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Human kindness, overflowing
Es ist nicht das Bewußtsein der Menschen, das ihr Sein, sondern umgekehrt ihr gesellschaftliches Sein,
das ihr Bewußtsein bestimmt ...
Karl Marx: Kritik der politischen Ökonomie
So he starts to roam the streets at night/And he learns how to steal/And he learns how to fight/In the
ghetto/Then one night in desperation/A Young man breaks away/He buys a gun, steals a car/Tries to run,
but he don't get far ...
Elvis Presley: “In the Ghetto”
Alle guten Menschen, Sozialdemokraten beiderlei Geschlechts, Grüne, Liberale, der Bischof von Trier, der
Präses der evangelischen Kirche im Rheinland, der Zentralrat der Juden, sind empört. Jugendliche 15
Jahre lang einsperren, Kinder ins Gefängnis werfen und moslemischen Schülerinnen das Tragen der
Burka verbieten, obwohl noch kein einziges Muselmädchen in diesem Gewand auf einer hessischen
Schulbank gesehen ward ... Der hessische Ministerpräsident Koch hat es fürwahr zu toll getrieben.
Ein zweiter Blick auf die Erregten ernüchtert: Am meisten ärgert sie, daß Koch mit seiner
„Wahlkampfhetze“ (Gerhard Schröder, der das sagte, weiß, wie man das macht) Erfolg haben konnte. Auf
daß ihnen nicht zu viele sozialdemokratische, grüne oder liberale Wähler zur hessischen CDU oder gleich
zu den Nazis wegliefen, hatten sie, mutig voran die Vorsitzende der Grünen, dem rassistischen Hetzer vor
allem vorzuwerfen, er habe durch den Abbau von Polizeistellen selber im Kampf gegen die
Jugendkriminalität versagt. Dann legte jeder und jede noch schnell ein Ei und bekannte sich zur
Notwendigkeit, „zeitnahen“ und „konsequenten Durchgreifens“ der Staatsgewalt.
Wer kein Rassist im engeren Sinn ist und also die Türken nicht prinzipiell für einen Volksstamm hält,
dessen Blagen sich die Zeit am liebsten mit Totschlägerei vertreiben, sah sich vor die Frage gestellt, wo
anders die Ursache der Gewalttaten von Jugendlichen „mit migrantischem Hintergrund“ liegen könnte. Die
allzu beliebte Übung, dieses Übel wie alle auf den Islam zu schieben, kollidierte leider mit der Nachricht,
daß in Istanbul die Jugendkriminalität weit geringer ausfällt als in New York, London, Paris oder Berlin. Oft
zwar leistet, hier wie dort, zu diesem und jenem, Religion ihren unseligen Beitrag, der Grund allein aber ist
sie für so gut wie gar nichts. Marx behält recht mit dem Satz vom bestimmten Bewußtsein (das seinerseits
auf das Sein zurückwirkt, wenn das arme Schwein Trost in einer Religion sucht, die ihn zur krummen Sau
weiterbildet, korrekt?).
Vergessen wir mal eben Allah und die Seinen und schauen statt auf den türkischen Deutschen auf den
amerikanischen Schwarzen. In den Gefängnissen der USA saßen im letzten Jahr 2.385.213 Menschen.
Nur vierzig Prozent von ihnen waren Weiße. Von 100.000 männlichen Weißen waren 487 in Haft, von
100.000 Schwarzen 3.042. Wer nun die Ansicht, daß der Neger eben nicht nur gern „schnackselt“ (Gloria
von Thurn und Taxis), sondern auch gern mördelt, nicht teilen mag, wird sich die Verhältnisse ansehen,
unter denen Schwarze in ihren Gettos aufwachsen, arbeits-, obdach-, bildungs-, hoffnungslos, direkt vis-àvis einem ebenso ungeheueren wie für immer unerreichbaren Reichtum. Was anfangen mit einem Leben,
in dem schon mit vierzehn Jahren nichts drin ist außer materieller Erbärmlichkeit und psychischer
Erniedrigung? Elvis hat nicht nur besser gesungen als ein Parteienforscher.
Tatsächlich hat es der damalige New Yorker Bürgermeister Rudolph Giuliani geschafft, die Kosten, die bei
der Verwertung von Kapital anfallen: Raub, Mord und Totschlag, von 1993 bis 2004 um die Hälfte zu
reduzieren. Gerhard Schröder, dem Piëch die Optimierung der Verwertungsbedingungen des deutschen
Kapitals aufgetragen hatte, ist damals zur Konkurrenz nach New York geflogen, um zu studieren, was
man mit dem Menschenmüll, der bei seiner „Agenda 2010“ anfallen würde, am besten anfinge, und war
von seinem Freund Rudy, der einfach jeden zehnten schwarzen New Yorker Jugendlichen einsperren
ließ, im Wiederholungsfall auf immer, ganz begeistert, wollte es aber noch besser machen: Warum alle
einsperren, wenn man die Hälfte auch aussperren kann. Im Wahlkampf 1998 hetzte er: „Wer das
Gastrecht mißbraucht, für den gibt's nur eins: raus, aber schnell.“
Die Resultate der rotgrünen Reformen sind zu besichtigen. „Es spricht vieles dafür“, erzählte der
Bochumer Kriminologe Thomas Feltes der Illustrierten „Stern“, „daß das Klima in unserer Gesellschaft
insgesamt rauher geworden ist und mehr Gewalt eingesetzt wird – allerdings nicht nur bei Jugendlichen,
sondern vor allem bei Erwachsenen. Die ‚Ellbogenmentalität’ wird in allen gesellschaftlichen Schichten
nicht mehr geächtet, sondern ist Grundlage fast jeglichen Handelns – und wer sich anders verhält, wird
belächelt oder als ‚Gutmensch’ verhöhnt.“ Wer es aushält, höre einen Abend lang den unzähligen
„Comedians“ zu, wenn sie auf allen Kanälen die letzten, die die Frau noch immer nicht Tussi, den
Homosexuellen noch immer nicht Schwuchtel und den Obdachlosen noch immer nicht Penner rufen
wollen, dem brüllenden Gelächter eines zu allem bereiten Publikums vorwerfen.
Nach oben buckeln, nach unten treten: Das Bekenntnis zu dieser Maxime, das nach 1968 eine Zeitlang
als unfein galt, gilt heute als cool. Wer nicht treten kann oder will, wird getreten. Wer früher über eine
Entlassung weinte wie ein Krokodil, prahlt heute mit ihr. Wer nicht drauftritt – raus, aber schnell. Brutalität
ist Mode, die Ästhetik eines versuchten Totschlags bestimmt das Design von Frisuren, Schmuck und bei
den Vehikeln für besonderen Gebrauch in jenem Krieg, der euphemistisch „Straßenverkehr“ heißt.
56 Prozent aller im Jahr 2006 einer Gewalttat Verdächtigen hatten keinen deutschen Paß. Doch der
Prozentsatz Krimineller unter deutschen Realschülern ist kaum geringer als der unter türkischen. So
altbacken und den Bedarf des Feuilletons an aufregenden Psychopathologien gar nicht deckend es sein
mag: Kriminalität ist keine Frage der Ethnie, der Religion, der Hautfarbe. Die Chance eines
achtzehnjährigen original deutschen Ein-Euro-Jobbers auf eine Knackikarriere ist so groß wie die eines
jeden seiner kurdischen, nigerianischen oder auslandsdeutschen Genossen.
Weil aber der gute sozialdemokratische, grüne oder liberale Mensch die wahre Ursache ihrer aller Lage
so wenig beseitigen will wie der schwarzbraune Rassist und die wenigen, die wollten, es nicht können,
wird den Regierenden in jeder beliebigen Farbkombination nach vielen ermüdenden Talkshows über
Prävention durch Integration, Förderprogramme für Randgruppen und Sozialisierung im Erziehungscamp
nichts anderes bleiben als das Rezept des Rudolph Giuliani. In den USA sitzen 703 von 100.000
Einwohnern im Knast. Hierzulande sind es erst 93. Da ist, wie der Gott über dem Geschick der modernen
Menschheit: der Betriebswirt, sagt, noch allerhand Luft.
Gremlizas Kolumne in der KONKRET 2/2008