupt, übrigens keinen geringen Anteil. Denn während der Vater stets ein gespanntes Verhältnis zum jungen Schriftsteller hat und die Geschwister kühle Distanz zu ihrem Bruder wahren, verwendet sich der erfolgreiche Onkel Maurice ein Leben lang für seinen Neffen, und das, obschon die Meinungen der beiden in vielem auseinander gehen. Bis zuletzt wird Troillet dem Neffen finanziell aushelfen und ihn moralisch unterstützen. Hymne an Walliser Landschaft Wichtiger als die Verwandten werden für Maurice Chappaz die «Wahlverwandten», eine Handvoll Lehrer und Mitschüler aus der Schulzeit im Gymnasium der Abtei Saint-Maurice. Einige seiner Klassenkameraden werden sich wie er als Schriftsteller betätigen, etwa Jean Cuttat oder Georges Borgeaud. Mit ihnen bleibt er ein Leben lang verbunden. Auch mit den bewunderten Lehrern wird der Kontakt bis zu- letzt nicht abreissen, und in berührenden Texten wird er Jahrzehnte später an sie erinnern. «Die erste Schulstunde» etwa beschreibt den unvergesslichen Moment, da der verehrte Lehrer Edmond Humeau der Klasse korrigierte Aufsätze zurückgibt und kommentiert: Für Chappaz wird das eine Lektion fürs Leben. Als 1939 der Zweite Weltkrieg beginnt und die Schweiz ihre Truppen mobilisiert, ist Maurice Chappaz noch Student der Jurisprudenz. Er sieht in der Mobilmachung eine gute Gelegenheit, das Studium endgültig an den Nagel zu hängen. Fortan wird er – im Rang eines Leutnants – abwechselnd Militärdienst leisten oder sich zurückziehen, um zu schreiben. Auf langen Wanderungen, wie er sie ein Leben lang unternehmen wird, erkundet er die Walliser Landschaft, die er in frühen Prosatexten und Gedichten mit grosser Emphase besingt, etwa in «Der Pfynwald» oder in «Und ich wandere weiter», Texte, die im Lesebuch allesamt präsentiert werden. Ins Jahr 1942 fällt die entscheidende und lebensprägende Begegnung mit S. Corinna Bille. Bille – vier Jahre älter als er und zu dem Zeitpunkt noch verheiratet – ist angehende Schriftstellerin und hat schon erste kleine Erfolge vorzuweisen. Die beiden werden nach der vom Vatikan gebilligten Annullation von Billes Ehe heiraten und haben drei Kinder. Ein Schriftstellerpaar mit vielen Sorgen, vor allem finanziellen Nöten. Die fünfköpfige, junge Familie wird immer wieder, ähnlich wie Nomaden, den Wohnort wechseln und hat viele Krisen zu bestehen, mitunter auch, was den schriftstellerischen Erfolg der beiden angeht. Chappaz arbeitet zum Beispiel eine Zeitlang als Verwalter in den Rebber18 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 25. November 2012 CHARLY RAPPO Ins Jahr 1942 fällt die entscheidende Begegnung mit S. Corinna Bille. Sie ist vier Jahre älter, zu dieser Zeit noch verheiratet und angehende Schriftstellerin. Maurice Chappaz ging leidenschaftlich seinen eigenen Weg, hier 2005 in seiner Wohnung in Le Châble (VS). gen seines Onkels, in den Jahren 1956 bis 1958 wird er gar Hilfsgeometer beim Bau des Staudamms der Grande-Dixence. Empörung und Zärtlichkeit Nach dem plötzlichen Tod seiner Gattin 1979 wird er ihre unveröffentlicht gebliebenen Werke herausgeben und Vergriffenes neu erscheinen lassen. 79 Titel sind es insgesamt, wie Linsmayer errechnet hat. Zum hundertsten Geburtstag der Autorin sind in diesem Jahr beim Rotpunktverlag und bei Nagel & Kimche verschiedene Publikationen erschienen, die sehr nachdrücklich an die Bedeutung von S. Corinna Bille erinnern. Dazu gehört auch der Prosaband «Schwarze Erdbeeren», zu dessen Neuausgabe Monique Schwitter ein schönes Nachwort beigesteuert hat. Charles Linsmayers vor vier Jahren erschienenes Bille-Lesebuch, ein frühes Gegenstück zur vorliegenden Chappaz-Auswahl, gehört auch in diese Reihe: «Das Vergnügen, eine eigene Welt in der Hand zu halten». Im deutschsprachigen Raum hat Maurice Chappaz bis heute nicht die Beachtung bekom- men, die er verdient hat, obschon sich Verlage wie Limmat, Suhrkamp oder Waldgut immer wieder für ihn eingesetzt haben. Vorübergehende Aufmerksamkeit bekam der widerspenstige Walliser 1976 mit der Veröffentlichung einer schmalen Schrift, in welcher er die – nicht nur durch den expansiven Tourismus verursachte – Umweltzerstörung im Wallis anprangerte, «Les maquereaux des cimes blanches» («Die Zuhälter des ewigen Schnees»). Hier kam ein enttäuschter, polemischer Chappaz zum Vorschein, der sich leidenschaftlich für die Landschaft zur Wehr setzte, die er unzählige Male durchstreift und besungen hatte. Im Wallis wurde er für diese Publikation und weitere Interventionen, etwa gegen Waffenplätze und Bodenspekulation, eine Weile lang heftig angegriffen. Maurice Chappaz bleibt zu entdecken, mit seinen Reisebüchern, seinen Briefen, seinen feinfühligen Notaten, mit einem reichen Alterswerk, in all seiner Empörung und Zärtlichkeit – das vorliegende Lesebuch lädt dazu ein, und es ist zugleich auch ein ausgezeichneter Steigbügel. l Kolumne Charles Lewinskys Zitatenlese GAËTAN BALLY / KEYSTONE Es ist schwierig, keine Satire zu schreiben. Der Autor Charles Lewinsky arbeitet in den verschiedensten Sparten. Sein letztes Buch «Bühne frei!» hat er mit Bruno Hitz im Unionsverlag herausgegeben. Kurzkritiken Sachbuch Peter Bieri: Eine Erzählung schreiben und verstehen. J. Burckhardt-Gespräche. Bd. 26. Schwabe, Basel 2012. 38 S., Fr. 14.–. Stef Stauffer: Steile Welt. Leben im Onsernone. Lokwort, Bern 2012. 204 Seiten, Fr. 31.90, E-Book 21.20. Dreimal jährlich finden auf dem Landgut Castelen bei Augst (BL) die Jacob Burckhardt-Gespräche statt. Der neueste Band (26) der Vortragsreihe enthält den Essay des Philosophen und Schriftstellers Peter Bieri. Dieser lädt in luzider und eleganter Weise dazu ein, Erzählungen zu verstehen: ihre Handlung und Figuren, das Thema, die Erzählperspektive, die Art der Spannung, Wortwahl, Rhythmus und Melodie eines Textes. Mehr noch: Peter Bieri alias Pascal Mercier verfertigt beim Entwickeln der Gedanken vor Publikum eine Anleitung zum Selberschreiben einer Geschichte. Zuerst anhand von Dürrenmatts Novelle «Das Versprechen», danach an einer noch ungeschriebenen Episode über einen Anstaltssekretär, die Bieri in seinen Jugenderinnerungen ausgegraben hat. Der leidenschaftliche Geschichtenerzähler lässt einen teilhaben an einem beglückenden Erkenntnisprozess. Urs Rauber Die Berner Lehrerin und Galeristin Stef Stauffer (47) gehört zur wachsenden Zahl Besucher, die das Tessiner Onsernone-Tal entdecken, sich in die steilschroffe Landschaft oder ins mediterran-alpine Klima verlieben, ein Rustico erwerben und seither dort ihre Ferien verbringen. Stauffers Begeisterung geht aber weiter, sie hat 15 bewegende Geschichten von Einheimischen aufgezeichnet: Erzählungen vom kargen Leben der Anziani, von alten Berufen wie der Strohflechterei, von Geburt, Auswanderung und Tod, Freude und Not. Die Beobachterin hat die Oral-HistoryZeugnisse in eine literarische Form gebracht und poetisch-zurückhaltend kommentiert. Eine gelungene Hommage an das Tal mit den 300 Kurven, zwei Läden und einem Postauto. Und eine Liebeserklärung an die OnsernoneFrauen, die hier seit je für Leben und Überleben ihrer Angehörigen sorgen. Urs Rauber Joachim Wahl: 15 000 Jahre Mord und Totschlag. Theiss, Stuttgart 2012. 208 Seiten, Fr. 24.40. Alexander Schrepfer-Proskurjakov: Speznas. Russlands Einheiten. Motorbuch Verlag, Stuttgart 2012. 175 Seiten, Fr. 40.90. Obwohl die Menschen, von denen in diesem Buch die Rede ist, schon seit Hunderten oder gar Tausenden von Jahren tot sind, ermöglicht die Untersuchung ihrer sterblichen Reste ungeahnte Einblicke in ihr einstiges Leben. Der Anthropologe Joachim Wahl stellt in seinem Buch wahre Fälle aus Deutschland vor, die erschauern lassen: ein Massaker vor 7000 Jahren, in einem Brunnen ersäufte Römer, Erhängte und Geköpfte aus dem Mittelalter. Bilder von gespaltenen Schädeln und Beckenschaufeln machen die grausigen Fälle erst recht anschaulich. Wahl erläutert die historischen Zusammenhänge und die anthropologischen Methoden der Skelettuntersuchung; ein Glossar erklärt Fachbegriffe wie zum Beispiel den Endokannibalismus; damit bezeichnen Wissenschafter das Verspeisen von Toten aus der eigenen Lebensgemeinschaft. Geneviève Lüscher Militärisch-polizeilichen Begriffen wie Spezialeinheit oder Antiterrortruppe haftet in der Öffentlichkeit oft eine heroisch-abenteuerliche Aura an. Man denkt an die legendäre deutsche GSG 9 oder die amerikanischen Navy Seals, die 2011 den Kaida-Chef Bin Ladin in Pakistan unschädlich gemacht haben. Natürlich hat auch Russland solche Einheiten. Sie heissen dort Speznas, was nichts anderes ist als ein Zusammenzug aus den Wörtern «zur speziellen Verfügung». Der in Russland aufgewachsene und in der Schweiz lebende Autor Alexander Schrepfer-Proskurjakov will in seinem Buch einen Überblick über die verwirrende Vielfalt russischer Speznas vermitteln. Eine kritisch-vergleichende Einordnung entsteht dabei nicht. Doch verweist der Band für Interessenten auf viele weiterführende russische Informationsquellen. Reinhard Meier Juvenal Und dabei hätte es doch einfach ein Buch werden sollen und gar keine Satire. «Klick mich» heisst das Werk, trägt den werbewirksamen Untertitel «Bekenntnisse einer InternetExhibitionistin», und für sechzehn Euro neunundneunzig kann man es bei Amazon bestellen. Julia Schramm, die Autorin, ist Mitglied im Bundesvorstand der deutschen Piratenpartei. (Oder müsste das Mitgliedin heissen? Ich bin mit solchen Feinheiten der politischen Korrektheit oft überfordert.) Als führende Piratin vertritt sie selbstverständlich die Forderung aus dem Programm ihrer Partei, «das nichtkommerzielle Kopieren, Zugänglichmachen, Speichern und Nutzen von Werken nicht nur zu legalisieren, sondern explizit zu fördern». Das gilt für Filme, für Musik und natürlich auch für Bücher. Auch für solche, die man selber geschrieben hat. Oops. Denn damit setzt die Satire ein. Jetzt, wo die Politikerin Julia Schramm gemerkt hatte, wie viel Arbeit so ein Buch macht, und wo sie die Tantièmen schon verplant hatte, jetzt fand sie die Forderung, die sie gerade noch so heftig vertreten hatte, zwar immer noch gut. Nur nicht im eigenen Fall. Als jemand ihre Bekenntnisse zum kostenlosen Herunterladen ins Netz stellte, liess sie ihren Verlag gegen diese Urheberrechtsverletzung juristisch einschreiten. Auch wer andere Autoren enteignen will, verteidigt den eigenen Geldbeutel mit Zähnen und Klauen. Die Geschichte erinnert ein bisschen an die – vielleicht apokryphe – Anekdote über A. S. Neill, einen der Begründer der antiautoritären Erziehung. Er habe, so wird gemunkelt, einem Schüler, der mit beschuhten Füssen auf den Tasten seines Pianos herumgetrampelt sei, eine Ohrfeige verpasst. Mit der Begründung: «Natürlich bin ich gegen jede Autorität. Aber das ist mein Klavier.» Bei A. S. Neill weiss man nicht so genau, ob die Geschichte stimmt. Julia Schramm hingegen war ganz eindeutig der Meinung: «Aber das ist mein Buch!» Worauf im Netz ein Shitstorm über sie hereinbrach. In der Flut von Verwünschungen, mit denen sie eingedeckt wurde, war «geldgierige Hure» noch eine der freundlicheren Formulierungen. Frau Schramm hat ihren Rücktritt aus dem Parteivorstand der Piraten erklärt. Ihre politische Karriere ist vielleicht zu Ende. Aber in die Annalen der ungewollten Satire ist sie ganz bestimmt eingegangen. 25. November 2012 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 19 Sachbuch Kunstgeschichte Der Neurowissenschafter Eric Kandel versöhnt Kunst und Hirnforschung – am Beispiel der Wiener Salon-Kultur um Sigmund Freud, Arthur Schnitzler und Gustav Klimt Eric Kandel: Das Zeitalter der Erkenntnis. Die Erforschung des Unbewussten in Kunst, Geist und Gehirn von der Wiener Moderne bis heute. Siedler, München 2012. 704 Seiten, Fr. 59.90, E-Book 39.90. Von Kathrin Meier-Rust Seine Autobiografie «Auf der Suche nach dem Gedächtnis» (2006), die auch dem wunderbaren gleichnamigen Film zugrunde liegt, hat den Neurowissenschafter Eric Kandel zu einem Bilderbuch-Nobelpreisträger werden lassen: Weisshaarig, mit grosser Brille und roter Fliege bewehrt, verstand es der damals schon fast 80-jährige Forscher, einem allgemeinen Publikum nicht nur seine lebenslange Gedächtnisforschung darzustellen, sondern diese überdies mit der Geschichte der Neurowissenschaften und mit seinen eigenen Lebenserinnerungen zu verbinden. 1929 in Wien geboren, wurde Kandel nach dem Anschluss Österreichs 1938 mit seiner jüdischen Familie in die Emigration gezwungen. Er kam als 9-Jähriger in die USA, studierte später Geschichte in Harvard, danach Medizin in New York mit dem Ziel, Psychoanalytiker zu werden. Er entschied sich dann aber für die neurobiologische For- «e�ne en�schLeun�G�e WeL�s�ch�.» �aGes-anze�Ger <wm>10CAsNsjY0MDAx1TU0tzQ0MAMATgjG9w8AAAA=</wm> mit cd L�nard Bard�LL der kLe�ne Buddha <wm>10CFWMMQ6AMAwDX9TKbhtC6Ii6IQbE3gUx8_-JlA0p1tmJlW2rEvFpbfvZjkqgSKAaMVWKRBuERqU6iQSmhUV8n-fy6wfQpozcRycQPt1NGocuZh7GB0dSSHyu-wX5PqWAgAAAAA==</wm> Gesch�ch�en, L�eder und Ged�ch�e 96 se��en, GeBunden, ��� cd, Fr. 34.– L���a� VerLaG 20 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 25. November 2012 schung, um die biologischen Grundlagen psychischer und geistiger Vorgänge zu erhellen, von deren Existenz schon Freud überzeugt gewesen war. Für seine Erforschung der molekularbiologischen Grundlagen des Erinnerns bei der Meeresschnecke Aplysia erhielt Kandel 2000 den Nobelpreis für Medizin. Nun legt Eric Kandel ein zweites gewichtiges Alterswerk vor, das sich wiederum an ein allgemeines Publikum richtet. Mit dem reich illustrierten «Zeitalter der Erkenntnis» möchte Kandel nichts weniger als eine grosse Synthese von Kunst, Geist und Biologie entwerfen, einen ersten Versuch einer Kognitionspsychologie der Kunst wagen, einer «Neuroästhetik», die dereinst dem Geheimnis der Kreativität und der emotionalen Wirkung von Kunst auf die Spur kommen und gleichzeitig die tiefe Kluft schliessen könnte, die heute zwischen der Geisteswissenschaft und der (Natur-)Wissenschaft vom Geist klafft. Die Elite traf sich im Salon Ausgangs- und Bezugspunkt für dieses Unternehmen ist eine Darstellung von «Wien um 1900», einer Zeit, die Kandel zwar nicht erlebt hat, die er aber mit geradezu persönlicher Begeisterung schildert, weil sie für ihn eine Art Idealzustand darstellt: «Ich musste Wien schon als Kind verlassen», schreibt er, «doch das Geistesleben vom Wien der Jahrhundertwende liegt mir im Blut – mein Herz schlägt im Dreivierteltakt.» Dies nicht nur, weil damals Wissenschaft und Kunst eine grosse Blüte erlebten, sondern auch, weil ihre Protagonisten über alle Disziplin- und Fächergrenzen hinweg in regem Austausch miteinander standen. Anders als in London oder Paris kannte und mischte sich im kleinen Wien die naturwissenschaftliche und die künstlerische Elite, man traf sich im Kaffeehaus, bei Vorträgen und vor allem im Salon der ebenso klugen JOSEF POLLEROSS / ASABLANCA.COM «Mein Herz schlägt Dreivierteltakt» Rote Fliege als Markenzeichen: Nobelpreisträger Eric Kandel, 2005. wie reichen Jüdin Bertha Zuckerkandl. Darwin und Freud wurden hier ebenso lebhaft diskutiert wie die damals skandalösen Bilder eines Gustav Klimt, der, seinerseits von den neuen Erkenntnissen der Biologie tief beeindruckt, oft stilisierte Ei- und Spermienzellen in seine prachtvoll-üppige Hintergrundornamentik einbaute. Hier also nahm jener Dialog von Kunst, Geist und Wissenschaft seinen Anfang, den Kandel als grosse Aufgabe unserer Zeit sieht. Zugleich sieht er Wien zwischen 1890 und 1914 als Schauplatz einer grossen «Wende nach innen», die sich gleichzeitig in der Forschung wie auch in Kunst und Literatur vollzog. Über alle Fachgrenzen hinweg ging es um ein neues, modernes Bild vom Menschen, das auch unbewusste Triebe der Sexualität und der Aggression mit einbezog. Da war in erster Linie natürlich Sigmund Freud, der damals «den Begriff der Psyche aus der Sphäre der Philosophie» holte, um ihn «zum im napsen, Zapfen und der Hirnregion eher schwer tun. Das schöpferische begabte Individuum in seiner historischen und gesellschaftlichen Bedingtheit kommt in der allgemeinen Biologie des menschlichen Gehirns eben nicht vor, so staunenswert dessen Leistungen auch sind. Und gerade zu den brennenden Fragen um Kreativität und Kunst – etwa zur Frage, warum mich persönlich gerade dieses Bild, gerade dieser Künstler emotional berührt – kann neurowissenschaftliches Wissen wenig beitragen. Was uns an Kunst berührt «Noch nicht» – sagt Eric Kandel. Im Schlussteil des Buches resümiert der Autor nebst anderen interessanten Themen, wie evolutionsbiologische Erklärungen für das künstlerische Schaffen oder die künstlerische Spitzenleistung bei autistischen Menschen, auch die wachsende Aufspaltung der Wissenschaft in Teildisziplinen seit dem 18. Jahrhundert und die Brücken, die etwa zwischen Physik und Chemie oder zwischen Chemie und Biologie im 20. Jahrhundert geschlagen wurden. Die Annäherungen zwischen Kunst, Kunstgeschichte, Kognitionspsychologie und Hirnforschung sieht auch Kandel hierbei noch in ihren ersten Anfängen. Trotzdem ist er überzeugt, dass das Wissen um neurobiologische Vorgänge im menschlichen Hirn für zukünftige Künstler dereinst ebenso nützlich und befruchtend sein werde, wie es die Kenntnis der Anatomie für die Künstler der Renaissance war. Wirklich? Auch Kandel gesteht ja nicht nur seinen Lieblingskünstlern des österreichischen Expressionismus, sondern den Künstlern aller Zeiten zu, genau diese Vorgänge intuitiv schon immer besonders gut erfasst und genutzt zu haben. Wie anders könnten sie uns, die Betrachter ihrer Werke, so begeistern und im Innersten treffen. l ULLSTEIN BILD Objekt der jungen Psychologie» und damit der Wissenschaft zu machen. Doch da ist etwa auch der Mediziner Carl von Rokitansky, der die medizinische Diagnostik durch die systematische Obduktion von Leichen revolutionierte, womit Wien weltweit führend wurde in der Medizin. Auf Seiten der Kunst sind es die Maler Gustav Klimt, Oskar Kokoschka und Egon Schiele, denen Kandel (selbst ein Sammler österreichischer expressionistischer Kunst) besonders reich illustrierte Kapitel widmet, ebenso wie der Schriftsteller Arthur Schnitzler, der im inneren Monolog Freuds Erkenntnisse menschlich dramatisierte. Das Bild, das Kandel auf 200 Seiten von Wien zeichnet, besticht in seiner Geschlossenheit, die «reduktionistische» Methode der Begrenzung auf einige wenige Künstler und Mediziner erweist sich als ausgesprochen leserfreundlich. Ganz anders die daran anschliessenden neurowissenschaftlichen Teile des Buches. Zwar gelingt es Kandel durchaus, wissenschaftliche Erkenntnisse verständlich und interessant darzustellen: zur Komplexität des Sehprozesses etwa, zur Wahrnehmung von Gesichtern oder zur Fähigkeit unseres Hirns, eine bemalte zweidimensionale Fläche automatisch in dreidimensionale Figuren oder Landschaften zu verwandeln. Einen Höhepunkt stellt die neurobiologische Erklärung für das rätselhafte Lächeln der Mona Lisa dar: je nachdem ob die Schöne über das periphere Sehen oder über eine zentrale Fixierung betrachtet wird, zeigt ihr Mund eine etwas andere Krümmung. Doch jene Annäherung zwischen Kunst und Hirnforschung, die Kandel so am Herzen liegt, findet bei dieser Lektüre merkwürdigerweise kaum statt. Im Gegenteil – wer die lebendig-pralle Schilderung der Szene von Wien um 1900 geschätzt hat, wird sich mit den Sy- «Die Hoffnung» von Gustav Klimt. Der damals skandalumwitterte Wiener Künstler war von den Erkenntnissen der Biologie tief beeindruckt. 25. November 2012 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 21 Sachbuch Rohstoffe Der Zürcher Friedensforscher Daniele Ganser plädiert für die Energiewende Die Gier nach Erdöl bestimmt die Weltpolitik Daniele Ganser: Europa im Erdölrausch. Die Folgen einer gefährlichen Abhängigkeit. Orell Füssli, Zürich 2012. 414 Seiten, Fr. 37.90. Von Tobias Kaestli Peak Oil ist überschritten In Deutschland etwa sind die Anlagen für Wind- und Solarenergie kräftig ausgebaut worden, so dass dort an einem wolkenlosen Tag die Solaranlagen eine höhere Leistung erzeugen als 20 Atomkraftwerke. Dies ist eine Voraussetzung dafür, dass vermehrt nachhaltig erzeugte elektrische Energie auch für die individuelle Mobilität eingesetzt werden kann. Ganser erwähnt in dem Zusammenhang, dass Ferdinand Porsche schon an der Weltausstellung 1900 in Paris ein Auto vorführte, dass sowohl über einen Verbrennungsmotor als auch über einen Elektromotor verfügte. Der Elektroantrieb schien damals durchaus eine Chance zu haben, doch das billige Erdöl lief ihm den Rang ab. In den letzten Jahren ist der Preis pro Fass Erdöl auf etwa das Zehnfache gestiegen, doch er ist immer noch zu niedrig, um eine drastische Reduktion des Erdölkonsums zu erzwingen. Die USA haben gegenwärtig einen Tageskonsum von Alternative Energiequellen Während in Europa und den USA die Ölförderung zurückgeht, wächst in China der Hunger nach Erdöl. Tankwartin in Huaibei (China), 2012. REUTERS Nach der Mitte des 19. Jahrhunderts begannen Unternehmer in den USA im grösseren Stil nach Erdöl zu bohren. Schon bald wurden einzelne Personen und Familien durch diesen Geschäftszweig sehr reich, etwa die Rockefellers. Es entstanden Monopolgesellschaften, die ihre Interessen skrupellos durchzusetzen und Politiker für ihre Zwecke einzuspannen wussten. Scharf fasst der Wirtschaftshistoriker Daniele Ganser die sich rasch entwickelnde Gier nach Erdöl und die dadurch motivierte Politik ins Auge. Als wichtige Etappen schildert er die beiden Weltkriege, die Suezkrise 1956, die erste Erdölkrise von 1973, die zweite Erdölkrise im Gefolge der iranischen Revolution von 1979, die Kriege im Irak, in Afghanistan und in Libyen. Es ist hochinteressant, die Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts unter dem Aspekt des Zugriffs aufs Erdöl Revue passieren zu lassen. Ganser versteht es, spannend zu erzählen. Seine Tendenz, hinter der Erdölpolitik der USA immer wieder geheime Absprachen weniger mächtiger Personen und Institutionen zu sehen, vermag allerdings nicht immer zu überzeugen. Nüchterner und quellenmässig besser abgestützt sind die Kapitel, in denen er sich mit der gegenwärtigen Energiesituation in der Schweiz und in 20 Mio. Fass Erdöl, Europa kommt auf 15 Mio. Fass. China verbraucht täglich «nur» 9 Mio. Fass, hat aber als bevölkerungsreichstes Land der Erde ein gewaltiges Steigerungspotenzial. Der aus der bisherigen Entwicklung extrapolierte Bedarf wird schon bald nicht mehr gedeckt werden können, denn der sogenannte Peak Oil, die maximale Fördermenge, ist bereits überschritten. Die Ergiebigkeit der Ölfelder nimmt laufend ab. Die USA, bis zum Zweiten Weltkrieg die grösste Ölfördernation, erreichten den Peak Oil schon 1970. Norwegen und Grossbritannien als wichtigste Ölförderländer Europas überschritten ihn im Jahr 2000. Die Internationale Energieagentur (IEA), die während Jahren die Erdölfunde und -fördermengen viel zu optimistisch prognostizierte, ging 2010 erstmals davon aus, dass 2006 der Peak Oil weltweit erreicht worden sei. Trotz zunehmender Ausbeutung von Tiefseeöl, von Ölschiefer und auch Ölsand nehmen die Fördermengen ab. Die noch vorhandenen Reserven können nur mit wachsenden Investitionskosten und auch mit wachsendem Energieeinsatz nutzbar gemacht werden. Europa befasst. Schon im Jahr 2003 beschloss Ganser, im Bereich der globalisierten Wirtschaft, der Energiesicherheit und der Friedenssicherung zu forschen. Er gründete das «Swiss Institute for Peace and Energy Research» (SIPER) und gilt heute als Energieexperte, der speziell im Zusammenhang mit der bundesrätlichen Energiestrategie 2050 in Wirtschaft und Politik beratend tätig ist. In seinem Buch legt er einleuchtend dar, warum der Ersatz des Erdöls durch nachhaltige Energietechniken dringend notwendig ist, und er zeigt am Beispiel einzelner Länder, wo wir heute stehen. 22 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 25. November 2012 Klüger wäre es nach Ganser, Kapital und Energie vermehrt für die Entwicklung alternativer Energieformen einzusetzen. Denn die Energiewende darf nicht länger hinausgeschoben werden. Würden wir nämlich den heutigen Lebensstil grosso modo fortsetzen, dann würde bei gleichbleibender Weltbevölkerung im Jahr 2050 nur noch die Hälfte davon ausreichend mit Erdöl versorgt werden können. Eine solche enorme Verknappung des Angebots würde notwendig zu Verteilungskämpfen, zu Gewaltanwendung und neuen Kriegen führen. Die Energiewende ist spätestens seit Fukushima eingeleitet worden, aber wir stehen auch in der Schweiz erst am Anfang. Zwar haben wir einen hohen Anteil an Wasserkraft, hinken aber bei der Gewinnung von Windkraft und Solarenergie stark hinten nach. Wie ist das gekommen? War die Schweiz nicht einst führend in Solartechnik? Ganser nennt die Fakten, ordnet sie, schafft Überblick. Neben den offiziellen lässt er auch alternative Meinungen zum Zug kommen und seine Sympathie gilt denjenigen, die schon früh die Notwendigkeit anmahnten, vom Erdöl wegzukommen. Seine Botschaft: Der Krieg ums Öl mit allen Opfern, die er bis dahin schon forderte, ist nicht unausweichlich. Eine Entwicklung hin zur friedlichen Aushandlung und zur Förderung alternativer Energieformen ist möglich, setzt aber einen Mentalitätswandel und einen neuen Lebensstil voraus. l Literatur Zwei Publikationen zu Bertolt Brecht und Helene Weigel fördern Neues zum Jahrhundertpaar zutage: Kurzfutter, aber auch schwere Kost Alltagsdetails und Sottisen Bertolt Brecht, Helene Weigel: Briefe 1923–1956. «ich lerne: gläser + tassen spülen». Suhrkamp, Berlin 2012. 250 Seiten, Fr. 39.50. Jan Knopf: Brecht. Lebenskunst in finsteren Zeiten. Biografie. Hanser, München 2012. 558 Seiten, Fr. 37.90, E-Book 25.40. Von Martin Walder Beerdigt werden wollte sie zu seinen Füssen. Sie war ihm und seiner Arbeit treu, all seinen Nebenfrauen zum Trotz. Und schliesslich durchlebten Helene Weigel und Bert Brecht Ehejahre eines zermürbenden Exils durch Skandinavien und die USA zurück nach Deutschland, wo sie in Ostberlin das berühmte Berliner Ensemble (BE) gründeten, er experimentieren und sie endlich wieder spielen konnte und dann als Intendantin des BE lange über seinen Tod hinaus herrschte. Im Sommer 1923 hatten sie sich in Berlin kennengelernt. Die von Liebe und Krisen gebeutelte Lebens- und Arbeitsbeziehung des Jahrhundertpaars auch in den Briefen nachzuerleben, ist verlockend. Was an ihrer Korrespondenz über 33 Jahre hinweg noch erhalten oder erreichbar ist – 250 Briefe –, präsentiert sich nun unter dem augenzwinkernden Zitat «ich lerne: gläser + tassen spülen» (Zitat Brecht). Von Brecht sind es 48 in der Gesamtausgabe noch nicht erfasste und erst 1999 in Zürich wieder aufgetauchte Schreiben, vor allem aus dem amerikanischen Exil. Von Weigel ist sehr viel weniger erhalten, das meiste aus der Zeit am BE. In Brief 120 von Anfang Mai 1939 aus Paris taucht «Helli» erstmals in Erscheinung. Zum erhofften Dialog oder gar «Roman» in Briefen kann sich das von Erdmut Wizisla in den grösseren biografischen Abläufen gut situierte und minutiös kommentierte Material nicht fügen. Überdies ist, was Brecht und Weigel einander schreiben, dominiert von den sachlichen Details, die den Emigrationsalltag überwuchern – ist also weitgehend SMS-Stoff sozusagen: zu Wohnungssuche, Kontakten, Postautokosten, Kinder- und anderen Krankheiten, Engagements, Reiseplanung, Familienlogistik, Verträgen und Namen im grossen Unterwegssein. Da fehlen dann auch persönliche Kommentare und hübsche Sottisen nicht. Nur: Die wirklichen «Szenen» dieser Ehe sind kaum Thema. Da und dort freilich müssen sie es einander schriftlich geben, weil beiden das Reden offenbar zu schwer fällt – derlei ist aber an den Fingern einer Hand abzuzählen. So sind Nichtspezialisten nach wie vor eher auf die Biografien verwiesen: in Weigels Fall an jene von Sabine Kebir, wogegen über Brecht nun bei Hanser ULLSTEIN SMS-Stoff sozusagen Bertolt Brecht und Helene Weigel (Mitte) bei ihrer Ankunft in Paris am Neujahrstag 1954. neu «die erste Biografie nach dem Fall der Mauer» angepriesen und ein unideologischer Blick auf den Mann versprochen wird. Was hat es damit auf sich? Ersteres trifft höchstens in Sachen grossem Umfang zu, letzteres aber stimmt auf erfrischende Weise. Der Autor Jan Knopf legt kein Bedürfnis nach Hagiografie an den Tag, nach unersättlicher Auseinandersetzung mit Brechts Theorie, Praxis und «Lebenskunst in finsteren Zeiten» indessen schon. Denn die vorliegende Biografie sei sein inzwischen fünfter Gesamt«Durchlauf» durch Brechts Leben und Werk, registriert der Verfasser in der Nachbemerkung trocken. Als Mitherausgeber der grossen kommentierten Berliner und Frankfurter Ausgabe und als Kopf der Karlsruher Arbeitsstelle Bertolt Brecht ist Knopf ein erstrangiger Kenner, der sein Wissen zum Beispiel im grossen Brecht-Handbuch (bei Metzler 1980) und bereits in zwei gedrängten biografischen Darstellungen (bei Reclam 2000 und Suhrkamp 2012) ausgebreitet hat. Hier nun ist der ganze immense Horizont des sprachgewaltigen Dichters und hellwach widerborstigen Zeit-Seismografen BB angepeilt. Und «da bestand meine Hauptaufgabe darin: wegzulassen», heisst es einsichtig in Knopfs Nachbemerkung. Sagen wir so: Es ist immer noch mehr als genug, und oft zu viel. Denn eindeutig hat der Archivar und Analytiker Knopf über den biografischen Erzähler Knopf die Oberhand. Syntax und Darstellungsfluss mäandern in Kapiteln der komplizierteren Art, voll von Klammereinschüben und Exkursen. Oft ist das genau und erhellend gegenüber der intellektuell sarkastischen Spieler- und Probierernatur Brecht, etwa in der Situierung von Brechts Marxismus-Verständnis. Oft jedoch geht es auf Kosten argumentativer Eingängigkeit und Stringenz – um nur ein Beispiel zu nennen: bei der Interpretation des unentwegt unverdaulichen LehrstückBrockens «Die Massnahme», eines von BBs Hauptwerken. Nichts für Anfänger Die Fülle des ausgebreiteten Materials ist erdrückend, ein Delegieren mancher Details in Anmerkungen wäre wohltuend gewesen. Grundsätzlich nämlich lässt sich dem Gestaltungsprinzip dieser Biografie viel abgewinnen, nimmt es doch Brechts gleich eingangs zitiertes Diktum ernst, dass «das kontinuierliche Ich eine Mythe» sei. Entsprechend «erzählt» eben Knopf Brechts Leben hier nicht eng chronologisch, sondern kristallisiert kapitelweise Themen und Motive und Stationen über die grossen Zeiträume (Kaiserreich, Weimarer Republik, Deutscher Faschismus, Exil in Skandinavien und den USA, Nachkriegszeit), so dass sich die inneren Verknüpfungen ergeben sollen. Nie ist das uninteressant, aber das Dilemma zwischen Brecht-Handbuch-Kondensat, kursorischer Interpretation und erzählender Biografie bleibt auch über 560 Seiten (ohne ein einziges Bild) bestehen. Nein, kein Brecht für Anfänger. l 25. November 2012 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 23 Sachbuch Zweiter Weltkrieg Der britische Historiker Paul Kennedy richtet sein Augenmerk auf das Jahr 1943 Stunde der Taktiker Paul Kennedy: Die Casablanca-Strategie. Wie die Alliierten den Zweiten Weltkrieg gewannen. C. H. Beck, München 2012. 448 Seiten, Fr. 35.40. Die Geschichte des Zweiten Weltkriegs ist oft erzählt worden: von Siegern und Besiegten, von Heerführern und Soldaten, von Schriftstellern und Historikern. Kaum je aber ist ein altbekanntes Thema auf so originelle und erhellende Weise angegangen und erörtert worden wie in der Darstellung, die der renommierte britische Historiker Paul Kennedy, seines Zeichens Professor an der Yale University, nun vorlegt. Im Unterschied zu seinem Landsmann John Keegan, der in seinem umfassenden Werk das ganze Kriegsgeschehen von Hitlers Polenfeldzug bis zum Abwurf der Atombomben über Hiroshima und Nagasaki abhandelt, konzentriert sich Kennedy auf eine kürzere Zeitspanne und auf wenige, eingehend abgehandelte Themenbereiche. Sein Hauptinteresse gilt der Zeit zwischen der Casablanca-Konferenz vom Januar 1943 und der Eroberung der Seeherrschaft im Pazifik durch die Amerikaner im Jahre 1944. In Casablanca trafen sich Roosevelt und Churchill, um den weiteren Kriegsverlauf zu diskutieren und die folgenschwere Entscheidung zu treffen, den Krieg bis zur «bedingungslosen Kapitulation» Deutschlands und seiner Verbündeten fortzusetzen. Zu diesem Zeitpunkt stand die deutsche Niederlage von Stalingrad fest und die Schlacht von El Alamein war verloren. Im Rückblick ist 1943 das Jahr der Wende. Was folgte, die Flächenbombardements auf deutsche Städte, die Offensiven der Roten Armee, die Invasion in der Normandie, schien sich mit zwingender Logik aus der zunehmenden kriegstechnischen und numerischen Überlegenheit der Alliierten zu ergeben. Neue Fragen stellen Kennedy vermag schön herauszuarbeiten, dass der Endsieg in der Sicht der Staatsmänner und Militärs, die sich 1943 in Casablanca trafen, noch keineswegs feststand. Der Schutz der amerikanischen Geleitzüge vor den Rudeln der deutschen U-Boote war noch immer unzureichend. Die «Battle of Britain» war zwar gewonnen, aber die Lufthoheit über Westeuropa noch nicht gesichert. Die Landung grosser Truppenverbände auf dem europäischen Festland konfrontierte die Alliierten mit ebenso grossen organisatorischen und technologischen Herausforderungen wie die Sicherung der Nachschublinien im unermesslichen Raum des Pazifiks. Solchen Problemen und ihrer Lösung widmet Paul Kennedy sein Hauptaugenmerk. Er tut dies nicht, indem er bekannten Stoff nacherzählt, sondern 24 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 25. November 2012 BPK Von Urs Bitterli US-Präsident Franklin D. Roosevelt (links) und der britische Premier Sir Winston Churchill an der Konferenz von Casablanca, im Januar 1943. indem er Fragen an die Geschichte stellt und diese zu beantworten sucht. Den Autor interessiert weniger das Frontgeschehen als die Leistung der «Problemlöser» im Hinterland, der Taktiker, Techniker und Tüftler, die oft mit sehr beschränkten Mitteln und unter grossem Zeitdruck daran arbeiteten, immer neuen gegnerischen Herausforderungen entgegenzutreten. So erfahren wir in detaillierter, aber immer spannender Analyse, wie Dechiffrierung und Funkaufklärung sowie neue Technologien zur Aufspürung und Abwehr des Feindes den U-Boot-Krieg im Atlantik gewinnen halfen. Und wir erfahren, welche Entwicklungen im Flugzeugbau die Flächenbombardements auf deutsche Städte möglich machten und welchen enormen materiellen und intellektuellen Aufwand die Durchführung der alliierten Landung in der Normandie erforderte. Kennedy berichtet aber nicht nur von den Erfolgen kriegstechnischer und taktischer Problemlösung, sondern auch von Fehlentscheidungen. So verfehlten Hitlers verheerende Bombardierungen Londons im Jahre 1940 das Ziel der Demoralisierung der Bevölkerung und erreichten genau das Gegenteil, und es bleibt schwer verständlich, wie der Chef der englischen Bomberflotte, Harris, der es doch besser hätte wissen müssen, dasselbe Ziel mit der Zerstörung deutscher Städte zu erreichen hoffte. Von besonderem Wert ist das letzte Kapitel von Kennedys Buch, das unter dem Titel «Wie überwindet man die ‹Tyrannei der Distanz›?» dem amerikanisch-japani- schen Ringen im Pazifik gewidmet ist, einem Thema, das in der deutschsprachigen Fachliteratur kaum je eingehender behandelt wird. Klug und nüchtern beurteilt Paul Kennedy hat seinen im Vorwort geäusserten Vorsatz, eine «neue Sichtweise» auf den Zweiten Weltkrieg zu versuchen, auf beeindruckende Weise eingelöst. Sein Buch stimmt aber auch nachdenklich. Es zeigt nicht nur, dass der Krieg den technischen Fortschritt vorantreibt, sondern auch, wie sehr der Frontsoldat im modernen Konflikt vom Techniker abgelöst wird und in welchem Grade die Kriegsmaschinerie eine Eigengesetzlichkeit entwickelt, die sich ethischer und selbst politischer Kontrolle entzieht. Kein Zweifel, dass diese Entwicklung, die der Frontkämpfer Ernst Jünger bereits im Ersten Weltkrieg kommen sah, bis zur aktuellen Diskussion über den Kriegseinsatz bewaffneter Drohnen und Roboter stetig vorangeschritten ist. Wer das kluge und nüchtern urteilende Buch von Paul Kennedy gelesen hat, nimmt mit durchaus gemischten Gefühlen zur Kenntnis, dass die Schweizer Rüstungsindustrie in der Entwicklung solcher Waffensysteme an der internationalen «Forschungsfront» führend ist. Und mit einiger Skepsis erfährt man, dass sich die Experten vom Einsatz solchen Kriegsgeräts versprechen, die Opferzahlen künftiger Konflikte niedriger zu halten. l Urs Bitterli ist emeritierter Professor für Neuere Geschichte an der Uni Zürich. Briefwechsel Die Briefe von Alma Mahler und Arnold Schönberg gewähren Einblick ins Privatleben der beiden schillernden Figuren aus der Musikwelt Die Mäzenin schickt Champagner zur Versöhnung einen Menschen kommen, der sich nichts gefallen lässt.» Schönberg, der 1933 mit seiner Familie über Frankreich in die USA emigriert, korrespondiert auch vom Exil aus keineswegs ironiefrei. Statt mit Christbäumen würden sie Weihnachten in Kalifornien mit einem Kaktus feiern, schreibt er 1934: «Eigentlich sehr praktisch, denn man braucht keine Kerzenhalter, die sind schon drauf!» Als Pragmatiker tut er sich mit dem Exil nicht allzu schwer. «Und man soll nicht zögern zu sagen: wir sind sehr glücklich hier zu sein», berichtet er 1939 an Alma Mahler. Diese schreibt ihm wiederum verzweifelte Notizen aus Frankreich zurück: «Der Fremdenhass beginnt fühlbar zu wer- Haide Tenner (Hrsg.): «Ich möchte so lange leben, als ich Ihnen dankbar sein kann». Alma Mahler – Arnold Schönberg. Der Briefwechsel. Residenz, St. Pölten 2012. 304 Seiten, Fr. 35.40. Von Fritz Trümpi Stadtansichten Roms grüne Lungen BAMS PHOTO RODELLA «Gott, wenn ich Geld hätte, solche Menschen wie Sie, sollten sich um den leidigen ‹Tag› nicht kümmern müssen!!» Alma Mahlers Bewunderung für Arnold Schönberg war so gross, dass sie keinen Aufwand scheute, dem Komponisten zeitlebens beträchtliche finanzielle Mittel zu verschaffen. Dieser quittierte ebenso euphorisch: «Sie sind gewiss eine der prachtvollsten Frauen, die es je gegeben hat.» Trotz der offenkundigen Hochschätzung zwischen der kunstbegabten Komponistenwitwe und dem radikalen Musikerneuerer, die eine enge Vertrautheit miteinschloss, wurde ihr Briefwechsel bisher stiefmütterlich behandelt. Haide Tenner hat diesem Missstand nun abgeholfen. Mittels aufwendiger Recherchen hat sie den Schriftverkehr rekonstruiert und in akribischer Feinarbeit mit hilfreichen biografischen Kurzkommentaren versehen. Darin nutzte sie auch die Gelegenheit, festgefahrene Leitmotive der Schönberg- und der Alma-Mahler-Biografik zu korrigieren. Die Briefedition liefert aber nicht nur ein willkommenes Hilfsmittel für die Wissenschaft, sondern funktioniert darüber hinaus auch bestens als spannungsvolle Geschichte um zwei schillernde Figuren des Musiklebens: Der Briefwechsel gewährt pikante Einblicke ins Private und legt ausserdem aufschlussreiche künstlerische und politische Positionierungen frei. «Aber jetzt kommt die Abrechnung! Jetzt werfen wir diese mediokrenen Kitschisten wieder in die Sklaverei und sie sollen den deutschen Geist verehren und den deutschen Gott anbeten lernen», gibt sich der kriegsbegeisterte Schönberg im August 1914 überzeugt. Alma Mahler stimmt postwendend zu: «Seien Sie froh, dass Sie in Deutschland sind, dem Land, von wo allein das Heil uns winkt!» Als Arnold Schönberg nach dem Krieg im April 1923 ans Bauhaus berufen werden sollte, lehnt er jedoch ab: Er folgt dem Hinweis von Alma Mahler, wonach offenbar viele der dortigen Professoren antisemitisch eingestellt seien. Schönberg kommentiert seine Absage mit Galgenhumor: «… denn mit mir ist es ein Hakenkreuz: ich bin ein schuftiger, unverständlicher Jude.» Alma Mahler schätzt Schönbergs widerständige Haltung: «Aber andrerseits tut es diesen Ariern schon gut – wenn sie einmal an den.» Erst im September 1940 flüchtet sie mit ihrem Gatten Franz Werfel auf beschwerlichen Wegen nach New York. Im nachfolgenden Streit zwischen Thomas Mann und Arnold Schönberg, der sich im Tonsetzer Leverkühn aus Manns «Doktor Faustus» wiederzuerkennen glaubt, schlägt sich Alma Mahler auf die Seite des Schriftstellers. Es ist allerdings nicht der erste Bruch zwischen ihr und Schönberg, doch wie die vorherigen verheilt auch dieser. 1949 schickt Alma Mahler zu Schönbergs Geburtstag Champagner, worauf der bereits kranke Komponist erwidert: «Bitt für mich, dass ich noch einmal gesund genug werde, um mir mit diesem Champagner einen wohlverdienten Rausch anzutrinken.» l Wer glaubt, Rom sei eine Steinwüste mit Ruinenfeldern, Barockkirchen und Strassenschluchten, der wird sich wundern. Und wer meint, Italiens Hauptstadt lasse seine Kulturdenkmäler verkommen, der wird hier eines besseren belehrt. Herrliche Luftaufnahmen auf prachtvollen Doppelseiten bringen verborgene Gärten zutage und offenbaren die Grosszügigkeit der herrschaftlichen Palazzi. Die grünen Bepflanzungen sind akkurat geschnitten und gepflegt (im Bild die Villa Medici); die Marmorfassaden erstrahlen im gleissenden Licht des Südens. Gärten und Villen sind Zeugnisse eines römischen Erbes und der Fortsetzung einer selbstbewussten Grandezza der Stadt Rom und des Vatikans vom Mittelalter bis heute. Sie haben jahrhundertelang Künstler, Maler und Literaten inspiriert. Viele der prächtigen Anlagen sind privat; allein der Papst darf beispielsweise in den vatikanischen Gärten lustwandeln, und nur dem italienischen Staatspräsidenten stehen die Parks auf dem Quirinal offen. Anderes aber ist öffentlich wie die Villa Borghese oder – ein Geheimtipp – die erst in den letzten Jahren frisch renovierte Villa Torlonia. Geneviève Lüscher Alberta Campitelli, Alessandro Cremona (Hrsg.): Die Villen und Gärten Roms. Deutscher Kunstverlag, Berlin 2012. 340 Seiten, zahlreiche farbige Abbildungen, Fr. 128.90. 25. November 2012 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 25 Sachbuch Weimarer Republik Walther Rathenau war Industrieller, Essayist und schliesslich Aussenminister Ermordet von Rechtsextremen jüdisches Leben in Deutschland. C. H. Beck, München 2012. 250 Seiten, Fr. 32.90, E-Book 22.90. Von Peter Durtschi Als Walther Rathenau 1867 zur Welt kommt, erlebt sein Geburtsort Berlin gerade einen Aufschwung. In der ehemals provinziellen preussischen Garnisonsstadt leben rund eine Million Menschen. Im Wachstum begriffen ist auch das Unternehmen seines Vaters Emil, eines deutsch-jüdischen Industriellen. Und besonders dynamisch verläuft die gesellschaftliche Entwicklung für die Jüdinnen und Juden in Deutschland: Innerhalb von zwei, drei Generationen sind sie vom Rand der Gesellschaft in ihr Zentrum gerückt. Vor allem die freien Berufe bieten Aufstiegsmöglichkeiten, Emil Rathenau beispielsweise gründet die Allgemeine Elektrizitätsgesellschaft (AEG). Im Staatsdienst hingegen und in der preussischen Armee haben Juden nur sehr geringe Aufstiegschancen. Ab 1899 nimmt Walther Rathenau in der AEG leitende Positionen ein. Der studierte Physiker ist erfolgreich, und doch ist er zerrissen – er hat literarisches Talent und erwägt zeitweilig, sich ganz aus der Wirtschaft zurückzuziehen. Und er versucht, in der Politik Fuss zu fassen, vorerst aber mit nur mageren Resultaten. 1914 wird der Wirtschaftsexperte zum Leiter der Kriegsrohstoffabteilung berufen. Doch als Jude und Zivilist fühlte sich Rathenau im Kriegsministerium als Aussenseiter. Er und seine Vorfahren hätten ihrem Land nach besten Kräften gedient, schreibt er in diesen Jahren einer Bekannten, gleichwohl bleibe er «als Jude Bürger zweiter Klasse. Ich könnte nicht politischer Beamter werden, nicht einmal in Friedenszeiten Leutnant.» Obwohl fast ständig im Austausch mit wichtigen Politikern, schreibt die israelische Historikerin Shulamit Volkov, hatte Rathenau das Gefühl, im Bereich der Politik an eine gläserne Decke zu stossen. Die Möglichkeit, seine Chancen durch einen Übertritt zum Christentum zu verbessern, lehnte Rathenau aber entschieden ab. Dem Judentum stand er gleichwohl skeptisch gegenüber – ein deutscher Jude sei zuerst deutscher Staatsbürger, dann Jude, hielt Rathenau fest. Sein IBA Shulamit Volkov: Walter Rathenau. Ein Ein deutscher Jude sei zuerst deutscher Staatsbürger, dann Jude – sagte Walther Rathenau (1867–1922), hier im Auto als Aussenminister (undat.). Essay «Höre, Israel!», 1897 veröffentlicht, stellt einen Frontalangriff auf die deutschen Juden dar, seien diese doch unfähig, sich vollständig zu assimilieren. Erst zwanzig Jahre später, in seiner «Streitschrift vom Glauben», nimmt Rathenau gegenüber seinen Glaubensgenossen eine versöhnlichere Haltung ein. Ähnlich komplex gestalten sich Rathenaus Stellungnahmen zu wirtschaftlichen Fragen: In seinem 1917 erschienenen Buch «Von kommenden Dingen», skizziert der Grossindustrielle ein gesellschaftliches Leben, das sich am Gemeinwohl orientiert, ohne in die Fallstricke des Sozialismus oder des «Materialismus» zu geraten. In den Nachkriegswirren bringt ihn diese Haltung in Konflikt mit den anderen Industriellen; aus der Arbeiterbewegung wiederum schlägt dem Präsidenten der AEG, diesem Inbegriff des Grossbürgertums, Skepsis entgegen. Trotz allem wird Rathenau 1920 Berater der deutschen Delegation, die mit den Alliierten über die Entwaffnung und Reparationszahlungen verhandelt. Man braucht ihn, weil er Geschick in Verhandlungen bewiesen hat und über diplomatisches Gespür verfügt. Ein Jahr später wird er Wiederaufbauminister – noch Wochen zuvor schien dies undenkbar. 1922 schliesslich bekleidet Walther Rathenau in der Weimarer Republik das Amt des Aussenministers. Aber der Ton der antisemitischen Angriffe gegen ihn wird immer schriller. Als der Minister am 24. Juni in seinem offenen Wagen zur Arbeit fährt, ermorden ihn Mitglieder einer rechtsgerichteten Terrororganisation. Walther Rathenau mag zweitweilen mit seiner doppelten Identität als Deutscher und Jude gekämpft haben, schreibt Volkov. Aber er hat bewiesen, dass beides vereinbar ist. l Nahrungsmittel Kurzweilige Kulturgeschichte der Milch während der letzten 10 000 Jahre Chronologie eines Lebenselixiers Andrea Fink-Kessler: Milch – Vom Mythos zur Massenware. Band 8 der Reihe Stoffgeschichten. Oekom, München 2012. 285 Seiten, Fr. 27.90. Von Adrian Krebs Soeben ist im Münchner Oekom-Verlag ein Buch erschienen, welches das Zeug zum Standardwerk hat. Die deutsche Agrarökonomin Andrea Fink-Kessler nähert sich auf knapp 300 Seiten der Milch und deren Entwicklung – so der Untertitel – vom Mythos zur Massenware. Die Autorin geht chronologisch vor. Dies tut sie mit Augenmass; statt akribisch die Historie von Milchproduktion und -konsum zu sezieren, konzentriert sie sich in sechs Kapiteln auf die wichtigsten Marken am Weg des Lebenssafts, 26 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 25. November 2012 der 8000 v. Chr. im Orient beginnt und in einer schick designten Packung im modernen Discounter-Kühlregal endet. Die Lektüre ist kurzweilig, weil FinkKessler ein Flair für (geschichtliche) Anekdoten hat, ohne dabei ins Ungefähre abzudriften. So erklärt sie zum Beispiel die Zusammenhänge zwischen Milchproduktion und der tödlichen Auseinandersetzung von Kain und Abel oder zwischen dem Ablasshandel und der Entstehung des Dresdner Butterstollens gegen Ende des 15. Jahrhunderts. Dazwischen finden sich zur Auflockerung immer wieder Textkästen, die einen speziellen Aspekt des Themas vertiefen. Ist zum Beispiel von der Muttermilch die Rede, folgt kurz darauf eine Box zu deren Zusammensetzung. Kommt die Autorin auf Cato zu sprechen, findet sich alsbald ein Kasten zum Thema römische Agrarschriftsteller. Journalistisch ist Fink-Kesslers Arbeitsweise auch dort, wo sie dem kenianischen Volk der Rendille einen Besuch abstattet, um ihr Verhältnis zum Kamel und seiner Milch zu beleuchten. Abgerundet wird das Buch von informativen Bildern, einem Anhang mit einer kurzen Anleitung zum Käsen, zahlreichen Anmerkungen und einem ausführlichen Literaturverzeichnis. Der Band ist eine interessante Mischung aus wissenschaftlicher Arbeit, Geschichtsbuch und Produktionsmanual, garniert mit spirituell angehauchten Empfehlungen zum Schluss. Auf diese hätte ebenso gut verzichtet werden können, letztlich unterstreichen sie aber, dass der Autorin an einem umfassenden Ansatz gelegen ist, der ihr insgesamt sehr gut gelingt. l Naturwissenschaft Der amerikanische Physiker Brian Greene schreibt ein umfassendes Buch über die Vorstellung paralleler Universen Aufregender als Science-Fiction Brian Greene: Die verborgene Wirklichkeit. Paralleluniversen und die Gesetze des Kosmos. Siedler, München 2012. 448 Seiten, Fr. 37.90, E-Book 24.20. Ernst Peter Fischer: Niels Bohr. Physiker und Philosoph des Atomzeitalters. Siedler, München 2012. 272 Seiten, Fr. 32.90, E-Book 22.90. Walter J. Moore: Erwin Schrödinger. Eine Biografie. Primus, Darmstadt 2012. 423 Seiten, Fr. 40.90. Die angloamerikanischen Physiker dominieren nicht nur den Nobelpreis, sie sind auch ungemein produktiv im Schreiben von populärwissenschaftlichen Sachbüchern. Allen voran Brian Greene, der nun innert zehn Jahren einen dritten voluminösen Band vorlegt, in welchem er den staunenden Laien an der aktuellen Forschung teilnehmen lässt. Der heute 49-jährige, an der Columbia University lehrende Forscher, bestätigt mit seinen Publikationen, was der bekennende Science-Fiction-Fan und Nobelpreisträger Martinus Veltman in einem Interview mit dieser Zeitung einmal sinngemäss gesagt hat: «Die Physik selbst ist aufregender, als jeder futuristische Roman.» Idee eines Paralleluniversums Diese Behauptung erschliesst sich bereits aus dem Titel von Greenes neuem Werk: «Die verborgene Wirklichkeit». Angesprochen wird damit die Idee von Paralleluniversen. Sie ist älter, als man meinen könnte, wird aber in jüngerer Zeit wieder vermehrt ernsthaft diskutiert. Schon bei der Formulierung der Quantenmechanik gab es unterschiedliche Meinungen, wie die Gleichungen der neuen Theorie zu interpretieren seien – wie übrigens auch bei der Allgemeinen Relativitätstheorie. Greene analysiert nun die Möglichkeit, dass unsere Realität nicht die einzige ist, so selbstverständlich und begeistert, als rede er von noch unentdeckten Singvögeln. Greenes Werk ist nicht das erste allgemeinverständliche Buch zum Thema Parallel- oder Multiuniversen, aber das umfassendste, das zudem gekonnt geschrieben ist. Gewisse Redundanzen werden höchstens Fachleute bemängeln. Sie ergeben sich, weil Greene neun Varianten von möglichen Multiuniversen in ihrem historischen Kontext durchdiskutiert, die von theoretischen Physikern verschiedenster Forschungsrichtungen bisher erwogen wurden. Je nach Ausrichtung dieser Forscher, schreibt Greene, «sind diese Paralleluniversen von unserem durch ungeheure räumliche oder zeitliche Abstände getrennt, treiben sich nur wenige Millimeter entfernt herum oder erweist sich schon die Vorstellung von einem Aufenthaltsort als bedeutungslos». SPITZER SPACE TELESCOPE / NASA Von André Behr Helixnebel, gesehen durchs SpitzerTeleskop der Nasa. Nicht nur die Formen von Paralleluniversen sind verschieden, sie würden zudem von unterschiedlichsten Gesetzen bestimmt. In manchen gälten noch dieselben physikalischen Regeln wie bei uns, in anderen wären die Gesetze nur noch ähnlich, in wiederum anderen gänzlich anders. Solche Vorstellungen sind nicht nur für Laien happig. Auch in der Fachwelt herrscht alles andere als Einigkeit. Und Greene wäre kein gestandener Wissenschafter, wenn er nicht gleich im ersten Kapitel klarstellen würde, dass Paralleluniversen ein höchst spekulatives Thema sind. Kein Experiment und keine Beobachtung konnte ihre Existenz bisher belegen. Dispute unter Physikern Allerdings, gibt Greene zu bedenken, haben sich diese Optionen unverhofft aus der mathematischen Struktur von Theorien ergeben, deren Ziel es war, herkömmliche Beobachtungen zu erklären. Insofern darf man sich in der Tat wundern. Einsteins Gravitationstheorie und die Quantentheorie sind noch keine 100 Jahre alt und empirisch bestens bestätigt, sie führen im Zusammenspiel jedoch zu einer Welt, «die in ihrer Grösse und Unübersichtlichkeit beängstigend wirkt. Einfach und harmonisch sind nur noch die grundlegenden Begriffe und Prinzipien», wie es der philosophisch gebildete Kölner Physiker Claus Kiefer formuliert. Dass wir in einer Art Superuniversum leben, von dem unser beobachtbares Universum nur ein Teil ist, könnte demnach ein Bild sein, zu dem uns unsere Erfahrung mit der Theorie selbst führt. Ernsthafte Dispute werden auch in der Physik vor allem in Zeiten des Um- bruchs geführt. Exemplarisch dafür waren das zweite Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts, als die deterministische Sicht auf die Natur innert erstaunlich kurzer Zeit von der Quantenmechanik in Frage gestellt wurde. Niels Bohr und Erwin Schrödinger, zwei der wichtigsten Protagonisten von sehr unterschiedlichem Naturell, gerieten damals besonders heftig aneinander. Von ihrem Konflikt kann man auch bei der Frage nach Paralleluniversen lernen. Über den 1885 geborenen Dänen Bohr, dessen Todestag sich heuer zum 50. Mal jährt, hat Ernst Peter Fischer eine Biografie geschrieben, die vor allem auf Bohrs Weg zur Atomtheorie fokussiert. Endlich ins Deutsche übersetzt wurde nun auch Walter Moores umfangreiche Biografie über Schrödinger von 1994. Der zwei Jahre jüngere Wiener, der unter anderem an der Universität Zürich forschte, hatte mit seiner Wellenmechanik dafür plädiert, dass Elementarteilchen Wellenphänomene sind und seine berühmte Gleichung nicht nur im mikroskopischen Bereich Sinn macht. Bohr, dem Doyen der Quantenphysik, widerstrebte dieser universale Anspruch. Er hat unangenehme Folgen für das klassische Bild der makroskopischen Welt, und musste deshalb mittels des von John von Neumann eingeführten «Kollaps der SchrödingerGleichung» weginterpretiert werden. Der «gut durchschnittliche Physiker», schrieb Schrödinger gegen Ende seines Lebens, sei unfähig einzusehen, «dass ein vernünftiger Mensch es ablehnen könnte, sich des Kopenhagener Orakels anzunehmen». Die Bohr’sche Interpretation der Quantenmechanik hat heute noch viel Gewicht. l 25. November 2012 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 27 Sachbuch Parteien Der Freiburger Historiker Urs Altermatt legt eine umfassende Geschichte der CVP vor Erst Integration, dann Abstieg und bürgerlicher Mittepartei. Hier + Jetzt, Baden 2012. 263 Seiten, Fr. 52.90. Von Felix E. Müller Der Historiker Urs Altermatt befasst sich seit jeher mit Themen, die in der Zunft möglicherweise als «unmodisch» gelten, aber für das Verständnis der Schweiz wichtig sind. Niemand sonst verfügt heute über ein ähnlich fundiertes Wissen über die Entwicklung des Bundesstaats seit 1848, und zwar in seinen institutionellen Aspekten: Parteien, Bundesrat, Parlament. In spezieller Weise beschäftigt sich der emeritierte Freiburger Professor mit der politischen Geschichte des Katholizismus, ein Thema, für das sich die sonst in den liberalen oder protestantischen Kantonen angesiedelte universitäre Historikerzunft wenig interessierte. Seine wegweisende Publikation «Der Weg der Schweizer Katholiken ins Ghetto» von 1991 legte das Fundament für seine weiteren Forschungen. Nun hat er zum 100. Geburtstag der CVP im Jahr 2012 eine überblicksartige, sehr lesbare Geschichte dieser Partei vorgelegt. Keine andere Bundesratspartei bildet die Entwicklungen der modernen Schweiz besser ab als diese Gruppierung, die während Jahrzehnten katholisch-konservative Volkspartei hiess. Katholische Einwanderer Ihre Wurzeln liegen im Sonderbundskrieg von 1847, der mit dem Sieg der liberalen Kräfte über die katholische Schweiz endete. Dies ebnete den Weg für die Totalrevision der Bundesverfassung nach liberalen Vorstellungen. Die Verlierer zogen sich in die «Stammlande» zurück, da sie von den politischen und administrativen Schlüsselpositionen im neuen Bundesstaat weitgehend ausgeschlossen wurden. Diese «Sonderbundspartei» erhielt zunehmend Sukkurs aus der Diaspora, wo die liberalen Freiheitsrechte es den Katholiken erlaubte, sich zu organisieren. Deren Zahl wuchs zudem rasch an, weil die Einwanderung vor allem aus Italien, Süddeutschland und Österreich in die wirtschaftlich dynamischen Zentren erfolgte. So entwickelte sich die Partei zu einer katholischen Milieupartei. Für die Katholiken brachte die total revidierte Bundesverfassung von 1874 eine Zäsur, weil der Ausbau der Volksrechte die «Milieupartei» referendumsfähig machte. Sie brachte darauf die freisinnige Regierungsmaschinerie zum Stocken, worauf diese mit der Wahl des ersten Vertreters der katholisch-konservativen Opposition, Josef Zemp, in den Bundesrat im Jahr 1891 reagierte. Damit begann die langsame Integration der Katholiken in den modernen Bundesstaat. Für Altermatt drückt sich dieser Integ28 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 25. November 2012 Von links: Bundesrat Ludwig von Moos, Bundespräsident Roger Bonvin und Bundeskanzler Karl Huber beim traditionellen Essen der KonservativChristlichsozialen Volkspartei am 14. Dezember 1967. rationswille unter anderem in der Tatsache aus, dass sich die Innerschweizer Soldaten ohne Wenn und Aber an der Unterdrückung des Generalstreiks von 1918 beteiligten. Sie drückten damit aus, dass sie den Staat Schweiz in seiner modernen Form akzeptiert hatten und ihn gar manu militari verteidigen wollten. Von diesem Zeitpunkt an verstanden sich die Katholisch-Konservativen als Juniorpartner der FDP; der gemeinsame Gegner stand links. Deshalb bauten die Katholiken in der Diaspora eine institutionelle Gegenwelt zu den Sozialisten auf: christliche Gewerkschaften, christliche Versicherungen, christliche Konsumgenossenschaften, christliche Vereine. Die Blütezeit begann nach dem Zweiten Weltkrieg, im Sog der zentralen Rolle, welche die christlichen Parteien beim Wiederaufbau Europas spielten. In Italien, Deutschland, Österreich erwies sich die zentristische Politik dieser Parteien, verbunden mit einem klar deklarierten Wertekanon, als die Zauberformel, um die Schatten der Vergangenheit zu überwinden. Die katholisch-konservative Partei der Schweiz profitierte davon; sie öffnete sich nach links, was schliesslich zur Folge hatte, dass sie sich 1957 einen neuen Namen gab: «Konservativ-Christlichsoziale Volkspartei». Politisch gesehen rückte sie immer stärker ins Zentrum und erlangte bald die berühmte Scharnierfunktion der «Mehrheitsbeschafferin in der Mitte». Unter dem Eindruck der Entwicklung der anderen christlichen Parteien in Europa trennte sie sich schliesslich 1970 von beiden «K» im bisherigen Namen: Sie hiess fortan «Christlichdemokrati- sche Volkspartei» und warb explizit auch um Mitglieder anderer christlicher Konfessionen. Der Schritt hatte, wie Altermatt schreibt, durchaus eine gewisse Logik: Die Säkularisierung der Gesellschaft führte zu einer Lockerung der konfessionellen Bindungen. Das katholische Sondermilieu verschwand in dem Ausmass, wie die Katholiken überall in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft akzeptiert wurden. Aber längerfristig waren die Auswirkungen gravierend: Die Katholiken fühlten sich fortan frei, auch andern Parteien beizutreten. Heute gibt es mehr Katholiken bei der SVP, die das Label konservativ wie ein Banner vor sich herträgt, als bei der CVP. Diese verlor kontinuierlich Wähleranteile, sackte auf den vierten Platz der Bundesratsparteien ab und verlor 2003 ihren zweiten Bundesratssitz an die SVP. Zukunft der CVP Altermatt stellt sich auch der Frage, um die sich mancher an seiner Stelle gedrückt hätte: wie weiter? Gemäss seiner Diagnose befinde sich die CVP «auf dem langen und mühsamen Weg von einer katholischen Milieupartei zu einer christlich-konservativen oder zu einer säkularen Wertepartei mit bürgerlichem Hintergrund». Ohne eine Konsolidierung im heute zersplitterten politischen Zentrum sieht der Historiker dafür nur eine beschränkte Chance. Deshalb plädiert er für eine Allianz oder Fusion mit der BDP, welche die CVP in geografischer und konfessioneller Hinsicht ideal ergänze. Damit ist der Historiker dort angelangt, wo viele seiner Zunftgenossen nie auftauchen: in der Gegenwart. l PHOTOPRESS / KEYSTONE Urs Altermatt: Das historische Dilemma der CVP. Zwischen katholischem Milieu Religion Im Mai 2012 wurde Hildegard von Bingen heiliggesprochen. Im Oktober erhielt die Mystikerin die seltene Weihe als Kirchenlehrerin Michaela Diers: Hildegard von Bingen. Aktualisierte Neuausgabe. dtv, München 2012. 254 Seiten, farbig illustriert, Fr. 26.90. Von Geneviève Lüscher Die offizielle Heiligsprechung der Hildegard von Bingen im Mai 2012 hat fast 800 Jahre auf sich warten lassen. Bereits zu Lebzeiten (1098–1179) wurde die Fromme verehrt, und sie selbst hatte diese Weihung schon immer angestrebt – Bescheidenheit gehörte nicht zu ihren Tugenden. Aus kirchlicher Sicht hatte sie noch weitere Fehler, die aber heute grosszügig unter den Teppich gekehrt, respektive anders «gelesen» werden. Papst Benedikt XVI. habe «eine ins Konservative gewendete Hildegard» geheiligt, eine, die sich der Autorität der Kirche unterstelle, schreibt die Historikerin Michaela Diers in ihrer neu aufgelegten Biografie. Aber als Mystikerin habe Hildegard bewusst auf die Mittlerrolle der Kirche verzichtet und ihre Visionen direkt von Gott empfangen. Auch ihre Rolle als Frau in Theologie und Kirche sei vom Papst verwedelt worden. Hildegard, Tochter einer reichen adligen Familie, wurde 1098 geboren, wo genau, ist in der Forschung umstritten. Schon im Kindesalter hatte sie Visionen und wurde ins Kloster Disibodenberg (Bad Sobernheim, Rheinland-Pfalz) ge- geben. Über ihr Leben berichtet ihre Vita zwar recht ausführlich, da sie jedoch im Hinblick auf die Heiligsprechung zusammengestellt worden sei und deshalb bestimmten Mustern zu folgen hatte, sei sie mit Vorsicht zu lesen, betont Diers. 1150 hatten sich so viele Frauen um Hildegard geschart, dass sie auf dem Rupertsberg bei Bingen ein eigenes Benediktinerinnenkloster gründete, ein zweites folgte 1165 in Ebingen bei Rüdesheim. Beiden stand Hildegard als Äbtissin vor. Sie starb mit 81 Jahren und wie es sich für eine zukünftige Heilige gehörte mit einem Lichtwunder. Hildegard schrieb drei grosse Werke mit Visionen und Prophetien. Sie thematisiert darin die Grundfragen ihrer Zeit: Schöpfung, Christentum, Kirche, Endzeit. Darin scheinen laut Diers durchaus weibliche Akzente auf, aber «Grund zu einer feministischen Hagiographie besteht nicht». Die Nonne war weder Feministin noch Umweltaktivistin, weil sie das im 12. Jahrhundert gar nicht sein konnte. Diers bezeichnet sie als «visionäre Theologin», die sich souverän über das biblische Schweigegebot für Frauen hinwegsetzte, öffentlich predigte und den Klerus kritisierte. Ob die ebenfalls Hildegard zugeschriebenen natur- und heilkundlichen Schriften, für die sie heute vor allem berühmt ist, wirklich von ihr stammen, ist stark umstritten. Hildegard geriet für CREDIT ??????????????? Freche Frau kommt in den Himmel Hildegard von Bingen (Mitte), die ihre Visionen direkt von Gott empfangen haben soll, war schon zu Lebzeiten populär. Jahrhunderte in Vergessenheit. In den siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts, einer Zeit des Um- und Aufbruchs, erlebte ihre Verehrung eine Renaissance. «Alternativ» war das Stichwort, aber auch Mystik, Frauenemanzipation, Ökologie, geheimnisvolles Mittelalter, spirituelle Neuorientierung – all das bildete eine für das Revival fruchtbare Gemengelage. Noch heute ist ihre Verehrung ungebrochen, Hildegard ist zu einer Marke geworden, unter der allerlei Esoterisches gewinnbringend verkauft werden kann. Aber, warnt Diers: «Es ist nicht überall, wo Hildegard drauf steht, auch Hildegard drin.» Auch ihre eher problematischen Seiten – die intolerante Begeisterung für die Kreuzzüge, ihre Verdammung der Katharer und ihr penetranter Standesdünkel, der für gesellschaftliche Veränderungen keinen Platz liess, – fallen bei der heutigen Popularität völlig unter den Tisch. Für die Heiligsprechung waren sie hingegen kein Hindernis. l Islam Plädoyer für eine moderne Religion, die auf Barmherzigkeit und Toleranz beruht Jenseits von Fundamentalismus Mouhanad Khorchide: Islam ist Barmherzigkeit. Grundzüge einer modernen Religion. Herder, Freiburg i. Br. 2012. 220 Seiten, Fr. 27.90. Von Klara Obermüller Über den Islam wird viel Unsinn geredet – sowohl von denen, die ihn verteidigen, wie auch von denen, die ihn bekämpfen. Mouhanad Khorchide, Leiter des Zentrums für Islamische Theologie an der Universität Münster, ist angetreten, den Zerrbildern seiner Religion eine theologisch fundierte und mit modernem Denken kompatible Interpretation entgegenzusetzen. Sein Buch richtet sich an Muslime, die bereit sind, ihren Glauben im Lichte einer humanistischen Koranhermeneutik neu zu entdecken. Es ist aber auch gedacht für Nicht-Muslime, die sich vorurteilsfrei auf einen Dialog mit ihren muslimischen Nachbarn einlassen wollen. Der Autor ist in Beirut in eine Familie hineingeboren, für die Toleranz gegenüber Andersgläubigen selbstverständlich war. In Riad hingegen, wo er aufwuchs, wurde er mit der fundamentalistischen Lesart des Islam konfrontiert und sah sich zwischen den beiden Lagern hin und her gerissen. Einen Ausweg aus dem Konflikt suchte Khorchide, indem er zunächst in Beirut, später in Wien islamische Theologie studierte und mit einer Arbeit über islamischen Religionsunterricht promovierte. Diese persönlichen Erfahrungen haben ihn geprägt und zum Verfechter eines Islam gemacht, der bereit ist, sich der eigenen Tradition wie den Herausforderungen der Moderne zu stellen. Khorchide geht es nicht darum, einen für den westlichen Geschmack weichgespülten Islam zu propagieren. Sein Ziel ist vielmehr aufzuzeigen, dass der Koran mehr ist als ein rigides Regelwerk von Geboten und Verboten, mit dem ein strafender Gott seine Gläubigen bei der Stange zu halten versucht. Khorchide liest die heiligen Schriften sehr genau. Im Gegensatz zu den fundamentalistischen Verfechtern des «wahren Islam» interpretiert er das Gelesene aus dem historischen Kontext heraus und geht Widersprüchen nicht durch selektive Lektüre aus dem Weg. Auf diese Weise räumt er Vorurteile, Missverständnisse und Fehlinterpretationen aus und lässt das Bild einer Religion entstehen, die auf Barmherzigkeit, nicht auf Strafe beruht und sich in ihrer Achtung vor der Würde des Menschen mit den Wertvorstellungen demokratischer Gesellschaften durchaus vereinbaren lässt. l 25. November 2012 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 29 Sachbuch Auslandsvertretungen In der Schweiz amtieren 140 Honorarkonsuln. Wer sie sind und was sie tun Exklusives Hobby für Freizeit-Diplomaten Gisela Tobler: Hüter der Ehre. Honorarkonsuln im Porträt. Stämpfli, Bern 2012. 191 Seiten, Fr. 37.90. Von Urs Rauber In der Schweiz residieren zurzeit rund 140 Honorarkonsuln für 80 auswärtige Staaten. 22 davon – darunter drei Frauen – porträtiert die St. Galler Journalistin Gisela Tobler in einem kurz gefassten, abwechslungsreich geschriebenen Sammelband. Unter Honorarkonsuln stellt man sich ältere weisshaarige Männer vor, die mit dem CC-Autoschild herum brausen, Parkbussen ignorieren und keinem richtigen Broterwerb nachgehen. Schillernde Gestalten wie der deutsche Honorarkonsul Weyer, der mit Titeln handelt und dem Jetset angehört, verhalfen zum Anschein, dieser Spezies gehe es vor allem darum, grosse Honorare einzustreichen. So ist es natürlich nicht, wie die Autorin mit ihren Beispielen belegt. Honorarkonsuln regeln zivilstandsrechtliche Angelegenheiten der Bürger ihres Entsendestaates und vertreten dessen wirtschaftlichen Interessen in der Schweiz. Die meisten verdienen nichts an ihrem Amt – ausser Prestige. Einige berappen gar die Spesen und den Lohn ihrer Angestellten: so die Anwälte Werner Stauffacher (für Tschechien) und Brigitta Arve-Jahreskog (Schweden), der Zahnarzt Michal Cierny (Slowakei), der pensionierte Baumanager Franz Hidber (Grenada) oder die Kauffrau Annemarie Ernst-Kotob (Mauretanien). Entschädigt werden hingegen die Konsulatsvertreter für Deutschland und die USA. Die meisten betonen ihre Freude am aussergewöhnlichen «Hobby» und an den Kontakten. Honorarkonsuln heissen sie, weil sie im Unterschied zu den Berufskonsuln ihre Tätigkeit als Ehrendienst leisten. Der Basler Thomas E. Preiswerk, früher Kommunikationschef bei Novartis, hat zum Spass das CCSchild auf sein Velo geklebt. Neben den still im Hintergrund arbeitenden Diplomaten gibt es auch Schwergewichte wie den Zürcher Anwalt und Unternehmer Markus A. Frey, der in Thailand eine Hotelkette betreibt, den St. Galler Professor Fredmund Malik (Österreich) oder den begüterten Investor des Zürcher Dolder-Hotels Urs E. Schwarzenbach. Wie er zum Ehrenamt kam? Nicht wegen der Mongolenpferde, die der Poloclub-Besitzer als eher ungeeignet für sein Hobby hält, sondern weil «ich von mongolischen Freunden angefragt wurde». Schwarzenbach weiss natürlich, dass sich seine Aufgabe nicht darauf beschränkt, als Erster mongolischen Wodka in Europa zu vertreiben, sondern dass die Mongolei zu den zehn rohstoffreichsten Ländern der Welt gehört. Was für eine enorme Verlockung für einen Anleger mit Weitblick. l Das amerikanische Buch «Killing Kennedy» – Anatomie eines Bestsellers Viel gebraucht und oft zitiert, ist «Bestseller» in den USA ein relativer Begriff. Der Branchendienst Nielsen Bookscan verfolgt zwar die Absätze diverser Formate minutiös und erstellt daraus wöchentliche Verkaufslisten. Aber die harten Zahlen werden nur an Verlage weitergegeben. Allerdings informiert Amazon neuerdings auch Autoren über ihre Verkäufe. Die Öffentlichkeit hört von Umsätzen dagegen nur, wenn diese wirklich imposant sind. Aus Branchenkreisen ist jedoch zu hören, dass eine Verkaufsauflage von 50 000 auch für namhafte Autoren als Erfolg gilt. Nun haben O’Reilly und sein Co-Autor Martin Dugard nachgelegt. Wie der Titel ankündigt, schildert Killing Kennedy. The End of Camelot (Henry Holt, 336 Seiten) das Leben des Präsidenten als Vorgeschichte seiner Ermordung am 22. November 1963 im texanischen Dallas. Das Buch schoss prompt an die Spitze der Bestsellerlisten. Einen erkennbaren Anlass gibt es für den Titel jedoch nicht. Das scheint auch O’Reilly bewusst zu sein, der im Vorwort zu30 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 25. November 2012 KEYSTONE nächst die Brücke zu «Killing Lincoln» schlägt und eine Reihe «erstaunlicher Verbindungen» zwischen den Attentaten auf die Präsidenten auflistet: So seien beide im Abstand von einhundert Jahren erschossen worden, ihre Nachfolger hätten die Namen Johnson getragen und wären in den Südstaaten geboren worden. Doch dann vollzieht der Autor einen Schwenk und schreibt, er und Dugard seien keineswegs «Verschwörungstypen». Stattdessen präsentiere «Killing Kennedy» neue Informationen über Leben und Tod ihres Protagonisten in unterhaltsamer, spannender Manier. Jacqueline Kennedy ruft um Hilfe für ihren Mann John F. Kennedy, der am 22. November 1963 in Texas erschossen wird. Autor Bill O’Reilly (unten). REUTERS Da bewegt sich Bill O’Reilly in ganz anderen Dimensionen. Dank seiner Show auf FoxNews der populärste TV-Moderator Amerikas, fand O’Reilly eigenen Angaben zufolge seit dem vergangen Jahr weit über zwei Millionen Käufer für sein Sachbuch «Killing Lincoln». Das Buch bot zwar keine neuen Fakten über die Ermordung Abraham Lincolns und wurde auch von der seriösen Presse kaum beachtet. Aber offenkundig hungert das amerikanische Publikum nach Titeln, die historische Grossereignisse in der Manier eines Thrillers aufbereiten und somit einem breiten Publikum zugänglich machen. ben die Autoren auf altbekannte Quellen zurückgegriffen. Doch wie die «New York Times» zähneknirschend, aber anerkennend notiert, bietet das Buch tatsächlich packende Lektüre. Die Rezension merkt jedoch zu Recht an, dass dies auf Kosten historischer Details und Zusammenhänge geschieht. So finden die Ursachen und Anliegen der Bürgerrechtsbewegung weniger Beachtung, als die Frauengeschichten Kennedys und von Martin Luther King. Dafür rollt das Buch JFKs Vita – beginnend mit seiner heroischen Leistung als Kapitän eines Torpedobootes im Pazifikkrieg 1943 – als Sammlung dramatischer Höhepunkte und Tragödien ab. Das Duo hält dieses Versprechen nur teilweise. Von Neuigkeiten zu diesem intensiv bearbeiteten Thema fehlt jede Spur. Laut der knappen Bibliografie ha- Diese werden minutiös im Stil des Boulevardjournalismus dargestellt und häufig mit zeitgenössischen Fotos und Karten begleitet. Auf Anschaulichkeit fokussiert, walzen O’Reilly und Dugard den Tod des frühgeborenen KennedySohns Patrick im August 1963 und dann als Höhepunkt die Mordtat von Lee Harvey Oswald schonungslos aus. Hautnah mit Kennedys «explodierender Hirnschale» konfrontiert, kann sich der Leser diesen Schilderungen nur schwer entziehen. Um die Spannung trotz des wohlbekannten Ausgangs ihrer Geschichte aufrecht zu erhalten, konstruieren die Autoren die Biografien Kennedys und Oswalds als Züge, die schicksalshaft aufeinander zurasen. Die Motive des Mörders bleiben jedoch unklar. Dafür erinnert jedes Kapitel am Ende in ominösen Tönen an die dem Präsidenten noch verbleibende Zeit, bevor Oswald den Finger an den Abzug seines Mannlicher-Carcano-Gewehrs legt. Von Andreas Mink l Agenda Achtziger Jahre Als es brodelte in der Schweiz Agenda Dezember 12 Basel Montag, 3. Dezember, 20 Uhr Jean Ziegler: Wir lassen sie verhungern. Lesung, Fr. 15.–. Thalia, Freie Strasse 32, Tel. 061 264 26 55. Donnerstag, 6. Dezember, 20 Uhr Eugen und Nora Gomringer. Lesung, Fr. 17.–. Literaturhaus, Barfüssergasse 3, Tel. 061 261 29 50. Mittwoch, 12. Dezember, 19 Uhr Manfred Koch: Faulheit. Lesung für angehende Faulenzerinnen und Müssiggänger mit Glühwein und Guetzli. Fr. 17.–. Literaturhaus (s. oben). Bern Mittwoch, 5. Dezember, 19 Uhr JÜRG RAMSEIER Christine Kopp: Betsy Berg. Lesung, Fr. 15.–. Alpines Museum, Helvetiaplatz 4. Info: www.alpinesmuseum.ch. Mittwoch, 5. Dezember, 20 Uhr Die 1980er Jahre waren für die Schweizer Kulturszene eine Zeit des Aufbruchs und der Rebellion: Nach dem ersten Zürcher Opernhauskrawall vom 30. Mai 1980 kam Bewegung in die Jugendszene. In zahlreichen Schweizer Städten wurde um neue Freiräume gekämpft. Die Aktionen wurden oft von Musik begleitet, wenn nicht gar in Gang gesetzt. Der vorliegende Band beschreibt diesen Prozess in Essays sowie Porträts und zeigt die Protagonisten in Hunderten von Bildern. Eine umfassende, illustrierte Disko- grafie stellt fast 1500 Tonträger (Schallplatten und Musikkassetten) vor, viele von ihnen Eigenproduktionen in Kleinstauflagen. Unser Bild stammt von Jürg Ramseier und zeigt die bis heute aktive Band Züri West im Jahr 1989 vor ihrem Übungslokal im Keller des Pickwick-Pubs in Bern. Manfred Papst André Tschan, Lurker Grand (Hrsg.): Heute und danach. The Swiss Underground Music Scene of the 80’s. Deutsch und französisch. Edition Patrick Frey, Zürich 2012. 672 Seiten, Fr. 84.90. Urs Mannhart: Gazprom heizt ein – Wahren Geschichten auf der Spur. Lesung und Gespräch mit Daniel Puntas Bernet. Thalia im Loeb, Spitalgasse 47/51, Tel. 031 320 20 40. Montag, 17. Dezember, 12.30 Uhr Adventsgeschichten in der Mittagspause, mit Roswitha Zenke. Lesung mit Tee und Guetzli. Buchhandlung Haupt, Falkenplatz 4. Info: www.haupt.ch. Zürich Belletristik Sachbuch 1 Diogenes. 296 Seiten, Fr. 29.90. 2 Carl’s Books. 412 Seiten, Fr. 21.90. 3 Carlsen. 574 Seiten, Fr. 24.20. 4 Bastei Lübbe. 1023 Seiten, Fr. 27.90. 5 Fischer. 402 Seiten, Fr. 32.90. 6 Krüger. 397 Seiten, Fr. 24.50. 7 Carl’s Books. 366 Seiten, Fr. 18.90. 8 Diogenes. 297 Seiten, Fr. 32.90. 9 Dtv. 539 Seiten, Fr. 27.90. 10 Blanvalet. 575 Seiten, Fr. 29.90. 1 Bibliographisches Institut. 285 S., Fr. 32.40. 2 Hanser. 248 Seiten, Fr. 24.90. 3 Hanser. 246 Seiten, Fr. 24.90. 4 Wörterseh. 184 Seiten, Fr. 34.90. 5 DVA. 250 Seiten, Fr. 29.90. 6 C. H. Beck. 207 Seiten, Fr. 29.90. 7 Bertelsmann. 319 Seiten, Fr. 28.40. 8 Droemer/Knaur. 425 Seiten, Fr. 23.20. 9 Giger. 349 Seiten, Fr. 39.90. 10 Heyne. 383 Seiten, Fr. 29.90. Martin Suter: Die Zeit, die Zeit. Jonas Jonasson: Der Hundertjährige. Joanne K. Rowling: Ein plötzlicher Todesfall. Ken Follett: Winter der Welt. Carlos Ruiz Zafón: Der Gefangene des Himmels. Cecelia Ahern: Hundert Namen. Vina Jackson: 80 Days – Die Farbe der Lust. Donna Leon: Himmlische Juwelen. Jussi Adler-Olsen: Verachtung. Charlotte Link: Im Tal des Fuchses. Guinness World Records 2013. Rolf Dobelli: Die Kunst des klugen Handelns. Rolf Dobelli: Die Kunst des klaren Denkens. Leonie: Federleicht. Blaine Harden: Flucht aus Lager 14. Gian D. Borasio: Über das Sterben. Jean Ziegler: Wir lassen sie verhungern. Rhonda Byrne: The Magic. Bo Katzman: Zwei Minuten Ewigkeit. Jörg und Miriam Kachelmann: Recht und Gerechtigkeit. Erhebung Media Control im Auftrag des SBVV; 13.11. 2012. Preise laut Angaben von www.buch.ch. Züri Littéraire: Adolf Muschg und Mike Müller. Live-Literaturclub, Fr. 25.–. Kaufleuten, Pelikanplatz 1, Tel. 044 225 33 77. CHRISTIAN BEUTLER Montag, 3. Dezember, 20 Uhr Bestseller November 2012 Dienstag, 4. Dezember, 19.30 Uhr Pedro Lenz und Anne Cuneo reden über die Liebe. Lesung, Fr. 18.– inkl. Apéro. Literaturhaus, Limmatquai 62, Tel. 044 254 50 00. Samstag, 8. Dezember, 19.30 Uhr Krimitag Zürich. 6 Krimiautoren lesen gegen die Gewalt; Ehrengast Peter Zeindler. Pestalozzi-Bibliothek, Zähringerstrasse 17. Info: www.krimitag.com. Montag, 10. Dezember, 19.30 Uhr Ruth Lewinsky und Ursula Hohler: Wendebuch. Lesung. Hotel du Théâtre, Seilergraben 69. Info: www.literarischerclub.ch. Donnerstag, 20. Dezember, 20 Uhr Tausend Meter Stille. Ein Abend zu S. Corinna Bille. Präsentation dreier ihrer erstmals auf Deutsch erschienenen Bücher. Remise, Lagerstrasse 98. Bücher am Sonntag Nr. 1 erscheint am 27. 1. 2013 Weitere Exemplare der Literaturbeilage «Bücher am Sonntag» können bestellt werden per Fax 044 258 13 60 oder E-Mail [email protected]. Oder sind – solange Vorrat – beim Kundendienst der NZZ, Falkenstrasse 11, 8001 Zürich, erhältlich. 25. November 2012 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 31 Lässt eBooks LEUCHTEN Der neue eReader von Orell Füssli mit Leuchtdisplay Alle Infos unter www.books.ch /ebooks <wm>10CAsNsjY0MDAx1TW0MLIwMQAAIENJIA8AAAA=</wm> <wm>10CFWMsQ6AIBBDvwjSHnCCjIaNOBh3FuPs_08ebiZt0jYv7b0mj89b2892VAIxOWbJ0faSvCxas4hHXCoJimmlMkAYyo93YNGAMCbjSOuDOoNgEGVQ5oNt9qL-ue4XAccSMoAAAAA=</wm>