Der zw-366lfte Mann -226 Die Schaffhauser Bierkurve

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Der zw-366lfte Mann -226 Die Schaffhauser Bierkurve
Volkskundliches Seminar der Universität Zürich
Lizenziatsarbeit
Prof. Dr. Ueli Gyr
Der zwölfte Mann – Die Schaffhauser Bierkurve
Ethnografie einer Fussball-Fankurve
(Feb. 05 – Okt. 05)
von
Jan Jirát
Hochstr. 5
8200 Schaffhausen
052/620 15 50; E-Mail: [email protected]
Abgabetermin: Februar 2006
1
Inhaltsverzeichnis:
1.
Einleitung
S. 1
1.1.
Aufbau
S. 4
1.2.
Methodische Ansätze
S. 5
1.3.
Relevanz für die Volkskunde
S. 6
2.
Fussballfans – in der wissenschaftlichen Literatur und Theorie
S. 7
2.1.
Der Fussballfan
S. 8
2.2.
Das Modell von Heitmeyer und Peter
S. 10
2.3.
Das Modell von Michaela Christ
S. 14
2.4.
Exkurs: Das Modell der Polizei
S. 17
2.5.
Die Studien von Christian Bromberger
S. 19
2.6.
Rollenmuster für Fussballfans
S. 23
2.7.
Ultras
S. 24
2.7.1.
„Calcio Moderno“
S. 29
2.8.
Hooligans
S. 31
2.8.1.
Kick-offs
S. 33
2.9.
Fussball und Gewalt – Erklärungsmodelle nach Thomas König
S. 34
2.10.
„Fanprojekte“ – Thomas Frischknecht
S. 38
2.11.
Selbstkategorisierungen von Fans
S. 43
2.12.
Anmerkung zur Faszination Fussball
S. 45
2.13.
Zusammenfassung
S. 47
3.
Die Bierkurve und ihre Fans
S. 51
3.1.
Die Stadt Schaffhausen und der FC Schaffhausen
S. 52
3.1.1.
Geschichte des FC Schaffhausen
S. 53
3.1.2.
Das Stadion Breite
S. 55
3.2.
Die Bierkurve
S. 57
3.2.1.
Geschichte der Kurve
S. 59
3.3.
Die Struktur der Bierkurve
S. 62
3.3.1.
Der BKSH-Verein
S. 63
3.3.1.1. Mitglieder des BKSH-Vereins
S. 64
2
3.3.2.
Abarticus (AP – Abarticus Perversus)
3.3.2.1. Mitglieder von Abarticus
3.3.3.
Peer-Groups
S. 69
S. 74
S. 91
3.3.3.1. Mitglieder von Peer-Groups
S. 93
3.3.4.
“Kiddies” und “Modefans”
S. 98
3.3.5.
Zusammenfassung der „sozialen“ Struktur
S. 101
3.4.
Die Bierkurve und …
S. 103
3.4.1.
Alkohol und Bier
S. 103
3.4.2.
Politik und Rassismus
S. 105
3.4.3.
Gewalt und Pyro
S. 107
3.4.4.
Lokalpatriotismus
S. 110
3.4.5.
Medien
S. 111
3.5.
Zusammenfassung
S. 112
4.
Das Spiel in der Kurve
S. 114
4.1.
Heimspiel vs. Auswärtsspiel
S. 114
4.2.
Berichte aus der Bierkurve und fremden Stadien
S. 116
4.2.1.
„Der erste Eindruck“
S. 118
4.2.2.
„Unterwegs mit Abarticus“
S. 119
4.2.3.
„Der Fan-Boykott“
S. 122
4.2.4.
„Wir singen Scheiss-FC-Aarau“
S.
126
4.2.5.
„Bis auf die Unterhosen“
S. 132
4.2.6.
„Das (ausgebliebene) Wunder von Bern“
S. 136
4.2.7.
„Missstimmung im Misserfolg“
S. 139
4.3.
Zusammenfassung
S. 141
5.
Schlusswort
S. 144
6.
Bibliografie
S. 149
3
„Wer hett de Bock mit de goldige Hödä?“
„Schaffhuuse, Schaffhuuse!“
Fangesang aus der Bierkurve
1.
Einleitung
Es geschah am 20. Mai 1991. An einem Pfingstmontag, der mit einer Zugreise nach Bern
begann. Dann die Tramfahrt vom Berner Bahnhof zum altehrwürdigen Wankdorf-Stadion:
Die ganze Stadt gepflastert mit leeren Fendant-Flaschen und voll von johlenden Menschen in
rot-weiss. Und ich mittendrin, mit grossen Augen, 10 Jahre alt. Auch im Stadion ein rotweisses Farbenmeer, laut singende Menschen, ein wahres Volksfest. Ich sass ganz hinten in
der Kurve, eine winzig kleine Person zwischen 50`000 anderen an diesem Cupfinal zwischen
den Young Boys aus Bern und dem FC Sion. Doch von wegen Heimspiel: 30`000 Walliser
waren gekommen. 30`000! In meinem Dorf lebten keine 3000. Und dann dieses Spiel! Zur
Pause führten die Young Boys 2:0, ich wollte nicht mehr hinsehen wie der FC Sion, dem
meine Sympathien gehörten, unterging. Doch dann schlug die Stunde der beiden blutjungen
Ersatzspieler Orlando und Rey. 2:3 stand es schliesslich nach weit über 90 Minuten.
90 Minuten voller Emotionen, von absoluter Hoffnungslosigkeit bis hin zur vollständigen
Ekstase. Von diesem Moment an war es um mich geschehen, ich war dem Fussball endgültig
und unwiderruflich verfallen; ein Fussballfan.
Fussballfan. Ein Wort, das Millionen von Menschen auf allen fünf Kontinenten erfasst und
vereint. Unabhängig von Geschlecht, Religion, Ethnie, unabhängig auch von Alter und
Schichtzugehörigkeit. Ein Wort hinter dem sich Abertausende von Individuen verstecken, die
allerdings meist nur als Gruppe oder als Masse in einem Stadion wahrgenommen werden.
Und als solches sind Fussballfans sowohl Segen wie auch Plage – geliebt für ihre lautstarke
und farbenfrohe Unterstützung, verurteilt für ihr primitives Gebaren und ihr immer wieder
aufblitzendes Gewaltpotenzial.
Fussballfan. Ein Wort, das gerade wegen seiner Unschärfe und seiner Undifferenziertheit
Gegensätze zulässt: Individuum und Masse, Segen und Plage, Stimmungs- und Angstmacher.
In letzter Zeit jedoch ist der Begriff etwas aus diesem Gleichgewicht gekommen. Gerade in
den hiesigen Medien werden Fussballfans immer öfter in einem Atemzug mit Chaoten,
Randalierern und Kriminellen genannt. Man liest von Saubannerzügen, gewalttätigen
4
Auseinandersetzungen, verbotenem Abbrennen von Feuerwerkskörpern, Sachbeschädigungen
und rassistischen Äusserungen. Wochenende für Wochenende wird das gleiche Bild in den
Schweizer Fussballstädten gezeichnet.
Fussballfan. Ein Wort, das heutzutage in der öffentlichen Wahrnehmung oftmals negativ
behaftet ist. Den meisten Leuten kommen beim Wort Fussballfan wohl eher Begriffe wie
männlich, arbeitslos, gewalttätig, laut, gefährlich, alkoholsüchtig und primitiv in den Sinn.
Zweifellos mögen diese Attribute zuweilen ihre Richtigkeit haben, und wahrscheinlich gibt es
sogar Fussballfans, die all diese Begriffe auf sich vereinen. Doch es sind längst nicht nur die
Medien und die Populärliteratur, die für ein solch negatives Bild von Fussballfans in der
öffentlichen Wahrnehmung sorgen; auch die sozial- und kulturwissenschaftliche Literatur und
Forschung konzentrieren sich extrem häufig auf die hässliche Seite der Fussballfankultur:
Hooliganismus, Gewaltbereitschaft, Rassismus, Krawalle und Ausschreitungen.
Die Realität sieht grundsätzlich anders aus: Fussballfans dürfen keineswegs als homogene und
formlose Masse betrachtet werden. Ganz im Gegenteil. Fussballfans haben im Laufe der
Jahrzehnte eine erstaunliche Vielfalt – und was oft übersehen wird – auch eine erstaunliche
Kreativität in der Ausübung ihrer Leidenschaft entwickelt. So können zwei Fans desselben
Klubs im gleichen Stadion stehen (oder sitzen) und doch ein gänzlich unterschiedliches
Verhalten an den Tag legen. In diesem Sinne muss man Thomas König Recht geben, wenn er
in seiner soziologischen Studie über Fussballfans gleich zu Beginn festhält: „Es gibt nicht
„das Motiv“ für einen Stadionbesuch. (…) Die unterschiedlichen Zuschauergruppen
motivieren die unterschiedlichsten Gründe ein Fussballspiel live zu erleben.“1
Und trotzdem gibt es eine grosse Gemeinsamkeit, welche die absolute Mehrheit der
Fussballfans vereint: die Liebe zum Fussball.
Den Fussballfan schlechthin gibt es also nicht, genauso wenig wie man die Fussballfans je in
ihrer Ganzheit erfassen könnte. Aus diesem Grund stellt meine vorliegende Lizenziatsarbeit
den Versuch dar, sich auf der kleinsten Ebene mit dem schwer fassbaren Begriff
„Fussballfan“ auseinanderzusetzen und ihm so näher zu kommen. „Der zwölfte Mann – die
Bierkurve“ ist eine empirische Mikrostudie und Ethnografie2 über eine ganz konkrete
Fussball-Fankurve.
1
Siehe in: König, Thomas. Fankultur, Eine soziologische Studie am Beispiel der Fussballfans. Münster, 2002.
S. 1. Das Motiv Gewaltanwendung/-erfahrung ist dabei nur eines von vielen und spielt für die absolute Mehrheit
überhaupt keine Rolle.
2
Ethnografie: „Eine in genauer Beobachtung gewonnene Beschreibung hinsichtlich der Art und Weise, wie
Angehörige einer „Kultur“ diese wahrnehmen, abgrenzen und einordnen, wie sie ihre Handlungen durchführen,
und welche Bedeutung sie den Handlungen und Objekten zuschreiben, die in ihrer „Kultur“ vorkommen.“
5
In meiner ethnografischen Fallstudie über die Schaffhauser Bierkurve3 möchte ich aufzeigen,
wie das Innenleben einer solchen Fussball-Fankurve aussieht und funktioniert. Gleichzeitig
sollen auch einzelne Individuen aus der Bierkurve näher vorgestellt werden, um so einen
Einblick in ihr Leben als Fan zu gewähren.4 Schliesslich geht es auch darum, der Bierkurve
und ihren Fans ein Gesicht jenseits der allzu stereotypen und anonymisierenden öffentlichen
Wahrnehmung zu geben.
Ausgehend von der eingangs formulierten These, dass es sich bei Fussballfans in den Stadien
nicht um eine homogene und formlose Masse handelt, sondern vielmehr um eine heterogene
und komplexe Ansammlung von Menschen, die nicht aus einem sozialen und
gesellschaftlichen Gesamtkontext herausgerissen werden darf, ergeben sich folgende
Fragestellungen, die im Zentrum meiner Lizentiatsarbeit stehen:
•
Was genau ist die Bierkurve?
•
Wer steht in der Bierkurve, und wieso steht er/sie in der Bierkurve (Motivation)?
•
Gibt es erkennbare „soziale“ Strukturen?
•
Wie funktioniert die Bierkurve und wie verhalten sich die einzelnen Personen in der
Kurve?
•
Sind ritualisierte Handlungen oder ausgeprägte Verhaltensmuster in der Bierkurve
erkennbar?
•
Prägt das Fansein auch den Alltag der Bierkurven-Fans?
Im Gegenteil zu den meisten anderen Publikationen über Fussballfans ist der Fokus meiner
Ethnografie einzig und allein auf eine Kurve gerichtet und nicht auf spezifische Fangruppen
(Hooligans, Fanklubs, Ultras, etc.) oder das ganze Stadion wie beim französischen
Ethnologen Christian Bromberger.5 Dabei ist es wichtig, sich stets vor Augen zu halten, dass
es sich um keine vergleichende Arbeit handelt, sondern um eine Fallstudie. Die Aussagen
besitzen deshalb auch keine Allgemeingültigkeit; noch nicht einmal auf die Schweizer
Fussballfanszene bezogen. Gleichzeitig ist die vorliegende Arbeit auch eine Weiterführung
Siehe dazu: Christ, Michaela. Ich bin anders, Fankulturen in Deutschland und den USA: (k)ein Kulturvergleich.
Konstanz, 2001, S. 29.
3
So lautet der gebräuchliche und weit verbreitete Name der Fankurve im Stadion Breite in Schaffhausen. Die
Bierkurve ist genau genommen der Stehplatzsektor in der Ostkurve des Stadions.
4
Als Fussballfan in einer Kurve ist man, wie ich später aufzeigen werde, tatsächlich sowohl Individuum wie
auch Teil eines Ganzen (einer Masse).
5
Bromberger, Christian. Le match de football, Ethnologie d`une passion partisane à Marseille, Naples et Turin.
Paris, 1995. (Sein Werk wird in Kapitel 2.5. näher vorgestellt).
6
und Vertiefung einer Proseminararbeit, die ich im Jahre 2003 gemeinsam mit einem
Kommilitonen verfasst habe.6
4.4.
Aufbau
Die Arbeit ist in drei übergeordnete Teile gegliedert. Im ersten, theoretischen Kapitel
skizziere ich einen aktuellen Forschungs- und Literaturüberblick zum Thema „Fussballfans“.
Nach einer Vorstellung der wichtigsten sozial- und kulturwissenschaftlichen Publikationen
und der Darlegung ihrer Kernpunkte folgt eine kritische, theoretische Abhandlung
wissenschaftlicher Definitionen und Unterscheidungen von Fussballfans und damit eine
„Aufschlüsselung“ der Fussballfanszene. Der Mittel- und Hauptteil der Arbeit bildet ein
genaues Portrait der Struktur und personellen Zusammensetzung der Bierkurve.7 Zum
Abschluss der Arbeit rückt die Kurve als „System“ in den Vordergrund: Ich versuche anhand
meiner Feldbeobachtungen aufzuzeigen, wie die Bierkurve funktioniert, was während eines
Spiels8 in der Kurve passiert und wie sie sich selbst inszeniert. Aus diesen drei Teilen soll
schliesslich ein stimmiges Gesamtbild der Bierkurve und ihrer Fans entstehen, das einen ganz
spezifischen Einblick in die „verkannte“ Welt der Fussballfans gewährt.
Meine Entscheidung, die Fankurve des FC Schaffhausen als Untersuchungsfeld auszuwählen,
hat verschiedene Gründe. In erster Linie sprach der einfache Feldzugang für die Bierkurve;
ich kannte bereits im Vorfeld meiner Lizentiatsarbeit viele Leute aus der Kurve.9 Die Grösse
und Struktur der Kurve war und ist sehr übersichtlich, weil sich das Einzugsgebiet nur auf die
Region Schaffhausen10 beschränkt und der FC Schaffhausen erst in der Saison 2003/2004 in
die höchste Spielklasse11 aufgestiegen war, was die Feldforschung und die anschliessende
Analyse sichtlich erleichtert. Nicht nur der Verein und sein Umfeld, auch die Fanszene hatte
mit dem Aufstieg in die Super-League Neuland betreten und musste sich während meines
achtmonatigen Untersuchungszeitraumes erst etablieren und finden. Ein Umstand, der
zusätzliche Prozesse und Entwicklungen innerhalb der Fankurve mit sich brachte, die meine
6
Meier, Fabian; Jirát, Jan. Fussballfans, Die Bierkurve im Portrait. (Proseminararbeit am Volkskundlichen
Seminar Zürich). Zürich, 2004.
7
Im Vordergrund stehen dabei einzelne Fan-Gruppierungen innerhalb der Bierkurve und vor allem Individuen.
8
Sowohl auswärts wie auch zu Hause, was ein grosser Unterschied ist.
9
Die meisten noch von meiner Schulzeit her, andere von vorherigen sporadischen Matchbesuchen und über die
Proseminararbeit von 2004.
10
Zur Region Schaffhausen zähle ich: den ganzen Kanton Schaffhausen, die nördlichen Weinlandgemeinden
(ZH), die umliegenden Thurgauer-Gemeinden (Diessenhofen, Schlatt, Basadingen) sowie Teile des Hegaus (D).
11
Die Axpo Super League. Wobei die meisten Fans immer noch den alten Begriff NLA verwenden.
7
Untersuchung definitiv bereichert haben. Nicht zuletzt war es meine Bequemlichkeit, die den
Ausschlag zu Gunsten der Bierkurve gab; ich wohne nämlich selbst in Schaffhausen.
1.2.
Methodische Ansätze
Ich greife für meine empirische Fallstudie auf eine Kombination von methodischen
Feldzugängen zurück. Auf der einen Seite habe ich die Bierkurve über einen Zeitraum von gut
Monaten
aktiv
standardisierte
und
acht
teilnehmend
offene
beobachtet,
biografische
andererseits
Interviews
habe
geführt.
ich
zahlreiche
Mit
dieser
Methodenkombination versuche ich zwei Ebenen der Fankultur kurzzuschliessen: eine
„unpersönliche Handlungsebene“ und eine „lebensgeschichtliche Erfahrungsebene“. Die
unpersönliche Handlungsebene wird durch eine genaue Prüfung des Verhaltens, der
Kommentare, der Fangesänge und der Accessoires von Bierkurven-Fans sowie der
Funktionsmechanismen der Kurve behandelt. Auf der lebensgeschichtlichen Erfahrungsebene
wird die „soziale“ Struktur der Kurve und die Bedeutung des Fussballs im Lebenslauf
Einzelner erfasst, um so die Fussballbegeisterung und die Leidenschaft der Fans aufzuzeigen.
Im Verlaufe meines Untersuchungszeitraumes habe ich 9 Heimspielen12 und 9
Auswärtsspielen13 beigewohnt, wobei ich Fangesänge und Spielkommentare aufgenommen
sowie persönliche Notizen und Berichte zu den einzelnen Spielen und dem Geschehen in der
Bierkurve verfasst habe. Gleichzeitig habe ich auch an Sitzungen der Fan-Gruppierung
Abarticus14 teilgenommen, Kommentare und Fotostrecken auf der offiziellen Homepage des
BKSH-Vereins15 mitverfolgt und verschiedene Berichte der ansässigen Presse16 gelesen.
Insgesamt
führte
ich
22
standardisierte
und
offene
Interviews.
Darunter
ein
Gruppeninterview (mit drei Personen) sowie zwei Interviews mit der gleichen Person. Die
Dauer dieser Interviews lag jeweils zwischen 30 und 85 Minuten. Der Grossteil meiner
Interviewpartnerinnen und -partner stammt aus der Bierkurve selbst; daneben habe ich auch
Interviews mit zwei Klubverantwortlichen, einer Tribünenhockerin und einem FussballExperten (ehemaliger Fan-Projekt-Leiter beim Grasshoppers Club Zürich) geführt. Die
12
(6 Spiele in der Saison 04/05, 3 Spiele in der Saison 05/06), ausschliesslich Meisterschaftsspiele.
(7 Spiele in der Saison 04/05, 2 Spiele in der Saison 05/06), ausschliesslich Meisterschaftsspiele.
14
Zur ultra-orientierten Fan-Gruppierung Abarticus folgt im Kapitel 3.3.2. ein sehr ausführlicher Bericht.
15
Auf den BKSH-Verein wird im Kapitel 3.3.1. genauer eingegangen.
16
Hauptsächlich die „Schaffhauser Nachrichten“, die in der Region Schaffhausen eine Monopolstellung
innehaben.
13
8
Interviews stehen besonders im Mittelteil meiner Arbeit im Zentrum, wo es um die Struktur
und soziale Zusammensetzung der Bierkurve geht. Die jeweiligen Interviews werden über
eine qualitative und explizierende Inhaltsanalyse17 ausgewertet und als Grundlage von
einzelnen Fan-Portraits verwendet.
1.3.
Relevanz für die Volkskunde
Mittlerweile ist es „im Zuge eines selbstreflexiven Wissenschaftsverständnisses zunehmend
legitim, die eigene Passion zum Forschungsgegenstand zu erheben“18; ein Grundsatz, der
Chancen und Gefahren zugleich birgt. So schwingt auch in meiner Studie über eine FussballFankurve das Fussballherz unweigerlich zwischen den Zeilen mit und die Wahrung von
Distanz und Objektivität fiel mir beim Beobachten wie beim Schreiben nicht immer leicht,
gleichzeitig konnte ich auf sehr umfangreiche Vorkenntnisse des Untersuchungsfeldes
zurückgreifen, was mir den Einstieg und auch die weiteren Schritte im Feld enorm
erleichtert hat.
In der akademischen Wahrnehmung ist der Fussball und damit auch der Sport und die Freizeit
allgemein lange Zeit im Schatten von „wichtigeren“ Lebensbereichen gestanden, wie etwa
Wirtschaft, Politik, Arbeit und Familie. Doch mittlerweile wird der Sport als „integraler
Bestandteil des kulturellen und sozialen Lebens“19 verstanden, der auch in wirtschaftliche und
politische Bereich eingreift. Gerade der Fussball, in seiner absolut unerreichten globalen
Popularität, hat längst den Weg in unsere Gesellschaft und damit auch in unseren Alltag
gefunden20 und sich von einer, einst belächelten, „Proletarier-Sportart“ zu einer der
populärsten und einflussreichsten Freizeitbeschäftigungen überhaupt entwickelt.
In diesem Sinne erachte ich das Thema „Fussballfans“ als relevantes und erst noch äusserst
ergiebiges Untersuchungsfeld für die Volkskunde, in ihrer Erforschung des Alltags.
Das Spiel möge beginnen!
17
Die explizierende Inhaltsanalyse versucht, die untersuchten Inhalte so gut wie möglich - auch unter
Hinzuziehung sonstigen Materials, Hintergrundwissens usw. - verständlich zu machen. (Siehe dazu: Merten,
Klaus. Inhaltsanalyse. Einführung in Theorie, Methode und Praxis. Opladen. 1995.)
18
Rolshoven, Johanna. Fussball aus kulturwissenschaftlicher Perspektive, in: Schmidt-Lauber, Brigitta (Hrsg.).
FC St. Pauli, Zur Ethnographie eines Vereins. Münster, 2004 (2. Auflage). S. 34.
19
Rolshoven, FC St. Pauli, S. 35.
20
Beim jüngsten WM-Qualifikationsspiel der Schweizer Nationalmannschaft gegen die Türkei sassen an einem
Mittwochabend über 1,5 Millionen Deutschschweizer vor dem Fernseher. Siehe dazu: „Tages-Anzeiger“ vom
18.11.2005. Das Spiel selbst fand am 16.11.2005 in Istanbul statt.
9
2.
Fussballfans – in der wissenschaftlichen Literatur und Theorie
Fussballfans stehen schon seit gut drei Jahrzehnten, parallel zum (medialen) Aufkommen des
Hooliganismus, vermehrt im Blickfeld der Sozial- und Kulturforschung. Mittlerweile gibt es
eine kaum überschaubare Menge an Veröffentlichungen zu diesem Thema, wobei gesagt
werden muss, dass sich überproportional viele Bücher und Studien dem Thema Gewalt und
Hooliganismus widmen. Es gibt Unmengen an Publikationen über Hooligans, wohingegen die
aus dem italienischen und französischen Raum stammenden Ultras zu Unrecht weit gehend
unberücksichtigt bleiben, obschon diese in den heutigen Stadien21 gegenüber den Hooligans
klar in der Überzahl sind. Und spätestens mit Nick Hornbys Welterfolg „Fever Pitch“22, hat
der Fussball im Allgemeinen und der Fussballfan im Besonderen, seinen Platz auch in der
Populärliteratur gefunden.
Im Folgenden soll nun ein auf den deutschsprachigen Raum konzentrierter Literatur- und
Forschungsüberblick aufzeigen, wie sich andere Forscherinnen und Forscher dem äusserst
weiträumigen und ungemein spannenden Feld der Fussballfans näherten und sich darin
zurecht gefunden haben. Gleichzeitig soll anhand von Besprechungen der zentralsten Werke
für meine vorliegende Arbeit ein möglichst differenzierter und breit abgestützter Blick auf die
verschiedenen Gruppierungen und Gattungen von Fussballfans geworfen werden.
Dieser theoretische Teil und erster thematischer Schwerpunkt meiner Studie soll als Einstieg
und Orientierung in mein späteres Untersuchungsfeld – die Bierkurve – dienen und sowohl
zum besseren Verständnis von Fussballfans allgemein beitragen, als auch die theoretische und
definitorische Grundlage meiner Feldanalysen darstellen.
Abschliessend möchte ich noch festhalten, dass eine bestimmte „Fankurve“ als Ganzes
betrachtet bisher noch nicht in den Mittelpunkt einer wissenschaftlichen Arbeit gestellt
worden ist.23 Vielmehr standen bislang das omnipräsente Thema Gewalt, oder einzelne
Fangruppierungen, wie etwa überwiegend die Hooligans, sowie weit seltener die Ultras und
einzelne Fanclubs, im Vordergrund, oder, wie beim französischen Ethnologen Christian
Bromberger, ein ganzes Stadion. Im Falle der Schaffhauser Bierkurve sind die Bedingungen
wegen deren überschaubaren Grösse für eine solche empirische Fallstudie natürlich ideal. Bei
einem grösseren Verein, wie etwa dem FC Basel oder dem FC Zürich, wäre eine solche
21
Diese Aussage beschränkt sich auf die Italienischen, die Französischen und die Schweizerischen ProfiFussball-Ligen.
22
Ein Roman über seine leidenschaftliche Beziehung zum Londoner Fussballverein Arsenal F.C. Hornby ist
dabei weder ein Hooligan noch ein Ultra, sondern – wie die grosse Mehrheit der Fans in den Stadien – ganz
einfach fussballbegeistert. Hornby, Nick. Fever Pitch, Ballfieber – die Geschichte eines Fans. Hamburg, 1996.
23
Mir ist auf alle Fälle keine solche Publikation bekannt.
10
Studie sehr viel schwerer durchzuführen, da es sich bei einer grösseren Fankurve um ein
ungemein komplexes und dynamisches System handelt, das oftmals sehr schwer zu
durchschauen und zu begreifen ist.
2.1.
Der Fussballfan24
In Europa kam es am Wochenende zu zahlreichen Krawallen und rassistischen Vorfällen. In Athen
richteten Hooligans Millionenschäden an, auf Zypern starb ein Polizist, und Italien muss sich mit einem
neuerlichen Fall von Rassismus befassen.
In der griechischen Stadt Livadeia versuchten rund 200 Fans des Erstligisten AEK Athen ohne Tickets
ins Stadion zu gelangen. Bei den anschliessenden Zusammenstössen mit der Polizei wurden vier
Beamte verletzt. Die Hooligans zündeten zwei Übertragungswagen der griechischen TV-Station Alpha
an. Nach Angaben des Senders entstand Sachschaden von rund zwei Millionen Euro. Die Partie
musste für etwa 30 Minuten unterbrochen werden.
Auf Zypern kam bei Ausschreitungen nach der Partie AEL Limassol - APOEL Nikosia ein Polizist ums
Leben und 27 weitere Personen wurden verletzt.
Auch in Deutschland gab es am Wochenende Probleme mit Fans. In Leipzig wurden knapp zwei
Wochen vor der Endrunden-Auslosung zur WM bei Ausschreitungen nach dem Spiel zwischen
Wurzen und Lok Leipzig (7. Liga) 18 Polizisten verletzt.
In der Nähe der polnischen Grenze lieferten sich 100 deutsche und polnische Hooligans in einem
Wald eine Schlägerei. Die Polizei nahm 85 Personen vorübergehend fest. Einer der Schläger war
1998 während der WM in Frankreich in Lens in jene Auseinandersetzung involviert, in der der Polizist
Daniel Nivel ins Koma gefallen war.
Italiens Verband leitete eine Untersuchung der rassistischen Vorkommnisse vom Wochenende ein.
Fans von Inter Mailand hatten in Messina den dunkelhäutigen Verteidiger Marc-André Zoro (21) als
«dreckigen Neger» beschimpft und ihn mit Affenlauten verhöhnt. Der Verband beschloss zudem, aus
Protest gegen Rassismus alle Partien dieser Woche fünf Minuten später anpfeifen zu lassen. Vor dem
Spielbeginn sollen alle Teams ein Spruchband mit dem Slogan «Stoppt den Rassismus» ausrollen.
Der von der Elfenbeinküste stammende Zoro hätte nach dem Reglement einen Spielabbruch fordern
können. Inter droht nun neben einer hohen Busse eine Platzsperre. Der Afrikaner war schon Ende
August anlässlich der Partie Lazio Rom - Messina verhöhnt worden.
Ein weiterer Vorfall in der 13. Runde der Serie A ereignete sich in Empoli, wo ein vermummter Fan
von Lazio Rom im Stadion eine Hakenkreuzfahne zeigte. Lazio-Anhänger fielen schon mehrmals
durch antisemitische und rassistische Aktionen auf.
25
24
Der Begriff „Fan“ geht etymologisch auf das griechische Wort „fanum“ zurück, was wörtlich mit Tempel
übersetzt werden kann. Der Fanbegriff impliziert damit, dass der „Fan“ eine irdische Grösse zu einem Heiligtum
erklärt. Überspitzt formuliert deutet die wortgeschichtliche Bedeutung des Wortes (Fussball)-„Fan“ also auf eine
enge Bindung eines Fans zu einer Mannschaft oder einem Verein hin, einer Verehrung, die derjenigen eines
Heiligen gleicht. Siehe dazu: König, Thomas. Fankultur, Eine soziologische Studie am Beispiel des Fussballfan,
Münster 2002. S. 44.
25
Siehe dazu: „Schaffhauser Nachrichten“, Ausgabe vom 28. November 2005, S. 23.
11
Diese Pressemeldungen waren am Montag, 28. November 2005, in fast allen Schweizer
Tageszeitungen in demselben Wortlaut zu lesen. Es sind zweifellos erschreckende Berichte
über das Verhalten und Handeln von Fussballfans. Und es sind beileibe keine Einzelfälle.
Vielmehr kommt es Wochenende für Wochenende zu Ausschreitungen, Gewalttätigkeiten
und rassistischen Vorkommnissen im Zusammenhang mit Fussballspielen. Das sind
Tatsachen, die nicht zu leugnen sind.
Dennoch verzerren solche Presseberichte die Wahrheit und vor allem die öffentliche
Wahrnehmung über Fussballfans. Erstens werden solche Berichte meistens unkommentiert
von irgendwelchen internationalen Presseagenturen übernommen, wobei die Hintergründe
und Zusammenhänge, die hinter solch gewalttätigen Auseinandersetzungen stehen, gänzlich
ausgeklammert werden. Zweitens wird die übergrosse Mehrheit von friedlichen Fussballfans,
die überhaupt nichts mit diesen Vorfällen zu tun hat, übersehen und drittens sind Fussballfans
zuallererst immer noch Individuen.
Es ist keineswegs mein Anliegen, das Gewaltpotenzial, das gewisse Fussballfans zweifellos in
sich bergen, zu verharmlosen oder stillzuschweigen; ich möchte vielmehr die ungeheure
Vielseitigkeit und Komplexität innerhalb der Fussballfanszene hervorheben und deren
Handeln und Auftreten – ob gesellschaftskonform oder nicht – in einen gesellschaftlichen und
kulturellen Kontext stellen, um so der medial einseitig verbreiteten und vom Grossteil der
Öffentlichkeit unkritisch rezipierten Wahrnehmung von Fussballfans entgegenzuwirken.
Michaela Christ hat diese Grundproblematik wunderbar in Worte gefasst: „Die zunehmende
Aufmerksamkeit
der
Medien
gegenüber
Gewalthandlungen
von
Fussballfans,
die
Einschränkung der Berichterstattung auf weitestgehend negativ besetzte, aber eben gut zu
vermarktende Verhaltensweisen von Jugendlichen, trägt dazu bei, dass das Problem der
Gewalt, des Rechtsradikalismus und des Alkoholkonsums unter Fussballfans überbewertet
und dramatisiert wird, dass Reaktionen seitens der staatlichen Behörden und der
Öffentlichkeit überzogen ausfallen, mit der Konsequenz, dass die Fans kriminalisiert werden.
Aus dieser Sicht erscheinen die Fussballfans als Klientel von Fanatikern, Ausgeflippten,
Chaoten, Randalierern, Rechtsradikalen und Suffköpfen. Ein solches Bild hat einen
gravierenden Nachteil: Es zeigt keine Individuen.“26
Es muss noch einmal betont werden: Den Fussballfan schlechthin gibt es nicht. Vielmehr
umfasst der Begriff „Fussballfan“ eine unwahrscheinlich grosse und heterogene Anzahl von
Menschen aus allen fünf Kontinenten, allen sozialen Schichten und Altersklassen und
26
Christ, Michaela. Ich bin anders, Fankulturen in Deutschland und den USA: (k)ein Kulturvergleich. Konstanz.
2001. S. 30.
12
beiderlei Geschlechts. Jede und jeder kann im Prinzip Fussballfan werden27, sofern sie oder er
es nicht schon längst ist.
Trotz dieser Vielfältigkeit und grosser regionaler Unterschiede sind gewisse Strukturen und
Gemeinsamkeiten innerhalb der westeuropäischen Fussballfanszene28 auszumachen, und seit
jeher war es ein Anliegen der sozial- und kulturwissenschaftlichen Forschung, diese
Strukturen und Gemeinsamkeiten zu erfassen und so ein präziseres und differenzierteres Bild
von Fussballfans zu zeichnen.
In den folgenden Unterkapiteln soll nun aufgezeigt werden, wie Forscher und Experten
Einteilungen und Unterscheidungen von Fussballfans vornehmen. Die Ergebnisse stützen sich
hauptsächlich auf den deutschsprachigen und den französischen Raum, und sind mit
Vorbehalten auch auf die Schweiz übertragbar.29 Das gesamte Kapitel ist als (theoretischer)
Einstieg ins mein Untersuchungsfeld – die Bierkurve – gedacht und soll sowohl einen
Einblick und Überblick in die Vielfältigkeit und Komplexität der Fanszenen wiedergeben,
sowie den Begriff „Fussballfan“ aus der gängigen medialen und öffentlichen Wahrnehmung
lösen, die noch immer von vielen Vorurteilen und einer grossen Ignoranz geprägt ist.
2.2.
Das Modell von Heitmeyer und Peter
Wilhelm Heitmeyer und Jörg-Ingo Peter30 entwickelten Ende der Achtzigerjahre ein
einleuchtendes und überschaubares dreigliedriges Einteilungsmodell für Fussballfans, auf das
in der Forschung und Literatur auch heute noch oft zurückgegriffen wird.
In ihrem – gerade für den deutschsprachigen Raum – äusserst wichtigen Beitrag über
Fussballfans
„Jugendliche
Fussballfans
–
Soziale
und
politische
Orientierungen,
Gesellungsformen, Gewalt“ stellten sie 1988 eine sozialisationstheoretische Perspektive ins
27
Der Bezug zum Spiel ist sehr schnell hergestellt. Einerseits durch die extrem hohe mediale Verbreitung des
Sports, andererseits durch die Ausübung des Sports selbst, die nur geringe Ressourcen erfordert und keinen allzu
komplexen Regeln unterstellt ist. Im Gegensatz zu den meisten anderen Massensportarten braucht es für Fussball
„nur“ eine einigermassen ebene Unterlage und einen Ball, der im Notfall auch aus Kleidungsstücken oder einer
Alubüchse bestehen kann.
28
Meiner Meinung nach ist es unmöglich, das „Phänomen“ Fussballfan in einem globalen Kontext zu erfassen
und zu kategorisieren. Die jeweiligen politischen, gesellschaftlichen, religiösen, wirtschaftlichen und auch
geografischen Einflüsse und Unterschiede wiegen dafür zu stark.
29
Als direkte Nachbarländer der Schweiz gibt es eine ganze Reihe von kulturellen und vor allem sprachlichen
Gemeinsamkeiten, sowie einen regen Austausch. Das überträgt sich auch auf den Fussball; gerade die
Deutschschweiz orientiert sich stark an der Bundesliga. Dennoch muss berücksichtigt werden, dass die
Schweizer Fanszene seine eigene Fankultur(en) hat. Ein sehr wesentlicher Unterschied besteht zum Beispiel in
den Zuschauerzahlen, die in der Schweiz weitaus geringer als in Deutschland oder Frankreich sind.
30
Wilhelm Heitmeyer (Dr. phil. habil.) war zurzeit der Veröffentlichung seines Buches „Jugendliche
Fussballfans“ (1988) Privatdozent an der Fakultät für Pädagogik an der Universität Bielefeld; Jörg-Ingo Peter
(Dipl.-Soz.) war Mitarbeiter am Fan-Projekt der Universität Bielefeld.
13
Zentrum ihrer Untersuchung. Die beiden Forscher wiesen darauf hin, dass in unserer
postmodernen Gesellschaft „den Individuen (einerseits) neue Möglichkeitshorizonte für ihr
Handeln offeriert (werden), (sie) andererseits aber aus den traditionellen Bindungen und
Milieus herausgelöst, und die Integrationswege in die Gesellschaft undeutlicher (werden).“31
Dieser Umstand und „die Durchkapitalisierung aller Lebensbereiche“32 führe gerade bei
Jugendlichen zu einer Individualisierung und einer gewissen Orientierungslosigkeit. Das
Fussballfansein hingegen – und das jugendspezifische Zusammenleben mit anderen, meist
Gleichaltrigen –, „gehört zu den alltäglichen Erscheinungen bei Jugendlichen, um auf eine
spezifische Weise eine eigenständige Identität zu erwerben, also das zu tun, was als
Kernaufgabe dieser Altersphase verstanden wird, um so (…) eine gelingende Sozialisation zu
erfahren.“33
Für Heitmeyer und Peter bedeutet das Fussballfansein für Jugendliche also weit mehr als eine
blosse Freizeitbeschäftigung, vielmehr bietet das Fansein eine wichtige Möglichkeit zur
Identitätsbildung und Orientierungsstiftung in der Gesellschaft.
In diese sozialisationstheoretische Perspektive hinein platzieren die beiden Forscher auch das
im Zusammenhang mit Fussballfans omnipräsente Thema „Gewalt“. Sie gehen davon aus,
„dass sich gewaltförmiges Handeln von jugendlichen Fussballfans und die oft damit
verbundenen provozierenden oder begründeten Artikulationen von problematischen sozialen
und politischen Orientierungsmustern nicht ursächlich als psychisch-individuelle Deformation
von
Jugendlichen
begreifen
lassen,
sondern
nur
in
einem
gesellschaftlichen
Ursachenzusammenhang gesehen werden können, in dem die Durchkapitalisierung nahezu
aller sozialen Lebensverhältnisse und auch des Profifussballs von zentraler Bedeutung sind.“34
In ihrer Ausdifferenzierung der Fan-Szenerie verzichten Heitmeyer und Peter bewusst auf
„globale“ Kriterien, wie beispielsweise die soziale Schichtzugehörigkeit oder die geschlechtsund altersspezifische Zusammensetzung und stellen den „Bedeutungsgrad, den Fussball für
die alltägliche Lebensweise von Jugendlichen hat“35 in den Vordergrund, was zu folgendem
Einteilungsmodell führt:
Modell: (siehe separates Blatt)
31
Heitmeyer, Wilhelm; Peter, Jörg-Ingo. Jugendliche Fussballfans - Soziale und politische Orientierungen,
Gesellungsformen, Gewalt. München. 1988. S. 9.
32
Heitmeyer/Peter, Jugendliche Fussballfans, S. 10.
33
Heitmeyer/Peter, Jugendliche Fussballfans, S. 20.
34
Heitmeyer/Peter, Jugendliche Fussballfans, S. 21.
35
Heitmeyer/Peter, Jugendliche Fussballfans, S. 31.
14
Kurze Zusammenfassung:
•
Konsumorientierte Fans: Sie gehen ins Stadion unter dem Leistungsgesichtspunkt.
Spielt die Mannschaft schönen und erfolgreichen Fussball, gehen sie gerne ins
Stadion, bei Misserfolg oder einer unattraktiven Spielweise hingegen, bleiben sie
lieber zu Hause. Der Besuch des Stadions hat für konsumorientierte Fans eine geringe
soziale Relevanz, Fussball ist austauschbar und stellt eine Freizeitbeschäftigung neben
anderen dar. Die Gruppenorientierung dieser Fangruppe ist eher schwach, meistens
sind sie mit einer kleinen Gruppe Gleichgesinnter im Stadion und stehen oder
vielmehr sitzen auf der Gegengerade.
•
Fussballzentrierte Fans: Sie halten ihrem Verein auch bei sportlichem Misserfolg, ja
sogar im Falle eines Abstieges, die Treue. Fussball ist für fussballzentrierte Fans nicht
austauschbar, und der Stadionbesuch besitzt eine hohe soziale Relevanz für sie, das
Stadion begreifen sie nicht zuletzt als Präsentationsfeld. In den Reihen der
fussballzentrierten Fans ist die Gruppenorientierung stark ausgebildet, sie stehen
meistens sehr dicht zusammen in der Kurve oder dem Fanblock
•
Erlebnisorientierte Fans: Sie gehen zu einem Fussballspiel unter dem Gesichtspunkt
des Spektakels. Das Fussballspiel selbst geniesst nicht oberste Priorität, es gilt aber als
wichtiges Präsentationsfeld für Anerkennungsprozesse. Sobald sich aber andere
(Spannungs-)Felder auftun, wechseln sie dahin. Die erlebnisorientierten Fans haben
keinen bestimmten Standort im Stadion (zumindest nicht über längere Zeit).
Heitmeyer und Peter halten aber auch fest, dass sich abseits von diesen drei Fangattungen
Jugendliche in den Stadien finden, die politisch organisiert sind. 36
Ihr Werk über jugendliche Fussballfans und Gewalt ist auch als Kritik an der behördlich
verordneten und polizeilich ausgeführten repressiven Massnahmen37 im Umgang mit
36
In ihrem Werk „Jugendliche Fussballfans“ konzentrieren sie sich hauptsächlich auf rechtsextrem eingestellte
Jugendliche, die (teilweise) versuchen, Fussball politisch zu instrumentalisieren. Selbstverständlich gibt es aber
auch linksextrem eingestellte Jugendliche, die den Fussball für politische Zwecke missbrauchen. Bücher über
Extremismus im Fussball: Dembowski, Gerd (Hrsg.). Tatort Stadion, Rassismus, Antisemitismus und Sexismus
im Fussball. Köln, 2002. Back, Les; Crabbe, Tim; Solomos, John. The changing face of football, racism, identity
and multiculture in the English game. Oxford, 2001.
37
Zu den repressiven Massnahmen gehören insbesondere das Aussprechen von Stadionverboten für Fans, die
sich etwas zu Schulden kommen liessen (Abbrennen von Fackeln, bengalischen Feuern; Gewalt gegen Beamte;
Werfen von Gegenständen auf das Spielfeld), eine massive Präsenz der Polizei ausserhalb des Stadions und eines
15
jugendlichen Fussballfans zu verstehen. So schreiben sie in ihrem Fazit38, dass die Polizei ihre
repressive Taktik als Erfolg werte (die gewaltförmigen Auseinandersetzungen hätten sich
1988 auf einem „quantitativ hohen Niveau“ eingependelt), wobei „übersehen wird (…), dass
diese Taktik grundsätzlich nur von Wochenende zu Wochenende reicht und alles ausblendet,
was an Alltagsgeschehen dazwischen liegt.“ Heitmeyer und Peter fordern, dass gewaltförmige
Handlungen von jugendlichen Fussballfans nicht einfach als reine Vandalenakte und
willkürliche Handlungen verstanden werden, sondern in einen gesellschaftlichen, sozialen und
vor allem auch situationsabhängigen Kontext gestellt werden müssen. Aus diesem Grund sind
sie grosse Verfechter so genannter „Fan-Projekte“39, in denen Sozialarbeiter als Schnittstelle
und Vermittler zwischen jugendlichen Fussballfans und der Polizei fungieren.
Die Fan-Einteilung von Heitmeyer und Peter weicht, im Gegensatz zu den meisten anderen
Klassifizierungsmodellen,
vom
Gewalt-Paradigma
ab
und
setzt
dafür
bei
den
Bedeutungsaspekten an, welche die Fans dem Fussball zuschreiben. Ihre klassische
Dreiteilung der Fangruppen ist immer noch wegweisend und wurde in späteren
Klassifizierungsmodellen immer wieder verwendet.
Die sozialisationstheoretische Perspektive von Heitmeyer und Peter, die auch eine gewisse
Gesellschaftskritik40 impliziert, ist sehr stark von pädagogischen Motiven geprägt. Mit ihrer
Fokussierung auf die Sozialisationsfähigkeit des Fanseins – einen zweifellos sehr wichtigen
Aspekt – verlieren sie den Blick auf weitere Aspekte, die für (jugendliche) Fussballfans eine
Rolle spielen können, wie zum Beispiel den nicht zu unterschätzenden Spassfaktor, die Rolle
des Lokalpatriotismus oder das so genannte Eintauchen in eine „andere Welt“, in der ein
gänzlich neues Normen- und Wertesystem gilt. Ausserdem hat sich in den letzten gut zwanzig
Jahren im Fanbereich sehr viel getan. Besonders das Aufkommen der Ultras41 im
deutschsprachigen Raum im Verlauf des letzten Jahrzehnts, hat die Fussballfanlandschaft
verändert und sicher auch bereichert.
Für die deutschsprachige Fussballfanforschung und besonders für die Soziale Arbeit und die
„Fanprojekte“, die mittlerweile bei mehreren Bundesligisten und beim FC Basel, als einzigem
Verein der Schweiz, längst integriert sind, ist die Arbeit von Heitmeyer und Peter ein
unverzichtbares Standardwerk. Ihr dreigliedriges Klassifizierungsmodell ist immer noch
Sicherheitsdienstes innerhalb des Stadions, sowie rigorose Eingangskontrollen bis hin zu Videoüberwachung
und Personalienaufnahmen.
38
Kapitel „Mehr Jugendpolitik statt „jugendgemässer“ Polizeitaktik, in: Heitmeyer/Peter, Jugendliche
Fussballfans, S. 168 f. Sie vergleichen in diesem Kapitel das „ordnungspolitische Modell“ (Polizei/Behörde) mit
dem „jugendpolitischen Modell“ (Sozialarbeiter/“Fan-Projekte“).
39
Zu den Fanprojekten wird in Kapitel 2.10. „Fanprojekte“ näher eingegangen.
40
Durchkapitalisierung aller Lebensbereiche, Individualisierung, etc.
41
Mehr dazu im Kapitel 2.7. „Ultras“.
16
wegweisend
und
mit
gewissen
Einschränkungen42
aktuell,
genauso
wie
ihre
sozialisationstheoretische Perspektive, die im Bezug auf das (gewalttätige) Verhalten von
Fussballfans und die Motive für einen Stadionbesuch, allerdings in einen grösseren
Gesamtkontext gestellt werden muss.
2.3.
Das Modell von Michaela Christ
Michaela Christ43 versucht in ihrem 2001 erschienenen Werk „Ich bin anders – Fanstrukturen
in Deutschland und den USA: (k)ein Kulturvergleich“, Strukturen der Fankultur44 in
Deutschland (VfB Stuttgart, Fussball) und den USA (New England Patriots, American
Football) anhand zweier Ethnografien über die Fans der beiden erwähnten Mannschaften zu
vergleichen.
Sie
muss
allerdings
sehr
früh
erkennen,
dass
ihr
Versuch
eines
„Kulturvergleichs“ zum Scheitern verurteilt ist. Die jeweiligen Fankulturen in den beiden
Ländern sind in keiner Weise miteinander zu vergleichen. Während in Deutschland zahlreiche
Heim- wie Auswärtsfans einem Spiel beiwohnen, die in einem bestimmten, klar abgegrenzten
Zuschauerblock (Kurve) beeindruckende Choreographien, Anfeuerungsrufe oder Gesänge
zum Besten geben, bleibt die Spielatmosphäre in den USA vergleichsweise ruhig und
beschaulich. Der Besuch des Stadions ist vielmehr eine Art Familienausflug.45
Michaela Christ beabsichtigte, den Fokus zu Beginn ihrer Fan-Studie, wie so oft, auf
gewaltbereite und –tätige Fans zu legen. Die Autorin sah sich jedoch schon sehr bald
gezwungen, diese Fokussierung aufzugeben und eine neue Untersuchungsgruppe zu finden.
Einerseits (und hauptsächlich) musste sie feststellen, dass es äusserst schwierig ist, den
Einstieg ins Feld der gewaltbereiten Fans zu schaffen46, andererseits gab es auf
amerikanischer Seite absolut keine vergleichbare Fankultur. Sie entschied sich schliesslich,
ihr Augenmerk auf eine Fangattung zu legen, die besonders in Deutschland beheimatet ist: die
so genannten Kuttenträger. Zu diesem Zweck begleitete sie fortan die Mitglieder des
42
Gerade das Auftauchen der Ultra-Kultur in den Neunzigerjahren hat die deutsche Fussballfanszene doch
nachhaltig verändert. Zudem ist meiner Meinung nach eine Dreigliederung von Fans zu wenig differenzierend.
43
Jahrgang 1966, promovierte am Lehrstuhl für Qualitative Sozialforschung an der Universität Konstanz.
44
Im Profisport.
45
Christ, Ich bin anders, Konstanz. 2001. S. 21-28. In den USA hat es auch nur in den seltensten Fällen eine
grössere Anzahl von Auswärtsfans, da die Distanzen zwischen den Spielorten oftmals riesig sind.
46
Sowohl als Forscherin wie auch als Frau.
17
Fanclubs47 OFC Blattstadt an Heim- und Auswärtsspiele, um so einen Einblick ins
Innenleben eines Fanclubs und in die Kultur der Kuttenträger zu bekommen.
Für Michaela Christ bilden die Kuttenträger eine eigene Fangattung, von der bei Heitmeyer
und Peter überhaupt nicht die Rede war. Betrachten wir das Fussballfan-Einteilungsmodell48
von Christ jedoch genauer, erkennen wir, dass die Kuttenträger im Grunde genommen als
spezielle Gattung von fussballzentrierten Fans zu betrachten sind. Während Heitmeyer und
Peter den Bedeutungsgrad, den Fussball für die alltägliche Lebensweise von Jugendlichen
(Fussballfans) hat, als zentralen Wert für ihr Modell zitieren, beruft sich Christ primär auf
äussere Merkmale und vor allem auf das Gewaltpotenzial der einzelnen Fangruppierungen.
1. Der einfache, unauffällige Zuschauer: dieser Zuschauertyp stellt im Stadion mit bis
zu 90% die bei weitem grösste Gruppierung dar. Er ist selten in den Farben des Vereins
gekleidet, gehört keinem Fanclub an und belegt meistens einen Sitzplatz im Stadion. Die
emotionale Beteiligung an einem Spiel reicht von distanziert-passiv bis engagiertkontrolliert. Er ist weder ein relevantes Sicherheitsproblem für die Polizei, noch besitzt er
einen nennenswerten Bekanntenkreis innerhalb der Stadionfussballszene.
2. Der Kuttenträger49: diese, meist jugendlichen Stadionbesucher, unterscheiden sich
aufgrund emblematischer äusserer Erkennungszeichen deutlich von anderen Zuschauern.
Sie sind in den Farben des Vereins gekleidet, sowie mit Kutte, Trikot, Schal und Fahne
ausgerüstet. Kuttenträger stehen meistens in einem speziellen Stadionbereich, der
Fankurve bzw. dem Fanblock, eng beisammen. Sie gehören überwiegend einem
(offiziellen) Fanclub an. Die meisten Kuttenträger sind fanatisch-parteiische Zuschauer,
47
Unter dem Begriff „Fanclub“ wird, auch im weiteren Verlauf dieser Arbeit, ein rechtsfähiger, nicht
wirtschaftlicher Personenverein verstanden, dessen Tätigkeiten sich auf die Unterstützung eines Fussballklubs
konzentrieren. Im Unterschied zu „Fangruppierungen“ sind Fanclubs straffer organisiert, besitzen einen
Vorstand und Statuten und werden von den Fussballklubs meistens offiziell anerkannt und profitieren
dementsprechend von verschiedenen Offerten und Leistungen des Vereins (von verbilligten Auswärtsfahrten und
Fanartikeln, über Vorverkaufsrechte bei Europacup- und Pokalspielen, bis hin zu Mannschaftstreffen).
Siehe dazu: Christ, Ich bin anders, Konstanz, 2001. S. 65-69.
48
Christ, Ich bin anders, Konstanz, 2001. S. 19-20.
49
Die Kutte ist eine Art Kamisol, eine ärmel- und knopflose Zierjacke (meistens eine Jeansjacke mit
abgeschnittenen Ärmeln). Sie wird von eingefleischten Fans getragen und ist voll von aufgenähten Emblemen
und Karikaturen. Man unterscheidet dabei gemeinhin zwischen zwei Kategorien von Aufnähern: Pro- und AntiAufnäher. Pro-Aufnäher verweisen auf die Treue und den Stolz zu einem Verein (z.B.: „Ich bin stolz, ein echter
VfB-Fan zu sein“ oder „VfB Stuttgart. Die Macht in Europa“), während Anti-Aufnäher gegnerische
Mannschaften beleidigen (z.B.: „Lasst uns lynchen, Bayern München“ oder „Musst du mal scheissen und hast
kein Papier, nimm doch die Fahne von Schalke 04“).
Kuttenträger sind besonders in Deutschland, und da im Ruhrpott, anzutreffen. In der Schweiz ist diese
Fangattung weit gehend unbekannt. In der Bierkurve gibt es meines Wissens nur vereinzelte, schon ältere
Personen, die man als Kuttenträger (auch „Kutte“ genannt) bezeichnen könnte.
18
also fussballzentriert ausgerichtet. In der polizeilichen Praxis fallen sie unter die
Kategorie A.50
3. Die Grauzone zwischen Hooligan und Kuttenträger: unter diesem Begriff landen
Kuttenträger, die zu Gewaltausbrüchen neigen (polizeiliche Kategorie B) und gelegentlich
an gewalttätigen Auseinandersetzungen teilnehmen. Sie machen allerdings nur einen
Bruchteil der Kuttenträger aus.51 Diese tendenziell konfliktsuchenden-aggressiven
Zuschauer grenzen sich zwar explizit von den Hooligans ab, haben aber durchaus deren
Gewaltbereitschaft und leben diese dann auch aus. Sie sehen die gleich gesinnten
Anhänger des gegnerischen Vereins als ihre Widersacher an und erwarten/provozieren
Auseinandersetzungen mit ihnen. Sie gelten als erlebnisorientierte Fans. Nach
polizeilicher Meinung spielt hierbei Alkohol eine grosse Rolle.
4. Der Fussball-Hooligan: der Hooligan52 ist in zivil gekleidet und bevorzugt dunkle
Markenkleidung. Er ist nicht mehr nur erlebnisorientiert, sondern erlebniszentriert. Er
bezeichnet sich selbst als Hooligan, bekennt sich zur Anwendung von Gewalt und
beteiligt sich zuverlässig bei gewalttätigen Ausschreitungen. Nach Ansicht der Polizei
sind Hooligans bei Ausschreitungen selten alkoholisiert.
Das grosse Verdienst von Michaela Christ sind die stimmungsvollen und detailreichen
Einblicke in das Innenleben des Fanclubs OFC Blattstadt, wenn sie deren Mitglieder an die
Spiele des VfB Stuttgart begleitet und die gut recherchierten Analysen von Fangesängen und
vom Verhalten während des Spiels in der Stuttgarter Kurve, sowie von Aufnähern der
Kuttenträger. Durch mehrere ausführliche Interviews mit zwei Mitgliedern des Fanclubs
bringt sie dem Leser auch zwei Fan-Individuen näher und verknüpft so geschickt die zwei
Wahrnehmungsebenen, durch die sich sowohl die Fans selbst, wie auch die Aussenstehenden
sehen: Masse und Individuum.53
50
Siehe dazu Kapitel 2.4. „Exkurs: Das Modell der Polizei“.
Die meisten Kuttenträger gehören einem Fanklub an, der wiederum eine Gewaltverzichtserklärung dem Verein
gegenüber abschliessen muss (in der Bundesliga). Wenn nun ein Fanklub(-mitglied) an einer gewalttätigen
Auseinandersetzung beteiligt ist, dann kann der Verein diesen Fanklub ausschliessen. Damit verliert der Fanklub
den Anspruch auf verbilligte Auswärtsfahrten (die Vereine organisieren Sonderzüge zu den Auswärtsspielen)
oder auch verbilligtes Einkaufen in den Fanshops.
52
Zu Hooligans siehe Kapitel 2.8. „Hooligans“
53
Christian Bromberger meint zu diesem wichtigen Punkt: Das Stadion vereint eine grosse Masse von
Individuen und formt sie zu einer zeitlich limitierten „Einheit“. In: Bromberger, Christian. Le match de football,
Ethnologie d`une passion partisane à Marseille, Naples et Turin. Paris, 1995. S. 13.
51
19
Wenn Sie hingegen im letzten Teil Ihrer Arbeit ihre empirisch erarbeiteten Ergebnisse über
den Fanclub OFC Blattstadt auf die gesamte „deutsche Fussballfanszene“ projiziert, entbehrt
das einer wissenschaftlichen Grundlage. Es erstaunt deshalb auch nicht, dass sie sich in
pauschalen und verallgemeinernden Aussagen verliert, die in keinen konkreten Kontext
gestellt werden können.54 Trotzdem ist das Buch, besonders wenn Michaela Christ als
„Mitglied“ des OFC Blattstadt die Stimmung während den Fahrten zu den Spielen und im
Fanblock beschreibt, lesenswert und aufschlussreich.55
2.4.
Das Modell der Polizei
Seit den Europameisterschaften 1988 in der damaligen Bundesrepublik Deutschland werden
in der nationalen und internationalen Praxis Fussballfans polizeieinheitlich in drei Kategorien
unterteilt56:
Kategorie A
für friedliche Fans
Kategorie B
für bei Gelegenheit gewaltgeneigte Fans
Kategorie C
für zu Gewalt entschlossene Fans
Wie im späteren Verlauf dieser Arbeit ersichtlich wird, kategorisieren sich auch gewisse Fans
aus der Bierkurve nach diesem polizeilichen Modell.
Meiner Meinung nach ist dieses Modell nur bedingt aussagekräftig und allzu vereinfachend
ausformuliert. Die Polizei, als staatliche Instanz für die Erhaltung von Recht und Ordnung in
der Öffentlichkeit verantwortlich, berücksichtigt in ihrem Modell nur ein einziges
54
Christ, Ich bin anders, Konstanz, 2001. S. 318-323. Meines Erachtens misst Christ den Kutten eine zu hohe
Bedeutung bei und benutzt sie teilweise sogar als Synonym für fussballzentrierte Fans, was so auch in
Deutschland nicht richtig ist. Die Kutten sind vielmehr eine spezielle, äusserlich klar erkennbare „Gattung“ von
fussballzentrierten Fans. Die Ultra-Bewegung wird in ihrer Arbeit mit keinem Wort erwähnt, was eigentlich nur
dadurch zu erklären ist, dass sie sich ganz auf den Fanclub OFC Blattstadt konzentriert hat, der hauptsächlich aus
Kutten besteht.
55
Ein weiterer äusserst lesenswerter und informativer Artikel über einen Fussballfanclub (die „Patriots“ aus
Offenbach, Hessen) ist: Wetzel, Alexandra; Fabritz, Martin. Mein Freund ist Offenbacher, in: Moser, Johannes
(Hrsg.). Jugendkulturen. Frankfurt/M. 2000. Die „Patriots“ sind im Vergleich zum OFC Blattstadt kein
offizieller Fanklub, sondern eher eine Clique von Gleichaltrigen. Besonders spannend sind Wetzels und Fabritz`
Ausführungen über die Rolle des Lokalpatriotismus und die Schwierigkeiten der „Patriots“, sich als Gruppe
selbst zu definieren.
56
Diese polizeiliche Einteilung steht in direktem Zusammenhang mit einer Zunahme von Hooligan- und FanAusschreitungen, die ihren traurigen Höhepunkt 1985 im Heysel-Stadion fanden. Damals fand in Brüssel das
Finale im Europacup der Landesmeister zwischen Juventus Turin und dem FC Liverpool statt. An diesem
29. Mai starben 39 Personen und Hunderte wurden verletzt, nachdem englische Fans eine Massenpanik auf der
Tribüne ausgelöst hatten.
20
Kategorisierungskriterium: die Gewalt. Das mag aus der polizeilichen Sichtweise und ihrem
Aufgabenbereich heraus richtig und nachvollziehbar erscheinen, das Modell wird der
Vielfältigkeit der Fussballfanszene jedoch nicht gerecht und rückt das Thema Gewalt zu sehr
ins
Zentrum
der
polizeilichen
Auseinandersetzung
mit
Fussballfans.
Die
Selbstregulierungsmechanismen und Selbstkompetenzen innerhalb der Fanszene werden
dabei völlig ausgeblendet, obschon diese durchaus vorhanden sind. Mit dieser Beschränkung
auf das Kriterium der Gewalt, offenbart sich folglich auch der (leider) einseitige
Lösungsansatz der Polizei im Umgang mit Gewalt und Fussballfans: Repression und
Gegengewalt. 57
Ein Ansatz, der gerade in jüngster Zeit immer häufiger und heftiger angewendet wird und
breite Zustimmung in der Öffentlichkeit, den Medien und der Politik findet. Es scheint, als ob
die Schweizer Polizei im Hinblick auf die Austragung der Fussball-Europameisterschaften
200858 in der Schweiz und in Österreich schon jetzt eine Null-Toleranz-Strategie im Umgang
mit so genannten Kategorie-C-, aber auch mit Kategorie-B-Fans verfolgt. Dabei ist gerade
57
Beispiele: Das wohl bekannteste Beispiel in dieser Hinsicht ereignete sich am 05.12.2004 auf dem Bahnhof
Altstetten, Zürich. Damals hat die Zürcher Stadt- und Kantonspolizei 427 Fans des FC Basel, die mit einem
Sonderzug nach Zürich kamen, um das Spiel gegen GC zu besuchen, festgenommen und Personenkontrollen
durchgeführt. Der rigorose Polizeiansatz hat in der Folge zu zahlreichen Diskussionen über den Umgang mit
(gewaltbereiten) Fussballfans geführt. Während die Polizei und ein Grossteil der Presse sowie Politik den
Einsatz verteidigten (und 80% der Festgenommenen als erlebnis- oder gewaltorientierte Fans einstufte), erntete
er von der gesamtschweizerischen Fanszene und Teilen der Presse und Politik (vor allem aus Basel) massive
Kritik. Die Polizeiaktion hatte nicht nur für die festgenommenen Fans ein juristisches Nachspiel, gegen die
Zürcher Polizei wurden bisher mehr als 100 Strafanzeigen eingereicht.
Die repressive Haltung der Polizei beschränkt sich längst nicht nur auf die Schweiz, sie ist vielmehr
gesamteuropäisch erkennbar. Und diese repressive Schiene wird in den meisten Fällen auch noch von den
Medien verteidigt. Dies verdeutlicht ein Zwischenfall, der sich am 15. September 2005 im Rahmen des UEFACup-Spiels „Bröndby Kopenhagen vs. FC Zürich“ in Kopenhagen abgespielt hat. Damals wurden nach
Ausschreitungen zwischen FC-Zürich-Fans und der dänischen Polizei (ausgelöst durch ein hingekritzeltes
Graffiti in einem Zugabteil, worauf dänische Zivilpolizisten den betreffenden Zürcher Fan verhaften wollten)
96 FCZ-Fans verhaftet. Das Schweizer Boulevardblatt „Blick“ bezeichnete die verhafteten Fans am darauf
folgenden Tag pauschal als „Randalierer“, „gewalttätige Fans“ und sogar als „Hooligans“, ohne auf eine genaue
und detaillierte Analyse der Ereignisse zu warten. (siehe dazu: http://www.blick.ch/sport/fussball/artikel25495,
4.1.2006) Unter den Verhafteten (unter denen es mit Sicherheit gewalttätige und gewaltbereite Fans gab) befand
sich damals auch ein Kollege von mir, der weder der Hooligan- noch der Ultra-Szene angehört. Er war schlicht
und ergreifend zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen.
58
Ein Anlass wie eine EM oder auch WM ist beispielsweise für Hooligans eine ideale Plattform, sich in einem
internationalen Rahmen unter grösstmöglicher medialer Präsenz zu messen. Die Veranstalter befürchten deshalb
einen regelrechten Hooligantourismus; sowohl an der WM 2006 in Deutschland, als auch an der EM 2008 in der
Schweiz und in Österreich. So betragen die voraussichtlichen Kosten für die Sicherheit während der EM 2008
die Schweiz ca. 53 Millionen Franken. (siehe dazu: http://www.nachrichten.ch/detail/198123.htm, 27.12.2005).
Im Hinblick auf die EM 2008 soll in der Schweiz eine Gesetzesvorlage in Kraft treten, welche die Gewalt im
Rahmen von Fussballspielen eindämmen soll. Zu diesem gesetzlichen Massnahmepaket gehören eine grosse
Hooligandatenbank, ein Rayonverbot, Meldepflicht und Ausreisebeschränkungen von registrierten Personen
sowie das Aussprechen einer 48-Stunden-Präventivhaft. Dieses Massnahmenpaket soll über die EM 2008
Gültigkeit besitzen. Momentan sind in Bern Verhandlungen über die Gesetzesvorlage in Gange.
21
der Umgang mit so genannten Kategorie-B-Fans59 ziemlich heikel, weil die Formulierung
„für bei Gelegenheit gewaltgeneigte Fans“ sehr viel Interpretationsspielraum lässt und nichts
über die Qualität der Gewalt aussagt.
Dennoch hat sich das ebenfalls dreigliedrige Einteilungsmodell der Polizei in den gut zwanzig
Jahren seines Bestehens etabliert und durchgesetzt. Oftmals benutzen sogar die Fans selbst
das Modell der Polizei, um sich zu kategorisieren.
2.5.
Die Studien von Christian Bromberger
Der französische Ethnologe und Kulturanthropologe Christian Bromberger hat mit „Le match
de football“ (1995) ein ungemein detailreiches und farbenprächtiges Buch über Fussballfans
geschrieben und darin auch völlig neue forschungsrelevante Ansätze in der Betrachtung von
Fussballfans aufgezeigt. „Le match de football“ ist das Ergebnis einer langjährigen, intensiven
Feldstudie über die Passion von Fussballfans in den Stadien von Marseille, Neapel und Turin,
das sehr viele (bis dahin wenig beachtete) Facetten des Fanseins aufgreift und gleichzeitig
überraschende Resultate liefert.
Bemerkenswert an Brombergers Studie über das Fussballspiel und seine Fans ist dabei nicht
unbedingt das methodische Vorgehen (qualitativ, empirisch, biografische Interviews), sondern
vielmehr der Forschungsgegenstand an sich: das Stadion als Ganzes.60 „Die in Kreise oder
Vierecke unterteilten Fussballstadien, in denen es Hierarchien gibt, die offen gezeigt werden
(von der Tribüne zu den Stehplätzen), gehören zu jenen heute seltenen Orte, an denen die
Gesellschaft eine genaue Vorstellung ihrer selbst hochhält, nicht nur jene der Einheit, sondern
auch der Kontraste, die sie formen.“61 Das zentrale Begriffspaar Einheit und Kontraste macht
es deutlich: Die Fans und Zuschauer auf den Rängen eines Stadions sind nicht einfach eine
homogene, formlose Masse, die wider jede Vernunft und jegliche Normen agiert und reagiert.
Bromberger attackiert mit dieser Feststellung eine weit verbreitete und klischierte Vorstellung
von Fussballfans, als Masse wahrgenommen: „Vereint in der Masse, verwandeln sich
normalerweise logisch, besonnen und rational denkende Individuen in irrationale,
uneinsichtige, unlogische Wesen.“ Oder: „Zusammengepfercht in der Menge erreichen die
59
Viele Kategorie-B-Fans sind der Ultraszene zuzuordnen, während Kategorie-C-Fans gemeinhin als Hooligans
bezeichnet werden. Es gibt aber auch selbsternannte Ultras, die, was ihren Umgang mit Gewalt betrifft, der
Kategorie-C zuzuordnen sind.
60
Das Stadion ist dabei nicht nur Austragungsort des Spektakels (des Matches) selbst, sondern auch ein eigenes
Spektakel (das Verhalten der Menge).
61
Bromberger, Christian. Fussball als Weltsicht und Ritual, in: Belliger, Andréa; Krieger, David J. (Hrsg.).
Ritualtheorien. Wiesbaden, 1998. S. 287.
22
einzelnen Individuen den Zustand einer Hypnose.“62 Die Masse im Stadion ist vielmehr ein
Hybrid, ein aus verschiedenen Gruppen und Prozessen zusammengesetztes Ganzes, mit
wechselhaftem und durchmischtem Status, die zwischen den beiden Polen „Ausdruck eines
kollektiven Willens“ und „Teilnahme eines Einzelnen“63 balanciert.
In der Folge untersucht und vergleicht der Franzose vier verschiedene Stadien und ihre
verschiedenen Fankulturen und –kurven im Mittelmeerraum64 (Olympique Marseille - kurz
OM genannt -, SSC Napoli, Juventus Turin und Torino Calcio). Der Ethnologe stellt dabei
zwei wichtige Beobachtungsebenen ins Zentrum seiner Studie: den lokalen Stil65 und die
Publikumsaktionen.66
Unter dem treffenden Titel „histoires des matchs, histoires des villes, histoires des vies“
behandelt Christian Bromberger den lokalen Stil, den die jeweiligen Fans der verschiedenen
Mannschaften pflegen. Die Geschichten eines Spiels, einer Stadt, eines Lebens und eines
Vereins bilden nämlich die Essenz des lokalen Stils und sollten bei der Betrachtung von Fans
und ihrem Handeln immer miteinbezogen werden. Bromberger veranschaulicht das sehr
schön anhand dreier konkreter Beispiele, beziehungsweise Spiele: Napoli vs. Juventus, Torino
vs. Juventus und OM vs. Bordeaux. Es gelingt ihm dabei aufzuzeigen, dass jedes Spiel und
jedes Duell eine eigene Geschichte schreibt und sich von jedem anderen Spiel unterscheidet.
Die Beziehungen unter den Klubs, die nur sehr selten frei von politischen, historischen,
geographischen, regionalen und religiösen Kontexten sind, spielen dabei eine ebenso wichtige
Rolle für die Geschichte eines Spiels67, wie etwa Schiedsrichterentscheidungen oder
Zuschaueraktionen und -reaktionen. Besonders brisant in diesem Zusammenhang sind
Stadtderbys von Klubs mit völlig unterschiedlichen Philosophien.68
62
Bromberger, le match de football, S. 208.
Bromberger, le match de football, S. 210.
64
Olympique Marseille (kurz OM genannt), SSC Napoli, Juventus Turin und Torino Calcio.
65
Die Analyse des lokalen Stils ist auch eine Analyse der Makroebene im Stadion: ein systematischer Überblick
über die Zusammensetzung und Verteilung der Menge, gemäss ihrer sozialen, beruflichen und ethnischen
Herkunft.
66
Betrifft die Mikroebene im Stadion: Prüfung des Verhaltens, der Kommentare, Slogans, Accessoires,
Symbole.
67
Das Spiel Napoli gegen Juventus ist immer auch ein Spiel vom ärmeren Süden gegen den reicheren Norden.
Das zeigt sich nicht zuletzt an den zahlreichen Transparenten, die an solchen Spielen zu sehen sind. „Die Söhne
der Sonne entreissen den Söhnen der Kälte den Titel“ oder „Zivilisation kann man sich nicht mit Geld kaufen“
hiess es am 25. März 1990 auf Transparenten von Napoli-Fans an die Adresse der Turiner. Auf der anderen Seite
werden die Napoli-Fans im Norden mit den Worten „Willkommen in Italien“ oder „Machs noch mal, Vesuv!“
empfangen. Siehe dazu: Bromberger, le match de football, S. 23 f.
68
Im berühmtesten aller Stadtderbys, dem „Old Firm“, spielen im schottischen Glasgow das katholische Celtic
gegen die protestantischen Rangers (religiös). Zu brisanten Derbys kommt es auch in Barcelona, wenn der
katalonisch eingestellte FC Barcelona gegen das königliche Espanyol spielt (politisch), oder in Turin, im Spiel
des städtischen, proletarischen Torino Calcio gegen das aristokratische Juventus.
63
23
Unter Publikumsaktionen sind aktive (optische und akustische) Beiträge von Fans im Rahmen
eines Fussballspiels gemeint. Dazu gehören Fangesänge, das Skandieren von Slogans und
„Schlachtrufen“, das Hochhalten und Schwenken von Emblemen, Fahnen und so genannten
DH`s
(Doppelhaltern),69
das
Abbrennen
von
Pyromaterial
(bengalische
Fackeln,
Rauchbomben)70 und grossflächige Choreographien.71 Dabei rückt in Brombergers Studie vor
allem eine Fangattung besonders in den Vordergrund, die in den vier Stadien optisch und
akustisch äusserst präsent ist: die Ultras, auf die im Kapitel 2.7. „Ultras“ genauer
eingegangen wird.
Spezielle Aufmerksamkeit widmet Bromberger in „le match de football“ der Fan-Rhetorik
und dem rituellen Charakter, den ein Fussballspiel ausüben kann. In Bezug auf das Singen,
Grölen
und
Pfeifen
der
Fans,
unter
sportlichen
Gesichtspunkten,
plädiert
der
Kulturanthropologe dafür, dies nicht allzu wichtig zu nehmen: „Was immer dazu angetan ist,
das andere Lager zu schockieren, die bedingungslose Unterstützung des eigenen Clubs zu
demonstrieren, den Rivalen aus dem Konzept zu bringen, wird rücksichtslos eingesetzt.
Insofern wäre es falsch, den verbalen und gestischen Entgleisungen, den zur Schau gestellten
Emblemen und den gebrüllten Beleidigungen allzu viel Sinn beizumessen.“72 Gleichzeitig
69
Ein Transparent, das an zwei Stöcken befestigt wird. Die Motive auf DH`s sind sehr unterschiedlich und
reichen von Vereinswappen bis hin zu (Comic-)Zeichnungen.
70
Das Abbrennen von Pyromaterial ist in den Schweizer Stadien verboten. Die Klubs müssen nach
pyrotechnischen Darbietungen von eigenen Fans empfindliche Bussen bezahlen. Wird ein Fan beim Abbrennen
von Fackeln oder Rauchbomben erwischt (oftmals werden solche Fans per Videoüberwachung und
anschliessender -analyse ermittelt und dann ganz bewusst von Leuten des Sicherheitsdienstes gesucht und
herausgepickt), wird er mit sofortiger Wirkung mit einem Stadionverbot belegt (dauert in der Regel mindestens
ein Jahr und gilt für alle Super-League-Stadien). Pyroshows sind ein zentraler Bestandteil der Ultra-Kultur,
weshalb es aus ihren Reihen immer wieder zu Verstössen gegen dieses Verbot kommt, das sie als Angriff auf
ihre Autonomie und Kultur begreifen.
Während ein gewisser Teil der übrigen Stadionzuschauer, vor dem Verbot, Freude an solchen Pyroshows, die
oftmals Bestandteil von Choreografien sind, zeigte, schütteln sie heute den Kopf darüber, weil durch die vom
Verband auferlegten Bussen der eigene Klub (finanziell) darunter leidet. Neben der Polizei, den
Sicherheitsdiensten und den Vereinen selbst haben sich in jüngster Zeit auch die Medien auf die „Pyromanen“
eingeschossen und betonen immer wieder die (durchaus vorhandene) Gefährlichkeit beim Abbrennen von
Pyromaterial. Man muss allerdings festhalten, dass praktisch ausschliesslich geübte und erfahrene Ultras
Pyromaterial abbrennen, was den Vorwurf der Gefährlichkeit etwas entlastet. Dennoch ist das Abbrennen in
einer Menschenmasse immer mit Gefahren verbunden. Zurzeit sind die Fronten in dieser „Pyro-Diskussion“ so
verhärtet, dass eine Lösung vorderhand nicht in Sicht ist.
71
Auch Choreo genannt. Man versteht darunter ein mit diversen Hilfsmitteln (farbige Papierblätter, Ballons,
riesige Transparente oder bemalte Stofftücher, Rauch) inszeniertes - oft metaphorisches - Bild oder auch
Farbmuster, das unter Einbezug der ganzen Kurve oder einem Teil davon ausgeführt wird (meistens beim
Einlaufen der Spieler vor dem Anpfiff). Das inszenierte Bild oder Farbmuster stellt oftmals einen direkten Bezug
zum aktuellen Spiel und Gegner her. Choreografien werden in aufwendiger Freizeitarbeit von meist wenigen
aktiven Fans vorbereitet.
72
Bromberger, le match de football, S. 2. Rassistischen Äusserungen (Affenlaute, Bananenwerfen) liegen
implizit immer rassistische Motive zu Grunde, die scharf zu verurteilen sind; jedoch geht es bei einem Grossteil
der Fans darum, dass der betreffende Spieler in der gegnerischen Mannschaft spielt und deshalb als „Feind“
betrachtet wird. Die farbigen Spieler in den eigenen Reihen werden nämlich meistens von solchen rassistischen
24
stellt er fest, dass die Fan-Rhetorik – verbal, gestisch und instrumental – den symbolisch
überhöhten Feldern des Krieges, des Lebens, des Todes und der Sexualität entnommen sind.
Fussball eignet sich perfekt für kollektive Identitäten und Antagonismen73 und schafft es so in
bemerkenswert starker Weise, Loyalitäten und Kräfte von Fans zu mobilisieren, die sich an
den Spielen unter anderem in einer übersteigerten Rhetorik zeigt, die an ganz andere Normen
und Werte als jene des Alltags geknüpft ist. Gerade für die Fans in den Kurven ist Fussball
viel mehr als „nur“ ein Spiel Elf gegen Elf; es ist ein Kräftemessen, ein Kampf geradezu
zwischen einem „Wir“ und einem „Sie“, in dem die Fans selbst ein elementarer Bestandteil
sind.
Bromberger zeichnet in seiner Studie sehr genau nach, weshalb ein Fussballmatch auch als
Ritual betrachtet werden kann. Dazu gehört zuallererst ein Bruch mit der alltäglichen Routine,
der zweifellos stattfindet. Zweitens ist ein spezieller raum-zeitlicher Bezugsrahmen gegeben
sowie ein programmierter und normierter Ablauf von Zeremonien, die zyklisch wiederkehren.
Man kann sogar auf das „Struktur-/Anti-Struktur“-Modell74 von Victor Turner zurückgreifen,
nach dem während eines Fussballspiels andere Hierarchien und Normen gelten als im
alltäglichen sozialen Leben, also eine „Anti-Struktur“; und eine Communitas im Turnerschen
Sinn entsteht, eine offene Gesellschaft, die nur rudimentär strukturiert ist, eine „Gemeinschaft
Gleicher“ quasi. Fussball als Ritual übernimmt für die Fans die Funktion eines kollektiven
Bewusstseins und schafft es so, Identifikation und Identität zu stiften, sowie den tiefsten
menschlichen Gefühlen (Hoffnung, Angst, Liebe, Hass) gegenüber der Welt eine konkrete
Form und Ausdrucksmöglichkeiten zu geben.
Kann man Fussball in diesem Zusammenhang sogar mit einer Religion vergleichen? Es gibt
tatsächlich Elemente, die zu diesem Schluss führen können. Fussballer werden teilweise wie
Heilige verehrt, man nennt Stadien zuweilen auch Fussballtempel und spätestens seit Toni
Tureks Paraden im WM-Finale Deutschland vs. Ungarn 1954 gibt es sogar Fussballgötter.75
In beiden Bereichen werden zudem umfassende Gemeinschaftsformen kreiert. Fussball als
Ersatzreligion, das Spiel als Gottesdienst? Nein, natürlich nicht. Im Gegensatz zu „richtigen“
Gläubigen nehmen Fussballfans sehr häufig eine spielerische oder humoristische (zuweilen
Äusserungen verschont. (Es gibt aber Fangruppen oder –kurven, die tatsächlich als rassistisch zu bezeichnen
sind, etwa bei Lazio Rom oder Hellas Verona).
In diesem Punkt muss ich Bromberger widersprechen. Rassistische Äusserungen sind gerade in Westeuropa, das
sich gerne liberal und tolerant gibt, nicht zu entschuldigen; nicht als Reaktion einer emotional aufgeladenen
Masse und auch nicht aus dem Affekt heraus.
73
Widerstreit, (unversöhnlicher) Gegensatz.
74
Siehe dazu: Turner, Victor. Das Ritual. Struktur und Anti-Struktur. Frankfurt/M., 1989.
75
Der Kommentar des damaligen Radiokommentators Herbert Zimmermann nach einer Parade des deutschen
Torhüters Toni Turek beim Stand von 3:2 für Deutschland lautete: „Turek, du bist ein Teufelskerl, Turek, du bist
ein Fussballgott.“
25
auch ironische) Distanz zu den von ihnen zur Sprache gebrachten ritualisierten Vollzügen und
Glaubensinhalten ein. Der Glaube sowie magisch-religiöse Praktiken sind im Falle der
Fussballfans vor allem als Versuche zu deuten, über ein ungewisses Schicksal – den
Spielausgang - zu siegen. Es wird, anders als im religiösen System, kein autonomes und
zusammenhängendes Ganzes (wie das Christentum oder der Islam, etc.) erzeugt, vielmehr
handelt es sich beim rituellen Verhalten von Fussballfans um ein Patchwork verschiedenster
Leihgaben aus dem magisch-religiösen Universum.76
Abschliessend bleibt festzuhalten, dass Brombergers konkrete Beobachtungen und
Ausführungen zu den jeweiligen Fankulturen in den Stadien77 nur beschränkte Aussagekraft
besitzen und sich höchstens auf den Untersuchungsraum Italien und Frankreich übertragen
lassen. Für eine wirklich stichhaltige, länderübergreifende Studie von Fankulturen in den
Stadien bräuchte man bedeutend mehr Fallbeispiele und allenfalls auch die Berücksichtigung
quantitativer und statistisch abgestützter Studien. Ein weiterer Kritikpunkt ist die weit
gehende Ausklammerung der physischen Gewalt innerhalb der Fussballfankultur, wodurch
zuweilen der Eindruck entstehen kann, es handle sich bei Fussballfans um eine FolkloreGruppe.
Von unschätzbarem Wert hingegen sind seine Ausführungen und Analysen zu den (bis dahin
kaum berücksichtigten) Untersuchungsfeldern: lokaler Stil, Publikumsaktionen, Fan-Rhetorik
und ritueller Charakter. Mit seinem mehrgleisigen Zugang ins übergeordnete Feld (Stadion)
sowie der genauen Recherche und Analyse dieser verschiedenen Untersuchungsfelder gelingt
es dem französischen Ethnologen, sowohl das Spiel selbst, als auch das Fansein so
darzustellen, wie es ist: komplex, vielschichtig und voller Leben.
2.6.
Rollenmuster für Fussballfans
Ein weiterer, spannender und eher eigenwilliger Ansatz in der Betrachtung und
Kategorisierung von Fussballfans wurde 1982 von Kurt Weis, Peter Backes, Bernd Gross und
Dirk Jung entwickelt.78 Basierend auf Erving Goffmans Modell menschlicher Handlungen
76
Siehe dazu: Bromberger, Fussball als Weltsicht und Ritual, S. 295-300.
So hat Bromberger festgestellt, dass die Arbeiterklasse – entgegen der landläufigen Meinung – im Marseiller
Stadion Vélodrome nicht etwa über-, sondern untervertreten ist. Siehe dazu: Bromberger, le match de football,
S. 213-220. Ob diese Feststellung auf andere Stadien übertragbar ist, bleibt zumindest fraglich.
78
Siehe dazu den Aufsatz: Weis, Kurt; Backes, Peter; Gross, Bernd; Jung, Dirk. Zuschauerausschreitungen und
das Bild vom Fussballfan, in: Bundesinstitut für Sportwissenschaft (Hrsg.). Sport und Gewalt. Schorndorf, 1982.
S. 61-96.
77
26
und Selbstdarstellungen im Alltag,79 gehen sie davon aus, dass Fussballfans während eines
Spiels in bestimmte Rollenmuster schlüpfen. Die Idealtypen80 in diesem – überspitzt
formuliert – Theaterspiel heissen unter anderem: der Star, der Anführer, die
Betriebsnudel81, der harte Mann, der „Assi“ (Asoziale), die „zweite Reihe“, der Vorsänger
und Dirigent (im Fussballjargon Capo genannt; muss nicht zwingend der Anführer sein,
dennoch sollte zumindest bei „seinen“ Leuten Respekt vorhanden sein), der Clown, der
Schüler, der Fussballkopf82; die „Mädchen-Rolle“83, die „Jungen-Rolle“84 ( für
Mädchen). Die Autoren halten fest, dass die grundsätzlich stark unterrepräsentierten
weiblichen Fans, durch die vorherrschenden Männlichkeits-Ideologien in der Kurve nur die
Wahl zwischen diesen zwei Rollenmustern haben. Meiner Meinung nach ist der
„emanzipierte weibliche Fan“ ein weiteres Rollen-Muster. In diesem Fall hat sich der
weibliche Fan aus der vorherrschenden Männlichkeits-Ideologie gelöst und wird als Fan an
sich wahrgenommen, und nicht mehr als Frau oder Mädchen
2.7.
Ultras
Das folgende Unterkapitel beschäftigt sich mit einer Fangattung, die in jüngster Zeit auch in
der Schweiz immer mehr Zulauf findet, den so genannten Ultras. Im Gegensatz zu den
Hooligans gibt es nämlich kaum (deutschsprachige) Literatur und Studien über diese spezielle
Fangattung, die gerade für ein jüngeres Publikum attraktiv zu sein scheint. Ich behandle das
Thema Ultras deshalb ein wenig ausführlicher, weil sich auch in der Bierkurve zahlreiche
jugendliche85 Fans finden, die sich selbst als Ultras bezeichnen und sich mit dieser
„Fankultur“ intensiv auseinandersetzen.
Das Wort „Ultra“ stammt aus dem Italienischen und kann mit „fanatischer Fussballfan“
übersetzt werden. Die Ultra-Kultur ist Ende der Sechzigerjahre in Italien entstanden, als sich
79
Siehe dazu: Goffmann, Erving. Wir alle spielen Theater, Die Selbstdarstellung im Alltag. München, 1969.
Natürlich sind Idealtypen in ihrer reinen Form nur sehr selten anzutreffen.
81
Die „Betriebsnudel“ wird als Unruhestifter bezeichnet, der seinen etwas geringeren Status innerhalb einer
Kurve oder einer Clique durch Mutspiele und Einfallsreichtum aufzuwerten versucht.
82
Er hält sich eher am Rande des Blocks oder der Kurve auf und kommentiert mit Gleichgesinnten das
Spielgeschehen. Allerdings finden sich unter fast allen beschriebenen Rollenmustern „Fussballköpfe“, die über
ein kaum für möglich gehaltenes Fachwissen verfügen.
83
So abgedroschen die Formulierung klingt, aber in diesem Muster übernimmt die weibliche Person vor allem
die Funktion des schmückenden Beiwerks, insbesondere des „Star-“ oder „Anführer-„Typs.
84
Steht für einen weiblichen Fan, der männliche Fans stark imitiert, sei es durch rau-burschikoses Auftreten, das
Benutzen einer unflätigen, derben Sprache oder sogar der Teilnahme an gewalttätigen Auseinandersetzungen.
85
Ich beziehe mich auf Brombergers definitorischen Ansatz von jugendlich und meine damit Personen, die
jünger als 35 Jahre alt sind. Siehe dazu: Bromberger, la bagatelle plus sérieuse du monde, S. 93.
80
27
jugendliche Fussballfans in den Stadien zu Gruppen zusammenschlossen, um gemeinsam die
eigene Mannschaft „immer und überall bestmöglich zu unterstützen“ und die Stimmung im
Stadion auf neuartige, kreative Weise zu bündeln. Über den genauen Ursprung der UltraKultur herrscht bis heute keine Einigkeit, als erste grosse Ultra-Gruppe gilt aber die „Fossa
dei Leoni“ vom AC Milan (gegründet 1968). Weitere bedeutende Gruppen, die teilweise
heute noch bestehen, bildeten sich in Genua („Ultras Tito“, Sampdoria; „Fossa dei Grifoni“,
FC Genova 1893), in Verona („Brigate Gialloblu“, Hellas Verona) und in Neapel
(„Commando Ultrá“, SSC Napoli).
Für die Ultras findet das Spiel nicht bloss auf dem Rasen statt, sondern auch auf den Rängen.
Neben den sportlichen Wettkampf zweier Teams tritt der Wettkampf der beiden Fanlager um
die grössere und bessere Unterstützung des jeweiligen Vereins. Von Beginn an lassen die
Ultras grosse Transparente86 herstellen, die sie in den Stadien ausrollen und aufhängen. Seit
den Siebzigerjahren zählen bengalische Fackeln und Rauchbomben zum Standardrepertoire
der Ultras, und seit Anfang der Achtzigerjahre werden auch vermehrt aufwendige
Choreografien inszeniert. Seit dieser Zeit sind der Konfettiregen und das Fahnenmeer nicht
mehr aus den italienischen Fankurven wegzudenken und fester Bestandteil des Spieles. Neben
diesem optischen Support gibt es natürlich auch einen akustischen, in Form von Gesängen
und Schlachtrufen, die gezielt von einem „Capo“ (Chef) – meistens per Megafon oder sogar
Lautsprecher – angestimmt und schliesslich von der ganzen Gruppe, oft sogar von der ganzen
Kurve, übernommen werden. Um solche durchaus kostspieligen Aktivitäten zu finanzieren,
sind die Ultras auf eine gewisse Infrastruktur angewiesen. In Italien beispielsweise hat sich
über die Jahrzehnte eine sehr professionelle Infrastruktur innerhalb der einzelnen UltraGruppierungen
entwickelt.
Mitgliederbeiträge
wird
Die
längst
ursprüngliche
durch
die
Finanzierung
Produktion
und
über
den
Kollekten
und
Vertrieb
von
Choreographieutensilien und vor allem von selbst entworfenen Fanartikeln ergänzt, wobei die
Gruppierungen einer starken hierarchischen Struktur unterliegen. In anderen Ländern, wo die
Ultra-Kultur noch nicht so lange etabliert ist, sind die Strukturen und Organisationsformen
aber längst nicht so stark ausgeprägt.
Schon seit jeher war die Ultra-Kultur durch eine hohe Identifikation mit dem eigenen
„Territorium“ (in erster Linie das Stadion und die dazugehörende Stadt oder Stadtteil)
geprägt. Das Territorium wird dabei mit dem Namen, den Farben und den Symbolen der
86
Die Kommentare auf den Transparenten können ganz unterschiedlicher Natur sein. In den Kapiteln 4.2.1. und
4.2.3. wird näher auf diese Thematik eingegangen.
28
jeweiligen Ultra-Gruppierung gekennzeichnet und abgegrenzt.87 Diese offensichtliche
Identitätsbekundung mischt sich mit einer stark ausgeprägten Gruppensolidarität, normierten
Verhaltensweisen und geteilten, klar formulierten Werten, weshalb man die Ultra-Bewegung
durchaus als Subkultur verstehen kann.88
Neben dem bedingungslosen (und oftmals erstaunlich kreativ umgesetzten) Support der
eigenen Mannschaft ist auch die Gewalt seit jeher ein Bestandteil der Ultra-Szene, die sich
von Italien aus nach und nach in (fast) ganz Europa ausbreitete.89 Zwar gibt es mittlerweile
eine Vielzahl von Ultra-Gruppen, die sich ganz klar von Gewalt distanzieren, es fehlt jedoch
eine umfassende, szeneübergreifende Gewaltverzichtserklärung, wie sie etwa die offiziellen
Fanklubs in der Bundesliga unterzeichnet haben.90 So kam und kommt es immer wieder zu
gewalttätigen Auseinandersetzungen91 zwischen rivalisierenden Ultra-Gruppen und vor allem
auch mit der Polizei und/oder dem Personal von Sicherheitsdiensten. Ein wichtiger Grund für
die vorhandene Gewaltbereitschaft92 der Ultra-Bewegung liegt unter anderem in der
Altersstruktur (vor allem zwischen 15 und 25 Jahren)93 der Ultra-Gruppen begründet, vor
allem aber in der bereits angesprochenen Identifikation mit ihrem Verein, ihrer Kurve und
ihrer Stadt. Gerade die Kurve oder der Fanblock ist für die Ultras, wie Bromberger es
ausdrückt, ihr „autonomes Territorium“, ihr sozialer (Lebens)-Raum und nicht zuletzt ihr
Identifikationsreservoir, das die Ultras unter allen Umständen verteidigen und bewahren
wollen.
87
Christian Bromberger hat sich in seiner Studie sehr intensiv mit den Ultra-Gruppen aus Marseille, Neapel und
Turin beschäftigt und dabei auf ein interessantes Paradoxon der Szene hingewiesen: „Nie sind sich die Bewohner
einer Stadt ähnlicher als im Fussballstadion. Gleiche Kleidung, gleiche Gesänge, gleiche Leidenschaft.“ Dabei
geht es den Ultra-Gruppierungen gerade um Abgrenzung und lokale Identitäten. Bromberger, le mtach de
football, S. 258.
88
Die Ultra-Bewegung ist schliesslich ein System mit eigenen Codes, Werten und Normen, die einerseits
verbindlich sind und auf der anderen Seite nicht mit jenen der Gesamtgesellschaft übereinstimmen. Man braucht
ein gewisses (subkulturelles) Wissen, um sich in der Ultra-Szene zurechtzufinden und akzeptiert zu werden.
Siehe dazu, und auch zu den vorhergehenden drei Abschnitten: Falk, Philip. Ultramanie, in: Schmidt-Lauber,
Brigitta (Hrsg.). FC St. Pauli, Zur Ethnographie eines Vereins. Münster, 2003. S. 82 – 99
89
Besonders in Frankreich, in Ex-Jugoslawien und in Griechenland gibt es grosse Ultra-Szenen, die aber alle
über regionale Eigenheiten verfügen. Auch in der Schweiz, in Deutschland, in Polen und Tschechien, im
Benelux und in Skandinavien wächst die Szene. Nur in der englischsprachigen Region ist die Ultra-Kultur noch
nicht so präsent.
90
Siehe dazu: Christ, Ich bin anders, Konstanz, 2001. S. 68-69.
91
Die Gewalt kann dabei auch politische Gründe haben. Obschon sich die meisten Ultra-Gruppen als unpolitisch
bezeichnen („Politik gehört nicht ins Stadion“), gibt es gerade in Italien viele Gruppen, die sich ganz klar
positionieren. Die Ultras von Lazio Rom und auch von Inter Mailand gelten als teilweise rechtsextrem, während
etwa Livorno oder auch Fiorentina eine grössere linksextreme Szene hat. Die wohl – in unseren Breitengraden –
bekannteste (linke) politische Fanszene lässt sich beim FC St. Pauli aus Hamburg finden.
92
Das Thema Gewalt und Fussballfans wird im Kapitel 2.9. genauer aufgegriffen.
93
Die meisten Personen befinden sich in diesem Alter noch in einer Ausbildung/Schule/Universität und stehen
noch in der Entwicklung zu einem stabilen sozialen und auch beruflichen Umfeld. In dieser – auch von
Unsicherheit und Identitätsfindungsprozessen geprägten – Phase suchen viele Jugendliche ganz bewusst
Grenzerfahrungen (Gewalt, Pyro, etc.).
29
Diese Bewahrung ihres Territoriums, und damit zuweilen auch der Einsatz von Gewalt
verbunden, ist dabei sehr eng an eine Entwicklung geknüpft, welche die sonst nur bedingt
homogene
Ultra-Bewegung
gemeinsam
bekämpft:
Die
Modernisierung
und
Kommerzialisierung des Profifussballs. Unter dem Motto „No al Calcio Moderno!“ setzen
sich die Ultras für die Erhaltung der „Tradition Fussball“ ein. Das so genannte UltraManifest94 zeigt dabei exemplarisch ihre Standpunkte auf:
Zukunftsvisionen:
Es ist Zeit, dass alle Fussballfans verstehen, was die UEFA, die FIFA und die Fernsehanstalten unter
tatkräftiger Mithilfe der nationalen Verbände mit unserem Fussballsport veranstalten. Die
Bestrebungen der Spitzenclubs gehen dahin, eine Europaliga einzurichten, die diesen Clubs
vorbehalten ist, im Endeffekt den finanzstarken Vereinen der einzelnen Verbände. Dies würde diesen
Vereinen auf Grund der Vermarktung der TV-Rechte enorme Einnahmen sichern, gleichermaßen
wären die Stadien ausverkauft, die kleineren Vereine würden ausgeschlossen und auf lange Sicht in
den Ruin getrieben.
Die Anzahl der Fernsehzuschauer würde sicherlich steigen, während der Stadionfussball in seiner
ursprünglichen Form nach und nach verschwinden wird. In ein paar Jahren wird selbst der Rasen in
den Stadien mit Sponsorenwerbung verunstaltet werden und Choreographien werden verboten, weil
sie die Aufmerksamkeit der Zuschauer am Bildschirm von den Werbetafeln abziehen. Es werden
hunderte Ordner in den Blöcken stehen, die Fans werden im ganzen Stadionbereich von
Videokameras aufgenommen, um zu verhindern, dass große Fahnen, Transparente oder
Feuerwerkskörper ins Stadion gelangen können. Und in ein paar Jahren werden selbst die Leibchen
unserer Spieler aussehen, wie die Anzüge von Formel-1 Piloten, jeder Fleck von Werbung besetzt.
In den Köpfen der Funktionäre nimmt die Zukunft bereits Gestalt an: es wird der gezähmte Fan
erwünscht, der moderate Stimmung verbreitet, aber nur soviel, wie als Hintergrundeinspielung für die
Fernsehübertragung notwendig ist, der brav applaudiert, wenn man es verlangt und ansonsten still auf
seinem Platz sitzt. Es wird keinen Platz mehr für Ultras geben. Es gibt eine UEFA-Richtlinie, die
besagt, dass die Fans sitzen müssen, man will keine Fans, die aktiv am Spiel teilhaben, man will die
Art von Zuschauer, die man in einem Kino oder einem Theater antrifft. Diese Menschen verstehen
nicht, dass Fussball unser Leben ist, dass wir für unseren Verein leben, dass wir unsere Schals und
unsere Kleidung tragen, die unsere Stadt oder Region repräsentiert.
All die "Kurven" ("curva") dieser Welt sollten in diesem Fall zusammenhalten und eine mächtige
Einheit gegen die Fussball-Fabrik bilden.
94
Im Internet herunter geladen von folgender Website: http://de.geocities.com/ultras_blt99/ultra_manifest.htm,
12.12.2005. Ursprünglich stammt das Manifest von Ultras des AS Roma, welche es über das Internet verbreitet
haben. (Überhaupt spielt das Internet innerhalb der Ultra-Bewegung eine gewichtige Rolle als Informations-,
Präsentations- und Austauschplattform).
30
Nach dieser Anklage der (kapitalistischen) Auswüchse im modernen Fussball, die gleichzeitig
ein Plädoyer für die Bewahrung von Traditionen ist, folgt eine Art Regelwerk für Ultras und
„echte“ Fans. Darin fordern die Ultras unter anderem eine Beschränkung von ausländischen
Spielern, die Abschaffung der Champions-League und Wiedereinführung des alten
Landesmeisterpokals95 sowie die Unterbindung von Spielertransfers während der Saison.
Auch die Hilfe durch die Vereine oder die Polizei soll verweigert werden. Das Manifest
fordert zudem eine verstärkte (internationale) Zusammenarbeit, um die „Ware TV-Fussball“
unattraktiver zu machen, und betont damit die Wichtigkeit der realen und medialen Präsenz.
Das Ultra-Manifest stellt den Versuch dar, eine gewisse Vereinheitlichung innerhalb der
Szene zu garantieren. Es ist eine Art Richtlinie und keineswegs eine Verpflichtung, an die
sich Ultra-Gruppierungen halten können und sollen. Man könnte dieses Manifest auch als
Beginn einer Ritualisierung der Ultra-Kultur betrachten, als Schritt zu einer überregionalen
und einheitlichen Bewegung, die klare Ziele vor Augen hat: die Wahrung von Traditionen
und der Erhalt einer autonomen Fankultur.
Trotz einer überspitzten und zuweilen reisserischen Sprache bringt das Ultra-Manifest ein
paar wesentliche Missstände im heutigen Fussball auf den Punkt, die für fussballzentrierte
Fans und vor allem für Ultras unbefriedigend sind. Mit ihrem Kampf gegen die
Kommerzialisierung des Fussballs stehen die Ultras (noch) ziemlich alleine da, weshalb die
darin aufgeführten Forderungen vorerst einmal utopisch sind. Die meisten Fussballfans sind,
auch wenn das die Ultras nicht gerne hören, „Konsumenten“, die zufrieden sind, wenn der
Ball rollt und das Bier kalt ist. Im Gegensatz zu den Ultras, für die das Stadion der zentrale
„soziale Ort“ ihrer Kultur und ihres „Lebensstils“ ist, findet bei vielen übrigen Stadionfans
keine kritische Hinterfragung des „Systems Fussball“ statt. Die entscheidende Frage in
diesem Zusammenhang lautet folglich: Schaffen es die Ultras auch andere Fangattungen
hinter sich und ihre Anliegen zu bringen? Sollte dieser Schritt nicht gelingen, droht den Ultras
immer mehr das Abseits, bis sie schliesslich statt als autonome und kreative Fans nur noch als
Störenfriede empfunden werden.
95
Der Ligavierte (!) der englischen Premier-League, der FC Liverpool, ist im Jahre 2005 Champions-LeagueSieger geworden. Im alten System durften nur Landesmeister teilnehmen.
31
2.7.1. „Calcio Moderno“
Ein äusserst lesenswerter und informativer Aufsatz über die Anfänge der Kommerzialisierung
des Profifussballs stammt von Dietrich Schulze-Marmeling.96 In diesem Aufsatz beschreibt
Schulze-Marmeling wie sich der Profifussball Ende der Achtziger- und zu Beginn der
Neunzigerjahre drastisch zu verändern begann. Unter dem Eindruck und Einfluss der beiden
Katastrophen im „Heysel-„ (1985) und im „Hillsborough-Stadion“97 (1989) entstand die –
besonders von behördlicher Seite vehement verfolgte – Forderung nach reinen
Sitzplatzstadien. „Sitzplatzstadien sollen angeblich weniger anfällig für Ausschreitungen sein.
Diese Behauptung ergibt nur einen Sinn, wenn man mit der Sitzschale auch ein anderes
Publikum verbindet. Denn auf Sitzplätzen lässt sich genauso randalieren wie auf Stehplätzen.
Und wenn die Randale losgeht, dann wird es auf Sitztribünen für Unbeteiligte ungleich
gefährlicher als auf Stehterrassen, die wenigstens noch Fluchtmöglichkeiten bieten“, schreibt
Schulze-Marmeling und entlarvt die Sitzplatzforderung als Vorwand, um elitäre Interessen zu
kaschieren, die ein gänzlich neues Publikum98 anziehen wollen.
Der Forderung nach reinen Sitzplatzstadien wird heute vermehrt nachgekommen, in England
etwa gibt es in den zwei höchsten Ligen keine Stehrampen mehr, und sobald ein Stadion
renoviert wird, oder gar neu gebaut werden muss, weichen die Stehrampen unweigerlich den
Sitzplätzen. Diese Entwicklung bedeutet nicht nur eine Abkehr von der proletarischen
Fussballfankultur,99 sondern auch einen Affront gegen die Ultras und alle anderen aktiven
Fans, für die ein Spiel mehr als nur „Unterhaltungscharakter“ besitzt. Das von Politikern,
Unternehmern und nationalen wie internationalen Verbänden angepeilte Modernisierungsprogramm beinhaltet weitere Kommerzialisierungsmassnahmen. So sollen die zahlreichen
Stadtstadien an die Peripherie verlegt werden. Zum einen verschwindet damit das
Fussballpublikum als physischer, sozialer und optischer Störfaktor aus dem Innenstadtbereich,
und zum anderen werden interessante Flächen für die kommerzielle Nutzung frei. Des
Weiteren sollen die modernen Stadien weit über das Fussballspiel hinaus nutzbar sein,
96
Fans, VIPS`s und Finanzhaie, Wem gehören die Stadien?, in: Schulze-Marmeling, Dietrich (Hrsg.). Zur
Geschichte eines subversiven Sports. Göttingen, 1992. S. 219 – 242.
97
Während des FA-Cup-Halbfinalspiels zwischen dem FC Liverpool und Nottingham Forest, kam es am 15.
April 1989 im Sheffielder Stadion Hillsborough ebenfalls zu einer Massenpanik auf der Tribüne. 96 Menschen,
darunter viele Kinder und Jugendliche, wurden ans Absperrgitter gedrückt und liesse ihr Leben.
98
„Auf den modernen Sitzplatztribünen sollen Familien in freundlicher Picknick-Atmosphäre ihren freien Tag
verbringen. In verglasten Luxuskabinen sollen sich auch die wohl fühlen, denen der proletarische Geruch des
Fussballs bisher unangenehm in der Nase stach.“ Siehe dazu: Schulze-Marmeling, Fans, VIP`s und Finanzhaie,
S. 230.
99
Billige Plätze auf oftmals unbedeckten Stehrampen, auf denen man dicht gedrängt stand und mitfieberte.
32
nämlich als Stätten des Konsums, wobei Fussball nur eine von mehreren NutzungsMöglichkeiten ist.100
Fakt ist nämlich: „Mit dem traditionellen Zuschauermilieu allein lässt sich heute keine
Fussballmannschaft mehr finanzieren. Das grosse Geld lauert mittlerweile bei den Sponsoren
und vor allem im Verkauf von Fernsehrechten.“101 Ein weiteres Problem, das im Zuge dieser
Kommerzialisierung und kapitalistischen Vereinnahmung entsteht, ist der Verlust von
Identitätsreservoirs für die Fans. Das beginnt bei der Transferpolitik der meisten Vereine,102
die zu einer hohen Fluktuation innerhalb des Spielerkaders führt, und den Fans so mögliche
Identifikationsfiguren nimmt.103 Wie weit die Kommerzialisierung des Fussballs schon
fortgeschritten ist, zeigt das Beispiel von SV Austria Salzburg104 besonders drastisch: Nach
der Übernahme des Vereins im Sommer 2005 durch Red-Bull-Chef Dieter (Didi) Mateschitz
blieb kein Stein mehr auf dem anderen. Zahlreiche internationale Stars wurden verpflichtet,
der Klub wurde in Red Bull Salzburg umbenannt und die traditionellen Farben weiss-violett
durch rot-weiss ersetzt. Mittlerweile ist es sogar verboten, als Heimfan in der traditionellen
Farbe violett ins Stadion zu kommen. In Folge dieser drastischen Umstrukturierung und
Verkommerzialisierung des Vereins kam es zu zahlreichen Protestaktionen von SalzburgUltras, die – wie alle Ultras – sehr grossen Wert auf die Bewahrung von Traditionen legen.105
Die nackten Zahlen hingegen sprechen für den „neuen“ Verein. Red Bull Salzburg liegt
momentan (Dez. 2005) auf dem zweiten Rang der Tabelle und weist mit durchschnittlich
15.418106 Zuschauern den grössten Schnitt aller Ligateams auf. Offenbar konnte im Falle von
Red Bull Salzburg also ein neues Publikum generiert werden, was meiner Meinung nach ein
100
So befindet sich unter dem neuen „Stade de Suisse“ in Bern ein grosses Einkaufszentrum, dem „St.-JakobPark“ in Basel sind mehrere Geschäfte, Restaurants und sogar ein Altersheim angeschlossen.
101
Schulze-Marmeling, Zur Geschichte eines subversiven Sports, S. 233. Während früher fast alle Spiele am
Samstagnachmittag oder –abend stattfanden, und auch für Auswärtsfans, die oft weite Distanzen zurücklegen
müssen, gut erreichbar waren, werden die Spieltage heutzutage aufgesplittet, um die Bedürfnisse der
Fernsehzuschauer besser befriedigen zu können. (So gibt es in der Bundesliga Sonntagabendspiele, in der
Zweiten Liga sogar ein Montagabendspiel).
102
Die allerdings schon lange vor den Achtzigerjahren weit verbreitet war.
103
Ein Spieler wie Paolo Maldini, der sein ganzes Fussballerleben beim AC Milan verbrachte, findet man heute
nur noch selten. Im Verständnis eines Fans aber spielt gerade die Loyalität eines Spielers und seine
Verbundenheit zu ihrem Ort (und sei es nur durch grossen Einsatz auf dem Platz) eine sehr grosse Rolle. So ist
oftmals nicht ein (meist hoch bezahlter) Star der Publikumsliebling der Fans, sondern der Kämpfer und
Wadenbeisser, der vollen Einsatz auf dem Feld zeigt, oder – noch besser – ein Spieler aus der eigenen
Stadt/Region.
104
Austria Salzburg ist ein absoluter Traditionsverein in Österreich und wurde 1933 gegründet.
105
Die Umstrukturierung führte auch in zahlreichen anderen europäischen Stadien zu Solidaritätskundgebungen
für die Salzburg-Ultras. Auf Transparenten standen Sprüche wie: „Violett-Weiß gegen Grün-Weiß - Für
Tradition gegen Kommerz“ oder „Austria Salzburg: Red Bull verdient Prügel & belebt Solidarität“.
106
Das entspricht einer Steigerung von über 106 Prozent gegenüber dem Vorjahr. Siehe dazu:
http://www.kurier.at/sport/1215582.php, 20.12.2005.
33
Beweis dafür ist, dass Erfolg für einen bestimmten und scheinbar grossen Teil des Publikums
das wichtigste Kriterium eines Matchbesuches ist.107
2.8.
Hooligans108
Auf die wohl berühmteste und mit Sicherheit berüchtigtste Fangattung, die Hooligans, komme
ich nur relativ kurz zu sprechen. In der Bierkurve gibt es sehr wohl einzelne gewaltbereite
Fans, jedoch bekennt sich keiner davon offiziell zum Hooliganismus. Trotzdem kommt man
nicht umhin, sich in einer umfassenden Betrachtung von Fussballfans auch den Hooligans
zuzuwenden, gerade weil ihr Einfluss auf die öffentliche Wahrnehmung von Fussballfans so
gross ist und es deshalb immer wieder zu Verwechslungen und Pauschalisierungen kommt.
Das Fussballspiel ist seit seinen Ursprüngen im England des 13. Jahrhunderts109 mit der
Gewalt verknüpft und in der britischen Geschichte gab es nur zwei einigermassen gewaltfreie
Perioden im Fussballsport: in der Zwischenkriegszeit und im Jahrzehnt nach dem zweiten
Weltkrieg. Das Verhalten, das man heute als Hooliganismus110 bezeichnet, drang in den
frühen Sechzigerjahren mit dem Beginn von Fussballspiel-Fernsehübertragungen111 erstmals
so richtig ins Bewusstsein der Öffentlichkeit. Rund zehn Jahre später war das Phänomen
107
Ich verwende hier ganz bewusst den Begriff „Publikum“, weil er in diesem Zusammenhang besser passt.
Neben „Salzburg“ gibt es eine ganze Reihe weiterer Beispiele der Verkommerzialisierung von Fussballklubs.
Das jüngste und bekannteste Beispiel ist Manchester United. Der englische Traditionsverein wurde letzten
Sommer vom amerikanischen Milliardär und Grossunternehmer Malcolm Glazer aufgekauft und ist nun quasi
sein persönliches „Spielzeug“. Aus Protest gegen diese „feindliche“ Übernahme hat sich ein Teil der treuen Fans
von den „Red Devils“ abgewandt und einen eigenen Verein, den FC United gegründet, der mittlerweile in der
untersten englischen Liga spielt und einen Schnitt von gut 3000 Zuschauern (!) an Heimspielen erreicht. (Siehe
dazu: 11 Freunde, Nr. 49, November 2005)
108
Literaturtipps: Brimson, Dougie. Euro Trashed, The Rise and Rise of Europe`s Football Hooligans. London,
2003. Farin, Klaus; Harald Hauswald (Fotografien). Die dritte Halbzeit, Hooligans in Berlin-Ost. Berlin, 1998.
Schneider, Manfred. Leben und Sterben für den Verein, Der Krieg der Fussballfans, in: Kemper, Peter (Hrsg.).
Der Trend zum Event. Frankfurt am Main, 2001. S. 133 – 146. Armstrong, Gary. Football Hooligans: Knowing
the Score. Oxford, 1998. Dunning, Eric; Murphy, Patrick; Williams, John (Hrsg.). The Roots of Football
Hooliganism, an Historical and Sociological Study. London, 1988.
109
Die mittelalterliche Variante des Fussballspiels involvierte Hunderte von Spielern und war eigentlich mehr
Schlacht als Spiel zweier verfeindeter Dörfer oder Städte. Erst im viktorianischen 19. Jahrhundert wurde das
Spiel von der britischen Aristokratie reformiert, sowie diszipliniert und in die heutige, uns bekannte, Form
gebracht. Siehe dazu und auch zu den folgenden Ausführungen: Marsh, P.; Fox, K.; Carnibella, G.; McCann, J.;
Marsh, J. Football Violence and Hooliganism in Europe. Oxford, 1996.
110
Hooliganismus kennzeichnet eigentlich aggressives und destruktives Verhalten von Personen, die im Rahmen
eines Fussballspiels meistens in Gruppen auftreten. Heute wird der Begriff aber auch ganz allgemein für
Randalierer und Schläger benutzt.
111
Man sah damals Bilder von Schlägereien auf den Zuschauerrängen und Platzstürmungen erboster Fans. Durch
die in den Achtzigerjahren eingeführten Massnahmen wie die Sektorentrennung, das Verbieten von Stehplätzen
und eine massiv erhöhte Polizeipräsenz, hat sich das Geschehen verlagert. Die gewalttätigen
Auseinandersetzungen (so genannte Kick-offs) finden nicht mehr im Stadion statt, sondern vor dem Stadion oder
an einem zuvor untereinander abgemachten Treffpunkt. Populär sind in letzter Zeit auch so genannte FWW`s
(Feld-Wald-Wiese), wo sich Hooligan-Gruppen zu einem verabredeten (und oftmals internationalen) Kick-off
im Grünen treffen, um nicht von der Polizei gestört zu werden.
34
Hooliganismus auch in Kontinentaleuropa bekannt. Diese Ausführungen zeigen auf, dass die
Gewalt bei Fussballspielen eine nicht zu unterschätzende historische Dimension aufweist. Es
gab schon immer Gewalt rund um Fussballspiele, nur stand sie nie so sehr im Brennpunkt der
Medien wie in jüngster Zeit.
Wer aber sind die Hooligans? Diese Frage ist gar nicht so leicht zu beantworten. Fest steht,
dass Hooligans praktisch ausschliesslich männlichen Geschlechts sind. Und sonst? Zahlreiche
Studien haben ermittelt, dass es den klassischen Hooligan-Typen nicht gibt. Working class,
arbeitslos und rechtsradikal:112 Das mag auf vereinzelte Hooligans zutreffen, repräsentiert
jedoch längst nicht die grosse Mehrheit. Viele Hooligans führen eine Art Doppelleben, gehen
unter der Woche einer gut bezahlten und geregelten Arbeit nach, um sich am Wochenende mit
Gleichgesinnten zu prügeln. Auch altersspezifisch lässt sich keine eindeutige Aussage
machen, ein Hooligan ist tendenziell älter als ein Ultra und bleibt tendenziell auch viel länger
in der Szene hängen.113 Ein entscheidendes Unterscheidungsmerkmal zu den übrigen
Fussballfans bildet vor allem die Bekleidung der Hooligans: Im Gegensatz zum „Fan“ trägt
der „Hool“ nicht die Devotionalien (s)eines Vereins, sondern eher prestigeträchtige und
hooliganspezifische Markenkleidung oder Designerkleidung.114
Hooliganismus kann man ebenfalls als Subkultur bezeichnen. Die bestimmenden Elemente
der Hooligan-Kultur sind dabei das Zelebrieren von Gewaltritualen und das Kultivieren einer
Ästhetik der Aggressivität. Für die Hooligans selbst ist der Kick (Adrenalin-Schub), die
grosse Anspannung, der Nervenkitzel, den sie daraus ziehen, mit physischer Gewalt zu
zeigen, dass man stärker ist als der Gegner (oder zumindest keine Angst hat), der wichtigste
Beweggrund für ihr Handeln. Neben diesem Kick heben die Hools selbst immer wieder den
stark ausgeprägten Zusammenhalt als weiteren Beweggrund hervor. In der Hooligan-Szene
gibt es, werden zumindest die Hooligans nicht müde zu betonen, einen gewissen EhrenKodex, der besagt, dass im Normalfall nur Gleichgesinnte angegriffen werden. Auch der
Einsatz von Waffen und das Schlagen eines Gegners, der am Boden liegt, sind laut diesem
Ehren-Kodex nicht erlaubt. Inwieweit dieser Ehrenkodex verbindlich ist, lässt sich wohl nicht
feststellen, sein Mythos ist aber zweifellos grösser als seine Verbreitung.115
112
Wohl ist Rechtsradikalimus in gewissen Hooligan-Kreisen verbreitet, das Ausmass ist jedoch zu gering, um
die beiden Begriffe miteinander zu gebrauchen.
113
Aus diesem Grund ist der Begriff „Jugendkultur“ – im Gegensatz zu den Ultras – nicht zulässig.
114
Dieser Trend wird mit „Casual-Style“ umschrieben, da die Kleidung als Teil der Kultur verstanden. Die
„Vertreter“ des „Casual-Styles“ sind bewusst eher gepflegt angezogen, tragen Markenkleidung statt
Fanklamotten. (Bevorzugte Kleidungsstücke sind Turnschuhe, Polo-Shirts, elegante Trainingsjacken,
Baseballkappen mit dem Burberry-Muster, etc.).
115
Gerade bei gewalttätigen Ausschreitungen zwischen Hooligan-Gruppen (auch mit der Polizei) in Ost- und
Südeuropa wird dies deutlich. Aber auch in Deutschland und Holland werden immer wieder „Unbeteiligte“
35
Mit ihrem aggressiven und destruktiven Verhalten bieten Hooligans den Medien natürlich
weit mehr Nährstoff als das Gros der friedlichen Fussballzuschauer, und die Hools sind sich
dieser Tatsache auch durchaus bewusst.116 Dabei werden längst nicht alle gewalttätigen
Auseinandersetzungen rund um Fussballspiele von Hooligans provoziert. Wie schon erwähnt,
gibt es auch in der Ultra-Kultur gewalttätige Tendenzen und gewaltbereite Personen, wobei
sich die Grenzen zwischen den beiden Kulturen in solchen Fällen auch vermischen können.
Hinzu kommt das Problem der so genannten „Halbstarken“ oder „Mitläufer“, die eigentlich
gar nicht Teil der Hooligan-Kultur sind, sich aber trotzdem an Auseinandersetzungen
beteiligen.
2.8.1.
Kick-offs117
Abschliessend zum Thema „Hooligans“ möchte ich nochmals kurz auf die so genannten
„Kick-offs“ zu sprechen kommen, die einen wichtigen Bestandteil der Hooligan-Kultur
darstellen. Während es in der Bierkurve keine wirklichen Hooligans hat, die sich ganz dieser
(Sub-)Kultur unterwerfen, beteiligen sich nämlich immer wieder Personen aus der Bierkurve
– genauer gesagt von der Ultra-Gruppierung Abarticus – an Kick-offs.
Wie bereits erwähnt, versteht man unter „Kick-offs“ Faustkämpfe unter gewaltbereiten
Fussballfans. Man unterscheidet dabei zwischen vereinbarten und spontanen Kick-offs. Bei
vereinbarten Kick-offs118 treffen sich zwei möglichst gleich grosse Parteien (eine Partei muss
nicht zwingend aus Fans des gleichen Vereins zusammengesetzt sein119) an einem bestimmten
Treffpunkt. Vereinbarte Kick-offs finden nur in den seltensten Fällen im Rahmen eines
Fussballspiels statt.
Opfer von Gewalt. Allgemein ist zu sagen, dass es auch in der Hooligan-Kultur grosse regionale Unterschiede
gibt.
116
Es gibt Forscher, die in der überhöhten medialen Aufmerksamkeit, welche den Hooligans geschenkt wird,
sogar eine Hauptursache für deren Handeln sehen.
117
Die folgenden Ausführungen stammen aus keiner wissenschaftlichen Publikation, sie stützen sich auf
Aussagen und Informationen von Personen, die selbst Teil dieser Fussball-Kultur sind.
118
Vereinbarte Kick-offs nennt man auch FWW's. Auf Grund der immer höher werdenden Polizeipräsenz rund
um Fussballspiele, erfreuen sich FWW`s unter Hooligans und C-Fans immer grösserer Beliebtheit. Vor allem in
Deutschland sind sie sehr weit verbreitet. In breiten Hooligankreisen findet zurzeit eine regelrechte Debatte um
die FWW`s statt. Die Befürworter betonen den Aspekt der Fairness (Einhaltung des Ehren-Kodex) und des
Kicks, den man auch so erfahren kann, während die Kritiker vor allem auf die Entwurzelung aus der FussballKultur hinweisen. Vor allem im Osten machen zunehmend Türsteher oder ganze Kickboxvereine mit, die keinen
Fussball-Background haben.
119
Im Falle von Kick-offs, an denen Mitglieder von Abarticus beteiligt waren, sind ihnen auch schon Personen
aus dem Umfeld des Grasshoppers Club Zürich sowie vom FC Wil zu Hilfe gekommen.
36
Spontane oder zufällige Kick-offs hingegen ergeben sich entweder kurz vor oder kurz nach
dem Spiel, wenn sich gewaltbereite Teile der beiden Fan-Lager, meistens zu Mobs
zusammengeschlossenen, auf dem Weg zum Stadion oder zum Bahnhof treffen. An spontanen
Kick-offs boxen auch Ultras mit, weil es in ihrem subkulturellen Verständnis in solchen
Situationen um die Verteidigung sowohl der Gruppe wie auch des Territoriums geht.120 Im
Gegensatz zu den vereinbarten Kick-offs können im Eifer des Gefechts auch Unbeteiligte in
eine Auseinandersetzung geraten. Gleichzeitig besteht die Gefahr, dass sich so genannte
„Halbstarke“ oder „Mitläufer“ unter die Ultras und Hooligans mischen, die sich an keine
„Ehren-Kodexe“ halten und wahllos drauflosprügeln.
2.9.
Fussball und Gewalt – Erklärungsmodelle nach Thomas König
Zum Abschluss dieses Kapitels möchte ich noch kurz auf den Zusammenhang von Fussball
und Gewalt zu sprechen kommen. Er wurde bereits verschiedentlich angedeutet und
beleuchtet, jedoch nicht komplett genug. Der Soziologe Thomas König hat sich in seiner
Studie „Fankultur, Eine soziologische Studie am Beispiel der Fussballfans“ (Münster, 2002)
intensiver mit diesem Zusammenhang beschäftigt und die wichtigsten Erklärungsmodelle
zusammengefasst, auf die ich mich im Folgenden stützen werde.
Es ist wichtig, die Gewalt aus dem alleinigen Zugriff psychologisierender Erklärungsversuche
zu lösen und ihr auch eine politische und soziale Dimension zu geben, da „Gewaltaktionen
häufig keine irrationalen, sondern eine höchst rationale Konsequenz von Erfahrungen sind,
die Jugendliche in dieser Gesellschaft machen“121.
•
Die Frustrations-Aggressions-Hypothese
Die Hypothese geht davon aus, dass Frustration zu Aggression in Form von
gewalttätigem Verhalten führt. Der Ansatz wurde später weiterentwickelt und zwischen
die Konzepte „Frustration“ und „Aggression“, wurde dasjenige des aggressiven
Hinweisreizes geschoben. Demnach erhöhen Frustrationen immer die Bereitschaft zu
aggressiven Handlungen, die aber nur auftreten, wenn Hinweisreize122 in der jeweiligen
Situation vorhanden sind.
120
Gleichwohl spielen auch bei den gewaltbereiten Ultras der Kick, die nervöse Anspannung, der physisch wie
psychisch stark empfundene Zusammenhalt und der Spass an Gewalt eine Rolle.
121
Koordinationsstelle Fanprojekte (KOS) bei der deutschen Sportjugend (Hrsg.). Fussball als Droge? Frankfurt
am Main, 2002. S. 85.
122
Reize, die mit Ärger auslösenden Bedingungen oder mit Aggressionen im Allgemeinen assoziiert werden.
37
Aus dieser Hypothese lässt sich auf Fussballfans ableiten, dass die Fans der verlierenden
Mannschaft aggressiver sein müssten. Gleichzeitig müsste die Aggressivität mit der Höhe
des Stellenwertes eines Spiels steigen. Ob diese beiden Annahmen tatsächlich richtig
sind, ist meines Erachtens fraglich. Für Hooligans zum Beispiel spielt der Ausgang eines
Spieles überhaupt keine Rolle.
•
Die behavoristische Lernmethode
Die behavoristische Lernmethode geht nicht von einem angeborenen Aggressionstrieb
aus, sondern vielmehr davon, dass dieser erlernt wird. Dabei gibt es zwei Ansätze:
a) Das Lernen am Erfolg (Bekräftigungslernen)
Lernen am Erfolg bedeutet, dass ein aggressives Verhalten wiederholt wird, wenn
positive Folgen für den Handelnden zu erwarten sind.
b) Das Lernen am Modell (Beobachtungslernen)
Lernen am Modell geht davon aus, dass Personen mit Vorbildcharakter nachgeeifert wird.
Aggressive Verhaltensweisen werden so ins Repertoire des Beobachters aufgenommen.
Im Zusammenhang mit Fussballfans rückt hier vor allem die (meines Erachtens weit
hergeholte) Erkenntnis in den Vordergrund, dass aggressives Zuschauerverhalten die
Heimstärke des Teams erhöhen kann und aggressive Zuschauer unter Umständen
Ansehen und Prestige in den eigenen Reihen geniessen.
•
Massenpsychologischer Ansatz
Die traditionelle Massenpsychologie sieht einen Unterschied im Verhalten eines
Einzelnen und dem Verhalten einer Masse. Die Masse wird dabei nicht als Ansammlung
verschiedener Individuen, sondern als Einheit mit einer „Gemeinschaftsseele“ gesehen.
Folglich kommt es auch zu einer gemeinsamen Orientierung der Gedanken, Gefühle und
Handlungen, zu einem kollektiven Erlebniszustand also mit unkontrollierten Trieben und
Leidenschaften. Der Einzelne kann durch dieses Aufgehen in der (anonymen) Masse ein
Gefühl grosser Macht erlangen und damit die eigene Hemmschwelle übertreten. Man
spricht in diesem Zusammenhang auch von einer Deindividualisierung als Zustand, in
dem die Kontrolle des eigenen Verhaltens nachlässt.
Gerade im Fussball, dem Massensport schlechthin,123 ist diese „Verwandlung“ von
Individuen in eine Gemeinschaftsseele immer wieder zu beobachten, etwa bei
123
Kaum ein anderer Sport kann eine vergleichsweise ähnlich hohe Anzahl von Stadion-Besuchern
beanspruchen.
38
Schiedsrichterentscheidungen, beim Torjubel, etc. Solche kollektiven Gefühlsausbrüche
können durchaus in eine aggressive Grundstimmung münden, die aber mit dem Austritt
aus dem Stadion und der Verstreuung der Fans meistens verpufft. Gefährlich sind in
diesem Sinne so genannte Mob-Bildungen.
•
Schichtbezogene Erklärungsansätze
Dieser britische Ansatz nimmt die grossen gesellschaftlichen Veränderungen nach dem
Zweiten Weltkrieg als Ausgangspunkt, die zu einem Verfall der Werte und der Solidarität
in der Arbeiterklasse sowie zu Massenarbeitslosigkeit führten. Eine Entwicklung, die
damals im Gegensatz zur beginnenden Professionalisierung und Kommerzialisierung des
Fussballsports stand. Das führte zu einer Entfremdung der Zuschauer, die damals in der
Regel aus der Arbeiterklasse stammten. Gerade sozial benachteiligte oder arbeitslose
Jugendliche begannen sich von den übrigen Zuschauern durch ein aggressives Verhalten
abzugrenzen und zeigten mit dieser auf „männlichen Werten“, wie Härte und Stärke,
basierender Haltung ihren Willen, den ehemaligen Arbeitersport Fussball nicht
aufzugeben.
Der schichtbezogene Ansatz war vor allem ein Erklärungsmodell für die zunehmende
Gewalt im Nachkriegs-England, während es in der Schweiz, in Deutschland oder auch
anderen europäischen Ländern keine ähnliche Entwicklung gab.
•
Die Subkulturtheorien
Die Subkulturtheorien basieren auf den „Gang-Studien“ der Chicagoer-Schule in den
Zwanzigerjahren, welche das Bandenwesen in der amerikanischen Grossstadt untersuchte
und beschrieb. Aufbauend auf diesen Studien, wurde die Theorie der delinquenten
Subkultur entwickelt, wonach sich gerade in den städtischen Slumgebieten ein eigenes
subkulturelles Normensystem herausbilden kann. Gewalt und das Begehen von Straftaten
kann in diesen Subkulturen eine positive Wertung erhalten und zu mehr Ansehen und
höherem Status führen (Gewaltverherrlichung).
Auch (gewalttätige) Fussballfans können als Subkultur wahrgenommen werden, die ihren
eigenen Lebensstil entwickelt haben, der sich etwa von elterlichen, schulischen und
verfassungsrechtlichen Wertorientierungen stark unterscheidet. Gewalttätiges Verhalten
kann dabei zu einer Prestigesache und einem zentralen Orientierungswert werden.
39
•
Sozialisationstheoretischer Ansatz
Der sozialisationstheoretische Ansatz bildete das Fundament im Fussballfan-Modell von
Heitmeyer/Peter, das im Kapitel 2.2. schon ausführlich besprochen wurde.
Die moderne Gesellschaft ist geprägt von einem hohen Lebensstandard, einer Zunahme
der Mobilität, erhöhten Bildungschancen und der Auflösung traditioneller sozialer
Milieus. Einerseits wird der soziale Aufstieg erleichtert und viel Freizeit zur Verfügung
gestellt, andererseits kommt es durch die Loslösung des Menschen aus seinem
Herkunftsmilieu zu einer Vereinsamung, einer Individualisierung von Lebenslagen
gleichsam.
Die zunehmende Entscheidungsfreiheit
bei
gleichzeitiger Abnahme
traditioneller Weltbilder, schafft eine Ambivalenz, welche gerade die Jugendlichen vor
Probleme stellt, die das Bewusstsein für die eigene Identität erst finden müssen. Vor
diesem Hintergrund ist der Bedeutungszuwachs der Gleichaltrigen-Gruppe zu sehen. In
solchen Gruppen kann Gewalt zu einem zentralen Ausdrucksmittel werden.
•
Zivilisationstheoretischer Ansatz
Der zivilisationstheoretische Ansatz rückt die historische Bedeutung der veränderten
menschlichen Lebensbedingungen ins Zentrum. Der Mensch wird in der heutigen Zeit
zunehmend zur Kontrolle seiner Gefühle gezwungen. Durch die Disziplinierung des
menschlichen Trieb- und Affekthaushaltes wird die Gewalt gesellschaftlich eingedämmt
und zum Monopol des Staates erklärt.124 Gerade Jugendliche reagieren auf die
gesellschaftlich herrschenden Normen und Rahmenbedingungen mit der Suche nach
Spannung, Risiko und Grenzerfahrungen, was zu gewalttätigem Verhalten führen kann.
Gerade in einer Subkultur, wie in der Ultra-Bewegung oder im Hooliganismus, fernab der
gängigen und einengenden sozialen Normen, lassen sich Reiz- und Grenzsituationen
erleben und erfahren. Gewalttätigkeit ist dabei eine Möglichkeit, solche Erfahrungen und
Erlebnisse zu machen. Man kann die Gewaltanwendung in diesem Zusammenhang auch
als Eskapismus aus einem von Normen und strikten Regeln geprägten Alltag, in dem
Gewalt und Machtausübung sehr stark eingedämmt werden, betrachten.
Ein weiteres Erklärungsmodell, das von Hooligans selbst so definiert wurde, lautet: „Die
janzen Psychologen und so, det is ja ellt, wat die da erzählen, von wegen weshalb die Leute
det machen, du wirst nie `nen Grund finden, warum (die) det machen, weil das einfach Spass
124
Während in zurückliegenden Epochen Gewalt durchaus als Mittel der Konfliktbewältigung angesehen wurde.
40
is (…).“125 In diesem Erklärungsmodell gibt es offenbar keinen gesellschaftlich oder politisch
motivierten Grund für die Gewalttätigkeit. Der Spass an der Gewalt, die Suche nach dem
Kick, dem Nervenkitzel steht hier im Vordergrund. Ich persönlich halte diese Erklärung für zu
einfach und sogar für gefährlich, weil Gewalt in diesem Kontext ein positiv (oder zumindest
neutral) besetzter Begriff ist und insofern keine kritische Auseinandersetzung mit dem
eigenen Handeln stattfindet.
Das Phänomen „Fussball und Gewalt“ ist wohl nur in den seltensten Fällen tatsächlich mit
einem der oben aufgeführten Erklärungsmodelle schlüssig und stichhaltig zu begründen.
Vielmehr handelt es sich bei dem Phänomen um eine Verbindung, die an mehrere Kontexte
und Kausalitäten geknüpft ist, eine Verbindung auch, die nie losgelöst vom gesellschaftlichen
Ist-Zustand und historischen Hintergründen betrachtet werden darf. Ausserdem wird bei den
meisten Erklärungsmodellen die Gewalt als Reaktion definiert, was ich als einseitig empfinde.
Gewalt kann, meiner Meinung nach, auch gezielte Aktion sein;126 die bewusste
Demonstration der eigenen Stärke und Macht, ein Mittel der Selbstdarstellung und
-befriedigung.
2.10. „Fanprojekte“ – Thomas Frischknecht
Die letzte hier aufgeführte Arbeit über Fussballfans stammt von Stefan Frischknecht. Er
untersucht in seiner Diplomarbeit für die Hochschule für Soziale Arbeit in Zürich die von
Sozialarbeitern geführten Fanprojekte127.
125
Schneider, Manfred. Leben und Sterben für den Verein, Der Krieg der Fussballfans, in: Kemper, Peter
(Hrsg.). Der Trend zum Event. Frankfurt am Main, 2001. S. 144.
126
Gerade im Verständnis von Hooligans und Ultras.
127
In so genannten Fanprojekten arbeiten Sozialarbeiter mit vorwiegend jugendlichen Fussballfans zusammen.
Die wichtigste Funktion ist dabei die Vermittlerrolle zwischen den Fans einerseits und dem Verein, sowie den
Sicherheitsverantwortlichen und der Polizei auf der anderen Seite. Die Fanprojekte verfolgen in ihrer
Zusammenarbeit mit den Fussballfans verschiedene Ziele: Gewaltprävention und Deeskalation (vermittelnde und
beratende Eingriffe), Abbau extremistischer Orientierungen (Rassismus, Sexismus, usw.), Sicherung des
Sozialraumes „Stadion“ für die Jugendlichen, Schaffung von Akzeptanz zwischen den Jugendlichen und dem
Verein und nicht zuletzt die Erhaltung der jeweiligen Fankultur.
Fanprojekte sind vor allem in Deutschland verbreitet, wo sie seit Beginn der Achtzigerjahre in verschiedenen
Vereinen tätig sind. In der Schweiz wurde im Jahre 2001 beim Grasshopper Club Zürich ein erstes Pilotprojekt
gestartet, das aus finanziellen Gründen (die Vereine sind selbst für die Finanzierung der Fanprojekte
verantwortlich) wieder eingestellt wurde. In Basel gibt es seit 2003 ein Fanprojekt. Für einen „kleinen“ Verein
wie den FC Schaffhausen, mit einem Budget von rund 3,8 Millionen Franken, ist es fast unmöglich, ein
Fanprojekt zu finanzieren. So stand es in Schaffhausen noch gar nie zur Debatte, ein allfälliges Fanprojekt zu
lancieren.
Siehe dazu: Frischknecht, Thomas. Fan-Arbeit, Das Fussballstadion als Spiegelbild gesamtgesellschaftlicher
Veränderungen – Soziale Arbeit mit Fussballfans. Zürich, 2003. S. 33 f.
41
Die Fanprojekte arbeiten in erster Linie mit so genannten B-Fans oder Ultras zusammen, die
sich im Zuge der zunehmenden Kommerzialisierung des Fussballs je länger je mehr
ausgegrenzt sehen.128 Das Stadion, oder besser gesagt die Kurve, wird in diesem
Zusammenhang als Sozialraum für Jugendliche betrachtet, der einen hohen Stellenwert für
Prozesse der Identitätsbildung besitzt. Anders als ein Grossteil der Vereinsverantwortlichen,
Sicherheitskräfte und Medien, sehen die Fanprojekte durchaus positive Aspekte im Handeln
der B-Fans und Ultras: So werden besonders deren Spontaneität und die kreativen
Ausdrucksformen (Choreografien, Lieder, usw.) hervorgehoben und die Wichtigkeit der
Kurve als „subkultureller Freiraum“129 betont. Die zunehmend repressiven Massnahmen im
Umgang mit B-Fans und Ultras werden kritisch hinterfragt. Gleichzeitig appellieren die
Fanprojekte an die Selbstregulierung der Fanszene, die ihrer Meinung nach stark unterschätzt
wird. Die beiden Autoren Dieter Bott und Gerold Hartmann wiesen im Zusammenhang ihrer
Untersuchung über Eintracht-Frankfurt-Fans bereits 1987 auf diesen Umstand hin: „Die Fans
müssen anerkannt, respektiert und als verantwortliche Partner akzeptiert werden: als
eigenständige und widersprüchliche, als unabhängige und selbstverantwortliche Gruppe“ und
sie erklären das behördliche Ziel der „totalen Kontrolle“ über die Fans zur Utopie. 130 Mit der
Unabhängigkeit
sprechen
die
beiden
Autoren
einen
sehr
zentralen
Aspekt
im
Selbstverständnis der Fans an, und genau diese Unabhängigkeit wollen zumindest die aktiven
Fans, für die ihre Fan-Kultur ein wichtiger Bestandteil ihrer Lebensgeschichte ist, in ihrem
„Territorium“ – dem Stadion – ausleben und wenn es sein muss auch verteidigen.
Ich bin im Verlaufe meiner Untersuchungen über die Bierkurve auch auf den ehemaligen
Fanprojekt-Arbeiter
David
Zimmermann131
gestossen,
der
sehr
interessante
und
aufschlussreiche Antworten über die Ultra-Szene und den Umgang mit ihnen formulierte, von
denen ich einige gerne zitieren und kommentieren möchte.
128
Dieser Aspekt tritt auch beim Abarticus stark in Erscheinung. Siehe dazu: Kapitel 3.3.2. und Kapitel 3.3.2.1.
Frischknecht, Fan-Arbeit, S. 10.
130
Hessische Sportjugend (Hrsg.); Bott, Dieter; Hartmann, Gerold. Die Fans aus der Kurve, Let`s go, Eintracht,
let`s go! Aus der Welt der Fussballfans. Frankfurt am Main, 1987. S. 154.
131
David Zimmermann ist 37-jährig. Er studierte Psychologie und arbeitete im Anschluss an sein Studium als
Fanprojekt-Mitarbeiter in Nürnberg sowie als Chef des Fanprojekts Zürich (GC Zürich), das mittlerweile leider
nicht mehr existiert. Zurzeit arbeitet David Zimmermann für FaCH, den Schweizer Dachverband für Fanarbeit,
wo er Geschäftsleiter ist. (www.fanarbeit.ch).
129
42
•
Über die Entstehung der Ultras in der Schweiz und ihre Mentalität:
„Der Begriff Ultra hat in der Schweiz eine komische Geschichte. Die Ultras sind Ende der
Achtzigerjahre in Basel entstanden, also da hat sich eine Gruppe erstmals „Ultra“ genannt. Wobei das
eine Mischung war aus den heutigen Ultras und einer Hooligangruppierung. Die waren auch in sehr
viele gewalttätige Auseinandersetzungen verwickelt. Von daher ist der Begriff Ultra in der Schweiz
lange Zeit sehr negativ besetzt gewesen.
Eigentlich kommt der Begriff ja aus Italien, es bedeutet so viel wie: Wir sind die Ultra-Fans, die
Riesenfans, wir unterstützen unseren Verein bedingungslos, stellen uns aber auch gegen die
Tendenzen der Kommerzialisierung. Die wollen die Tradition Fussball für sich pachten und sagen sich:
Wir repräsentieren die Tradition und der Verein als solches hat sich schon längst von dieser Tradition
Fussball verabschiedet.
Beispielsweise die Ultras von GC, die ich ein bisschen näher kenne, die haben einen ganz
bezeichnenden Sprechchor, der sagt folgendes: „Keiner mag uns, scheissegal, Spieler kommen,
Trainer gehen, nur der Hardturm bleibt bestehen.“ Das ist für mich ganz symptomatisch für die UltraMentalität. Für mich heisst das: Es gibt eine Tradition, die heisst Hardturm, das ist das Stadion von
GC. Spieler, Trainer und das Management sind auswechselbar, aber es gibt etwas, das nicht
auswechselbar ist: der Name Hardturm und der Name GC, und dahinter stehen die Ultras voll und
ganz. Sie haben Mühe damit, was die, also die Spieler, Trainer und das Management, mit unserem
Verein machen. Das drückt so ein bisschen die Ultra-Mentalität aus.“
Anhand dieser Aussagen von David Zimmermann wird gut ersichtlich, welch grosse Rolle die
Tradition im Verständnis der Ultras zu ihrem Verein und zum Fussball allgemein spielt.
Dabei mutet es fast schon paradox an, dass praktisch die jüngsten Fans des Vereins, die
(altersbedingt) noch nicht so lange an die Spiele gehen, so sehr an den Traditionen festhalten.
Ein klares Indiz dafür, wie stark ausgeprägt die Identifikation mit dem Verein ist.
•
Über den klassischen Ultra-Lebenslauf:
„Vom Sozialen her gesehen ist es sehr unterschiedlich, ethnisch gesehen jetzt weniger. Es hat relativ
wenige ethnische Minoritäten im Stadion. Es ist schon etwas, das sehr stark durch die Attribute:
Schweizer, männlich und jugendlich geprägt wird, höchstens noch Secondos. Es hat relativ wenige
Minoritäten. In der Fanszene, die jetzt im Stadion ist, sind die Lebensläufe ganz verschieden. Man
kann jetzt nicht sagen: Ein Arbeitsloser wird zwangsläufig zu einem C-Fan. Oder ein Student wird zum
Tribünenhocker. Die Palette innerhalb der Fanszene ist wirklich riesig. Das ist auch das Faszinierende
daran, dass ganz verschiedene Menschen in einer Kurve zusammenkommen.“
43
Diese Beobachtungen bestätigt nicht nur Bromberger,132 sie lassen sich auch – soviel vorweggenommen – auf die Bierkurve übertragen.133
•
Über die Gewalt in der Ultra-Szene:
„Es gibt so ein bisschen einen Dialog innerhalb der Ultra-Szene. Die einen sagen: „nein, Schlägereien
und so, das ist nicht unser Business“, während die anderen sagen: „aber wir müssen doch unseren
Verein vertreten und verteidigen, wir müssen uns hinter die Hools stellen, weil wenn es uns mal
schlecht geht, dann würden sie uns auch unterstützen.“ Das ist so ein bisschen der Dialog, der
innerhalb der Szene gehalten wird.
Ich denke, viel von der Gewalt der Ultras kann man dem Gruppeneffekt zusprechen. Dass es zu einer
Solidarisierung kommt, wenn Leute da mit rein geraten, die sonst eigentlich nichts mit der
Gewaltsache zu tun haben. Und dann kommt es natürlich auch immer auf das Verhalten des Vereins
an.
Es
braucht
oftmals
relativ
wenig,
um
Gewalt
auszulösen.
Fehlverhalten
von
den
Sicherheitsdiensten beispielsweise, wodurch es dann zu einer Solidarisierung kommen kann und die
Situation dann „Sicherheitsdienste gegen Ultras“ heisst. Es ist eher eine situative und nicht eine
geplante Gewalt bei den Ultras. Ich glaube, das ist der wichtigste Unterschied. Wenn du die Hooligans
nimmst: Die gehen wirklich an das Spiel mit dem Ziel, sich zu prügeln mit gegnerischen Hooligans. Die
rufen an, verabreden sich. Bei den Ultras ist das Ganze viel situativer. Insofern gibt es Faktoren, die
man kontrollieren kann, sodass die Gewalt nicht ausbricht.“
Ein ganz wesentlicher Faktor der Gewaltkontrolle ist die Selbstregulierung der Fanszene, die
von behördlicher Seite ganz klar unterschätzt wird, wie die hohe Präsenz von
Sicherheitsdiensten bezeugt. Ich habe in der Bierkurve einige Situationen erlebt, in denen
Fans einem oder mehreren anderen Fans ins Gewissen redeten oder sogar mit Gewalt
zurückhielten.
Die von David Zimmermann angesprochene Solidarisierung ist sehr wichtig in Bezug auf das
Gewaltverständnis der Ultras; so haben praktisch alle Mitglieder der ultra-orientierten
Gruppierung innerhalb der Bierkurve angegeben, dass sie nur sehr selten von sich aus
gewalttätig werden, wohingegen Gewalt als probates und legitimes Mittel der Verteidigung,
sowohl von Personen, als auch vom „Territorium“ (Stadion, Stadt), angesehen wird.
132
133
Bromberger, le match de footbal, S. 213.
Siehe dazu Kapitel 3.3.5. „Zusammenfassung der sozialen Struktur“.
44
•
Über das schlechte Image, das den Ultras anhaftet:
„Es wird halt in der öffentlichen Darstellung sehr viel verwechselt. Die Leute sind sich oftmals nicht im
Klaren, was jetzt ein Hooligan, und was ein Ultra ist. Und das wird zum Teil auch bewusst vertauscht.
Du hast vorhin angedeutet, dass man die Ultras verteufelt und die Hools in Ruhe lässt, ja sogar fast
verharmlost. Ein typisches Beispiel für mich war Altstetten. Also die Aktion, wo die Zürcher Polizei 427
Basel-Fans direkt aus dem Sonderzug verhaftet hat und Personenkontrollen und ID-Kontrollen
gemacht hat. Das muss eine geplante Aktion gewesen sein, anders ist so ein Einsatz logistisch nicht
möglich. Es war damals so, dass sich vor dem Hauptposten der Polizei Zürich, an der Uraniawache,
Hooligans aus Zürich und aus Basel geprügelt haben. Und die Polizei ist nicht eingeschritten, weil die
Einsatzkräfte ja in Altstetten im Einsatz waren. Das zeigt so ein wenig das Missverhältnis von dem
Ganzen.
Besonders weil in jenem Zug in Altstetten, so haben sie es gesagt, 80% gewaltbereite Fans waren,
aber eigentlich war nur der kleinste Teil wirklich problematisch. Diese repressive Schiene hat natürlich
einfaches Spiel, weil sie 427 Verhaftete präsentieren und damit sagen kann: So schlimm steht es um
den Schweizer Fussball; wir brauchen dringend Massnahmen. Sie wollen im Prinzip diese
Hooligandatenbank und das Rayonverbot einführen, sie wollen Präventivhaft einführen und das alles
unter dem Begriff „Hooliganproblem“, was für meine Begriffe falsch ist. Man sieht es nur schon anhand
der Altersgrenze, die sie bei der Präventivhaft anwenden wollen; die liegt beim vollendeten zwölften
Lebensjahr. Aber mit 13 Jahren kann man beim besten Willen nicht von Hooligan sprechen. Der
jüngste, mir bekannte Hooligan ist 18 Jahre alt. Und der älteste ist gleich alt wie ich, 37. Aber es gibt
natürlich noch ältere. Also diese Tatsache belegt sehr offensichtlich, dass es dabei nicht nur um
Hooligans geht. Man sagt einerseits, man habe mit den Hooligans keine Probleme mehr, missbraucht
den Begriff dann aber, um solche repressiven Massnahmen einzuführen, die ganz klar gegen die
Ultras gerichtet sind.“
Auch in Schaffhausen, wo es (noch) keine Hooligan-Szene gibt, schiessen sich die Medien
auf die Ultras ein. Vor allem pyrotechnische Fandarbietungen stehen vermehrt im Zentrum
der Kritik. Weil der Begriff Ultra in der Bevölkerung weitgehend unbekannt ist, werden in
den Medien Begriffe wie „Chaoten“, „Rowdys“ und eben „Hooligans“ verwendet. Der
subkulturelle Hintergrund dieser Aktionen wird völlig ausgeblendet.
•
Über die Perspektiven der Ultra-Bewegung in der Schweiz
„Ich betrachte es immer ein bisschen so: In den Achtzigerjahren waren die Hools etwa im selben Alter
wie die Ultras heute. Das waren damals die jungen Wilden. Man begann damals mit der
Sektorentrennung, Stadionverboten und anderen repressiven Massnahmen, spezifisch auf die Hools
ausgerichtet. Das hat in einem ersten Schritt dazu geführt, dass die Prügeleien ausserhalb des
45
Stadions begonnen haben. Dann hat man auch dort das Polizeiaufgebot erhöht. Man ist den Hools
also stets mit mehr Repression begegnet. Das hat von mir aus gesehen zu einer sehr starken
Ritualisierung innerhalb der Szene geführt. Und die Tatsache, dass man heute sagt, mit den
Hooligans habe man nicht mehr so viele Probleme, hat für mich mit dieser Ritualisierung zu tun. Die
Hools begannen sich an Ehrenkodexe zu halten, prügelten sich nur noch mit Gleichgesinnten, was ja
in den Achtzigerjahren überhaupt nicht der Fall war. Heute, wie figura zeigt, wird das auch nicht mehr
so stark eingehalten. Aber sie haben ihre Tätigkeiten im Prinzip so weit ritualisiert, dass die
Gesellschaft plötzlich zu sagen beginnt: Wenn es so ist, dann ist es OK. Wenn die ihre Schlägereien
weit weg vom Fussballplatz haben, dann ist es tolerierbar.
In die Bresche der Hooligans sind jetzt halt die Ultras gesprungen. Und ich sehe das als
Parallelentwicklung, nicht als etwas, das von einem zum anderen geht. Ich glaube, die Zukunft der
Ultras sieht gleich aus, wie der Prozess bei den Hooligans war. Dann werden die auch beginnen, ihre
Tätigkeiten zu ritualisieren, wobei ich mir das jetzt nicht konkret vorstellen kann, vielleicht zünden sie
dann abseits der Stadien ihre Fackeln oder sonst was. Sie werden ihre Tätigkeiten so weit
ritualisieren, bis die Gesellschaft sich sagt, es ist akzeptabel, die sind kein Problem mehr. Darauf folgt
eine weitere junge Truppe, das ist meine Prognose, und man hat wieder eine Problemwahrnehmung
im Fussball und sagt, die müssen jetzt bekämpft werden. Ich habe das auch schon Sicherheitsleuten
gegenüber gesagt, dass sie in zehn, zwanzig Jahren genauso über die Ultras sprechen werden, wie
heute über Hools, worauf die gesagt haben, dass das etwas ganz anderes sei. Es ist etwas anderes,
ganz klar, aber nach meiner Erfahrung wird es eine Art Parallelentwicklung nehmen.“
Es ist allgemein sehr schwierig, eine Prognose über Zukunftsentwicklungen von Fussballfans
und –szenen zu machen. Dazu gibt es zu viele weit reichende und vielfältige Einflüsse, die auf
das Individuum, eine Fan-Gruppierung, auf eine Fankurve, sowie die regionale wie nationale
Fussballfanszene und schliesslich auf die ganze Gesellschaft, einwirken.
2.11. Selbstkategorisierungen von Fans
Neben den wissenschaftlichen Definitionen und Analysen von Fans, auf die ich mich in der
Folge dieser Arbeit stützen werde, darf nicht übersehen werden, dass es eine Reihe von
Kategorisierungen und Definitionen von Fussballfans über sich selbst gibt. Gerade diese
Selbstbetrachtungen und -beobachtungen werden in der Forschung fast schon sträflich
vernachlässigt, obschon die Fans sich oftmals als genaue und auch selbstkritische, oder sogar
ironische, Beobachter entpuppen. Nichtsdestotrotz sind diese Selbstbezeichnungen mit
Vorsicht zu verwenden, da sie meistens einer gewissen nötigen Distanz und Neutralität
entbehren und aus einer subjektiven Blickweise heraus entstehen.
46
Im Folgenden möchte ich nun ein paar „Fan-Definitionen“ aufzeigen, die Personen aus der
Bierkurve über sich selbst und auch über weitere Fans im Stadion formuliert haben. Sie
entbehren zwar einer wissenschaftlichen Grundlage, werden aber sehr häufig zur Selbst- und
Fremdbeschreibung gebraucht. Auch ich werde im empirischen Teil dieser Arbeit zuweilen
auf diese Ausdrücke zurückkommen und sie, je nach Zusammenhang, auch verwenden.
• „Echte Fans“, der „harte Kern“ sind Fans, die ihren Verein sowohl bei Heim-, als
auch bei Auswärtsspielen lauthals und offensichtlich unterstützen,134 unabhängig von
Wetter- oder Tabellenlage. Oftmals sind sie Mitglieder eines Fanclubs und stehen im
Stadion in einer Fankurve oder einem Fanblock, zusammen mit anderen „echten Fans“
und Fanklubs.135
•
„Modefans“ (auch „Schönwetterfans“ oder „Erfolgfans“ geschimpft) sind zu
vergleichen mit konsumorientierten Fans. Solange eine Mannschaft Erfolg hat, stehen sie
dazu und kommen auch zu den (Heim)Spielen. Bei Misserfolgen oder schlechtem Spiel
der Mannschaft ziehen sie andere Beschäftigungen vor.
•
„Cüpli-Fans“ sind gut betuchte Fans, die in ihren geheizten VIP-Logen sitzen und
sich das Spiel mit „Champagner und Kaviar“ zu Gemüte führen. Auf die übrigen
Stadionzuschauer schauen sie im wahrsten Sinne des Wortes herab.136
•
„Passive Fans“ sitzen meist auf einer Seitentribüne (oder sogar in einer VIP-Loge)
und schauen dem Spiel zwar aufmerksam, jedoch ohne grosse Emotionen, geschweige
denn Gesänge oder Gejohle, zu. Lukas sagt über die „Fans“ der Stuttgarter Haupttribüne
folgendes137: „Wenn sie nicht mitmachen, dann sind sie halt Arschlöcher. Dann sollen sie
bleiben wo sie sind. Siehst du ja, immer wenn du La-ola oder sonst was machst, oder
134
Stellvertretend dazu der Kommentar von Paul Taylor, der seit 1964 exakt 9 Pflichtspiele seines Vereins
Leicester City verpasst hat, über Nick Hornby, der mit „Fever Pitch“ ein wunderbares Fussballfanbuch
geschrieben hat: „What kind of fan is he? He only goes to home games.“ Ulrich von Berg, Kino-Kicks, S. 228,
in: Herzog, Markwart (Hrsg.). Fussball als Kulturphänomen, Kunst-Kult-Kommerz, Stuttgart, 2002.
135
Die meisten Fans in der Bierkurve bezeichnen sich selbstverständlich als „echte Fans“. Und zumindest
wetterfest muss man in der Bierkurve sein, schliesslich ist die Kurve als eine von ganz wenigen in der AxpoSuper-League unbedacht.
136
Die VIP-Logen sollen beste Sicht auf das Spielfeld garantieren, weshalb sie stets in einer gewissen Höhe im
Stadion integriert werden.
137
Lukas ist ein Mitglied des Fanclubs OFC Blattstadt. Siehe dazu: Christ, Michaela. Ich bin anders, Fankulturen
in Deutschland und den USA: (k)ein Kulturvergleich. Konstanz, 2001, S. 95
47
versuchst, eine Stimmung anzuheizen, die machen gar nicht mit. Auch bei der Stimmung.
Da sage ich auch: „Mit denen habe ich nichts am Hut.“
•
„Zuschauer“ sind jene, welche zu Hause vor dem Fernseher sitzen, denn „echte
Fans“ sehen sich als Mitwirkende des gesamten Spiels, als Teil davon.138 Zu
„Mitwirkenden“ des Spiels werden die Fans, wenn sie beispielsweise eine Choreographie
durchführen (wie z.B. eine gigantische Fahne in den spezifischen Vereinsfarben über
einen ganzen Zuschauerblock halten) und das Interesse der anderen Zuschauer auf sich
ziehen.139
•
„Ground-Hopper“ sind Personen, die sich für die Fussball- und Fussballfankultur
ganz allgemein interessieren. Sie können durchaus an einem bestimmten Verein hängen
und regelmässig dessen Spiele besuchen, darüber hinaus reisen sie aber immer wieder in
unterschiedliche Stadien in unterschiedliche Länder, um zu erfahren, wie da Fussball
gespielt und gelebt wird. Oftmals werden Ferien dazu genutzt, so viele Spiele140 wie
möglich zu besuchen.
2.12.
Anmerkung zur Faszination Fussball
Während man sich also durch einen wahren Dschungel an Kategorien und Definitionen von
Fussballfans kämpfen muss und unzählige Erklärungs- und Interpretationsmodelle für ihr
Handeln und Verhalten bestehen, scheint es unmöglich zu sein, eine schlüssige Erklärung für
die Faszination, die von dieser Sportart ausgeht, zu finden. Ich eröffnete meine
standardisierten Interviews mit Bierkurven-Fans jeweils mit eben dieser Frage nach der
Faszination, die vom Fussball ausgeht. Die Antwort war in erster Linie nachdenkliches
Schweigen,
gefolgt
von
Floskeln
wie
„Stimmung“,
„Atmosphäre“,
„Spannung“,
„Ungewissheit“, „Zusammengehörigkeitsgefühl“ oder „alles, was dazugehört“. Niemand
jedoch war fähig, eine wirklich befriedigende und unumstössliche Antwort zu geben. Ich
denke, es ist sehr schwierig, die empfundenen Emotionen und die ungeheure Passion der Fans
138
Michael Prosser. „Fussballverzückung“ beim Stadionbesuch, S. 282, in: Herzog, Markwart (Hrsg.). Fussball
als Kulturphänomen, Kunst-Kult-Kommerz, Stuttgart, 2002.
139
Pyrotechnische Fandarbietungen sind offiziell in den Schweizer Stadien nicht mehr erlaubt, dennoch kommt
es immer wieder zum Abbrennen von etwa bengalischen Feuern.
140
Es können durchaus auch Spiele in unteren Ligen sein, an denen selbstverständlich eine ganz andere
Atmosphäre und Stimmung herrscht.
48
auf Papier zu bringen, da sie sowohl sprachlich, wie auch rational, nur schwer fassbar sind.
Gerade für Aussenstehende ist die enorme Tragweite der Begeisterung und der Leidenschaft,
die oft tief in den Alltag eingreift, kaum nachvollziehbar.
Wohl aber gibt es einige gute Gründe, weshalb Fussball im Verlauf des letzten Jahrhunderts
zur weltweit mit Abstand populärsten Sportart geworden ist141 und weshalb Wochenende für
Wochenende Millionen von Menschen geradezu in die Stadien dieser Welt pilgern:
•
„Die Popularität des Sports liegt in seiner Fähigkeit, die Ideale demokratischer
Gesellschaften zu verkörpern, indem er uns durch seine Helden zeigt, dass jeder - wie
Pelé zum Beispiel - so gross werden kann und dass Status nicht mit der Geburt
gegeben ist, sondern während des Lebens gewonnen werden kann.“142
•
„Fussballspiele schaffen Raum für Leidenschaft, Besessenheit, Träume, Fantasien und
Sentimentalitäten – vorausgesetzt, man identifiziert sich mit einem bestimmten
Verein. Wo sonst kann man innerhalb kürzester Zeit sämtliche Extreme der
Gefühlsskala zwischen Durchatmen und Entsetzen, Ausgelassenheit und Empörung,
Hoffen und Bangen, Begeisterung und Unmut, Erwartung und Enttäuschung, Freude
und Trauer durchleben?“143
•
„Der Charme eines Bieres in der Hand in der gemütlichen Stadionbeiz, die mit
vergilbten Mannschaftspostern vergangener, glorreicher Zeiten tapeziert ist; das
Wohlbehagen, auf der Stehkurve Freunde anzutreffen, herumzugehen, zu plaudern, zu
fachsimpeln; das tröstliche Wissen, dass noch nicht alles durchrationalisiert ist,
Warteschlangen, die zu Kommunikation einladen.“144
•
Vor, während und nach dem Spiel betritt man eine eigene „soziale Welt“, die von
vielen
gesellschaftlichen
Normen
und
Zwängen
(Höflichkeitszwang,
Rücksichtsmassnahmen) befreit ist. Nimmt man den zivilisationstheoretischen Ansatz
als Grundlage, wird das Stadion zu einem der seltenen Orte, wo die Entfesselung von
141
Bromberger geht sogar so weit, Fussball als „eine – wahrscheinlich die einzig verbliebene – globale und
maskuline Kultur, die von allen verstanden wird und die Verschiedenheit der Regionen, Nationen und
Generationen überwindet“, zu bezeichnen. Siehe dazu: Bromberger, Le match de football, S. 1.
142
Bromberger, Fussball als Weltsicht und Ritual, S. 287.
143
Frischknecht, Fan-Arbeit, S. 4.
144
Brändle, Fabian; Koller, Christian. Goal! Kultur- und Sozialgeschichte des modernen Fussballs. Zürich, 2002,
S. 233.
49
(kollektiven) Emotionen in gewissen Grenzen noch möglich ist. (Von Norbert Elias
stammt der berühmte Ausdruck „Controlled decontrolling of emotions“). 145
•
Das Fansein bietet eine Orientierungsstiftung; die Besetzung des Lebens mit immer
wiederkehrenden Zeremonien, Symbolen, Ritualen. Gerade Jugendliche finden in
einer Kurve oder einem Fanblock Identifikations- und Ausdrucksmittel, an denen sie
sich
orientieren
und
ausleben.
Der
Stadionbesuch
ist
eine
(wöchentlich)
wiederkehrende Gelegenheit zur vorbehaltlosen, entgrenzten Identifikationsäusserung,
sowie Verausgabung von Affekten und dem Erleben von Emotionen, dies kann zu
einer Konstante im Leben führen, an der man sich in schweren oder unruhigen Zeiten
orientieren und festhalten kann.
•
Fansein ist meist auch ein Gemeinschaftserlebnis, in dem es möglich ist, über
schichtspezifische146, religiöse und ethnische Grenzen hinaus, Freundschaften mit
Gleichgesinnten zu pflegen, die im „normalen“ (Alltags)Leben nicht entstanden
wären. Der Besuch eines Fussballspiels kann unter Umständen auch eine integrierende
Funktion haben.
2.13. Zusammenfassung
Während in den Medien und der öffentlichen Wahrnehmung ein vereinfachtes, vom
Gewaltdiskurs dominiertes – und dementsprechend negatives – Bild von Fussballfans
vorherrscht, präsentiert sich die Lage in der wissenschaftlichen Forschung genau
gegensätzlich. Eine Unmenge von verschiedenen wissenschaftlichen Zugängen,147 Analysen
und Definitionen schaffen eher Verwirrung als Transparenz. Hier zeigen sich einmal mehr die
grosse Vielfalt und auch die Dynamik der Fussballfankultur, die aus diversen Gründen nur
schwer fassbar ist:148
145
Siehe dazu: Elias, Norbert. Über den Prozess der Zivilisation, Soziogenetische Untersuchungen, Erster Band,
Wandlungen des Verhaltens in den weltlichen Oberschichten des Abendlandes. Frankfurt am Main, 1976.
146
Ein „Chrampfer“ etwa zählt im Fanblock genauso viel wie ein aufstrebender Jungmanager oder ein Arzt.
147
Soziologische, psychologische, historische, ethnologische, etc.
148
Siehe dazu: Koordinationsstelle Fanprojekte (KOS) bei der deutschen Sportjugend (Hrsg.). Fussball als
Droge? Frankfurt am Main, 2002. S. 61.
50
•
Die
Abgrenzung
zwischen
Fans
und
anderen
fussballinteressierten
Bevölkerungsgruppen verläuft fliessend.
•
Innerhalb der Fanszenen besteht eine grosse Fluktuation, da die Dauer einer typischen
Fankarriere häufig auf wenige Jahre beschränkt ist.
•
Die Fanszene reagiert sensibel auf politische, soziale, wirtschaftliche, historische,
regionale
und
sportimmanente
Einflüsse
und
unterliegt
dynamischen
Veränderungsprozessen.
•
Das soziale Feld Stadion/Kurve, wird von Fans immer wieder neu konstituiert und
kann den Charakter eines Gegenmilieus zur „Welt der Erwachsenen“ besitzen. Eine
organisationssoziologische Bewertung ist unter diesem Gesichtspunkt sehr schwierig.
Die Fussballfankultur ist also stark von vieldeutigen, nicht fixierten und zum Teil auch
gegensätzlichen Prozessen geprägt, die jeder eingeschränkten und reduzierten Interpretation
wehren. Der Begriff Fussballfan umfasst dabei eine solche Vielzahl von Menschen und
verschiedenen Facetten, dass man seiner Bedeutungsvielfalt unmöglich gerecht werden kann.
Trotzdem lassen sich gewisse Aussagen über die Struktur, die Handlungen und das Verhalten
von Fussballfans machen, die zumindest für den deutschsprachigen Raum Gültigkeit besitzen:
-
„Das dominierende, falsche Bild ist das des Gewalttäters, ebenso falsch wie ein
Gegenbild, nach dem jugendliche Fans ausschliesslich die Marginalisierten,
gewissermassen Opfer dieser Gesellschaft seien.“149
-
„Unter organisationssoziologischen Gesichtspunkten hat man es bei Fussballfans mit
einem Kontinuum zwischen locker und hoch strukturierter Gruppenbildung zu tun.
Auf der einen Seite befinden sich die Individualisten, welche sich in Gruppen von
Freunden (Peer-Groups)150 zu einem Spiel verabreden und sich anschliessend bis zum
nächsten Spieltag wieder trennen.151 Auf der anderen Seite der Skala stehen streng
149
Heitmeyer/Peter, Jugendliche Fussballfans, S. 9.
Unter einer „Peer-Group“ wird ein Zusammenschluss aus Menschen, welche in etwa im gleichen Rang,
Status und Alter zueinander stehen, verstanden. Siehe dazu: König, Thomas. Fankultur, Eine soziologische
Studie am Beispiel der Fussballfans. Münster, 2002. S. 46.
151
In diesem Punkt muss ich Thomas König teilweise widersprechen. Ich habe in der Bierkurve die Erfahrung
gemacht, dass so genannte Peer-Groups auch über das Fussballspiel hinaus Bestand haben. Ausserdem haben
150
51
organisierte Fanklubs mit einem Vorsitzenden, einem Kassierer und fixen
Monatsbeiträgen.“152
-
Gerade der Fanblock oder die Fankurve, welche durch allerlei Symbolik und
gemeinsame Aktionen (Gesänge, Choreografien) sich selbst und den anderen
Solidarität und Geschlossenheit zu demonstrieren scheint, besteht in der Tat aus einer
kaum zu überblickenden Vielzahl von Fanclubs, Cliquen, kleineren Freundeskreisen
und Individualisten.
-
Innerhalb der Fussballfanszene gibt es verschiedene (Sub-)Kulturen, die man bis zu
einem gewissen Grad isoliert von den übrigen Fans (Stadionbesuchern) betrachten
muss. Neben der Kuttenträger- und Hooligan-Kultur, erfreut sich in jüngster Zeit
besonders die Ultra-Bewegung grosser Beliebtheit, vor allem bei Jugendlichen.
-
Das Verhalten, wie auch das Handeln von Fussballfans, gerade im Zusammenhang mit
dem Thema Gewalt, sollten immer auch in einen übergeordneten gesellschaftlichen
und historischen Kontext gestellt werden.153 Die im Kapitel 2.9. vorgestellten Modelle
bieten zwar Erklärungsansätze für das „Phänomen“ Fussball und Gewalt, gänzlich
aufklären können sie das komplexe Verhältnis allerdings nicht. Zudem besteht bei
diesen psychologischen und soziologischen Modellen die Gefahr einer Verharmlosung
der Gewalt, weil sie meistens als Reaktion auf etwas angesehen wird. Man darf nicht
übersehen, dass Gewalt durchaus auch gezielte Aktion sein kann, ein Mittel der
Selbstdarstellung und -befriedigung beispielsweise.
-
Die Gewalt ist zwar (leider) das mit Abstand häufigste, aber längst nicht einzige
Beobachtungs- und Bewertungselement in der Erfassung und Analyse von
Fussballfans. Gerade die Studien von Bromberger zeigen eine ganze Reihe von
sich nur in den wenigsten Fällen solche Peer-Groups tatsächlich über den Fussball entwickelt; die meisten sind
schon lange davor entstanden.
152
König, Fankultur, S. 47.
153
So ist zum Beispiel das plötzliche Auftauchen von rechtsextremen und national eingestellten Personen in der
Bierkurve nicht zuletzt darauf zurückzuführen, dass solche Ansichten und Gesinnungen allgemein unter
Jugendlichen in der Region mehr Anklang finden als noch in den Neunzigerjahren. Ihr Auftauchen an den
Spielen hat nur bedingt mit der Fussballfankultur zu tun. Das Fussballspiel ist einfach eine von mehreren
Plattformen, sich öffentlich zu präsentieren. Sind diese Personen in gewalttätige Auseinandersetzungen rund um
ein Fussballspiel involviert, oder fallen sie durch das Skandieren von rassistischen Parolen oder Affenlauten auf,
liegen die Ursachen folglich nicht ausschliesslich in der Fussballfankultur selbst.
52
anderen Zugängen auf: Publikumsaktionen, der lokale Stil, Fan-Rhetorik und der
rituelle Charakter.
-
Fussballfans sind und bleiben immer Individuen.
53
3.
Die Bierkurve und ihre Fans
„Wenn du einfach keine Ahnung hast,
und das erste Mal in diese Kurve reingehst,
dann wirst du sicher einen Schock haben.
Du wirst nie so viel Betrunkene auf einen Haufen sehen,
so viele Beknackte, Psychopaten und sonstige Weichbirnen, die da herumschleichen.
Aber es passt alles. Es passt alles!“
- Kommentar eines Bierkurven-Fans über die Bierkurve
Nachdem das Untersuchungsthema „Fussballfans“ von einer bisher eher theoretischen und
allgemeinen Seite betrachtet wurde, richtet sich der Blick nun konkret und unmittelbar auf die
Mikroebene dieses weitläufigen Untersuchungsfeldes, auf eine einzelne Fankurve und deren
Publikum: die Bierkurve des FC Schaffhausen. Die folgenden Ausführungen und Analysen
verlieren somit den Anspruch auf allgemeine Gültigkeit und beziehen sich einzig und allein
auf die Bierkurve selbst. Es handelt sich bei meiner ethnografischen Studie letztlich um eine
empirische Fallstudie und nicht um eine vergleichende Arbeit.
In diesem dritten Kapitel sollen die Bierkurve und ihre Fans porträtiert werden, um meinem
Untersuchungsfeld ein Gesicht und eine Struktur zu geben. In einem ersten Schritt werden das
Umfeld
rund
um
die
Bierkurve
und
ihre
Entstehung
beleuchtet,
ehe
die
organisationssoziologische Struktur und die soziale Zusammensetzung der Kurve genauer
erörtert werden. Dabei werden drei unterschiedliche Analyseebenen berücksichtigt: die Kurve
als Ganzes, die verschiedenen Gruppierungen und einzelne Individuen, um so ein möglichst
vielseitiges Portrait der Bierkurve zu erhalten.
Im Verlauf meiner ethnografischen Untersuchung über die Schaffhauser Fussball-Fankurve
habe ich mit insgesamt 20 Personen, die in der Kurve verkehren, standardisierte, biografische
Einzelinterviews154 geführt. Um der grossen individuellen Vielfalt innerhalb der Kurve
gerecht zu werden, stelle ich jeden einzelnen Interview-Partner kurz vor. Fünf Personen, die
jeweils eine andere „Rolle“ innerhalb der Bierkurve einnehmen, wird dabei besonders viel
Platz eingeräumt. Sie kommen auch über die Portraits hinaus immer wieder zu Wort und
bereichern so die Ausführungen über die Struktur der Bierkurve und ihre Fans. Es handelt
sich dabei um:
154
Bis auf eine Ausnahme: ein Gruppeninterview mit drei Personen. Diese Methode hat sich allerdings nicht
bewährt, weshalb alle übrigen Interviews einzeln erfolgten.
54
•
Rouven Hauser, 26 (Mitglied des Fanklubs „BKSH“)
•
Livo, 19 (Mitglied der ultra-orientierten Fan-Gruppierung „Abarticus“)155
•
„Bob“, 20 (ebenfalls Mitglied von Abarticus und Capo der Bierkurve)
•
„Brundle“, 36 (seit Anbeginn in der Bierkurve dabei, Urgestein)
•
Jasmin Forster, 23 (weiblicher Bierkurven-Fan; Freundin von Livo)
Beginnen möchte ich das Kapitel jedoch mit einer kurzen Vorstellung des unmittelbaren
Umfeldes der Bierkurve: der Stadt Schaffhausen und des Fussballvereins FC Schaffhausen.
3.1.
Die Stadt Schaffhausen und der FC Schaffhausen
Schaffhausen hat sich den letzten Jahren immer mehr zu einer eigentlichen Sportstadt
entwickelt. Der vorläufige Höhepunkt dieser Entwicklung bildete der Double-Gewinn der
Kadetten Schaffhausen (Handball) im Jahre 2005. Aber auch in anderen Sportarten gehören
Vereine aus der Munotstadt zur eidgenössischen Speerspitze, beispielsweise im Volleyball
(Kanti Schaffhausen, Damen), Tischtennis (TTC Neuhausen, Damen und Herren) oder auch
im Wasserball (SC Schaffhausen, Herren; Meister 2004, 2005). Der Fussball – und damit
auch der FC Schaffhausen – geniesst in der Region Schaffhausen einen durchaus hohen
Stellenwert, muss sich aber sowohl die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit, wie auch
diejenige der Sponsoren, mit den eben genannten Mannschaften teilen. In diesem Sinne ist
Schaffhausen156 eher Sport- als Fussballstadt. Dies drückt sich auch im Zuschauerinteresse
aus: In der Saison 2004/2005 besuchten durchschnittlich 3483 Zuschauer157 die Heimspiele
des FC Schaffhausen, der allerdings bis vor gut zwei Jahren, über 40 Jahre hinweg, nur
unterklassig gespielt hat.
155
Ich verwende Pseudonyme für alle Abarticus-Mitglieder. Die richtigen Namen sind mir bekannt; werden aber
Im Kanton wohnen insgesamt 73`900 Einwohner (2004), 34`600 davon in der Stadt Schaffhausen. Siehe
dazu: http://de.wikipedia.org/wiki/Schaffhausen.
157
Damit wies der FC Schaffhausen letzte Saison den tiefsten Zuschauerschnitt von allen Super-League
Mannschaften auf. Diese Zahl muss aber relativiert werden, da die Zuschauerzahlen im ersten Jahr nach dem
Aufstieg mehr als verdreifacht werden konnten (995 in der Saison 2003/2004; 899 in der Saison 2002/2003). In
der laufenden Saison kommt der FCS nach neun absolvierten Heimspielen auf einen Schnitt von 3457
Zuschauern und liegt damit an zweitletzter Stelle, vor Xamax Neuchâtel. (Die müssen ihre Heimspiele auf Grund
eines Stadionneubaues allerdings in La Chaux-de-Fonds austragen). Siehe zu den Statistiken:
http://www.top11.ch/action.lasso?-nothing&-token.us=Win.IE.4&-token=A.top11.hp.593&-response=s.html
156
55
3.1.1. Geschichte des FC Schaffhausen158
Der FC Schaffhausen wurde 1886 als „Football-Club Victoria“ gegründet und zählt heute zu
den ältesten noch aktiven Klubs im Schweizer Fussball. In der über hundertjährigen
Vereinsgeschichte hat es das Fanionteam des FC Schaffhausen verstanden, sich als feste
Grösse in der Nationalliga B (NLB),159 der zweithöchsten Spielklasse im Schweizer Fussball,
zu etablieren. Nicht weniger als 54 Saisons gehörte der FCS dieser Spielklasse an.
Mitte der Fünfzigerjahre und zu Beginn der Sechzigerjahre spielte der FCS für insgesamt vier
Saisons in der höchsten Spielklasse (NLA),160 konnte sich dort allerdings nicht durchsetzen.
Nach einem zwischenzeitlichen Absturz in die vierthöchste Spielklasse (2. Liga), gelang zu
Beginn der Achtzigerjahre der Wiederaufstieg in die NLB, wo sich der FCS seither (mit
einem kurzen Unterbruch zwischen 1999-2001, als der FCS in die 1. Liga abgestiegen war)
regelrecht eingenistet hat. Das Prädikat „typischer NLB-Klub“ trifft wohl auf keinen anderen
Verein im Schweizer Fussball besser zu.
Nach dem Wiederaufstieg in die NLB im Jahre 2002 gelang es dem FC Schaffhausen
erstaunlich schnell, sich in der zweithöchsten Spielklasse zu etablieren, und schon bald lag der
Verein im oberen Tabellendrittel. Unter dem deutschen Trainer Jürgen Seeberger spielte die
Mannschaft einen eher defensivlastigen, aber durchaus erfolgreichen, Fussball. Die Saison
2002/2003 wurde im hervorragenden 6. Qualifikationsrang beendet. Ziemlich überraschend
schaffte der FCS in der darauf folgenden Spielzeit die Sensation: den Aufstieg in die Axpo
Super League. Wieder war es die starke Defensive, die den Ausschlag für den Erfolg gab; mit
dem Stürmer und Goalgetter Fransisco Neri aus Brasilien stand aber auch die überragende
Offensivkraft der Liga in den Reihen der Schaffhauser. Die ausgeglichen besetzte und
kämpferisch starke Mannschaft konnte schliesslich in einem dramatischen Finish den Coup
perfekt machen.161
158
Über die Geschichte des FC Schaffhausen gibt es eine Publikation: Meister, Alfred. 100 Jahre FC
Schaffhausen 1896 – 1996. Schaffhausen, 1996. (Das Buch ist ausleihbar über: http://www.stadtarchivschaffhausen.ch/ Bibliothek/Autoren_m.htm)
159
Seit einigen Jahren heisst die NLB Challenge-League. Viele Fans verwenden jedoch noch immer die
traditionelle Bezeichnung NLB.
160
Die Nationalliga A wurde mittlerweile in Axpo-Super-League umbenannt. Auch diese Umbenennung
beziehungsweise dieser Verkauf des ursprünglichen Namens an ein Unternehmen (Axpo) stiess bei vielen
traditionsbewussten Fans auf Abneigung, doch so langsam setzt sich der Name Axpo-Super-League durch.
161
Im zweitletzten Saisonspiel gegen den direkten Verfolger Chiasso lag der FCS vor 4300 Fans auf der Breite
zur Halbzeitpause bereits mit 0:2 hinten, ehe Mittelfeldspieler Daniel Senn in der 92. Minute das entscheidende
3:2 gelang und damit den Aufstieg perfekt machte.
Die jüngste Geschichte des Vereins fiel grösstenteils in meinen Untersuchungszeitraum und wird vor allem im
vierten Kapitel genauer verfolgt.
56
Die erste Saison (2004/2004) in der höchsten Spielklasse beendete der FCS mit praktisch
unverändertem Kader auf dem neunten Rang. Spielerisch waren die Schaffhauser allen
anderen Mannschaften teilweise klar unterlegen, doch mit immensem Kampfgeist und viel
Wille hätten sie Aarau in der Schlussphase der Meisterschaft beinahe noch abgefangen. So
mussten sie schliesslich in die Barrage und gegen den zweitplatzierten der Challenge-League,
den FC Vaduz, um den Verbleib in der Super-League kämpfen. Nach einem enttäuschenden
1:1 im Heimspiel genügte den Munotstädtern ein eher glückliches 0:1 in Liechtenstein, um
die Klasse in extremis zu halten. Die neue Saison (2005/2006) wurde mit viel Elan und neuem
Personal in Angriff genommen, doch nach sieben Meisterschaftsrunden riss der Faden, der
FCS rutschte in eine tiefe Krise (nur einen Punkt aus den nachfolgenden 10 Spielen) und liegt
nach 19 gespielten Runden mit 16 Punkten auf dem letzten Tabellenrang, drei Punkte vom
rettenden achten Platz entfernt.
Die grössten Erfolge erreichte der Verein aus der Munotstadt jeweils im Schweizer Cup, was
der Mannschaft den berechtigten Ruf eines „Cupschrecks“ eingebracht hat. 1988 stand der
FCS, wie auch 1994 wieder, sensationell im Cupfinale. Beide Spiele gingen in Bern gegen die
übermächtigen „Grasshoppers“ (GC) aus Zürich verloren (0:2 und 0:4). In der Saison
2002/2003 folgte dann ein weiteres „Cuphighlight“: das Cuphalbfinale gegen die
Übermannschaft aus Basel. Mehr als 3000 begeisterte FCS-Anhänger pilgerten damals nach
Basel in die Festung „St.-Jakobs-Park“ und wurden Zeugen einer ehrenvollen 0:3 Schlappe,
bei der die letzten beiden Treffer erst in der Nachspielzeit fielen.
57
3.1.2
Das Stadion Breite
Kapazität: 7300 Zuschauer
Spielfeldmasse: 104 m x 69 m (Länge mal Breite)
Vier Eingänge, elf Kassen
Das Kleinstadion Breite, benannt nach dem Wohnquartier, in dem es steht, wurde am
13. August 1950 eingeweiht und hat sich seither in den Grundzügen nicht gross verändert.
Erst mit dem überraschenden Aufstieg in die Axpo-Super-League im Jahre 2004 wurden
grundlegende und vom Verband dringend geforderte Veränderungen vorgenommen. Eine
neue Flutlichtanlage wurde installiert, um die Übertragung von Heimspielen im Fernsehen
gewährleisten zu können; die seit jeher bestehende und überdachte Haupttribüne wurde mit
der so genannten Amag-Tribüne in der Ostkurve des Stadions ergänzt, die ebenfalls überdeckt
ist. Ausserdem wurde die IWC-Lounge für geladene Gäste und VIP`s ins Leben gerufen.
Trotz all dieser Renovationen und Anstrengungen entspricht das Breite-Stadion in seiner
jetzigen Form den Anforderungen eines Super-League-Stadions nicht.162
162
Das Breite-Stadion zählt zu den kleinsten und ältesten Stadien der Liga und bietet im Gegensatz zu modernen
Stadien wie in Basel oder Bern überwiegend Stehplätze an. Spätestens am 30. Juni 2007 könnte sich das Stadion
Breite als schwere Bürde für den Verein erweisen. Bis dahin fordert der Schweizer Fussballverband (SFV)
nämlich die Vorlegung eines baureifen Projektes für ein Super-League-taugliches Stadion. Sollte der FC
Schaffhausen dieser Auflage des Verbandes nicht nachkommen, droht der Zwangsabstieg in die ChallengeLeague.
Die Planung eines neuen Stadion-Projektes in Schaffhausen kommt nur sehr langsam in Fahrt. Es herrscht bei
den entsprechenden Gremien (Verein, Stadtrat Schaffhausen) noch nicht einmal Gewissheit über den
zukünftigen Standort des Stadions. In Frage kommen eine Sanierung des Breite-Stadions im gleichnamigen
Wohnquartier, oder die Verlegung des Standortes an die Peripherie der Stadt, ins Herblingertal. Noch ist völlig
58
Das gesamte Fassungsvermögen des Stadions Breite beträgt 7300 Zuschauer.163 Grundsätzlich
gibt es drei verschiedene Sektoren: Sektor 1 umfasst ausschliesslich Stehplätze auf der
Nordgeraden und der Ostkurve, die auch als Bierkurve bekannt ist; Sektor 2 umfasst sowohl
Stehplätze (Teile der Ostkurve und Südgerade) als auch die Haupttribüne und die AmagTribüne; Sektor 3 ist schliesslich der Gästesektor und besteht ebenfalls ausschliesslich aus
Stehplätzen.
Seit dem Aufstieg in die Axpo-Super-League 2004 hat sich nicht nur am Stadion, sondern
auch im Stadion, sehr viel verändert. Wie bereits erwähnt, konnte der Zuschauerschnitt bei
Heimspielen mehr als verdreifacht werden. Wobei dieser Anstieg sowohl bei den Heim- wie
auch (besonders drastisch) bei den Auswärtsfans, zu verzeichnen ist.164 Die Zuschauer
verteilen sich dabei relativ gleichmässig um den ganzen Platz herum. Die grössten FanAnsammlungen finden sich jedoch traditionell in den Kurven hinter den beiden Toren. Die
Westkurve wird den „gegnerischen“ Fans überlassen, die je nach Verein und dessen Distanz
zu Schaffhausen mehr oder weniger zahlreich erscheinen. Die Ostkurve hingegen ist fest in
Schaffhauser Hand; es ist die Heimat der Bierkurve und damit auch die Heimat dieser Arbeit.
Auch wenn die Bierkurve im Zentrum dieser Arbeit steht, darf nicht vergessen werden, dass
sie nur einen begrenzten Ort und nur einen sozialen Raum innerhalb des Stadions Breite
darstellt. Daneben gibt es eine Reihe weiterer begrenzter Orte und sozialer Räume, die von
einer ganz anderen Fan-Struktur und einem anderen Fan-Verhalten geprägt werden, und damit
andere Bedürfnisse befriedigen. Auf der Haupttribüne wird das Spielgeschehen anders (und
mit Sicherheit gesitteter) kommentiert, ein Tor für den FCS weniger lautstark und frenetisch
bejubelt als in der Bierkurve. Aus der IWC-Lounge kommen keine halbvollen Bierbecher aufs
Spielfeld geflogen und der Schiedsrichter wird auch nicht kollektiv als Arschloch tituliert und
beschimpft. Auf der Amag-Tribüne mögen wohl „Hinz und Kunz“ sitzen, Jugendliche wird
man dort nur vereinzelt finden. Bromberger hat das Stadion in diesem Sinne als „einen
einzigartigen Ort (…), wo man – selbst beobachtet werdend – die Bestätigung eines
offen, wo das neue Stadion stehen wird und ob es überhaupt zu einer Realisierung eines Projektes kommt.
Gerade die SFV-Auflage, dass ein Stadion mindestens 10`000 Plätze bieten muss, macht in Schaffhausen – mit
einem Zuschauerschnitt von knapp 3500 Zuschauern – wenig Sinn.
163
1028 gedeckte Sitzplätze; 262 ungedeckte Sitzplätze; 6010 ungedeckte Stehplätze.
164
Ein Gegner wie Meyrin oder Wohlen brachte oftmals nur eine Handvoll (wenn überhaupt) Auswärtsfans ins
Breite-Stadion mit. In der Axpo-Super-League kommen selbst von so genannt „kleinen“ Vereinen wie Neuchatel
Xamax oder Yverdon-Sports mehrere Dutzend.
Noch grösser ist diese Diskrepanz in der medialen Berichterstattung. Während die Challenge-League-Spiele in
den nationalen Medien nur Randspalten füllen, wird den Spielen der Super-League grosse Aufmerksamkeit
geschenkt. (Nicht umsonst heisst es nicht nur scherzhaft, der FC Schaffhausen sei der beste Werbeträger für die
Region).
59
gemeinschaftlichen und gemeinsamen Gefühls, das die lebensweltlichen, berufsbedingten und
ethnischen Unterschiede aufgezeigt bekommt“, bezeichnet.165
Meine Studie über die Bierkurve und ihre Fans bleibt in ihrer Aussage und Analyse also auf
diese beschränkt und darf nicht auf die übrigen Stadionbereiche und -besucher des BreiteStadions übertragen werden.
Das Breite-Stadion:166 Blick auf die Haupttribüne und die zahlreichen Stehplätze der
Südgeraden.
3.2.
Die Bierkurve
In unserer Proseminararbeit, die während der Zeit, als der FCS in der Challenge-League
spielte, entstanden ist, haben mein Kommilitone Fabian Meier und ich die Bierkurve noch als
Fanklub bezeichnet.167 Diese Bezeichnung war allerdings schon damals nicht ganz korrekt,
handelte es sich doch vielmehr um eine sehr lose Gemeinschaft von Fans, die sich an einem
ganz bestimmten Ort in der Ostkurve (von hinter dem Tor bis etwa zur nordwestlichen
165
Bromberger, le match de football, S. 13.
Foto gefunden auf: http://www.fcschaffhausen.ch/d/stadion/index.php?select=stadion, 9.1.2006
167
Siehe dazu: Meier, Fabian; Jirát, Jan. Fussballfans, Die Bierkurve im Portrait. (Proseminararbeit am
Volkskundlichen Seminar Zürich). Zürich, 2004. S. 23.
166
60
Eckfahne) versammelte und lautstark den FCS unterstützte. Diese lose und damals noch
überschaubare Fangemeinschaft nannte sich seit längerer Zeit „Bierkurve“. Einen eigentlichen
Fanklub168 gab es in der Bierkurve nicht, einzelne Gruppierungen169 waren damals erst im
Entstehen begriffen und eine grundlegende Struktur war nur im Ansatz vorhanden. Seit dem
Aufstieg vor gut eineinhalb Jahren hat sich die Bierkurve sehr stark verändert und
weiterentwickelt, sie hat jetzt ein ganz anderes Gesicht und viel mehr Masse als im
Frühling 2004.
Blick auf die Bierkurve: Heimspiel gegen Aarau am 4.5.2005.170
- ganz rechts ist der Bierstand zu erkennen, im Hintergrund die Amag-Tribüne
168
Der einzig wirklich offizielle Fanklub des FCS befindet sich– etwa auf Höhe der Mittellinie – in der
Nordgeraden und nennt sich „Fair-Fanklub“. Der „FFC“ wurde im Oktober 1990 gegründet und hat sich seit
jeher von „Gewalt und Rowdytum“ distanziert. Der Klub besteht in erster Linie aus älteren, sehr treuen FCSFans. Ausgestattet mit Pauken und Kuhglocken produziert das knappe Dutzend Mitglieder des „FFC“ einen
gewissen Lärm, steht in dieser Hinsicht aber ganz klar im Schatten der Bierkurve. Der FFC sieht sich aber nicht
in Konkurrenz zur Bierkurve, sondern vielmehr als Alternative dazu. Siehe auch: www.ffcschaffhausen.ch.
169
Der Name „Abarticus“ etwa fiel nur ganz kurz in einem Interview mit Simon Stocker, der von einer Gruppe
sprach, „die noch fanatischer drauf ist, als der Rest der Bierkurve“.
170
Alle in der Folge verwendeten Fotos sind der Homepage www.bierkurve.com entnommen.
61
3.2.1.
Geschichte der Kurve
Es hat sich als erstaunlich schwierig herausgestellt, etwas über die Entstehung der Bierkurve
herauszufinden. Offenbar gab es keine offizielle Taufe oder ein Schlüsselerlebnis, auf das die
Gründung der Bierkurve zurückzuführen ist, zumindest kann sich niemand mehr daran
erinnern. Diese Unsicherheit und Lückenhaftigkeit drückt sich auch sehr stark in den
Schilderungen der Fans über die Entstehung der Bierkurve aus; man hört allerlei Geschichten
und Ausführungen, die eher ins Reich der Legenden und Mythen gehören, als dass sie der
Realität entsprechen würden. Aus den Aussagen von Fans, die seit langen Jahren die Spiele
des FCS besuchen, wird dennoch ungefähr ersichtlich, wie die Bierkurve entstanden sein
muss:
„Ich muss ganz ehrlich sagen, dass ich nicht mehr weiss, wer die Idee hatte mit dem Namen
„Bierkurve“. Aber ich weiss ziemlich genau, wann der „Groove“ der Bierkurve entstanden
ist. Das muss so vier, fünf Jahre vor dem Abstieg in die erste Liga (im Jahr 2000) gewesen
sein. (…) Zu Beginn der Neunzigerjahre ist einfach sportlich nichts passiert, man hat immer
wieder den Aufstieg in die NLA verpasst. Es kamen auch immer weniger Leute an die Spiele.
Und dann gab es einmal ein Spiel, ein ziemlicher „Rüttler“,171 gegen Tuggen oder so. Ich
kann mich noch erinnern. Da habe ich ein paar Typen angesprochen, die ich nur vom Sehen
her kannte: „Hey, ich sehe euch immer an den Spielen.“ Das war schon zwei, drei Jahre so.
Dann haben wir uns halt unterhalten und gefunden, dass es extrem langweilig sei in
Schaffhausen und haben beschlossen, dass mal etwas gehen müsste. Ab da haben wir
begonnen, zusammenzustehen. Wir waren überhaupt nicht viele Leute, so sechs, sieben Leute,
vielleicht mal acht. Wir haben dann damit angefangen zu fanen, Hopp Schaffhausen zu rufen
und so. Aber wer die Idee hatte mit dem Namen Bierkurve, das weiss ich nicht mehr. Der
Name ist einfach einmal gefallen, von wem auch immer, und Bier haben wir sowieso immer
getrunken. Und ja, so ist das passiert. Und weil wir immer am Fanen waren, sind mit der Zeit
die Leute zu uns gestanden, plötzlich waren es 15, dann 20 Leute. Und so hat es begonnen.“
(Aussage von „Brundle“; FCS-Fan seit seiner Kindheit)
„Die Bierkurve hat sich einfach irgendwann entwickelt, ich weiss nicht. Das war so im 96/97,
da hat sie sich zu entwickeln begonnen. Am Anfang waren es zwei, drei Leute, und dann
immer mehr. (...) Zu Beginn sass ich noch dort, wo der Fair-Fan-Club war, weil da noch am
171
Ein „Rüttler“ bedeutet im Fussball-Fachjargon ein von der spielerischen Qualität her schlechtes Spiel mit
wenigen Torszenen.
62
meisten abging, aber dann habe ich einfach gemerkt, dass beim Fair-Fan-Club ein bisschen
getrommelt wurde und Hopp Schaffhuuse gerufen, mehr nicht, und in der Bierkurve ist es halt
schon mehr abgegangen. Es gab mehr Gesänge, mehr Emotionen. Dann bin auch da hin
gestanden.“ (Aussage von „Bob“, FCS-Fan seit dem Cupfinal 1994)
Die Bierkurve ist also kaum in der Absicht gegründet worden, eine richtige Schaffhauser
Fankurve aus dem Boden zu stampfen. Ihre Entstehung war vielmehr eine Reaktion auf die
leblose Stimmung Mitte der Neunzigerjahre im Breite-Stadion,172 die schliesslich zu ersten
Kontakten unter Fans geführt hat, die bereit waren, diesen Umstand zu ändern.
Noch unklarer und undurchsichtiger ist die Entstehung des Namens Bierkurve selbst. Die
häufigste und gängigste Erklärung führt den Namen auf den Bierstand zurück, der in der
Ostkurve steht. Das (Falken-)Bier173 war und ist aber auch das unumstritten meistkonsumierte
und heiss- (beziehungsweise kalt-) geliebte Getränk in der Bierkurve. „Die naheliegendste
Interpretation ist natürlich, weil Bier gesoffen wird. Das ist nach wie vor so. Eine andere
Erklärung ist vielleicht, weil immer so viele Bierbecher auf das Spielfeld geschmissen werden.
Das sieht man in anderen Stadien gar nicht. Das verstehen die anderen Fans auch nicht, die
saufen ihr Bier nämlich lieber, als es auf den Platz zu werfen. Eine andere Interpretation ist
auch, dass man halt immer so viel Bier trinken muss, weil Schaffhausen so schlecht spielt.
Aber ursprünglich kommt der Name schon daher, weil man zusammengestanden ist und Bier
getrunken hat.“ (wieder „Brundle“)
Fest steht jedenfalls, dass die Bierkurve aus einem sehr kleinen Umfeld heraus entstanden ist,
und sich mangels Alternativen rasch zu einem Treffpunkt für begeisterungsfähige und
lautstarke Fans etabliert hat.
Erstaunlicherweise bedeutete der Abstieg in die erste Liga aber nicht das Ende dieser
aufkommenden Fan-Kultur, vielmehr löste er eine Art Trotzreaktion, getreu dem Motto „Jetzt
erst recht!“ aus. In den zwei Jahren in der ersten Liga verfestigten sich die vorhandenen
Strukturen, zum festen Kern gesellten sich neue, interessierte Leute, statt zehn bis fünfzehn
„Knochen“ standen damals plötzlich 20, 30 Leute zusammen und feuerten den FCS lautstark
an. Auch „Bob“, der heute Mitglied von Abarticus und sogar Capo der Kurve ist, erinnert sich
172
Stellvertretend dazu ein Kommentar von Brundle: „Es gab zu diesem Zeitpunkt wirklich überhaupt nichts.
Das war so fünf, sechs Jahre vor dem Abstieg in die erste Liga. Es war absolut tote Hose. 500-600 Zuschauer in
der NLB!“
173
Die Brauerei Falken aus Schaffhausen (1799 gegründet) ist sehr stark in der Region verankert und wird nicht
nur in den Reihen der Bierkurven-Fans bevorzugt genossen. Die Brauerei ist einer der wenigen (noch)
unabhängigen mittelgrossen Betriebe in der nationalen Branche. Wie wichtig die Rolle des Falkenbier für die
Bierkurve ist, wird u.a. im Kapitel 3.4.1. „Alkohol und Bier“ offensichtlich.
63
gerne an diese Zeiten zurück: „Als der Abstieg dann feststand, war niemand gross traurig.
Wir haben dann gefunden, kommt!, jetzt halten wir zusammen. (…) Und wir haben das
gemeinsam durchgemacht, haben ein paar ganz kultige Spiele erlebt, was uns schon ziemlich
zusammengeschweisst hat. Durch die erste Liga sind ja auch erst die Fahrten an die
Auswärtsspiele entstanden. Zuvor war jeder noch individuell nach Winterthur oder was weiss
ich wohin gefahren, da hat jeder selbst geschaut. Und dann in der ersten Liga haben wir uns
gesagt: Wir sind ja immer die gleichen paar Leute, die an die Spiele gehen, da können wir
doch gemeinsam gehen. So hat das begonnen mit einem Kleinbus oder mit dem Zug.“
Nach dem Wiederaufstieg in die NLB im Sommer 2002 blieb die Bierkurve zunächst familiär,
überschaubar und durchwegs unorganisiert; gemeinsame Aktionen wurden ziemlich spontan
geplant und ausgeführt. Dennoch wurde die Kurve immer grösser, der Name Bierkurve war
plötzlich vielen Menschen im Stadion, sowie in der Region Schaffhausen ein Begriff und vor
allem jüngere FCS-Fans schlossen sich vermehrt den Bierkurven-Fans an. Als absoluter
Höhepunkt dieser Zeit – neben dem Aufstieg in die Super-League – darf das Cup-HalbfinalSpiel gegen das grosse Basel im St.-Jakobs-Park angesehen werden, zu dem über 3000 (!)
Fans aus Schaffhausen ans Rheinknie „pilgerten“. Der Name „Bierkurve“ stand damals auf
mehreren Transparenten geschrieben und rückte damit erstmal ins Blickfeld der nationalen
Fussballfanszene.
Die Bierkurve wies also bereits zu Challenge-League-Zeiten ein ziemliches Wachstum auf
und vergrösserte sich ständig, an wichtigen Spielen oder im Cup standen schon einmal weit
über hundert Personen in der Kurve. Mit dem etwas überraschenden Aufstieg hat sich die
Bierkurve dann endgültig verwandelt: „(…) auch in den Medien waren jetzt der FCS und die
Stadt plötzlich ein Thema, ich arbeite ja in Zürich, und da haben sie sich plötzlich für
Schaffhausen interessiert. Also das war etwas sehr Positives, eine grosse Freude auch“, sagt
Jasmin über die ersten Erfahrungen nach dem Aufstieg, doch es gab durchaus auch weniger
positive Aspekte. „Es ist natürlich klar, dass durch den Aufstieg alles grösser geworden ist.
Es hat viel mehr Leute in der Kurve gegeben und dadurch auch automatisch viel mehr
Chaoten. Aber da kommt man halt nicht drum herum. Ich denke, es brauchte eine gewisse
Zeit, bis man sich aneinander gewöhnt hat, vielleicht auch ein paar Vorfälle, die sein
mussten, auch vom FCS aus, auch mit Stadionverboten. Aber ich denke, die Leute wissen nun
besser, wie sie miteinander umgehen müssen und sollen. Die Kurve wächst in sich selbst und
sie gesundet sich auch bis zu einem gewissen Grad selbst“, meint Rouven, ebenfalls ein
Bierkurven-Urgestein zur neueren Entwicklung innerhalb der Kurve. Livo, Mitglied der ultra64
orientierten Fan-Gruppierung „Abarticus“ sieht die Entwicklung vor allem positiv: „Sie hat
sich extrem entwickelt. Also gerade heute habe ich wieder Bilder angeschaut und den
Vergleich gemacht zwischen der NLB und der NLA; zuvor bestand die Bierkurve aus
vielleicht 50 Leuten und es war lange nicht so organisiert. Mittlerweile ist das Ganze sehr viel
organisierter gestaltet, man hat Gruppierungen, klare Aufteilungen. Das ist auch nötig
gewesen, weil man nur so gute Aktionen machen kann. Heute ist einfach alles viel
organisierter und gestylter gemacht, finde ich. Also gegenüber der NLB.“
Tatsächlich ist die Bierkurve viel grösser und organisierter geworden und damit auch lauter,
farbiger und vielfältiger. Nicht alle jedoch begrüssen diese Entwicklung der Bierkurve, denn
gleichzeitig ist sie auch jünger und unüberschaubarer geworden; die einst familiäre
Atmosphäre ging mehr und mehr verloren. Trotz dieser Veränderungen in der Kurve sind die
Fans sehr glücklich mit der Tatsache, dass der FC Schaffhausen jetzt in der Super-League
spielt.174 Vor die Wahl gestellt, ob sie lieber in der Super- oder in der Challenge-League
seien, antworteten ohne Ausnahme alle Bierkurven-Fans mit Super-League.
Bereits in diesem kurzen Ausschnitt über die bisherige Entwicklung und Geschichte der
Bierkurve wird eine Tatsache deutlich, die sich während der gesamten Untersuchung immer
wieder gezeigt hat: Die Bierkurve ist kein statisches Konstrukt, sondern ganz
unterschiedlichen Veränderungen und Einflüssen unterworfen, die sich immer bemerkbar
machen.
3.3.
Die Struktur der Bierkurve
Die Struktur der Bierkurve weist mittlerweile zwar ein einigermassen stabiles Gerüst auf, ist
aber, wie der Blick in die Geschichte der Kurve aufzeigt, keineswegs statisch. Alleine
während meiner gut achtmonatigen Untersuchungszeit ist es zu zahlreichen kleineren und
grösseren strukturellen Veränderungen innerhalb der Bierkurve gekommen. Die im Folgenden
dargelegten Beschreibungen von „sozialen“ Strukturen, einzelnen Gruppierungen und
Individuen innerhalb der Bierkurve können deshalb nur als Momentaufnahmen betrachtet
werden.
174
„NLA. Ganz klar. Vom ganzen Umfeld her und vor allem von den Spielen her. Ich sehe die Vorzüge der NLB
natürlich auch. Da herrschte fast schon eine familiäre Atmosphäre, wir waren die gleichen 15-20 Leute, alles
hatte einen sehr persönlichen Charakter. Das ist jetzt natürlich nicht mehr so, aber zu Gunsten eines bessern
Spiels. (…) Wir hatten früher eine Riesenparty mit zehn Leuten, da war der Support genial, aber es hatte einfach
nicht den gleichen Effekt, da stand keine Wand hinter dem Tor“, meint etwa Brundle dazu.
65
Zurzeit bewegen sich, je nach Gegner, Jahreszeit und Tabellenposition des FCS, zwischen
120 bis 600 Personen in der Bierkurve.175
3.3.1.
Der BKSH-Verein
Der BKSH176-Verein ist der einzige so genannte Fanklub,177 der auch in der Bierkurve steht.
Der Verein ist als Reaktion auf negative Vorfälle an einem GC-Auswärtsspiel178 entstanden
und hat sich zum Ziel gesetzt, sichere Auswärtsfahrten zu garantieren. Der BKSH-Verein ist
hauptsächlich zuständig für die Organisation von Car-Fahrten179 an Auswärtsspiele. Als
Mitglied bezahlt man einen bestimmten Beitrag, erhält im Gegenzug aber Vergünstigungen
auf eben diese Car-Fahrten und das Recht, die vereinseigenen Fanartikel vergünstigt zu
kaufen. Der Verein besteht momentan aus etwa 15 Aktivmitgliedern sowie fünf
Passivmitgliedern, und ist mehr oder weniger ein Zusammenschluss von guten Kollegen und
Kolleginnen. Die Mitgliedschaft ist für alle interessierten Personen möglich. Fast die Hälfte
der Mitglieder ist weiblich, das durchschnittliche Alter der Mitglieder liegt zwischen 25 und
30 Jahren, die grosse Mehrheit ist berufstätig und die meisten sind schon seit längerer Zeit
aktiv in der Bierkurve. Das Gewaltpotenzial des BKSH-Vereins ist als äusserst gering
einzuschätzen.
Die Gründung des „Bierkurven-Vereins“ stiess nicht bei allen alteingesessenen Fans der
Kurve auf Anklang. „Ich finde es einfach komisch, dass die Bierkurve, die ja einen ganz
bestimmten Ort im Stadion beschreibt, plötzlich zu einem Verein wird, und gerade diese lose
Struktur, dieser wild zusammen gewürfelte Haufen war ja irgendwie unser Markenzeichen.
Aber ich sehe schon ein, dass dies in der NLA wohl nicht mehr möglich ist“, meint ein
langjähriger Bierkurven-Fan zur Gründung des BKSH-Vereins. Wieder andere wünschen sich
175
Ein renommierter Gegner wie der FC Basel oder der FC Zürich lockt mehr Zuschauer ins Stadion, als etwa
Yverdon-Sports oder der FC Aarau, ausserdem kann es im Spätherbst und Winter sehr kühl im Stadion werden;
gleichzeitig sind weite Teile des Stadions nicht abgedeckt, man ist der Witterung praktisch schutzlos ausgesetzt.
(Zum Zeitpunkt der früheren Untersuchung über die Bierkurve, als der FCS noch in der Challenge-League
spielte, waren es zwischen 50 und 200 Personen, die in der Kurve verkehrten).
176
Abkürzung für Bierkurve Schaffhausen.
177
Der BKSH-Verein ist insofern ein Fanklub im eigentlichen Sinne, als dass er über klar definierte Statuten,
einen Vorstand und festgelegte Mitgliederbeiträge verfügt. Zu einer Mitgliedschaft gehört, wie es mittlerweile
bei Fanklubs üblich ist, eine Gewaltverzichtserklärung. Siehe dazu: http://www.thailandtrip.ch/bksh/index2.html
178
Nach dem Spiel vom 8.8.2004, wurden die Fans des FC Schaffhausen von so genannten C-Fans der
Grasshoppers Zürich angegriffen und verfolgt. Die meisten FCS-Anhänger kamen mit dem Schrecken davon,
einige wurden jedoch tätlich angegriffen und erlitten leichte Verletzungen.
179
Der Vorteil von Car-Fahrten ist, dass man direkt vor den Stadioneingang fahren kann. Wegen den getrennten
Fan-Sektoren kommt es zu keinem Aufeinandertreffen der beiden Fan-Lager.
66
eine klarere Abgrenzung von der ultra-orientierten Fan-Gruppierung „Abarticus“ ,180 mit der
sich ein gewisser Teil der Kurve nicht identifizieren kann. Grundsätzlich geniessen aber
sowohl der Verein wie auch die einzelnen Mitglieder innerhalb der Kurve ein hohes Ansehen,
gerade weil viele Leute dabei sind, die auch in den „schweren“ Zeiten (Abstieg 1. Liga, zwei
Saisons Challenge-League) dabei waren und dem Verein stets die Treue gehalten haben.
Der BKSH-Verein unterstützt die auf diesem Gebiet äusserst aktive Fan-Gruppierung
Abarticus (AP) vor allem finanziell bei der Ausführung von Choreografien; die wenigsten
Mitglieder packen beim Basteln aber selbst an. Der Draht zu den Vereinsverantwortlichen des
FC Schaffhausen und auch zu den Spielern ist sehr gut, nicht zuletzt weil sich der Verein ganz
klar von Gewalt distanziert und sich aus der Pyro-Diskussion grösstenteils heraushält. Das
Vorstandsmitglied Rouven Hauser181 ist sogar offizieller Fanbetreuer des FC Schaffhausen
und in dieser Funktion das wichtigste Bindeglied zwischen den Fans und dem Klub.
Eine weitere sehr wichtige Funktion für die gesamte Bierkurve hat die offizielle Homepage
des BKSH-Vereins.182 Neben dem Verkauf von Fanartikeln, der Übersicht zu den
Fangesängen und der Bildergalerie, die nach jedem Spiel aktualisiert wird, übernimmt das
Forum der Homepage zwei zentrale Aufgaben für die Kurve: Es ist sowohl die wichtigste
Diskussions- wie auch Informationsplattform.
3.3.1.1. Mitglieder des BKSH-Vereins
•
Rouven Hauser183 ist 26 Jahre alt, Schweizer, wohnhaft in Schaffhausen und arbeitet
bei der Schaffhauser Kantonalbank im Kreditbereich. Seine politische Einstellung ist
Mitte-rechts. Eigentlich kommt Rouven aus einer Handballer-Familie, er hat selbst
zwölf Jahre für einen Verein gespielt, doch über die beiden Cupfinals (1988 und 1994)
ist er schliesslich im Breite-Stadion und beim FC Schaffhausen gelandet. Rouven ist
auch über den FCS hinaus, sehr am Fussballgeschehen interessiert (Bundesliga,
Champions-League) und nebenbei auch ein grosser Fan der Schweizer FussballNationalmannschaft.184
180
Die Fan-Gruppierung „Abarticus“ wird im nächsten Kapitel, 3.3.2., näher vorgestellt.
Wird im Kapitel 3.3.1.1 „Mitglieder“ näher vorgestellt.
182
www.bierkurve.com
183
Das Interview mit Rouven fand am 12.05.05 in seiner Wohnung statt. Ich kenne ihn schon von der
Proseminararbeit her, für die ich ihn schon einmal interviewt habe.
184
Im Rahmen der Qualifikation für die Weltmeisterschaft 2006 in Deutschland hat Rouven die Schweizer
„Nati“ zum Beispiel ans Auswärtsspiel nach Irland begleitet. Er war auch in Paris, Moskau und an der letzten
Europameisterschaft in Portugal (2004), um die Nationalmannschaft zu unterstützen.
181
67
Im Gegensatz zur grossen Mehrheit der „Bierkürvler“ trinkt Rouven kein Bier,185 doch
er weiss, dass „das Bier einfach dazu gehört (…) und solange es im friedlichen
Rahmen bleibt und der Alkohol nicht der Grund für Pöbeleien ist“, hat er damit kein
Problem. „Pyro“ findet er grundsätzlich eine „schöne Sache“ und bedauert die NullToleranz-Grenze der Vereine und der Polizei, doch selbst zündet er nicht mehr. Er
geniesst innerhalb der ganzen Bierkurve ein hohes Ansehen, weil er schon sehr lange
dabei ist und viel für die Kurve getan hat, vor allem aber auch wegen seiner
umgänglichen, ruhigen und toleranten Art. Durch seine Funktion als Fanbetreuer186
des FCS, als Vorstandsmitglied des BKSH-Vereins (Vizepräsident) und Betreuer der
Bierkurven-Homepage begleitet ihn der FCS auch im Alltag ständig. Ein spezielles
Ritual oder einen ganz bestimmten Ablauf an den Spieltagen gibt es für Rouven nicht,
er geht aber – wie viele – etwas früher ins Stadion.
Rouven schätzt sich selbst als Fan folgendermassen ein: „Ich bin ein ziemlich
neutraler Fan, mit ganz leichter Ultraorientierung. Nicht, dass ich an die Spiele gehen
würde und dort (Pyro) „zünde“, aber ich habe Freude an den Choreos, helfe auch mit
und ich habe Freude, wenn es viele Fahnen hat und die Kurve farbig ist und wenn 90
Minuten gesungen wird. Also, da bin ich schon immer dabei.“ Wie auch meine zwei
weiteren männlichen Interview-Partner vom BKSH-Verein positioniert sich Rouven in
der Nähe der Ultra-Kultur. Bezogen auf ihre Beteiligung an Choreografien, sowie auf
ihren lautstarken und treuen Support, kann man die BKSH-Mitglieder ganz sicher mit
dieser Fankultur in Verbindung setzten, doch im Gegensatz zu den Mitgliedern von
Abarticus stellen sie ihr Handeln und ihr Fantum nicht in einen (sub-)kulturellen
Kontext. Sie sind zwar äusserst aktive Fans, sehen dies aber nicht als eine Haltung
oder einen Lifestyle an, sondern vielmehr als Leidenschaft oder Hobby. Ich würde
eher auf das Modell von Heitmeyer/Peter zurückgreifen und die BKSH-Mitglieder als
aktive und fussballzentrierte Fans bezeichnen.
185
Auf die Rolle des Biers, auch im Zusammenhang mit Gewalt, wird im Kapitel 3.4.1. eingegangen.
Sein Kommentar zu dieser Aufgabe: „Man muss ein wenig differenzieren. Bei anderen Vereinen kann das
eine ziemlich grosse Aufgabe sein, in Schaffhausen ist es sicher keine Pseudoaufgabe, sie müssen diesen Posten
ja vom Verband aus besetzen, wie alle anderen Vereine … und meine Hauptaufgabe ist es nicht, irgendwelche
Leute an den Pranger zu stellen, gar nicht, sonst hätte ich den Job auch nie angenommen, sondern einfach die
Kommunikation zu fördern zwischen dem FCS und den Fans. Und das probiere ich halt so gut es möglich ist.“
Matthias Bührer, Sicherheitsbeauftragter des FC Schaffhausen, erläutert, weshalb die Wahl des „Fanbetreuers“
auf Rouven fiel: „Die Arbeit mit Rouven läuft sehr gut. Und der Rouven war halt ganz klar, weil er von der
Bierkurve ist, (…) weil er dort sehr gut integriert ist. Er ist, glaube ich, sogar im Vorstand, der Präsident
(richtig ist: Rouven ist Vize-Präsident des BKSH-Vereins!) und er ist derjenige, der die Szene in der Bierkurve
halt sehr gut kennt.“
186
68
•
„Hermy“187 (CH, wohnt in Schaffhausen) ist 28 Jahre alt und hat nach einer Lehre im
Detailhandel
eine Umschulung als
Lagerist abgeschlossen.
Zurzeit ist er
Abteilungsleiter in einem Betrieb und hat mehrere Unterstellte. Er selbst bezeichnet
sich als „Patrioten“ und meint, dass man ihn „schon dem rechten Lager zuordnen
kann“.188 Er hat in seiner Kindheit in der Juniorenabteilung des FCS Fussball gespielt
und abgesehen von einer ausbildungsabhängigen Pause war er schon immer an den
Heimspielen dabei. Aktiv bei der Bierkurve involviert ist er seit etwa 2001. „Davor
war ich mehr oder weniger einer der so genannten „Sektor-2-Pisser“ (lacht). Ich bin
immer weit weg von der Kurve gestanden, weil ich nicht viel davon gehalten habe,
dazumal. Bis mich halt jemand da reingezogen hat und ich das wahre Gesicht der
Kurve sehen konnte. (…) Die Bierkurve ist eine Gesellschaft, die den Spass sucht, den
Spass am Fussball, Spass am Fantum, Leute, die natürlich gerne mal eine Wurst
verdrücken und ein Bierchen zischen. Manchmal auch ein bisschen über die Stränge
hauen. Aber hauptsächlich steht der Spassfaktor im Vordergrund.“ Auch Hermy ist
über den FCS hinaus an Fussball interessiert, er ist Fan vom SC Freiburg und natürlich
auch von der Schweizer Nationalmannschaft.
Hermy hatte innerhalb der Bierkurve bis vor kurzem eine eher spezielle Rolle
innegehabt: Er war einer von zwei Trommlern.189 „Durch einen Zufall bin ich über
eine Guggenmusik an eine günstige Pauke gekommen, (…) da hat es geheissen: Los
spiel mal! So kam das fliegend ins Laufen. Zu Beginn war es schon so, dass ich mich
ziemlich aufs Paukenspielen konzentrieren musste, statt auf den Match, aber
mittlerweile habe ich alles so im Griff, dass ich nebenher noch das Spiel schauen und
geniessen kann. Zu Beginn waren die Leute schon etwas kritisch, weil sie es nicht
gekannt haben in der Bierkurve, aber mittlerweile heulen die Leute beinahe, wenn die
Pauken nicht dabei sind.“
187
Das Interview mit Hermy fand am 9.6.2005 im Restaurant „Falken“ in der Altstadt von Schaffhausen statt.
Ich habe ihn kurz zuvor während des Auswärtsspieles in Bern wegen des Interviews angesprochen. Er reagierte
erst skeptisch, erwies sich aber im Interview und auch sonst als sehr offen und umgänglich.
188
Grundsätzlich ist Hermy für eine strikte Trennung von Politik und Fussball, seine rechte Einstellung tritt
jedoch hie und da auch im Rahmen von Fussballspielen in Form von rassistischen Äusserungen zum Vorschein
und ist für gewisse Leute in der Kurve ein Problem.
189
In der Zwischenzeit hat Hermy seine langjährige Freundin geheiratet, die in Kürze (im März) ein Kind
erwartet. Aus diesem Grund hat Hermy seinen „Job“ als Trommler der Bierkurve an den Nagel gehängt. Auch
der zweite etatmässige Trommler, „Rüeger“, ist Mitglied beim BKSH-Verein. Er hat das Trommeln, nicht
zuletzt wegen Differenzen mit Abarticus, ebenfalls aufgegeben. Noch hat niemand offiziell ihre Nachfolge
angetreten.
69
Auch in Hermys190 Alltag stösst man immer wieder auf den FCS; er ist ebenfalls
Mitglied im Vorstand des BKSH-Vereins und ziemlich häufig im Forum anzutreffen.
Zuweilen hilft er auch bei der Planung und Realisierung von Choreografien mit. Er ist
grundsätzlich Pro-Pyro eingestellt und findet, dass es „herrlich“ aussieht, aber selbst
zündet er seit dem Pyro-Verbot nicht mehr.
•
Michi Zaugg191 (CH, in SH wohnhaft) ist 27-jährig, arbeitet als Informatiker und steht
politisch eher rechts. Er ging von klein auf mit seinem Vater an die Spiele, dann
immer häufiger ohne Vater. Seit der Zeit in der ersten Liga ist er regelmässig und vor
allem in der Bierkurve dabei. Dieser Einstieg ins Stadion über den Vater (die Familie)
ist bei sehr vielen Bierkurven-Fans zu beobachten, er scheint sich allerdings nicht nur
auf die Bierkurve zu beschränken, wie ein Blick in die wissenschaftliche Literatur
über Fussballfans zeigt. So hat Bromberger in seiner Studie über Fussballfans in
Marseille herausgefunden, dass viele männliche Fans über die Jahre hinweg eine Art
„vorgegebenen Weg“ über die Ränge des Stadions vollziehen. Als Kind besucht man
die Spiele noch mit dem Vater oder einem anderen Verwandten, bis man schliesslich
allein, oder mit gleichaltrigen Kollegen, ins Stadion geht und sich immer mehr dem
Kern der aktiven Fanszene nähert, die mit ihrer Grösse, ihrer Lautstärke, ihrer ganzen
machtvollen Präsenz eine grosse Anziehungskraft auf Teenager ausübt. In der aktiven
Fanszene kann man sich dann ein paar Jahre austoben, ehe sich ab einem gewissen
Alter und sozialen Status neue Formen von „maskuliner Geselligkeit“ entwickeln: jene
unter Arbeitskollegen, Bar-Bekanntschaften, Schwagern und anderen Verwandten, etc.
Laut
Christian
Bromberger „materialisiert“
jede dieser „neuen
Form
der
Platzaneignung im Stadion“ eine „Übergangsphase192 auf dem Weg der (Lebens-)
Geschichte eines Mannes“. Meistens manifestiert sich ein solcher Wechsel eines
„sozialen Ortes“ zu Beginn einer neuen Saison.193
190
Seine Selbsteinschätzung als Fan: „Ich betitle mich als Ultra. Aber Ultra jetzt nicht im Sinne von Gewalt oder
sonstigem Scheissdreck. Ich gehe an jedes Spiel, sofern es Gott will. Und ich versuche natürlich die Mannschaft
so gut wie möglich zu unterstützen. Klar, im Vordergrund steht der Support, nur der Support.“
191
Das Interview mit Michi Zaugg habe ich am 14.5.2005 im Restaurant Falken geführt. Ich habe ihn auf einer
Zugfahrt nach St. Gallen auf meine Arbeit angesprochen. Er war sogleich sehr offen und interessiert.
192
Die Dynamik des sozialen Lebens erfordert ständige Grenzüberschreitungen: Menschen wechseln ihren
Aufenthaltsort, ihre Alters-, Status- und Berufsgruppenzugehörigkeit. Diese Veränderungen sind in allen
Gesellschaften von Riten begleitet, die solche räumlichen, zeitlichen und sozialen Übergänge begleiten,
gewährleisten und kontrollieren. Van Gennep bezeichnet sie als Übergangsriten. Ihre Funktion ist die Kontrolle
der Dynamik des sozialen Lebens, ihre Form die Dreiphasenstruktur: Trennungsphase (Loslösung vom „Alten“),
Schwellen- bzw. Umwandlungsphase (man befindet sich zwischen zwei „Welten“) und schliesslich die
Angliederungsphase (Integration in neuen Ort, Zustand). Siehe dazu: Van Gennep, Arnold. Übergangsriten. Les
rites de passage. Frankfurt/M., 1986.
193
Siehe dazu: Bromberger, le match de football, S. 285.
70
Wie Rouven und Hermy, interessiert sich auch Michi für die Schweizer
Nationalmannschaft und geht regelmässig an Heim- und Auswärtsspiele der „Nati“.
Die drei bilden zugleich den Vorstand des BKSH-Vereins (Michi ist Präsident),
kennen sich aber schon länger und sind auch ausserhalb der Bierkurve gute Kollegen.
„Ich schaue einfach, dass ich meine Sachen beisammen habe: Banner, Schal, Pullover
und was immer dazugehört, ist das Vormatchbier“, meint Michi zu seiner
Matchvorbereitung. Einen gewissen Extra-„Aufwand“ muss der 27-Jährige oftmals bei
Auswärtsfahrten betreiben: „Es geht darum, die Anmeldungen für den Car entgegen
zu nehmen, Listen zu führen, den Car zu reservieren, usw., das macht mal der Rouven,
dann wieder ich. (…) Die Hauptaufgabe ist natürlich das Forum betreuen, das nimmt
schon Zeit in Anspruch. Wir schauen, dass es sauber ist und dass keine Drohungen
oder politischen Meinungen Kund getan werden. Ich denke, es wird schliesslich schon
eine Menge Zeit rauskommen, (…) aber man tut das ja gerne.“ Auch er hat früher
selbst gezündet, macht es aber heute nicht mehr, weil es ihm nicht wert ist, dafür
Stadionverbot zu kriegen.
•
Die 26-jährige Jacqueline Homberger194 (CH) wohnt in Schaffhausen und ist
kaufmännische Angestellte in einer Bank. Politisch ordnet sie sich in der Mitte ein.
Seit etwa vier Jahren geht sie regelmässig an die Spiele (auch auswärts), in die
Bierkurve ist sie durch Kollegen reingerutscht und seither da „hängen geblieben“. An
die Spiele geht sie hauptsächlich aus Interesse am Spiel selbst, sowie wegen der
Stimmung in der Bierkurve und weil sie als Schaffhauserin stolz auf „ihren“ Verein
ist.195 Auch bei Jacqueline ist der FCS immer wieder Begleiter im Alltag: „Wenn sie
mal eine grosse Choreo planen, dann gehst du vorbei und hilfst und bastelst dann halt
mal ein, zwei Stunden mit, aber sonst... Und auf dem Forum, da bin ich eigentlich eher
am Lesen und nicht am Schreiben. Na ja und im Alltag gibt es halt schon
Diskussionen, gerade weil bei mir die ganze Familie dabei ist.“ Und selbst im Urlaub
kommt sie vom FCS nicht ganz los: „(…) wenn ich in die Ferien gehe, dann will ich
wissen, was zu Hause läuft und ich gehe ins Internet und schaue, wie es so läuft und
was läuft. Ich bekomme auch SMS, wie sie gespielt haben und so.“ An der Bierkurve
schätzt sie, dass „du da immer wieder (Leute) triffst, mit denen du es gut (hast), (du)
194
Ich habe Jacqueline Homberger an einem sonnigen 4. August 2005 über Mittag in einem Strassencafé
getroffen. Der Kontakt ist über Hermy entstanden, wir haben dann per E-Mail einen Termin ausgemacht. Wie
alle meine Interview-Partner aus der Bierkurve hat sie bereitwillig und offen über ihr Fansein gesprochen.
195
Das Thema „Lokalpatriotismus“ wird im Kapitel 3.4.4. näher untersucht.
71
kannst eine Party feiern, bist weg vom Alltag. Und wenn es nur zwei, drei Stunden
sind“.
Als weiblicher Fan ist Jacqueline klar in der Minderheit, obschon in letzter Zeit immer
häufiger vor allem jüngere Frauen (Teenager) in der Kurve anzutreffen sind. Gerade
im BKSH-Verein jedoch hat es prozentual gesehen sehr viele weibliche Fans.196 Sie
empfindet es überhaupt nicht problematisch, als Frau in einer männerdominierten
Kurve zu stehen, in der derbe und zum Teil sexistische Sprüche und Gesänge zur
Tagesordnung gehören: „Ja sicher (fühle ich mich wohl), man darf sich halt einfach
nicht stören lassen von den dummen Sprüchen und Gesängen, man darf sich wirklich
nicht angesprochen fühlen und das Ganze persönlich nehmen, wenn mal ein Spruch
gegen Frauen kommt. Das ist nicht böse gemeint und auch nicht persönlich von den
Leuten. Ich denke, wenn man das persönlich nehmen würde, dann ist man am falschen
Ort. Ich kann ja genauso zurückgeben und es stört sich niemand daran.“ Jacqueline
hat bisher – mit Ausnahme des GC-Auswärtsspiels – keinerlei negative Erlebnisse in
und mit der Bierkurve erlebt und fühlt sich vollends akzeptiert vom (näheren) Umfeld.
Jacqueline, die sich höchstwahrscheinlich nicht im gleichen Ausmass mit der
Fussballfan-Kultur auseinandergesetzt hat wie Rouven, Hermy oder Michi, verzichtet
bezeichnenderweise in ihrer Selbsteinschätzung auf die gängigen Kategorien: „A-, B-,
C-Fans, ich denke das kann man nicht so richtig kategorisieren. Wo hört das auf, wo
beginnt das? Aber ich mache sicher mit, wenn man irgendwo Hilfe gebrauchen kann,
sei es mit einer Choreo oder mit sonst was. Da bin ich dabei. Ich bin halt aktiv.“
3.3.2.
Abarticus (AP – Abarticus Perversus)197
Abarticus ist die Ultra-Gruppierung innerhalb der Bierkurve. Die Mitglieder bezeichnen sich
selbst als „den fanatischsten und aktivsten Kern“ der Bierkurve; sie sind hauptverantwortlich
für den optischen (Choreos) und akustischen Support in der Bierkurve. Die Gründung dieser
Gruppierung ist bezeichnend für ihr Auftreten und Handeln, denn neben dem Ausleben der
Ultra-Mentalität geht es den Mitgliedern von Abarticus mindestens ebenso sehr um „Party,
Alkohol und Fussball“: „Wir waren betrunken und haben begonnen, uns Gedanken zu
196
Michi Zaugg gibt an, dass fast die Hälfte der Mitglieder weiblich sei und auch Rouven beziffert den
Frauenanteil auf „fast bei 50%“.
197
Die Gruppierung hiess ursprünglich „Abarticus Perversus“; heute nennen sie sich aber nur noch „Abarticus“
oder verwenden das Kürzel „AP“.
72
machen, wie es weitergehen soll. Das war zu der Zeit, als sie (der FCS) im Tief waren, in der
ersten Liga nämlich. Da waren wir ein bisschen zerstritten. Ja, in der Kurve halt, es gab
gewisse Spannungen, die einen wollten die Sachen so machen, die anderen auf die Art und so
weiter. Jeder hat über jeden hinter dem Rücken gesprochen. Aber jetzt ist das wieder
gegessen. Wir haben uns dann halt Spasses halber einen Namen überlegt für uns. Ja, und
irgendwann sind wir dann halt auf die Römergeschichte gekommen und haben gefunden, es
gab mal einen Typen, der den Titel Abarticus Perversus trug, und dieser Typ hatte einen
Schwanzus Longus, das war die Story. Und dann haben wir uns auf Abarticus Perversus (AP)
geeinigt (…) Wir begannen dann halt so Sachen wie Fahnen und Choreos zu machen und
dann kamen bald einmal die ersten Schals. Das Ganze wurde eine organisierte Sache, mit
Sitzungen und so. Eigentlich war die Mentalita Ultra nicht einmal das entscheidende
verbindende Element, wir hatten unseren eigenen Style, wir sind Abarticus. Wir sind laut, wir
trinken gerne, wir sind fröhlich, wir sind einfach ein bisschen alles. Wir sind Jungs, die Spass
haben an einem Spiel.“198
Im Gegensatz zum BKSH-Verein, der relativ gut strukturiert und organisiert ist, nimmt man
es bei Abarticus mit der Organisation nicht so genau.199 Es gibt keinen festen Vorstand200 und
auch keine festgelegten Mitgliederbeiträge, sodass im Grunde genommen niemand genau
weiss, wie viele Personen jetzt tatsächlich zu Abarticus gehören. Der Kern der Gruppierung
umfasst etwa 25 bis 30 Personen, die an fast allen Spielen aktiv dabei sind und auch einen
finanziellen Beitrag an die Choreografien leisten; um diesen Kern herum gibt es noch einmal
rund 20 Leute, die immer wieder mal dabei sind und sich ebenfalls aktiv beteiligen. Im Bezug
auf die Struktur der Gruppierung gibt es weitere gravierende Unterschiede zum BKSHVerein, so liegt das Durchschnittsalter bei Abarticus mit knapp 20 Jahren weit unter jenem
198
Dieses Zitat stammt von „Backe“, der zu den Gründungsmitgliedern von Abarticus zählt. Das „offizielle“
Gründungsdatum ist der 31.12.2003.
199
Bob beschreibt die Unterschiede zwischen Abarticus und BKSH-Verein u.a. wie folgt: „Abarticus ist ein
Haufen von Jugendlichen, wo die meisten ein bisschen Spass haben wollen. (…) BKSH ist einfach ein halbwegs
offizieller Fanklub, die wollten sich einfach so organisieren, man wollte (…) dem Klub und dem Verein auch
zeigen, hey, wir unterstützen euch, aber nicht auf die Art, wie es gewisse andere tun. In unseren Fanklub lassen
wir nur die rein, die sich auch an Regeln halten. Das sind für mich wirklich die, die sich auch an Regeln halten
wollen. Wir sind eher ein bisschen der wilde Haufen, denen solche Dinge scheissegal sind.“
200
Wie aus den folgenden Portraits der einzelnen Mitglieder zu erkennen ist, gibt es sehr wohl bestimmte
Personen, die einzelne Kompetenzen und Aufgaben innerhalb von Abarticus übernehmen.
73
des BKSH-Vereins201 und während dort fast die Hälfte der Mitglieder weiblich ist, ist in den
Reihen von Abarticus nur eine einzige Frau202 zu finden.
Deshalb kann man Abarticus auch nicht als Fanklub bezeichnen. Der Soziologe Thomas
König hat in diesem Zusammenhang erwähnt, dass „eine Jugendszene, welche sich immer
mehr durch individualisierte Stile und Ausdifferenziertheit auszeichnet, eine derartige
Organisationsform (offenbar) nicht mehr (braucht). Statt in organisierten Fanklubs,
orientieren sich die Jugendlichen lieber in „Fancliquen“, einem Zusammenschluss von selbst
ausgewählten Personen, also ohne freien Zugang von aussen.“203 Der Ausdruck „Fanclique“
lässt sich dabei auch auf Abarticus anwenden, handelt es sich bei dieser Gruppierung doch um
einen grossen Freundeskreis204 von Gleichaltrigen. So erstaunt es nicht, dass neben dem
unbedingten Einsatz beim Support der Mannschaft die Freundschaft – oder zumindest die
Kameradschaft – als zweite zentrale Grundlage für einen allfälligen Einstieg in die
Gruppierung betrachtet werden muss. Die Aktivitäten von Abarticus beschränken sich auch
nicht auf die Matchbesuche des FC Schaffhausen; man geht gemeinsam in den Ausgang,
besucht Spiele von anderen Vereinen205, organisiert (Geburtstags-)Partys und Grillfeste, spielt
an Grümpelturnieren mit und organisiert jedes Jahr auf Ende Dezember ein „AbarticusEssen“206, im Gedenken an die Gründung vor gut drei Jahren. Ausserdem trifft sich ein Teil
von Abarticus regelmässig am Mittwoch im Restaurant „Falken“, wo sie vom Besitzer einen
separaten Raum zur Verfügung gestellt bekommen, zu so genannten Sitzungen.207 An diesen
Sitzungen wird vor allem besprochen, was am kommenden Spieltag für Aktionen (Choreo,
Pyro) durchgeführt werden sollen und wie die einzelnen Aufgaben208 verteilt sind.
201
Siehe dazu die Aussage von „Thurgi“, 18-jährig: „Abarticus, das sind halt die Leute meiner Generation, in
diesem Sinne: Party, Fussball, Alkohol. Das vertritt uns quasi. Ich habe dort meine Kollegen, ich sehe dort meine
Gesinnungsgenossen. BKSH und der Rest, die haben mich eigentlich nie gross interessiert, weil es da einen viel
zu grossen Altersabstand gab.“ Das älteste Mitglied von Abarticus während meiner Untersuchungszeit war
„Milan“ mit 25 Jahren. Die jüngsten Mitglieder waren 17-jährig.
202
Sie heisst Sella und wird im Kapitel 3.3.2.1. näher vorgestellt.
203
König, Fankultur, S. 48.
204
Natürlich sind nicht alle Mitglieder gleich gut miteinander befreundet, gewisse Leute sehen sich auch nur
gerade an den Spielen, dennoch ist es erstaunlich, welch grosses Zusammengehörigkeitsgefühl diese Gruppe –
trotz grosser individueller Unterschiede – ausstrahlt. In der Aussenbetrachtung erscheint Abarticus nicht umsonst
bei den übrigen Bierkurven-Fans als „verschworene Einheit“, obschon sie erstaunlich schwach organisiert und
strukturiert sind.
205
Abarticus pflegt zum Beispiel eine mittlerweile stark ausgeprägte Fanfreundschaft mit Leuten aus Wil. (Ein
Hintergrund dieser Freundschaft ist der gemeinsame „Feind“: der FC St. Gallen, der (noch) die FussballVormachtstellung in der Ostschweiz innehat).
206
Zum „Abarticus-Essen“ 2005 sind rund 40 Mitglieder ins Restaurant „Centro Andaluz“ in Schaffhausen
gekommen.
207
Ich habe an drei solchen Sitzungen teilgenommen, die Teilnehmerzahl schwankte zwischen acht und fünfzehn
Personen.
208
Zu den Aufgaben zählen vor allem das Basteln von Transparenten, Fahnen, Doppelhaltern für die Choreo
sowie die Beschaffung von Pyro-Material und die Auslotung von Möglichkeiten, es ins Stadion zu schmuggeln.
74
Es ist spannend, zu beobachten, wie es in den gut drei Jahren des Bestehens von Abarticus zu
zahlreichen Ritualisierungen und kodierten Verhaltensweisen gekommen ist, durch die sich
die Gruppierung bewusst und gewollt vom grossen Rest der Bierkurve absondert. Das zeigt
sich vor allem an ihrer „Spielkleidung“. Im Vergleich zu anderen Fans tragen sie keine
offiziellen Fanartikel, sie haben ihre selbst entworfenen Fanutensilien, die sie ausschliesslich
an ausgewiesene Mitglieder von Abarticus verkaufen und verteilen. Dazu gehören vor allem
ein weiss-gelb-schwarzer Seidenschal und ein schwarzer Kapuzenpulli209 mit der Aufschrift
„Abarticus“. Ausserdem gibt es ein paar Fangesänge210, die sich explizit auf Abarticus
beziehen, oder von Mitgliedern in die Kurve hineingebracht wurden. Zu einem fixen Ritual
bei Heimspielen hat sich überdies das so genannte „Vormatch-Bier“ entwickelt. Weit vor
Matchbeginn treffen sich die Mitglieder von Abarticus und ein paar weitere Bierkurven-Fans
auf einem Kinderspielplatz, gleich hinter der Bierkurve, um sich mit Bier (und oftmals auch
Gras) auf das bevorstehende Spiel einzustimmen und gemeinsam ins Stadion zu gelangen.
Blick in die Bierkurve auf ein paar Mitglieder von Abarticus:
- bei der Person in der Mitte sind der Seidenschal und der Kapuzenpullover gut zu erkennen.
209
Der Kapuzenpulli und auch der Seidenschal haben neben modischen auch nützliche Qualitäten. Beim
Abbrennen von Pyro-Material zieht man die Kapuze und den Schal tief ins Gesicht, damit man von den Personen
des Sicherheitsdienstes und auf den Videoaufnahmen nicht zu erkennen ist.
210
Siehe dazu: Anhang - „Gesänge und Lieder in der Bierkurve“ und Kapitel 4.2.4. „Wir singen Scheiss-FCAarau!“
75
In seiner Gesamtheit ist Abarticus gerade wegen seiner Grösse und individuellen Vielfalt nur
schwer fassbar, denn im Vergleich zum BKSH-Verein fehlen etwa Statuten oder klare
Regeln, welche für die Mitglieder verbindlich wären.211 Als Ganzes betrachtet kann man
Abarticus zwar durchaus als Ultra-Gruppierung bezeichnen,212 innerhalb der Gruppierung
herrschen aber bezüglich Auftreten und Verhalten teilweise grosse Unterschiede und vor
allem wenig Transparenz. Manche Abarticus-Mitglieder orientieren sich beispielsweise eher
an der Casual- statt an der Ultra-Kultur; in diesem Zusammenhang existierte
bezeichnenderweise eine inoffizielle Splittergruppe mit dem Namen „Scheinheiligen
Schaffhausen“ (SHSH)213, die sich ab und zu an vereinbarten Kick-offs beteiligt hat. Und im
Rahmen von Meisterschafts- oder Pokalspielen kommt es immer wieder zu kurzen,
gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen gewaltbereiten Abarticus-Mitgliedern und
gegnerischen Fans (spontane Kick-offs, Mob gegen Mob).214 In Bezug auf den Umgang mit
Gewalt fehlt es Abarticus letztlich an einer klaren und transparenten Haltung, was ihr von
vielen Seiten her Kritik und Unverständnis einbringt.
Das Verhältnis von Abarticus zum Rest der Bierkurve ist auch aus diesem Grund von einem
gewissen Zwiespalt geprägt.215 Auf der einen Seite erntet ihr akustischer und vor allem
optischer Support Lob von allen Seiten, andererseits leidet ihr Image bei zahlreichen
Bierkurven-Fans unter der zunehmenden und bewusst zelebrierten Separierung vom Rest der
Kurve, ihrem klaren „Pro-Pyro“-Votum und der teilweise vorhandenen Gewaltbereitschaft
einzelner Mitglieder. In diesem Zusammenhang ist die mangelnde Aussendarstellung und die
fast fehlende Kommunikation mit der übrigen Kurve von Abarticus sicher ein zentrales
Problem. Viele Bierkurven-Fans haben ein, wenn nicht falsches, so doch einseitiges Bild von
Abarticus als unberechenbare, unbelehrbare und teils gewalttätige Gruppierung und können
211
Abarticus kennt zum Beispiel keine Gewaltverzichtserklärung.
Der Grossteil der Mitglieder identifiziert sich mit der so genannten „Mentalita Ultra“, und das Fansein
bedeutet in diesem Sinne weit mehr als ein Hobby oder eine Leidenschaft, es ist praktisch ein Lifestyle, eine
Haltung. Sie grenzen sich mit ihrem Handeln, Verhalten und selbst mit ihrem Outfit auch klar von den übrigen
Fans in der Bierkurve ab. Besonders deutlich zeigt sich das auch im Umgang mit Pyro und mit Gewalt (siehe
dazu: Kapitel 3.4.3).
213
Als „Spass-Reaktion“ auf die Gründung von SHSH war eine zweite Splittergruppe entstanden, der
„Bockblock“, die sich allerdings mehr als Parodie verstanden und nur die SHSH als „Gegner“ betrachteten und
forderten. Beide Splittergruppen sind mittlerweile wieder aufgelöst worden.
214
Die einzelnen Mitglieder von Abarticus beteuern immer wieder, dass solche gewalttätigen
Auseinandersetzungen nicht unter dem Namen „Abarticus“ ablaufen, womit sie im Grunde genommen Recht
haben, weil sich nie die ganze Gruppierung an solchen spontanen Kick-offs beteiligt. Während bei den
vereinbarten Kick-offs allerdings eine klare Abgrenzung stattfindet (siehe „SHSH“ oder „Bockblock“), kann es
bei spontanen Kick-offs zur Beteiligung eines Grossteils der Gruppierung kommen, die dann von
Aussenstehenden als Abarticus selbst wahrgenommen und bezeichnet werden. Es war aber tatsächlich so, dass es
während meines Untersuchungszeitraumes kaum Schaffhauser Kick-off-Teilnehmer ausserhalb von Abarticus
gab. Gleichzeitig muss man festhalten, dass es Abarticus (als Gruppierung) verpasste, sich vehement und
nachvollziehbar genug, von solchen gewalttätigen Auseinandersetzungen zu distanzieren.
215
Auf dieses Verhältnis wird im Kapitel 4 näher eingegangen, weil es sich am besten an ganz konkreten
Situationen und Spielen beschreiben lässt.
212
76
das Handeln und Auftreten der Mitglieder, die eng an die Ultra-Kultur geknüpft sind, nicht
nachvollziehen.216 Zum BKSH-Verein jedoch war das Verhältnis während meiner
Untersuchungszeit meistens sehr gut, es ist auch immer wieder zu gemeinsamen Aktionen und
Choreografien gekommen.
Abarticus hat wie keine andere Gruppierung innerhalb der Bierkurve vom Aufstieg des FCS
in die Super-League profitiert, denn in der Challenge-League wäre es ungleich schwieriger
geworden ihre Fankultur so stark in die Kurve einzubringen, schliesslich fehlt es in der
unterklassigen Liga nicht nur an potentiellen „Gegnern“ (abgesehen von Sion, Luzern und
Lausanne, sowie mit Abstrichen Lugano, Winterthur und Wil) und Herausforderungen,
sondern auch an der nötigen und gewollten (medialen) Aufmerksamkeit.
Aus persönlichem und kulturwissenschaftlichem Interesse heraus habe ich mich am
intensivsten mit dieser Gruppierung auseinandergesetzt, denn mit ihrer Verortung in der
Ultra-Kultur und der Interpretation des Fanseins als „Lifestyle“, der viel weiter als bei
anderen Fans und Gruppierungen in die Freizeitgestaltung dringt, bieten die AbarticusMitglieder sicherlich die interessantesten und vielfältigsten Beobachtungsansätze für einen
Volkskundler.
3.3.2.1. Mitglieder von Abarticus
•
Livo217 (CH, wohnhaft in Neuhausen am Rheinfall) ist 19 Jahre alt und absolviert
zurzeit die Kaufmännische Berufsmatura in Schaffhausen. Politisch ist Livo sehr links
eingestellt, er hat schon an 1.-Mai- und Antifa-Demos teilgenommen. Livo ging von
klein auf mit seinem Vater, der früher einmal Spieler vom FCS war, an die
Heimspiele. Er hat sich dann aber vermehrt nach Basel gewandt, weil sich dort eine
sehr aktive und grosse Fanszene etabliert hatte und er sich zusehends für die Fussball-
216
Siehe dazu: Kapitel: 3.4.3. „Gewalt und Pyro“
Livo entwickelte sich im Verlaufe meiner Untersuchung zu meiner wichtigsten Ansprechperson bezüglich der
Aktivitäten von Abarticus und weit darüber hinaus. Wir stehen auch heute noch in regem E-Mail-Kontakt und
diskutieren über Fussball und Fussballfan-Kultur. Er hat zu Beginn meiner Untersuchung eher skeptisch auf
meinen Eintrag ins Gästebuch der Bierkurven-Homepage reagiert, in dem ich meine Absicht erklärte, eine Arbeit
über die Bierkurve zu schreiben. Wir haben uns dann aber an meinem ersten Feldbesuch, am 20. Februar 2004;
Auswärtsspiel im Zürcher Letzigrund (FC Zürich), getroffen, wo er sich von Beginn an sehr interessiert an
meiner Arbeit zeigte und mir bereitwillig Auskunft gab. Ich habe mit ihm zwei offene Interviews geführt: am 24.
März 2004 im Falken, mein allererstes Interview für diese Arbeit, und schliesslich erneut am 6. August 2004
(natürlich wieder im Falken). Das zweite Interview war nötig, weil das erste noch nicht standardisiert war.
217
77
Fankultur zu interessieren begann. 218 Erst ab 2001, als die Bierkurve schon in einer
gewissen Grösse existierte, begann er wieder an Fussballspiele des FCS zu gehen.
Livo gehört nicht zu den Gründungsmitgliedern von Abarticus, ist aber ziemlich bald
einmal dazugestossen und mittlerweile eine prägende Figur innerhalb der
Gruppierung.
Prägend nicht zuletzt deshalb, weil Livo gleich an zwei Fronten aktiv ist, die das
Handlungsfeld von Abarticus betreffen: Pyro und Kick-offs. Er gehört zu den
vehementesten Verfechtern von Pyroeinsätzen und ist gleichzeitig hauptverantwortlich
für die Beschaffung von Pyromaterial: „Also (Pyroshows) organisiere ich schon seit
drei, vier Jahren. Und man muss schon sehen, das ist jedes Mal ein ziemliches Stück
Arbeit, dieses Ausleben der Kreativität. Pyroshows sind halt in diesem Sinne noch ein
wenig anstrengender (als Choreos), weil man halt immer schauen muss, wie das
Material (ins Stadion) reinkommen soll, da es verboten ist. Man muss immer schauen,
dass man Leute findet, die mitmachen, die zünden. Es ist alles anstrengend, aber es
macht Spass. Und man kann nachher stolz darauf sein.“ Auch was Kick-offs
anbelangt, zählt Livo zu den treibenden Kräften innerhalb von Abarticus. Er gehört
beispielsweise der Splittergruppe „Scheinheiligen Schaffhausen“ an und pflegt
zahlreiche Kontakte zu anderen Personen und Gruppierungen, die sich ebenfalls an
Kick-offs219 beteiligen. Im Gegensatz zu den meisten anderen Mitgliedern orientiert er
sich nämlich stark am englischen Casual-Style und weniger an der italienischen UltraMentalität. „Ja, ich finde das gehört ein Stück weit dazu. Ich meine Kick-offs und
Hooliganismus, das gibt es schon seit weiss ich wie viel Jahren, das hat Tradition“,
erläutert er seine Einstellung zu Kick-offs und führt dann aus, wie sie mitunter zu
Stande kommen: „Da genügt ein Anruf, und die sagen, sie stehen beim Bahnhof,
worauf du kurz hingehst, draufhaust und wieder gehst. Ich persönlich empfinde solche
Kick-offs als Riesenkick und Herausforderung, aber ich würde jetzt nie grundlos
jemanden schlagen, es ist im Prinzip mehr ein Boxen mit Gleichgesinnten.“220
218
Sein Interesse und seine Teilnahme gehen auch heute weit über den FCS und die Bierkurve hinaus. Livo
kennt sich innerhalb der Ultra-Szene in der Schweiz sehr gut aus, hat auch Kontakte zu C-Fans und Hooligans.
Sein Fokus ist allerdings nicht auf die Schweiz beschränkt, immer wieder geht er „Ground-hoppen“ (z.B. nach
Deutschland, England, Italien) und informiert sich auf zahlreichen in- wie ausländischen Foren über das aktuelle
Ultra- und Hooligan-Geschehen.
219
Dabei handelt es sich nur in den seltensten Fällen um so genannte FWW`s (Feld-Wald-Wiese), meistens
finden die, in diesem Falle spontanen, Kick-offs rund um ein Fussballspiel, jedoch abseits des Stadions, statt.
220
Die Aussagen „ich würde nie grundlos jemanden schlagen“ und „Unbeteiligte lassen wir in Ruhe“ kriegt man
von gewaltbereiten Abarticus-Mitgliedern immer wieder zu hören. Tatsächlich habe ich während meiner
Untersuchung keine Situation erlebt, in der sich Gewalt und Aggression von Abarticus-Mitgliedern gezielt und
bewusst gegen „Unbeteiligte“ richtete; aber gerade bei spontanen Kick-offs, die oftmals auf belebten
78
Livo ist ein sehr gutes Beispiel dafür, wie schwierig es ist, (jugendliche) Fussballfans
anhand der im Theorieteil aufgezeigten Definitionen und Kategorien einzuordnen.
Durch seinen Einsatz beim akustischen Support,221 bei Choreos sowie bei Pyroshows
und durch seine Abneigung gegen den so genannten „Calcio Moderno“222 kann man
ihn durchaus als Vertreter der Ultra-Bewegung betrachten. Auf der anderen Seite
verweist sein Kleidungsstil223 und seine wiederholte Teilnahme an Kick-offs, die er
teilweise sogar mitorganisiert, auf die dem Hooliganismus weitaus näher stehende
Casual-Kultur. Diese Vermischung von verschiedenen „Stilen“ und „Kulturen“ findet
man in seiner Altersklasse relativ häufig; sie ist mitunter ein Anzeichen für eine
gewisse Orientierungslosigkeit und das (bisherige) Fehlen von fest verankerten
Grundwerten,224 die nicht zuletzt auf die soziale Situation zurückzuführen ist: Livo
zum Beispiel steckt noch in einer Ausbildung; Beruf und Familie verlangen noch
keine Rücksichtnahme und auch kein Verantwortungsbewusstsein wie von älteren
Personen.
Man muss in diesem Zusammenhang noch einmal auf die im vorherigen Kapitel
beschriebenen Beobachtungen von Christian Bromberger zurückkommen, der in
seiner Studie „le match de football“ auf den gewissermassen „vorgezeichneten
Weg“225 von Fussballfans hingewiesen hat. Führt man diese Beobachtungen von
Bromberger einen Schritt weiter, findet man sich bei Victor Turner und seinem
„Struktur-/Anti-Struktur“-Modell wieder. Demnach kann man davon ausgehen,
dass sich gewisse Mitglieder von Abarticus in einer Schwellenphase226 befinden und
öffentlichen Plätzen (z. B. am Bahnhof) stattfinden und bei weitem nicht so übersichtlich ablaufen wie etwa
FWW`s, sind immer wieder unbeteiligte Personen von gewalttätigen Übergriffen betroffen.
221
An gewissen Spielen hat Livo sogar den Part des Capos übernommen; gerade wenn der etatmässige Capo der
Bierkurve, Bob, nicht dabei war.
222
Sein Kommentar zur neueren Entwicklung im Profifussball: „Traurig. Echt nur traurig. Fussball wird immer
mehr zu einem Produkt verkommerzialisiert. Die Vereinsbosse wollen nur so Schicki-Micki-Fans, überall gibt’s
nur noch Sitzplätze. Das macht den Fussball kaputt. Aber irgendwann werden sie merken, dass es so nicht geht.
(…) muss dagegen ankämpfen. Lieber zu früh Zeichen setzen, als zu spät.“
223
Livo ist an den Spielen stets gepflegt angezogen: Blue-Jeans, Polo-Hemd, sportliche Jacke, Baseballcap,
oftmals sogar mit Lederhandschuhen.
224
So besteht etwa zwischen seiner ziemlich extremen linken Einstellung (auch in Bezug auf Asylpolitik) und
dem relativ unkritischen und problemlosen Anwenden von Gewalt doch ein gewisser Widerspruch, richtet sich
linke Gewalt doch primär gegen Sachen und Institutionen und weniger gegen Menschen.
225
Siehe dazu: Fussnote 193 auf Seite 68. Dieser „vorgegebene Weg“ ist natürlich längst nicht auf alle
Stadionbesucher übertragbar und nur ein Zugang unter vielen. Dennoch ist es erstaunlich, wie viele BierkurvenFans tatsächlich diesen Weg gegangen sind oder immer noch gehen.
226
Während der Schwellenphase befindet sich der Mensch in einem Schwellenzustand (liminality), in welchem
das Schwellenwesen weder „hier noch da“ ist, es ist „dazwischen“. Während die Gesellschaft allgemein
strukturiert, differenziert und hierarchisch geordnet ist, wird sie in der Schwellenphase zu einer Communitas, zu
einer offenen Gesellschaft, die nur rudimentär strukturiert ist und relativ indifferenziert, eine „Gemeinschaft
Gleicher“ quasi. (Struktur vs. Anti-Struktur). Siehe dazu: Turner, Victor. Das Ritual. Struktur und Anti-Struktur.
Frankfurt/M., 1989.
79
somit eine Communitas227 bilden, die sich grundlegend von der übrigen Gesellschaft
(in diesem konkreten Fall auch von der übrigen Kurve) unterscheidet. Während dieser
Schwellenphase, in der die üblichen und verbreiteten gesellschaftlichen Normen und
Regeln aufgehoben sind, lotet das Schwellenwesen die vorhandene „Freiheit“ aus und
versucht sich in ganz verschiedenen Feldern.228 Erst nach dem Austritt aus der
Schwellenphase hat die betreffende Person eine bestimmte Richtung eingeschlagen
und verfolgt diese dann auch konsequent(er). Wohin die Richtung nach der
Schwellenphase führt, kann nicht vorausgesagt werden. Sie kann zum Hooliganismus
führen, zum kontrollierteren und gemässigteren Support à la BKSH-Verein, auf die
Sitzplatztribüne oder sogar zum völligen Desinteresse am Fussball und an der
Fankultur.
Livo auf jeden Fall tut sich in einer Selbsteinschätzung als Fan schwer; ein weiteres
Indiz dafür, dass die gängigen wissenschaftlichen und populären Kategorien und
Definitionen der komplexen, vielschichtigen und wechselhaften Wirklichkeit nicht
gerecht werden: „Kategorie B plus. Erlebnisorientiert (lacht). Nein, ich sehe mich
weder als Ultra, noch als Hool und schon gar nicht als Kutte. Ich bin Fan vom FCS
und ich interessiere mich für diese Kultur. Am ehesten bin ich schon ultraorientiert,
aber ich will mich da jetzt nicht einteilen lassen. Wenn ich schon an Kick-offs
mitmache, dann kann ich mich ja kaum noch Ultra nennen. Ich bin einfach ein
Fussballfan, ein fanatischer.“
•
Sella229 (CH) ist die einzige Frau in der Fan-Gruppierung. Die 19-jährige
Zahntechnikerin wohnt in Schaffhausen und ist nach eigenen Angaben „Rassistin
gegen Arschlöcher“ und tendenziell links eingestellt. Sie hat früher selbst Fussball
gespielt, hatte aber nie einen Bezug zum FCS, ehe sie von einem Kollegen vor etwas
mehr als zwei Jahren an ein Spiel „geschleppt wurde“ und „sogleich begeistert war“.
In die Bierkurve ist sie erst vor eineinhalb Jahren „gerutscht“, weil sie damals an der
Berufsschule eine Arbeit über Hooligans schrieb und die „Leute an den Spielen
beobachten und erleben“ wollte.
227
Tatsächlich erfüllt Abarticus einige zentrale Punkte einer Communitas: die Gruppierung ist nur schwach
strukturiert und kennt nur rudimentäre Hierarchien, das Alter der Mitglieder liegt zwischen 17 und 25 Jahren,
deckt also nur eine schmale Bandbreite ab.
228
Auf das Fussballspiel bezogen: Support, Choreos, Pyro, Kick-offs, Ground-hoppen, etc.
229
Ich kannte Sella vom Sehen her schon länger und habe sie schon ziemlich bald einmal bezüglich eines
Interviews angefragt. Da sie mitten in der Lehrabschlussprüfung stand, konnten wir das Interview „erst“ am
21. Juli 2005 im Falken durchführen. Es fand im Vorfeld einer Abarticus-Sitzung statt und obschon mit der Zeit
immer mehr Leute an unserem Tisch sassen, liess sich Sella davon nicht stören und gab bereitwillig und offen
Antwort.
80
Sella hat über die Bierkurve und vor allem über Abarticus „eine Menge neuer Leute
kennengelernt“230 und schätzt das „freundschaftliche Verhältnis untereinander“, das
„Fest mit allen“. Gerade das gemeinsame und enthemmte Erleben und Ausleben von
Emotionen scheint ihr in der Bierkurve besonders zu gefallen: „Es gibt da so etwas
Schönes, das nennt man Flow-Erlebnis. Und dieses Flow-Erlebnis, das ist so, einfach
das Adrenalin, das dich ansteckt. Wenn man natürlich niemanden kennt und nur so
dasteht und das Spiel schaut, dann hat man auch nicht so einen Adrenalinstoss, wie
wenn man mit allen zusammen schreien, hüpfen und tun kann. (…) Es ist jedes Mal ein
kleiner Kick, auch mit den ganzen Emotionen, die eine Rolle spielen.“
Wie Jacqueline Homberger, fühlt sich auch Sella als Frau sicher und wohl in der
Bierkurve: „Ich glaube, ich bin selbst auch nicht gross anders, als die meisten in der
Kurve. Also da erreiche ich ab und zu die gleiche Ebene, wie die brüllenden und
schreienden Typen, die du eben beschrieben hast (lacht).“ Sie hat bisher noch keine
Situation im Stadion erlebt, in der sie sich „angemacht oder angepöbelt“ gefühlt hat,
„von den eigenen Fans schon gar nicht, (…) und wenn es jetzt mal zu einem kleinen
Kick-off kommt, also da war ich schon oft dabei, (…) bin stehen geblieben. Wer weiss,
was mich erwartet hätte? Klar, ich hätte brutal kassieren können, aber die meisten
Fans machen sowieso automatisch einen Bogen um Frauen und ignorieren sie. Die
suchen sich gleich einen Schlägerpartner“, sieht sie sogar einen Vorteil darin, eine
Frau zu sein.
Obschon sich Sella von den „Abarticus-Jungs“ integriert und „gleichberechtigt
behandelt“ fühlt, bleibt ihre Aufgabe innerhalb der Gruppierung im klassischen
Rollenbild verhaftet: Sie ist die „Servierdüse“ an den Abarticus-Sitzungen. „Klar,
klar, aber ich habe sie immerhin dazu gebracht, dass sie mir Trinkgeld geben“, lacht
sie, als ich sie während des Interviews auf ihre „klassische Frauenrolle“ anspreche,
ehe sie ins Stocken gerät und länger überlegt: „Ja, also, ab und zu habe ich schon ein
wenig das Gefühl, ich sitze nur da, um mal wieder eine Bestellung aufzunehmen und
das Bier zu holen“, entgegnet sie schliesslich und erntet dafür grosses Gelächter von
den anwesenden Abarticus-Jungs, „Ja, für was bist du sonst da?“, meint ein Mitglied
sogar scherzhaft, ehe sie einstimmig beteuern, dass es „cool“ sei, auch eine Frau in
den eigenen Reihen zu haben. Diese kurze Episode ist exemplarisch für den Umgang
zwischen Sella und den übrigen Abarticus-Mitgliedern: Sella wird als vollwertiges
Mitglied der Gruppierung angesehen aber gleichzeitig immer auch als Frau. Nimmt
230
Während meiner Untersuchung ist Sella auch mit „Adi“ zusammen gekommen, der ebenfalls ein Mitglied von
Abarticus ist.
81
man Bezug auf die „Rollenmuster für Fussballfans“, die im Kapitel 2.6. vorgestellt
wurden, wird Jacqueline Homberger in den Reihen von BKSH als „emanzipierter
weiblicher Fan“ wahrgenommen, während es Sella nicht schafft, aus der
„Frauenrolle“ zu schlüpfen und nur noch als Abarticus-Mitglied betrachtet und
behandelt zu werden. Das hängt aber in erster Linie mit dem direkten Umfeld
zusammen und weniger mit dem Typ:231 Im BKSH-Verein ist Jacqueline eine von
mehreren Frauen, wohingegen Sella die einzige weibliche Person von Abarticus ist.
Wo Jacquelines Präsenz innerhalb ihres Umfeldes, wie auch von aussen betrachtet,
nicht weiter auffallend ist, sticht Sella in den Reihen von Abarticus sofort heraus.
Sella, die sich selbst als B-Fan bezeichnet, ist sich dieser Sonderrolle sowohl innerhalb
der Kurve, wie auch innerhalb von Abarticus bewusst, und geht ziemlich
selbstbewusst damit um: „Was andere Leute über mich denken, interessiert mich
nicht. (…) Ich gehe an ein Spiel, weil ich die Leistung von der ganzen Mannschaft
schätze232 und natürlich wegen der Stimmung. (…) Es ist etwas Geiles, mit all den
Leuten in der Kurve zu stehen und zusammen eine Party zu feiern und auch das Spiel
zu schauen. Da sind all die Einflüsse von aussen und auch von innen her, wenn es
dann zu brodeln beginnt, das ist unbeschreiblich, es ist der Hammer!“
•
Der 22-jährige „Psycho“233 (CH, wohnhaft in Thayngen) ist von Beruf
Lüftungsanlagenbauer und ist politisch Mitte-rechts eingestellt. Psycho ist in Zürich
aufgewachsen und war früher FC-Zürich- und vor allem ZSC-Fan.234 Damals
verkehrte er auch in Hooligan- sowie rechtsextremen Kreisen.235 Als er vor etwa zwei
Jahren in den Kanton Schaffhausen gezogen ist, wollte er auch „mit dieser
Vergangenheit abschliessen“. Ganz vom Fussball konnte er allerdings nicht loslassen
und ist dann „zwei, drei Spiele vor dem Aufstieg in die NLA“ zum FC Schaffhausen
gestossen und in der Abarticus-Gruppierung gelandet: „Ich fand es genial, dass es
eine kleine Gruppierung war, die noch in der Aufbauphase war. Die ganze Fanszene,
231
Obschon Sella im Rollenmuster-Modell eher die so genannte „Jungen-Rolle“ übernimmt. (Wie sie zuvor
ausgeführt hat, schreckt sie nicht vor Kick-offs zurück, hat auch schon gezündet und hält, was den Konsum von
Alkohol und Tabak betrifft, problemlos mit den übrigen Abarticus-Fans mit).
232
Gerade im Falle der Mitglieder von Abarticus darf man diesen Aspekt nicht unterschätzen: Bei aller
Selbstinszenierung, bei allem Konkurrenzdenken gegenüber des gegnerischen Fanblocks, bei allem Spass und
aller Freude an der Stimmung und Atmosphäre in der Kurve selbst, steht doch bei grundsätzlich allen
Mitgliedern das Interesse am Spiel und an der Mannschaft im Vordergrund.
233
Das Interview mit Psycho fand am 4. August 2005 im Falken statt. Ich habe ihn schon ein paar Mal zufällig
im Zug von Zürich nach Schaffhausen getroffen und mit ihm geplaudert. Schliesslich hat er sich sehr gerne
bereit erklärt, ein Interview mit mir zu machen.
234
Der „Zürcher Schlittschuh-Club“ spielt in der höchsten nationalen Spielklasse Eishockey.
235
Psycho hatte unter anderem drei Jahre Stadionverbot.
82
die Fankultur, das war noch im Entstehen. Und klar zünden sie mich halt an, als
ehemaligen FCZ-Fan, das ist logo, dass man dumm angemacht wird. Aber sonst ist da
nichts, die haben alle gemerkt, dass ich mittlerweile voll hinter dem FCS stehe.“
Psycho hat die Bierkurve und insbesondere Abarticus als idealen Sozialisations-Ort
erlebt, an dem es ihm, als Neuankömmling in der Region, möglich war, auf
unkomplizierte und rasche Art und Weise einen neuen Kollegenkreis aufzubauen:
„Ich habe extrem viele Kollegen bei Abarticus gefunden. Fussball verbindet einfach,
und das fast weltweit stellenweise. (…) Du hast in der Kurve nicht nur
Gelegenheitskollegen, die triffst du auch sonst immer wieder. Wir machen zum
Beispiel gemeinsame Sauftouren, oder man trifft sich im Ausgang. Wir hocken noch
oft zusammen. Es sind eben wirklich Kollegen, nicht nur für 90 oder 120 Minuten.“
Dank seiner offenen, zuweilen vorlauten und sehr extrovertierten Art, aber auch durch
seinen Einsatz bei Choreografien und beim Support, hat Psycho sehr schnell seinen
Platz in der Gruppierung gefunden. Er ist bis zu einem gewissen Grad die
Betriebsnudel von Abarticus, der wirklich stets an vordester Front236 mitmischt und
zur Unterhaltung der Gruppe beiträgt.
Das Beispiel der raschen und problemlosen Integration von Psycho zeigt auf, dass die
Bierkurve und Abarticus ein Sozialisations-Pool für neu Dazugestossene sein können
(aber nicht zwingend müssen).237 Gleichzeitig kann man daraus ableiten, dass die
Kurve und in diesem Falle auch der Fussballverein (FCS), als Lokalitätsproduzent238
wirken kann: Psycho, als Zürcher, hatte bis zu seinem Umzug nach Thayngen keinen
Bezug zur Stadt oder zur Region Schaffhausen und den Leuten hier. Im Stadion Breite
befand er sich plötzlich unter Leuten, die er „instinktiv versteht“, die „springen,
singen und schreien und in diesem Moment genau die Emotionen spüren, die auch du
verspürst“. In diesem Sinne ist ein Fussballverein und auch eine Fankurve fähig, eine
Verbundenheit, einen Bezug zu den Leuten einer Region und einer Stadt herzustellen.
236
Daher kommt auch sein Spitzname „Psycho“. Vor allem wenn es um Pyro, Kick-offs oder ums Trinken und
„Party machen“ geht, ist er praktisch immer dabei, ungeachtet der Konsequenzen.
237
Psycho hatte zum Beispiel einen grossen Vorteil, weil er die Fussballfan-Szene schon von Zürich her kannte
und bis zu einem gewissen Grad wusste, was ihn erwartete und wie er zu handeln hat.
238
Lokalität ist für den Kulturanthropologen Appadurai eine brüchige, sich verändernde soziale Schaffung und
auch eine „Struktur des Gefühls“. Lokalität beinhaltet also auch eine emotionale Komponente. Er unterscheidet
zwischen Lokalität, als Aspekt des sozialen Lebens, und dem Ort (neighborhood), als tatsächlich existierende
soziale Form. Beide müssen zwingend erschaffen (produziert) werden. Das geschieht einerseits durch eine
materielle Produktion (Hausbau, Weg- oder Strassensystem, Bewirtschaftung der Felder und Gärten, etc.) und
auf der anderen Seite durch so genannte rituelle Praktiken (performance, representation and action), die nicht nur
den Menschen sozialisieren und verorten, sondern auch den Raum und die Zeit (zum Beispiel die Bierkurve, das
Stadion Breite). Siehe dazu: Appadurai, Arjun. Modernity at Large, Cultural Dimensions of Globalization.
Minnesota, 1996.
83
„Fussball besitzt offenbar die Kapazität, um die kulturelle Identität eines Dorfes, einer
Stadt, eines Landes oder eines Kontinentes zu definieren“, hat auch Thomas König in
seiner soziologischen Studie239 festgestellt. So fühlt sich Psycho mittlerweile als
„Bierkürvler“ und damit auch als „Schaffhauser“.
In einer Selbsteinschätzung sieht sich Psycho „eher als C-Fan, weil ich auch fighte,
aber auch als B-Fan, weil ich auch für Stimmung sorge“. Obschon auch andere
Abarticus-Mitglieder an Kick-offs teilnehmen und tendenziell als gewaltbereit
einzustufen sind, ist Psycho der einzige, der sich selbst als C-Fan definiert. Er ist
zugleich der einzige, der tatsächlich schon in Hooligankreisen verkehrt hat und somit
einen weniger ultraorientierten Background aufweist als die meisten anderen.240
•
Thurgi241, 18, aus Diessenhofen (TG) absolviert gemeinsam mit Livo die
Berufsmatura und steht politisch „weder links noch rechts, sondern in der Mitte“. Er
ist erst durch den Aufstieg in die Super-League zur Bierkurve gestossen: „Beim FCS
und der Bierkurve spielt natürlich auch ein regionaler Faktor mit. Es gibt ja den
schönen Spruch: „think global, drink local“. Und das gleiche gilt auch beim Fussball:
„Support your local football club“. Und das habe ich mir dann auch zu Herzen
genommen.“242
Thurgis (vorläufige) Karriere bei Abarticus dauerte nicht besonders lange, denn am
28. November 2004, in der 16. Runde der Meisterschaft, an einem Auswärtsspiel
gegen den FC Aarau, beging er einen folgenschweren „Fehler“: „Die Voraussetzung,
dass sie mich erwischten, war die Videoinstallierung. Damit konnten sie mich filmen
während dem Zünden. (…) Diese Videobilder wurden in der Pause offenbar ganz
239
König, Fankultur, S. 115.
Nachtrag: Psycho hat seit dem 7. Oktober 2005 erneut Stadionverbot. Er hat an diesem Abend, anlässlich des
U-21-Länderspiels Schweiz-Frankreich im Breite-Stadion, eine bengalische Fackel gezündet und ist
anschliessend von Leuten des Sicherheitsdienstes identifiziert und in Gewahrsam genommen worden. Offenbar
soll Psycho nun sogar für die vom Schweizerischen Fussballverband erhobene Busse von 5000 Franken
aufkommen.
„Die UEFA hat den Schweizerischen Fussballverband für Petardenwürfe aus dem Publikum während des
U-21-EM-Qualifikationsspiels Schweiz - Frankreich vom 7. Oktober in Schaffhausen mit 5000 Franken gebüsst.
Weil der SFV den FC Schaffhausen mit der Durchführung des Spiels betraut hatte, muss der Super-League-Klub
für die Zahlung der Busse aufkommen. Allerdings ist einer der Täter festgenommen worden und geständig, so
dass die Kosten vom Verursacher übernommen werden sollen.“ Siehe dazu: http://www.football.ch/sfv/de/
inh21873.asp; 19.01.2006. (Wie mir Psycho jüngst erläuterte, muss er die Strafe tatsächlich abbezahlen und zwar
durch eine monatlichen Rate von 150 Franken).
241
Thurgi habe ich über Livo kennen gelernt. Das Interview fand am 21. Juli 2005 bei mir zu Hause im Garten
statt, zuvor sind wir zusammen Mittagessen gegangen.
242
Auch bei „Thurgi“, der aus dem Kanton Thurgau stammt, hat sich der Verein und vor allem die Kurve als
Lokalitätsproduzent erwiesen: „Vor fünf Jahren habe ich mich nicht in dem Masse als Schaffhauser betrachtet,
wie ich das jetzt tue. Ich meine, wenn ich jetzt in Zürich bin, dann sage ich, dass ich aus Schaffhausen bin und
nicht aus Diessenhofen.“
240
84
genau ausgewertet und dann haben sie es mit unserem Sicherheitsbeauftragten
besprochen (…) dass sie, sobald einer herausläuft, ihn dann holen. Ich war damals
noch relativ unerfahren und bis aus der Kurve hinausgelaufen und dann haben sie
mich natürlich geholt.“243 Seit diesem Vorfall vor über einem Jahr, hat Thurgi
Stadionverbot und kann die Spiele des FC Schaffhausen nicht mehr besuchen.244
Trotzdem wird er wieder Zünden, wenn sein Stadionverbot aufgehoben ist. Einerseits
wegen der emotionalen Komponente245 und andererseits weil es für Thurgi „zur
Fankultur dazugehört, (die er sich) nicht kaputt machen lassen (will“).
Pyroshow in der Bierkurve
243
„Wenn ich schon mehr Erfahrung gehabt hätte, wäre ich nicht alleine unterwegs gewesen“, sagt Thurgi
rückblickend, der damals noch relativ frisch in der Fanszene war. Es ist tatsächlich viel sicherer für einen
„Pyromanen“, sich in einer möglichst grossen Gruppe aufzuhalten, weil sich dann die Leute vom
Sicherheitsdienst nicht trauen, einzelne Personen herauszupicken. Gerade in diesem Zusammenhang kommt es
immer wieder zu gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen Ultras und Leuten von Sicherheitsdiensten.
244
Bei Auswärtsspielen kommt Thurgi zuweilen trotzdem mit, er sitzt dann einfach in einem neutralen Block,
wo die Eingangskontrollen nicht so streng sind.
245
„Die Power, die aus einer solchen Fackel strömt, kann man auf den eigenen Körper ableiten, das war ein
Superfeeling!“, sagt Thurgi über das Zünden und bezeichnet das Abbrennen der bengalischen Fackel in Aarau
sogar als „einen der schönsten Momente, den ich in der Kurve erlebt habe“.
85
Da sich die Aktivitäten von Abarticus nicht auf ein Fussballspiel beschränken,
verkehrt Thurgi trotz seines Stadionverbotes weiterhin mit Abarticus-Mitgliedern.
Während die sozialen Kontakte also (eingeschränkt) weiterbestehen, fehlt Thurgi die
Atmosphäre in der Bierkurve und das Ausleben seiner Fankultur: „Wenn du ins
Stadion reinkommst, ist das ein anderes Leben. Dort hast du nicht deinen Anzug an,
oder eine Nummer auf dem Kopf. Du bist dort derjenige, der du auch sein möchtest,
der du bist. Du kannst dort dein Leben geniessen. (…) Du findest im Stadion vielleicht
das, was in der heutigen Welt sonst ein bisschen fehlt: Du kannst deine Emotionen
loswerden, sie zeigen. (…) Man muss sich im Stadion auch nicht schämen, wenn man
ausser sich ist, man darf auch mal rot werden, darf mal durchdrehen und schreien, du
hast niemanden, der von oben auf dich hinab sieht. Dort stehen alle zueinander, alle
stehen zu ihrem Verein und hinter dem Vereinsziel. Es ist nicht so, dass jeder nur sein
eigenes Ziel verfolgt“. Aus diesen Aussagen geht klar hervor, dass Thurgi die
Bierkurve als „sozialen Ort“ wahrnimmt, der ihm eine willkommene Auszeit von den
Routinen und Regeln des Alltags bietet. Es ist ein Ort, den er auch ganz bewusst von
seiner restlichen Umwelt abgrenzt. Das Stadion wird in seinem Verständnis fast schon
zu einer „Oase“, in der „kein Leistungsdruck und kein Konkurrenzkampf“ herrscht.
Diese Wahrnehmung des Stadions als „Oase“ und sozialer Ort, an dem „controlled
decontrolling of emotions“ nicht nur möglich, sondern fast schon erwünscht sind,
teilen allerdings nicht nur die Mitglieder von Abarticus, sondern die grosse Mehrheit
der gesamten Bierkurve. Gerade dieses bewusste Ausleben von ans „ganze
Spielgeschehen“246 gebundenen und damit nicht vorhersehbaren Emotionen und
Gefühlen, die unter Umständen sogar in einer Entfesselung, einem Rausch247 gipfeln
können, deckt offenbar ein bei vielen (jüngeren) Menschen vorhandenes Bedürfnis ab.
Die zuweilen extrem ausgeprägte emotionale Verbundenheit der Bierkurven-Fans zu
ihrem Verein und seinem (sportlichen) Schicksal, erklärt sich einerseits mit einer
hohen Identifikation dem FCS gegenüber248 und auf der anderen Seite im Selbst246
Mit „ganzem Spielgeschehen“ meine ich in diesem Zusammenhang das hoch komplexe Zusammenwirken
von Spiel (Spielsituationen), den Protagonisten auf dem Rasen (inkl. Schieds- und Linienrichter) und nicht
zuletzt der Zuschauer im Stadion.
247
Schmidt-Lauber spricht in diesem Zusammenhang von einem „kathartischen Charakter“, den der „Rausch an
Emotionen“ bringt. Siehe dazu: Schmidt-Lauber, FC St. Pauli, S. 15.
248
Für praktisch alle Bierkurven-Fans repräsentiert der FCS, mehr als jeder Politiker oder andere „öffentliche“
und bekannte Personen oder Institutionen, die Region Schaffhausen. Dieses Verständnis steht im krassen
Gegensatz zu jenem der Spieler selbst ihrem Verein gegenüber, der für sie in erster Linie ein Geld- und
Arbeitgeber ist. Ihre Verbundenheit zum Verein weist also auf eine andere (finanzielle) Ebene hin. Aus diesem
Grund identifizieren sich auch die meisten Fans nicht in erster Linie mit der Mannschaft und einzelnen Spielern,
sondern mit dem Verein an sich, seinem Wappen, seinen Farben, seiner Geschichte, seinem Stadion und
natürlich seinen Fans.
86
Verständnis der Fans, die sich als so genannten „12. Mann“ betrachten. „Sie wünschen
sich, mit allen verfügbaren Mitteln, Einfluss auf den Spielausgang zu nehmen“,249
schreibt Bromberger über die Absichten der Fans; meiner Meinung nach wünschen sie
es nicht nur, sie sind sogar überzeugt davon, dass ihr Support Einfluss auf den
Spielausgang und die Spieler hat.250
•
„Bob“251 (CH) ist 20 Jahre alt und wohnt in Schaffhausen. Nach einer
abgeschlossenen KV-Lehre arbeitet er zurzeit auf dem Bau. Politisch sieht sich Bob
eher im rechten Lager, „aber nichts Extremes“. Wie zuvor schon Rouven, ist auch Bob
über den legendären Cup-Final 1994 gegen GC Zürich zum FC Schaffhausen
gestossen: „Ich hatte keine Ahnung von Fussball, aber in Schaffhausen herrschte
damals eine ziemliche Euphorie. (…) Es ging gegen GC und ich dachte, die schlagen
wir mit links (lacht), ich wusste gar nicht, was GC ist. Tja, das ist jetzt elf Jahre her.“
In der Bierkurve verkehrt Bob schon ziemlich lange, weil er bald gemerkt hat, dass
„in der Bierkurve mehr abgeht als beim Fair-Fan-Club“.
Bob hat auch schon an Kick-offs teilgenommen,252 sieht sich aber selbst, wie fast alle
bei Abarticus, als Ultra und weist in unserem Gespräch auf den Zusammenhang von
Gewalt und Ultra-Mentalität hin: „Ein Ultra lebt den Verein auch in den Alltag hinein,
der ist bereit für seinen Verein zu kämpfen, wenn es um etwas geht, also im wörtlichen
Sinn jetzt. Der ist angefressen, geht an die Auswärts- und Heimspiele und will seinen
Verein sowohl farblich, wie auch akustisch unterstützen und der hat wirklich das
Gefühl, dass er auch ausserhalb des Stadions so zur Mannschaft stehen muss, dass er
den gegnerischen Fans zeigt: Hey! Ich bin Schaffhauser und wenn du jetzt nicht weg
gehst, dann gibt es vielleicht bald eines auf die Nuss.“253
249
Bromberger, Football, la bagatelle plus sérieuse du monde, S. 111.
Siehe dazu den Kommentar von „Milan“, ebenfalls Abarticus-Mitglied: „Wir wollen das Spiel beeinflussen,
das heisst, wir wollen Choreografien machen, Stimmung, Lärm, damit sich die Spieler motiviert fühlen. (…)
Ja klar, ich glaube, du kannst jeden Spieler beeinflussen mit der Stimmung. Es ist ja schliesslich egal, ob du mit
80`000 oder mit 3000 Fans aufmarschierst, wenn die Fans etwas machen, lässt du dich als Spieler sicher auch
beflügeln.“ Selbst der Sportchef des FCS, Christian Stübi, glaubt an die „Kraft des 12. Mannes“: „(Die
Bierkurve) ist der Teil des Stadions, wo die Emotionen, die Lautstärke und die Farbe ins Spiel gebracht werden,
mit den Choreografien und so. Und dank dem, dank dem Enthusiasmus kann die Mannschaft den einen oder
anderen Punkt mehr einfahren. Es ist schon etwas anderes, wenn man vor der Bierkurve spielen muss. Man
macht Druck, holt Eckstösse raus.“
251
Das Interview mit Bob fand am 9. August 2005 im Restaurant Falken statt. Ich hatte ihn zuvor als eher
verschlossenen und verschwiegenen Typen kennen gelernt. Während des Interviews und im langen Gespräch
danach hat er aber sehr offen und ausführlich über sein Fan-Dasein gesprochen.
252
„Das ist für mich Stressabbau“, sagt Bob über seine Motivation, an (vereinbarten) Kick-offs teilzunehmen.
253
In dieser Aussage kommt sehr schön die in Kapitel 2.7. aufgeworfene Verbindung vom Identifikations- und
Territorial-Gedanken zur Gewalt hervor.
250
87
Eine sehr prägende Rolle innerhalb der Gruppierung und der gesamten Bierkurve
kommt Bob auf Grund seiner „Rolle“ als Capo zu. „Da bin ich einfach irgendwie
reingewachsen, weil ich schon immer einer war, der ein bisschen eine grosse Klappe
hatte und der immer wollte, dass Stimmung im Stadion herrschte. Es hat so begonnen,
dass ich versucht habe, die Leute zu motivieren: Kommt jetzt, lasst uns was singen,
jetzt singen wir das und das und das! Und dann habe ich irgendwann bei einem
anderen Klub entdeckt, dass die ein Megafon haben, da habe ich mir gesagt, so was
brauche ich auch. (…) Mit einem Megafon kann man halt einfach mehr Leute
erreichen. Und dann habe ich mir auch so ein Megafon zugetan. So bin ich eigentlich
dazu gekommen (… und) auf dem Haag254 gelandet (lacht).“
Bob auf dem Zaun; in seiner Rolle als Capo:
Die Reaktionen und Rückmeldungen auf seinen Job als „Hampelmann dort oben“
sind mehrheitlich positiv, weil es eine unbestrittene Tatsache ist, dass der Capo (und
254
Der Capo blickt im Gegensatz zu den übrigen Fans nicht aufs Spielfeld, sondern auf die Fankurve und
versucht diese durch gezieltes Vorsingen zu einer akustisch wahrnehmbaren Einheit zu formen. „Nein, das
macht mir nichts aus. Ich habe genug vom Spiel, wenn ich sehe, dass die anderen mitmachen. Ich sehe natürlich
auch die Anzeigentafel, das genügt mir (lacht)“, meint Bob auf die Frage, ob es ihn nicht störe, das eigentliche
Spielgeschehen zu verpassen: „natürlich gibt es schon Zeiten, da fühlt man sich irgendwie gross, wenn man
einfach sieht: Hey cool, die Leute singen das, was ich will. Aber ich versuche es immer aus dem Grund zu
machen, dass die Leute mitmachen, dass eine Atmosphäre entsteht im Stadion“.
88
sein Megafon) die Stimmung in der Bierkurve (akustisch) klar verbessern.255 Dennoch
gibt es auch ein paar kritische Stimmen. „Ich finde, wenn es positiv ist, was geschreit
wird, dann ist das eine tolle Sache. Und mehrheitlich ist es auch meistens gut und
positiv. (…) Mühe habe ich irgendwie damit, wenn die Stimmungslage so ist, dass man
nur noch Hurensohn herumschreit, dann finde ich das nicht nötig“, meint etwa Simon
Baumann über die zuweilen beleidigenden und sexistischen Gesänge und Lieder, die
der Capo anstimmt. Ab und zu hört man in der Bierkurve auch Kritik an der Person
von
Bob,
der
einigen
„Bierkürvlern“
zu
„fordernd“
und
„zu
wenig
abwechslungsreich“ ist. 256
Seit dem ersten Heimspiel der neuen Saison vom 23. Juli 2005 gegen Neuchâtel
Xamax, darf Bob auf Anweisung des Sicherheitsverantwortlichen des FCS, Matthias
Bührer, nicht mehr auf den Zaun klettern, um von da aus die Bierkurve als Capo zu
„dirigieren“. Bob war an besagtem Spiel ziemlich stark alkoholisiert und ist mehrere
Male beinahe vom Haag gefallen. Offenbar hat Matthias Bührer in der
Zusammenfassung des Spiels im Sportprogramm des Schweizer Fernsehens bemerkt,
dass sich Bob nicht immer unter Kontrolle hatte und daraus die Konsequenzen
gezogen.257 Seither steht Bob, oder sein Ersatz, meistens auf einer umgekippten
Plastikabfalltonne, um wenigstens ein bisschen erhöht zu stehen.
Ich habe im Rahmen meiner Feldstudie über die Bierkurve und ihre Fans noch mit vier
weiteren Mitgliedern von Abarticus Interviews geführt. Ihre Portraits werden etwas kürzer
gehalten, weil es kaum Verweise auf den Theorieteil geben wird. Der Vollständigkeit halber,
und auch um die individuelle Vielfalt innerhalb der Kurve und von Abarticus zu
unterstreichen, möchte ich sie doch kurz vorstellen:
•
„MB“ ist 17 Jahre alt und kommt aus der Reiat-Gemeinde Thayngen. Er besucht
zurzeit das Gymnasium in Schaffhausen und „hat keine so klar definierte politische
Gesinnung“, ist aber „doch eher ein wenig rechts“ eingestellt. Auch MB ging zuerst
255
Während meiner Untersuchung gab es zwei, drei Spiele, an denen weder Bob noch sonst jemand, die Rolle
des Capos übernommen hat. Die akustische Stimmung hat darunter massiv gelitten. Es wurden nur schon von
Grund auf weniger Lieder und Gesänge angestimmt und kaum einmal hat die ganze Bierkurve mitgemacht.
256
Zufällig aufgeschnappte Kommentare von Bierkurven-Fans an den Spielen. Meiner Meinung nach kommt es
bei Bob immer auch auf die Tagesform an. An gewissen Spielen ist es ihm wirklich gelungen, die ganze Kurve
akustisch zu vereinen und zusätzlich anzuspornen. Es gab allerdings auch Spiele, wo er sich bei den Gesängen
allzu sehr auf Abarticus bezog, oder fast nur noch Provokationen ins Megafon schrie.
257
Bührers Kommentar dazu: „Ich habe ihm (Bob) vor einem Monat oder zwei Monaten schon fast gesagt, dass
er nicht mehr auf den Zaun klettern darf, aus Sicherheit auch, weil wenn er noch Alkohol hatte und dann
herunterfliegt, das kann Genickbruch, Querschnittslähmung, Kopfverletzungen nach sich ziehen, und und und.
Jetzt mussten wir handeln, bevor etwas Schlimmes passiert“.
89
mit seinem Vater an die Spiele und ist nach dem Wiederaufstieg in die NLB (2002)
„langsam in die Fanszene reingerutscht (…) und seither nicht mehr weggekommen“.
MB distanziert sich in seinen Aussagen ganz klar von Gewalt und Kick-offs und
verzichtet auch auf das „Zünden“ im Stadion, weil er kein „Stadionverbot riskieren
will“. Er war an den Spielen und Sitzungen während der letzten Saison praktisch
immer dabei258 und hat auch beim Choreobasteln und –finanzieren oft mitgewirkt. Im
Gegensatz zu vielen anderen Abarticus-Mitgliedern unternimmt er in seiner übrigen
Freizeit nur selten etwas mit Leuten aus der Gruppierung. Trotz seines jungen Alters
ist MB so etwas wie der ruhige Pol von Abarticus; einerseits wegen seiner sachlichen,
fast schon nüchternen (aber auch humorvollen) Art, und auf der anderen Seite, weil
bei ihm „der Alkohol nicht so eine grosse Rolle spielt“ und er aufs „Kiffen“
verzichtet.259 Es gibt verschiedene Gründe, weshalb sich MB trotzdem Abarticus
angeschlossen hat. Erstens sind die meisten (männlichen) Personen in seinem Alter in
dieser Gruppierung, zweitens interessiert er sich stark für die Fan- und Ultra-Kultur
und drittens geht es ihm „neben dem Anfeuern der Mannschaft und dem Schauen des
Fussballspiels auch um die gute Stimmung und den Spass“.
•
Mein einziges Gruppeninterview habe ich mit „Backe“ (CH/D, 21-jährig), „Günni“
(CH, 22-jährig) und „Milan“ (CH, 24-jährig) geführt.260 Alle drei gehören zur
Gründergeneration von Abarticus, sie sind auch eher etwas älter als der Rest der
Gruppierung. Obschon sie in ihrer Freizeit auch ausserhalb von Abarticus relativ viel
gemeinsam unternehmen, sind sie drei ganz unterschiedliche Typen.
Backe, der zur Zeit des Interviews arbeitslos war, bezeichnet sich als „rechts, ohne
radikal zu sein“ und wohnt in Schaffhausen. Er ist „ein Kind der Breite und gleich
neben dem Stadion in die Schule gegangen“, in der Bierkurve steht er seit fünf, sechs
258
Auf die neue Saison hin (2005/2006) musste MB seinen Einsatz für Abarticus und den FCS etwas reduzieren,
weil er im Sommer seine Matura machen will.
259
In dieser Hinsicht muss man MB schon fast als Ausnahme betrachten, und zwar auf die ganze Bierkurve
bezogen. Siehe dazu: Kapitel 3.4.1.
260
Das Interview fand an einem Donnerstagabend Ende August 2005 bei Milan zu Hause auf seinem Balkon
statt. Leider hat sich das Gruppeninterview nicht bewährt. Es war wohl das witzigste und kurzweiligste Interview
von allen, aber auch das unfruchtbarste, weil viele Antworten scherzhaft gemeint oder übertrieben dargestellt
wurden. Gleichzeitig konsumierten sie alle während der Interviews Gras – nicht gerade in kleinen Mengen – und
Milan trank zudem noch ziemlich viel Bier. Wenig überraschend wurden ihre Antworten mit zunehmender
Dauer immer skurriler und unbrauchbarer.
(einige Beispiele: Auf die Frage, ob sie ein Ritual am Spieltag pflegen: „Ich kratze mich am rechten Sack und
dann am linken, und dann geht es los!“ (Milan); auf die Frage, wie sie die Bierkurve beschreiben würden: „Ich
kann das mit drei Begriffen erklären. Ich sage dem Typen einfach, stell dir das vor: viele, laut, ordinär.“ (Backe)
und „Fussball, ficken, Alkohol (…) eine Erklärung für die grosse Beliebtheit der Kurve ist sicherlich, dass
Schaffhausen ein Alkoholproblem hat.“ (Milan).
90
Jahren, also „praktisch seit es sie gibt“. Obschon sich Backe im Interview in einer
ersten Reaktion vehement von Kick-offs und Pyroaktionen distanziert, ist er vor allem
Pyroshows und auch spontanen Kick-offs gegenüber nicht abgeneigt. Nicht nur in
dieser Situation ist mir aufgefallen, dass Backe gerne als eloquenter „Schauspieler“
auftritt und sich so nur sehr schwer einordnen und charakterisieren lässt. Innerhalb von
Abarticus geniesst Backe als Gründungsmitglied, aber auch als Spassvogel und
ziemlich extrovertierter Typ hohes Ansehen und ist sicherlich eine der prägenden und
auffälligsten Figuren.
Günni, der zurzeit an einer Fachhochschule studiert und sich politisch eher rechts von
der Mitte einstuft, ist ebenfalls schon seit Erstligazeiten an den FCS-Spielen dabei.
Auch wenn er „selbst nicht mehr so oft zündet“, findet er es „geil; es sieht geil aus“
und möchte auch in Zukunft nicht darauf verzichten. Von vereinbarten Kick-offs hält
er nicht viel, meint aber: „Schau, normalerweise verteidige ich mich einfach, mehr
nicht. Aber es kann auch sein, dass mich einer so dermassen nervt und dann auch
noch meint, er müsse mir eine reinhauen, also dann, dann haue ich den schon um. Ich
bin keiner, der gross provoziert.“261 Auch wenn Günni zuweilen etwas übertreibt
(Alkohol, Cannabis) und ein ambivalentes Verhältnis im Umgang mit Gewalt pflegt,
habe ich ihn als vernünftigen und hilfsbereiten Menschen kennen gelernt. Nicht nur
wegen seines höheren Alters kann man Günni gewissermassen als „Vaterfigur“ von
Abarticus betrachten. Ich habe einige Situationen erlebt, in denen er beschwichtigend
und ruhig auf „emotional aufgeladene“ Abarticus-Kollegen eingewirkt hat
(Selbstregulation) und sich nach Spielschluss darum kümmerte, dass alle Fahnen und
DH`s wieder eingesammelt wurden. Ausserdem regelt er die Finanzierung von
Choreografien und Fankleidern.
Milan, der seit längerer Zeit arbeitslos ist und Fussball als seine politische Meinung
deklariert, könnte man an den FCS-Spielen auf den ersten Blick für ein FussballfanKlischee halten: männlich, jung, arbeitslos, asozial und betrunken. In der Tat hat
Milan mit Alkoholproblemen262 zu kämpfen und ist an den Spielen zuweilen kaum
ansprechbar; doch man würde ihm unrecht tun, ihn nur darauf zu reduzieren. Er ist,
solange er nicht zu viel Alkohol und auch Cannabis konsumiert hat, ein sehr
261
Als Günni dies während des Interviews sagt, räuspern sich die anderen und meinen dann: „Suffbedingt kannst
auch du mal provozieren, wir kennen dich, Günni!“
262
Gerade seine besseren Kollegen von Abarticus versuchen Milan in dieser Hinsicht (und auch bezüglich seiner
Arbeitslosigkeit) zu unterstützen, was im privaten Rahmen einigermassen klappt, nicht jedoch an den Spielen,
wo ein Grossteil der Gruppierung selbst viel Alkohol konsumiert. (Bis zum Interview war Milan ziemlich lang
„trocken“ und hat auch den Wunsch geäussert, das Trinken zu unterbinden; das Bier habe ich mitgebracht.)
91
umgänglicher und zuvorkommender Typ, der für den Fussball lebt.263 Sowohl bei
Abarticus, wie auch in der ganzen Kurve, ist Milan eine (tragisch-komische)
„Legende“, weil er seit Jahren an praktisch jedes Spiel geht und immer mit vollem
akustischem (und alkoholischem) Einsatz dabei ist. Er ist – wie alle AbarticusMitglieder – „Pro-Pyro“ eingestellt, kann aber nichts mit Kick-offs anfangen: „Kickoffs? Pff, das interessiert mich überhaupt nicht, weil ich körperlich eh nicht mithalten
kann“, meint er halb lachend, halb ernst, zu einer wirklichen Distanzierung und
Hinterfragung von Gewalt kommt es allerdings auch bei ihm nicht.
Eine weitere Person, die ich noch in diesem Unterkapitel vorstellen möchte, ist Jasmin
Forster. Sie ist zwar kein Mitglied von Abarticus, war aber zum Schluss meiner Untersuchung
die Freundin von Livo. Davor war sie eine gewisse Zeit lang mit Michi Zaugg vom BKSHVerein zusammen. Sie hat folglich einen sehr guten Einblick in beide Fan-Gruppierungen
erhalten und steht, meistens zusammen mit ihrer Freundin „Nathi“, in der aktivsten Zone264
der Bierkurve.
•
Die
23-jährige
Reiseberaterin
„Jasi“265
(CH)
arbeitet
als
stellvertretende
Geschäftsführerin in einem Zürcher Reisebüro und sieht sich politisch in der Mitte
positioniert. In die Bierkurve ist die ehemals beigeisterte SC-Bern-Anhängerin
(Eishockey) erst vor etwas mehr als zwei Jahren gekommen: „(…) dann kamen die
NLB-Spiele, welche wirklich spannend waren. Schaffen sie es? Steigen sie auf? Und
du hast dort auch neue Kollegen kennen gelernt, es ging was ab am Wochenende.
Plötzlich war dann der Aufstieg perfekt. Dann hat es mich überhaupt nicht mehr
losgelassen!“
Wie schon erwähnt, konnte Jasi in jüngster Zeit einen Einblick sowohl in den BKSHVerein als auch in Abarticus erhalten; sie sieht den Hauptunterschied in den beiden
Gruppierungen vor allem in der unterschiedlichen Altersstruktur: „(Den BKSH263
Milans grosse Leidenschaft ist in erster Linie der Fussballverein AC Milan. Sein Zimmer ist über und über
mit AC-Milan-Artikeln versehen, von der Bettwäsche über Poster, bis hin zu Trikots; alles ist da. (Selbst seine
Unterwäsche ist von AC-Milan-Logos gesäumt). Er hat mir später auch gesagt, dass ihm Milan mehr bedeute als
der FCS.
264
Die aktivste Zone der Bierkurve ist der Sektor, wo Abarticus und BKSH-Verein stehen, unmittelbar hinter
dem Tor.
265
Das Interview mit Jasmin habe ich sehr spät, am 25. Oktober 2005 im Falken, geführt. Der Kontakt ist über
Livo zu Stande gekommen. Es hat sich dann herausgestellt, dass wir uns vom Sehen her kannten. Während sich
die meisten anderen Interviews hauptsächlich auf die Saison 2004/2005 bezogen, hat sich Jasmin praktisch nur
zur neuen Saison 2005/2006 geäussert, die unter ganz anderen Vorzeichen steht. (Es war Saisonbeginn und nicht
-ende; im Fussball-Fachjargon heisst es, die zweite Saison, die Saison der Bestätigung also, sei die schwerste
von allen).
92
Verein) sehe ich als ältere Fangruppierung an, die ein normales Verhalten gegenüber
Aussen zeigen. Ausser die Trommler, die man in Klammern setzen muss.266 Sie sind
reif. (Abarticus ist) herzig, extremer, leidenschaftlicher, wahnsinniger, und vor allem
jünger.“ Die Beobachtung bezüglich des Alters ist absolut korrekt und nicht zuletzt
auch eine Erklärung für das nach Aussen getragene ausdrucksstärkere, „extremere“
und manchmal auch aggressive Verhalten von Abarticus-Mitgliedern. Problematischer
ist der Ausdruck „herzig“; er ist insofern nachvollziehbar, als dass Jasi im Vergleich
zu den meisten Abarticus-Mitgliedern schon etwas älter ist, und in ihrem Handeln und
Wirken wohl noch einen jugendlichen, wenn nicht sogar kindlichen Geist sieht. Diese
Einstellung ist schliesslich doch eher verharmlosend; obschon einige ultraorientierte
Fans ihre Handlungen und Einstellungen zu wenig, oder nur bedingt kritisch,
hinterfragen, sind sie sich ihrem Tun und Handeln bewusst und wollen durchaus auch
provozieren und sich auch ganz bewusst von der übrigen Kurve abheben.
Wie praktisch alle anderen, die sich zum aktivsten Kern der Kurve zählen, ist auch
Jasi „Pro-Pyro“ eingestellt, zündet aber selbst nicht. Zu Kick-offs hat sie eine klar
ablehnende Haltung: „Ich verstehe nicht, wie man so viele negative Energie haben
kann und es auch noch geil findet, andere zu verprügeln. Ich habe auch schon viele
Leute gefragt, weshalb sie das machen und sie sagten immer: „Adrenalin“, aber dann
kann man auch Bungee-Jumpen.“ Jasi weiss natürlich, dass ihr Freund Livo sich
immer mal wieder an abgemachten und spontanen Kick-offs beteiligt und grenzt sich
klar davon ab, wobei sie aber eingesehen hat, dass Kick-offs für Livo einen
Bestandteil seiner Fan-Kultur darstellen: „Ja, das ist ja so eine Sache. Ich weiss, dass
er es macht. Wir haben einfach gesagt, er soll mir solche Dinge vorher sagen, und
sich melden, wenn etwas passiert ist. Und er soll ja nicht meinen, dass ich ihn im
Spital besuchen komme, wenn etwas passiert.“
Wie Jacqueline und Sella hat auch Jasi kein Problem damit, als Frau in der Kurve zu
stehen: „Es kommt halt darauf an, wie du als Frau auftrittst, ich sehe mich ja eher als
Kumpeltypen.267 Ich kann auch mal mit einem Typen ein Männergespräch führen, das
ist kein Problem, ich kann auch mal saudoof tun, oder pervers reden und sein. Ich
glaube, wenn du nicht zimperlich bist, dann hast du kein Problem in der Bierkurve,
266
Jasmin bezieht sich mit dieser Aussage auf die zuweilen rassistischen Äusserungen der beiden ehemaligen
Bierkurven-Trommler „Hermy“ und „Rüeger“.
267
Auch wenn Jasi die Freundin von Livo ist, wird sie nicht als „Beigemüse“ (so werden Freundinnen in der
Kurve genannt, die kein grosses Interesse am Fussballspiel selbst haben und mehr aus Gefälligkeit zu ihrem
Freund im Stadion sind) wahrgenommen. Erstens ist sie schon seit längerer Zeit in der Bierkurve dabei und
zweitens steht sie während des Spiels nicht im „Abarticus-Pulk“ neben Livo, sondern etwas abseits davon am
Rande des Pulks.
93
sonst hast du ein Problem, aber dann bist du ja selbst schuld, wenn du dir das antust“,
sagt sie über ihre Erfahrungen in der Bierkurve und spricht eine sehr wichtige und
wegen ihrer Banalität auch oft übersehene Tatsache an: der Aufenthalt in der
Bierkurve ist immer freiwillig und geschieht aus freien Stücken.268 Diejenigen Frauen,
die folglich (länger) in der Kurve stehen, tun dies aus bestimmten und freiwilligen
Gründen.269
3.3.3.
Peer-Groups
Wir verlassen den aktivsten Teil der Bierkurve und wenden uns der zahlenmässig grössten
„Fan-Gattung“ in der Bierkurve zu. Es handelt sich dabei um so genannte Peer-Groups, ein
Zusammenschluss von Menschen also, die in etwa im gleichem Rang, Status und Alter
zueinander stehen, die sich zu Dutzenden, meistens seit vielen Jahren schon, in die Bierkurve
begeben.
Diese Peer-Groups variieren in der Bierkurve stark in ihrer Grösse;270 sie reicht von
Kleingruppen (drei bis vier Personen) bis hin zu Gruppen von über zwanzig Personen.
Erstaunlich ist dabei, dass die grosse Mehrheit der Peer-Groups geschlechtlich durchmischt
ist, auch wenn die Frauen tendenziell in der Unterzahl sind. Die Peer-Groups setzen sich fast
ausschliesslich aus bereits bestehenden Freundes- und Kollegenkreisen oder zumindest aus
Personen zusammen, die sich über die Fussballspiele hinaus kennen und treffen.
Zum BKSH-Verein und der Abarticus-Gruppierung, die den aktivsten Teil der Kurve
ausmachen, bestehen zahlreiche Unterschiede, die eine bewusste Unterscheidung legitim und
nötig machen. Ein wesentlicher Gegensatz im Vergleich zur aktivsten Szene der Kurve liegt
sicherlich in der fast fehlenden Auseinandersetzung mit der Fussballfan-Kultur und der UltraMentalität. Es kommt dadurch zu keiner Einbettung des persönlichen Fanseins in einen
268
Es kann natürlich schon vorkommen, dass ein Bierkurven-Fan seine Freundin gegen ihren Willen an ein Spiel
„mitschleppt“, aber entweder weigert sie sich dann nach ein paar Versuchen oder integriert sich zusehends selbst
in die Kurve. (Ich konnte während meiner 18 Spielbesuche auf jeden Fall nie beobachten, wie jemand
gezwungen wurde in die Bierkurve zu stehen).
269
Bei allen drei Frauen (Jacqueline, Sella und Jasmin) besteht primär das Interesse am Spiel, an der Mannschaft
und am Spielausgang. Hinzu kommt die Freude an der stimmungsvollen Atmosphäre in der Bierkurve, am
Supporten und an den sozialen Kontakt zu anderen Bierkurven-Fans (vor allem der jeweiligen Gruppierungen).
Sella interessiert sich überdies verstärkt für die Fussballfan-Kultur, die sie in einem (sub-)kulturellen Kontext
versteht und auch auslebt.
270
Auch das Alterspektrum ist sehr weitläufig: Es gibt viele Peer-Groups, deren Mitglieder Anfang 20 bis 30
Jahre alt sind, und andere, in denen die meisten Mitglieder schon auf die Vierzig zugehen. Grob gesagt, sind 20
und 40 Jahre die Unter- bzw. Obergrenze. Es gibt ein paar ältere Herren (ab 45 Jahren), die aber eher als Kutte
zu bezeichnen sind, welche allerdings im aktivsten Teil der Bierkurve stehen.
94
(sub-)kulturellen Kontext; man ist zwar FCS-Fan, assoziiert damit aber keine bestimmten
Verhaltensweisen oder Handlungsnormen. Unter diesem Gesichtspunkt erscheint es auch
logisch, dass sich kaum ein Mitglied von Peer-Groups an Pyroaktionen oder Kick-offs
beteiligt, sondern eher, im Gegenteil, solche Aktionen verurteilt, weil es keinen
Zusammenhang zu seinem Fansein darin sieht. Wie aus den nun folgenden Portraits von PeerGroup-Mitgliedern ersichtlich wird, spielt neben dem Interesse am Spiel und am Schicksal
des Vereins, vor allem der „soziale Faktor“ eine grosse Rolle. In diesem Zusammenhang wird
das Stadion nicht nur zur Stätte des Spiels und zu einer Plattform für das Ausleben des
Fanseins, sondern vorrangig zu einem Treffpunkt, an dem die Möglichkeit besteht, in einem
genau festgelegten Zyklus271 soziale Kontakte zu knüpfen und pflegen. Das gemeinsame
Gespräch, das Kommentieren des Spielgeschehens, das Ausleben von kollektiv empfundenen
Emotionen sowie das Erleben des Spiels in einer „vertrauten Runde“, in der man sich „ganz
natürlich bewegen und auch mal Emotionen zeigen kann“, sind für viele Peer-GroupMitglieder wichtige Gründe für den Matchbesuch.272 Das Fussballspiel selbst und das Fansein
bilden einen zeitlichen und örtlichen Rahmen für Interaktionen und Prozesse, die weit darüber
hinausgehen und den Matchbesuch deshalb zu einem zentralen Freizeitereignis machen.
Unterschiede sind auch in der Kleidung festzustellen. Während sowohl die BKSH- wie auch
die
Abarticus-Mitglieder
meist
selbst
entworfene
und
verkaufte
Fankleider
und
-utensilien tragen, kleidet sich der Grossteil von Peer-Group-Mitgliedern nicht anders als in
der übrigen Freizeit; bis auf diverse Fanschals, die sogar sehr häufig getragen werden. Und
während der aktivste Teil der Kurve oftmals von der ersten bis zur letzten Minute für
(zumindest akustische) Stimmung in der Bierkurve sorgt, agieren viele Peer-Groups, je nach
Spielverlauf, überwiegend passiv und beteiligen sich nur sporadisch am Support. Oftmals
braucht es gewisse Schlüsselreize273, damit sich die Stimmung auf die ganze Länge der
Bierkurve ausbreitet und auch die Peer-Groups flächendeckend erreicht.
Obschon sich die „Peer-Group-Fans“ weniger fanatisch und offensichtlich am Support der
Mannschaft beteiligen und ihr Fansein nicht so stark betonen und (auch über den Spielbesuch
hinaus) ausleben, ist die Identifikation mit dem FCS und auch mit der Bierkurve erstaunlich
hoch;274 so hoch jedenfalls, dass es für sie „nicht in Frage kommt, zu einem anderen Verein
zu wechseln“, wie Brundle mit Nachdruck betont. Ein sehr zentraler Punkt ist sicherlich der
271
Circa alle zwei Wochen findet ein Meisterschaftsspiel im Breite-Stadion statt.
Kommentare stammen von „Lubo“, der im folgenden Unterkapitel näher vorgestellt wird.
273
Solche Schlüsselreize können unterschiedlicher Natur sein: Schiedsrichterentscheidungen, ein geschossenes
oder kassiertes Tor, eine besonders gute (oder auch schlechte) Phase im Spiel, ein böses Foulspiel oder eine
provozierende Geste eines Gästespielers, etc.
274
Viele Peer-Groups sind auch an Auswärtsspielen dabei, wobei dort die Voraussetzungen anders sind als an
Heimspielen. Siehe dazu: Kapitel 4.1. „Heimspiel vs. Auswärtsspiel“
272
95
ausgeprägte
Lokalpatriotismus
unter
allen
Bierkurven-Fans
und
das
hohe
Identifikationspotenzial des FCS in dieser Hinsicht,275 sowie die bereits angesprochene
Wahrnehmung und Nutzung des Breite-Stadions als zeitlich und räumlich begrenzter
„sozialer Treffpunkt“ ausserhalb der alltäglichen Routine.
3.3.3.1. Mitglieder von Peer-Groups
Während der BKSH-Verein und Abarticus immerhin einigermassen strukturiert und
organisiert sind, hat man bei der grossen Vielfalt und unterschiedlichen Zusammensetzung
der Peer-Groups keine Chance, sie auch nur annähernd in ihrer Ganzheit zu erfassen.
Trotzdem erscheint es mir sinnvoll, einen Blick in das Innenleben einzelner Peer-Groups zu
werfen, um sich ein (eingeschränktes) Bild von Personen hinter solchen Peer-Groups, sowie
von deren Einstellungen und Erfahrungen, machen zu können.
Ich habe mich während meiner Studie der Bierkurve besonders mit zwei Peer-Groups
auseinandergesetzt, die ich nun näher vorstellen möchte.
•
Die „Old-School“-Peer-Group276 besteht aus sechs bis acht männlichen und
gelegentlich einem weiblichen Mitglied, von denen die meisten um die dreissig Jahre
alt sind. Der Begriff „Old School“ bezieht sich allerdings nicht auf ihr Alter, sondern
auf ihre Rolle in der Entstehungsgeschichte der Bierkurve: Von dieser Peer-Group aus
hat nämlich alles angefangen Mitte der Neunzigerjahre.277 Im Verlauf meiner
Untersuchung der Bierkurve habe ich mit drei Personen aus dieser Peer-Group
Interviews geführt.
Der 36-jährige Schaffhauser „Brundle“278 ist Jurist und arbeitet beim Schaffhauser
Sozialversicherungsamt, seine politische Gesinnung ist Links-grün. An die FCSHeimspiele hat ihn sein Vater noch „vor den Achtzigerjahren mitgenommen“, und
seither hat ihn das „FCS-Fieber“ gepackt.279 Auch wenn sich die Bierkurve in den
275
Siehe dazu: Kapitel 3.4.4. „Lokalpatriotismus“
Das ist kein offizieller, sondern ein von mir gewählter Name.
277
Siehe dazu: Kapitel 3.2.1. „Geschichte der Bierkurve“
278
Brundle heisst mit vollem Namen Thomas Brandenberger. Das Interview mit ihm habe ich am 22. Juni 2005
im Restaurant Fass geführt. Ich kenne Brundle seit vielen Jahren, wir spielten eine zeitlang im gleichen
Alternativ-Fussballverein.
279
In seinem Fall kann man tatsächlich von Fieber sprechen. Auf meine Frage, ob ihn der FCS auch im Alltag
begleite, antwortete er: „Man kann sogar sagen, der FCS begleitet mich immer. Ich träume auch vom FCS, ich
träume die ganze Zeit vom FCS (lacht).“ Vor Vaduz habe ich dreimal von diesem Spiel geträumt.
(Das Heimspiel gegen Vaduz Anfang Juni war das erste von zwei Barrage-Spielen. Der FCS, als zweitletzter der
276
96
letzten Jahren stark gewandelt und vergrössert hat, kann sich Brundle immer noch mit
der Bierkurve identifizieren, „ausser, dass ich jetzt nicht mehr an die Spiele gehe und
mir die Kappe ohne Ende fülle. Aber für mich ist die Bierkurve immer noch: Lockere
Leute, die ans Spiel gehen, Fun haben und Sprüche über den Schiri und die Spieler
klopfen, so in der Art.“ Mit der „Machtübernahme“ von Abarticus und dem BKSHVerein hat er grundsätzlich keine Probleme,280 er macht sich aber vermehrt Gedanken
über den schlechten Ruf der Bierkurve, gerade im Zusammenhang mit seinem Beruf
als Jurist: „Ein Kumpel von uns, der zu Beginn mit uns zusammen an den Spielen war
(…) ist immer dagestanden, gehörte auch zu den ersten Leuten in der Bierkurve. Er
und auch ein anderer Kumpel von mir wechseln jetzt rüber an die linke Eckfahne. Ich
stelle mir diese Frage auch. Keine Ahnung, ob es mit dem Ruf zu tun hat, oder dass
man das Gefühl hat, aussenstehende Leute identifizieren die Bierkurve sofort mit
Gewalt, mit Saufen, mit Chaos; halt solche, zumindest die Leute, welche die
Schlagzeilen in den Zeitungen lesen.“ So abgedroschen die Floskel „man wird halt
älter“ auch klingen mag, sie trifft in diesem Fall zu. Während Brundle früher ans Spiel
ging, um sich „volllaufen zu lassen“, trinkt er heute „ganz gesittet ein paar Bier“, und
wo er früher auch mal „die Sau rauslassen“ konnte, schafft er es heute nicht mehr so
leicht, seine „Juristenhaut“ abzulegen und hinterfragt sein Handeln und Verhalten
zusehends kritisch. Dieser Prozess ist bei vielen Bierkurven-Fans, die ein gewisses
Alter erreicht haben und seit längerer Zeit dabei sind, ähnlich zu beobachten: der
langsame Rückzug aus dem aktivsten Kern der Kurve und schliesslich der Anschluss
an eine Peer-Group, den BKSH-Verein,281 oder sogar der Umzug auf die Tribüne.
Simon Baumann, Jahrgang 1973, ist gelernter Mechaniker und von Beruf Verkäufer.
Auch er wohnt in Schaffhausen und stuft seine politische Gesinnung „relativ links“
ein. Simon, der sich noch an Zeiten erinnern kann, wo er und Brundle „zu zweit an die
Auswärtsspiele mit dem Zug gefahren sind und alleine im Stadion waren“, hat
wesentlich mehr Mühe als Brundle, sich mit den neusten Entwicklungen innerhalb der
Bierkurve anzufreunden: „Es hat immer mehr Leute angezogen, ganz verschiedene
Leute. Leider auch negative Leute. (…) Zum Beispiel meiner Meinung nach ganz klar
Abarticus, da bin ich absolut kein Freund dieser Leute. Einfach weil die meiner
Super-League, musste gegen Vaduz, den zweitbesten Verein der Challenge-League, antreten, um zu ermitteln,
wer in der Saison 2005/2006 erstklassig spielen wird. Schaffhausen spielte schliesslich 1:1 zu Hause, gewann
aber auswärts mit 1:0 und blieb damit in der Super-League.
280
Er sagt sogar über die Aktivitäten von Abarticus: „Ich kann nämlich nicht alles goutieren, was die Jungs
teilweise abziehen, aber ich kann sie verstehen. Denn wenn es so etwas schon früher gegeben hätte, wäre ich
sicher auch da gestanden. Absolut.“
281
Sofern das Interesse am aktiven Supporten noch vorhanden ist.
97
Meinung nach diejenigen sind, die gerne ein wenig ausfällig sind, sprich, die sich
meiner Meinung nach eher daneben benehmen, für die man sich auswärts teilweise
schämen muss, weil sie einfach doof tun, und wenn es mit gegnerischen Fans Puff
gibt, dann kommt das oft von ihrer Seite aus. Und solche Sachen brauche ich einfach
nicht als Fussballfan.“282 Aus diesen Gründen, und weil die Bierkurve in der
Wahrnehmung der Schaffhauser Öffentlichkeit keinen allzu guten Ruf283 geniesst,
bezeichnet sich Simon „nicht wirklich als Bierkürvler“, er sei „ein FCS-Fan und
fertig“. Die Identifikation mit der Bierkurve ist bei Simon also schon nicht mehr so
hoch, dass er sich wirklich noch dazuzählt; sollte sich diese Haltung in nächster Zeit
nicht wieder ändern, wird er sich wohl auch langsam aus dem Zentrum der Kurve
zurückziehen. Er sagt aber auch „ich bin halt schon gerne an dem Punkt, wo
Rambazamba herrscht“ und kann sich nicht vorstellen in nächster Zeit an einen
„ruhigen, laschen Ort“ wie die Amag- oder die Haupttribüne zu ziehen.
Im Vergleich zu den meisten anderen Peer-Groups, verhält sich diejenige von Brundle
und Simon ziemlich aktiv an den Spielen und beteiligt sich praktisch immer am
Support. Brundle hat zum Beispiel stets eine Art Plastikflöte an den Spielen dabei, mit
denen er tiefe, dumpfe Töne erklingen lässt und zuweilen „zetteln wir auch mal ein
Liedchen an, die ganzen alten aus den Anfangszeiten halt, wie der Biene-Maja-Song,
aber meistens singt ja eh niemand mit, weil sie niemand kennt und sie so schräg
sind“, 284 wie Simon über ihr Engagement an den Spielen berichtet.
Der 24-jährige Sozialarbeiter in Ausbildung Simon Stocker285 aus Schaffhausen hat
sich in den letzten zwei Jahren immer mehr aus dem aktivsten Kern der Bierkurve
zurückgezogen und ist „innerhalb der Bierkurve immer mehr nach links gerutscht“,
wo er schliesslich in der „Old-School“-Peer-Group Unterschlupf gefunden hat, deren
Mitglieder er noch aus den Anfangszeiten der Bierkurve kannte. Er beteiligt sich nur
noch gelegentlich am aktiven Support; andere Aspekte des Stadionbesuches sind ihm
mittlerweile weitaus wichtiger: „Das ist einfach eine Ansammlung Bier trinkender
Jungs, die sich so alle zwei Wochen wieder einmal sehen möchten und miteinander ein
282
Im späteren Verlauf des Interviews relativiert er diese Aussage wenigstens teilweise und lobt Abarticus vor
allem für ihren optischen Support (Choreografien), dennoch distanziert er sich klar von ihnen.
283
Siehe dazu: Kapitel 3.4.5. „Medien“
284
Als Schnapsidee sowie als Reaktion auf die Bildung vom BKSH-Verein und Abarticus haben Simon und
Brundle einen „äusserst inoffiziellen“ Fanklub mit zwei „Kumpels“ gegründet: Fab-Four.
285
Das Interview mit Simon Stocker, der politisch sehr links eingestellt ist, hat am 27. September 2005 in der
„Gleis-6“-Bar stattgefunden. Ich kenne ihn noch von der Kantonsschule her, wo er ein Jahrgang unter mir war.
Bereits im Rahmen der Proseminar-Arbeit über die Bierkurve habe ich ein Interview mit ihm geführt. Damals
war er noch sehr aktiv in der Bierkurve dabei. Er hat ihm Frühjahr 2004 auch von der „UntergrundGruppierung“ Abarticus berichtet, die damals noch ein kleiner und überhaupt nicht „seriös“ geführter
Zusammenschluss von Kollegen war.
98
bisschen mitfiebern und blöd schwatzen wollen. (lacht) Das gehört schon eindeutig
dazu, zumindest bei denen, wo ich stehe.“
Der Rückzug aus dem aktiven Geschehen in der Bierkurve liegt bei „Stocker“ aber
nicht im schlechten Ruf der Kurve286 oder in einer bewussten Distanzierung vom
BKSH-Verein und Abarticus begründet,287 sondern in einer Prioritätenverschiebung:
„Das Spiel in erster Linie natürlich, (…) die Geselligkeit ist mir wichtig, ein paar
Sprüche reissen“, zählt er Gründe auf, warum er die Spiele des FCS regelmässig
besucht. Simon hat sich (auch altersbedingt) aus der Schwellenphase gelöst, während
der er in verschiedenen Fankultur-Bereichen (Choreo, Pyro) aktiv war, und sich ganz
bewusst für ein Fandasein entschieden, das den sozialen Aspekt („gemütliches
Beisammensein mit Kollegen“) des Stadionbesuches ins Zentrum rückt.
Auf Grund seiner Teilnahme am aktiven Support im Umfeld von Abarticus und
BKSH-Verein setzt sich Stocker – mehr als viele anderen „Peer-Group-Fans“ –
intensiv mit der Fussballfan-Kultur auseinander und nimmt ebenfalls eine sehr
kritische Haltung gegenüber den Entwicklungen im modernen Fussball ein: „Ich finde
diese Entwicklungen auch ätzend. (…) Auch Axpo-Super-League, der Swisscom-Cup,
was soll die Scheisse? Also mir geht das doch am Arsch vorbei, wie die jetzt heissen,
für mich bleibt das die NLA und der Cup. Und auch sonst mit der ganzen Werbung
und dem Marketing (…) Ich meine, wenn du an ein Spiel gehst und das Gefühl hast, du
gehst an die Herbstmesse oder in einen Supermarkt, das kann ja nicht sein!“
•
Während meiner Aufenthalte im Stadion habe ich die meiste Zeit in der “Chläggi”Peer-Group verbracht, da ich alle Mitglieder bereits vor meiner Feldstudie kannte. Mit
einer Grösse von bis zu 16 Personen, handelt es sich dabei um eine relativ grosse PeerGroup, der Frauenanteil von circa 25% ist ebenfalls überdurchschnittlich. Der
Ausdruck „Chläggi“288 ist eine Referenz an die geografische Herkunft289 fast aller
Mitglieder dieser Peer-Group, die sich mehrheitlich schon aus der Schulzeit kennen.
Die „Chläggi“-Peer-Group hat ihren Standort gleich neben der „Old-School“-PeerGroup in Richtung Eckfahne. Sie beteiligt sich nicht ganz so aktiv am Support wie
ihre „Nachbarn“ und braucht oftmals einen der oben beschriebenen Schlüsselreize, um
286
„(…) es ist mir eigentlich Wurst ... Ich schaue nicht auf ein Image, oder dass ich jemandem gerecht werden
muss oder so“, sagt er dazu.
287
Mit 24 Jahren sind viele ehemalige Schulkollegen von Stocker in den beiden Fan-Gruppierungen, mit denen
er gut auskommt. „Ich finde es gut, was die machen, auch wenn es negative Erlebnisse gibt, das Positive
überwiegt“, kommentiert er ihr Handeln.
288
Mundart-Bezeichnung der Region „Klettgau“, die im nordwestlichen Kantonsteil liegt.
289
Die meisten Personen kommen aus Hallau oder Oberhallau.
99
voll einzusteigen beim Support. Auch in dieser Peer-Group kommt dem „dumme
Sprücheklopfen und geselligen Beisammensein“ beinahe mehr Bedeutung zu, als dem
akustischen Support, wobei auch hier das Interesse am Spiel und am FCS ganz klar im
Vordergrund steht. Interessant ist der Zugang der vier bis fünf weiblichen Mitglieder,
die regelmässig in der „Chläggi“-Peer-Group die Spiele verfolgen: Alle wurden
irgendwann ohne grosse Erwartung oder vorhandenem Interesse am Spiel oder am
FCS von ihrem Freund oder einer Kollegen an ein Spiel „mitgeschleppt“, wo es sie
schliesslich „voll gepackt hat“. Ein weibliches Mitglied, die noch vor ein paar Jahren
die Nase über den „Fanatismus“ ihres Freundes gerümpft hat, besucht heute mehr
Spiele des FC Schaffhausen als er.
„Schtiif“290 (24-jährig, Illuminationsdislozent) und „Lubo“291 (23-jährig, Praktikum
als Sozialpädagoge) gehen beide seit Erst-Liga-Zeiten regelmässig an FCS-Spiele und
haben seither einen grossen Zuwachs an Fans in der Bierkurve wahrgenommen sowie
ein gewisses Mass an Struktur und Organisation, das früher nicht vorhanden war. Wie
„Stocker“ haben auch sie sich vom Standort genau hinter dem Tor, wo Abarticus und
der BKSH-Verein stehen, ein bisschen nach links in „ruhigere Gefilde“ verschoben:
„Nein, nein, wir wurden nicht vertrieben, das hat sich einfach so ergeben. Wir
machen ja schon auch Stimmung, vor allem wenn die Emotionen hoch gehen, dann
sind wir auch dabei. Es war den einen halt einfach zu eng, oder eine Frau hat mal
gesagt, dass sie nichts mehr sehe wegen dem Tor, keine Ahnung“, begründet Lubo
diesen Schritt.292
„Ich gehe ans Spiel, ich supporte, ich bin mit ganzem Herzen und meiner Seele dabei
am Spiel, ich gebe alles. Aber nach dem Match komme ich wieder runter und muss
nicht irgendwas rauslassen“, beschreibt Schtiif sich selbst als Fan und definiert sich
damit als fussballzentrierten Fan293, der das Fansein zwar über die Spiele hinaus
„lebt“, aber in erster Linie als „Lieblings-Wochenendbeschäftigung und Leidenschaft“
290
Das Interview mit Stefan Schaad fand am 26. August 2005 bei mir zu Hause im Garten statt. Ich kenne Schtiif
schon seit längerer Zeit, er wohnt zusammen mit einem sehr guten Freund von mir in einer WG am Rande der
Schaffhauser Altstadt. (Beide kommen aber ursprünglich aus dem Klettgau.)
291
Lukas Bolli ist für das Interview vom 30. August 2005 auch zu mir nach Hause gekommen. Da wir dieselbe
Musik hören, kenne ich Lubo schon seit Jahren auch von Konzerten und Festivals her. Er wohnt zurzeit wieder
in Hallau, stammt aber ursprünglich aus der Stadt Schaffhausen.
292
Mit der jetzigen Grösse der aktivsten Szene (zwischen 50 und 80 Personen; davon 30-40 von Abarticus,
15-20 von BKSH und bis 30 Personen, die sich sonst anschliessen, darunter einige ältere Kutten sowie in
jüngster Zeit immer mehr ganz junge Fans (Teenager), die bewusst den Anschluss an die Szene suchen) ist es an
ihrem Standort praktisch unmöglich, ein Gespräch zu führen, oder in Ruhe eine Bratwurst zu essen; der Support
steht ganz klar im Vordergrund. Das ist einer der Hauptgründe, warum viele (ältere) Bierkurven-Fans langsam
nach links Richtung Eckfahne gerutscht sind.
293
Diese Definition lässt sich auf fast alle „Peer-Group-Fans“ anwenden.
100
und nicht, wie beispielsweise die Abarticus-Mitglieder, als Lifestyle und Haltung.294
Dennoch ist es erstaunlich, wie weit das Fansein und der FC Schaffhausen auch bei
Peer-Group-Mitgliedern in den Alltag hineindringt: „Der FCS begleitet mich im
Alltag eigentlich täglich. Es gibt, glaube ich, keinen Tag, an dem ich nicht kurz an den
FCS denke. Ich bin nach dem Feierabend ab und zu im Forum und gebe meinen Senf
dazu, oder einen dummen Kommentar (lacht). Ich lese verschiedene Zeitungen, ob es
eine Meldung über den FCS hat und sonst spreche ich halt mit meinem Mitbewohner,
der ja auch angefressener Fan ist, über den FCS, über die Aufstellungen und News“,
erwidert etwa Schtiif auf die Frage, ob ihn sein Verein und das Fansein auch in den
Alltag hinein begleiten
3.3.4. “Kiddies” und “Modefans”
„Kiddies“ und „Modefans“ sind keine wissenschaftlichen Ausdrücke, sondern Bezeichnungen
von Bierkurven-Fans für einerseits sehr junge Fans (Kiddies) und andererseits für Fans, die
nur „dem Erfolg nachrennen“ (Modefans). Da der FC Schaffhausen permanent gegen den
Abstieg spielt und einen eher unattraktiven, defensiven bis destruktiven Fussball spielt, gibt es
sinngemäss relativ wenige Modefans.295 So genannte Kiddies hingegen sieht man in jüngster
Zeit immer häufiger in der Bierkurve.
Dabei handelt es sich um Teenager (13 bis 17 Jahre alt) beiderlei Geschlechts,296 die sich vor
allem rechts vom aktivsten Kern der Kurve, also beim Absperrgitter Richtung Amag-Tribüne,
oder ganz vorne am Zaun297 links von Abarticus und BKSH-Verein befinden. Einige, vor
allem männliche, Kiddies beteiligen sich zwar aktiv am Support, singen die Lieder und
Gesänge mit, klatschen, etc., die meisten aber stehen hauptsächlich in der Bierkurve, um den
aktiven Kern zu beobachten und die emotional aufgeladene Stimmung innerhalb der Kurve zu
erleben. Der Beteiligungsgrad der Teenager reicht daher – je nach Kenntnisgrad der Gesänge
294
Sowohl Schtiif wie auch Lubo können mit dem Begriff Ultra nicht viel anfangen, auch das A-B-C-Schema ist
ihnen weitgehend unbekannt. Die Entwicklung im modernen Fussball bedauern sie zwar, weisen aber darauf hin,
dass es in Schaffhausen noch „heilig“ sei mit „all den Stehplätzen und diesem gemütlichen, alten Stadion.“
295
Ausnahmen sind Spiele gegen die „Grossen“ des Schweizer Fussballs – FC Basel, FC Zürich und GC Zürich
– sowie die „Ostschweizer Derbys“ gegen den FC St. Gallen.
296
Gerade der hohe Anteil von weiblichen Teenagern in der Bierkurve ist erstaunlich. Diese Einschätzung teilt
auch Jasi: „Zu den Frauen: Es hat immer mehr. In letzter Zeit kommen wirklich immer mehr, vor allem sehr
junge Frauen. Am letzten Spiel auf der Breite, da habe ich praktisch niemanden mehr gekannt, als ich eine
Stunde früher da war.“
297
Wegen ihrer geringeren körperlichen Grösse ist es von Vorteil ganz vorne zu stehen. In der Bierkurve hat es
nur vier Rampen, die sehr tief angelegt sind, die Sicht aufs Spielfeld auf den hinteren Rampen ist dadurch für
kleingewachsene Personen alles andere als ideal.
101
und Fanlieder – von aktivem Support bis hin zu völliger Passivität. Grosse Unterschiede
existieren auch in den Gründen und Motivationen des Stadionbesuchs: so lässt zum Beispiel
der untypisch hohe Anteil von weiblichen Fans auf einen Fussball-Trend298 in dieser
Generation schliessen, der sich nicht nur aufs männliche Geschlecht konzentriert. Insofern ist
es schwierig, zu beurteilen, ob das Interesse am sportlichen Schicksal des FC Schaffhausen,
die exotisch und sogar „gefährlich“299 anmutende Stimmung in der Bierkurve oder die
Popularität und Schwärmerei für bestimmte Fussballer300 ausschlaggebend für den
Matchbesuch ist.
Diese „jüngsten Fans“ der Bierkurve sind nur in den seltensten Fällen in die Geschehnisse
und ins soziale Netz der Kurve integriert. Sie werden von den übrigen Bierkurven-Fans zwar
geduldet, nicht aber als richtige „Bierkürvler“ betrachtet; unter anderem, weil die Kiddies
noch kein Bier trinken. Einige dieser männlichen, jungen Fans (15- bis 17-jährig) begannen
zum Ende meiner Untersuchung hin, vermehrt den Anschluss an den aktivsten Teil der Kurve
zu suchen und sich in den Support einzubinden. Mittlerweile ist aus diesem Anschlussversuch
sogar eine Gruppierung entstanden, die sich „Munot Hawks“ nennt.301 Da sich dieser Prozess
hauptsächlich in der Zeit nach meiner Untersuchung abgespielt hat, darf und kann ich nicht
näher darauf eingehen, weil sich die meisten Informationen über die „Munot Hawks“ nicht
auf eigene Beobachtungen und Erfahrungen stützen.
Überhaupt muss ich in der Erfassung und Beobachtung dieser heterogenen Gruppe von
jüngsten Fans Defizite eingestehen. Erst sehr spät in meiner Feldstudie habe ich diese Gruppe
bewusst als Teil der Bierkurve wahrgenommen; davor habe ich ihre Präsenz völlig
vernachlässigt und unterschätzt, schliesslich wird zumindest ein Teil von ihnen die Zukunft
der Bierkurve entscheidend prägen.302
So kommt es, dass ich nur mit einer einzigen Person aus diesem Fansegment ein Interview
geführt habe, was bei Weitem nicht reicht, um diese „Gruppe“ von Fans entsprechend zu
portraitieren. Nichtsdestotrotz möchte ich diese Person ein wenig näher vorstellen und
aufzeigen, wie sie die Bierkurve erlebt und besucht.
298
Geschürt sicher auch durch die Erfolge des FCS (Aufstieg) und der Schweizer Nationalmannschaft
(erfolgreiche WM-Qualifikation für Deutschland 2006). Gleichzeitig werden Fussballspieler wie Alex Frei
(Nati-Stürmer, spielt in Frankreich bei „Stade Rennais“) oder Marco Streller (ebenfalls Nati-Stürmer, spielt neu
beim 1. FC Köln in der deutschen Bundesliga) heutzutage in gewissen Medien wie Popstars vermarktet und
portraitiert.
299
Pyroshows, Kick-offs; das schlechte Image von Fussballfans in weiten Teilen der Gesellschaft (Eltern).
300
Besonders Torhüter Marcel Herzog und der junge, modebwusste Flügelspieler Daniel Senn besitzen einen
gewissen Pop-Appeal.
301
Livo von Abarticus bezeichnet die „Munot Hawks“, deren Gründung er sehr begrüsst, scherzhaft als „unseren
Nachwuchs“.
302
In diesem Zusammenhang wäre es sehr interessant, die Rolle der „Munot Hawks“ und ihr Verhältnis zu den
etablierten Kräften (Abarticus, BKSH-Verein, Peer-Groups) zu untersuchen.
102
•
Die mittlerweile 16-jährige DMS-Schülerin Nina Grubenmann303 (CH), die sich
nicht für Politik interessiert, spielt selbst Fussball in einem Verein, weil ihr „der Sport
sehr gut gefällt“. An FCS-Heimspiele304 geht Nina etwa seit dem Aufstieg in die
NLA, als sie mit einer Kollegin mitgegangen ist, die schon seit Längerem an den
Spielen war. Sie besuchte die Spiele von Beginn an in der Bierkurve, wo es „am
lustigsten ist mit der Stimmung und so“. Die Stimmung ist auch der Hauptgrund für
ihren Stadionbesuch, während sie „(…) über die Mannschaft nicht wirklich informiert
(ist)“ und auch „nicht ständig die Zeitungsberichte (liest)“ oder „die Spieler wirklich
(kennt)“. Am Support beteiligt sie sich allerdings schon, sofern sie die Lieder und
Gesänge kennt, „auch wenn die nicht immer jugendfrei sind“.
Bei Nina, die immer mit einer bestimmten Gruppe von gleichaltrigen Kolleginnen und
Kollegen an die Spiele geht, hat noch keine wirkliche Identifizierung mit dem Verein
stattgefunden. Das Geschehen auf dem Rasen gehört für sie zur Rahmenhandlung, im
Zentrum ihres Stadionbesuches steht aber das Beobachten und Erleben der Stimmung
in der Bierkurve. Sollte es bei dieser gegenwärtigen Faszination für die Bierkurve und
ihr (kollektives) Handeln bleiben und zu keiner Identifizierung mit dem Verein und
damit auch einer Emotionalisierung ihres eigenen Handelns und Verhaltens kommen,
bleibt es zumindest fraglich, ob sie auch in Zukunft noch an die FCS-Spiele gehen
wird; der Reiz des Neuen, Unbekannten und auch Anrüchigen wird nämlich mit der
Zeit verblassen.
Die Reaktion ihrer Eltern auf die Bierkurven-Besuche waren zuerst von Skepsis und
Unsicherheit geprägt,305 ein Eindruck, der sich mittlerweile etwas relativiert hat:
„Wenn man dann wirklich in der Kurve steht, merkt man schon, dass sich die Leute
sehr stark für Fussball interessieren. So schlimm ist das überhaupt nicht, wie sich das
einige Leute vorstellen. Auch wenn man ein wenig hört, was sie so während dem Spiel
sagen. Die sprechen ja fast nur über Fussball!“, berichtet Nina über ihre Erfahrungen
303
Das Interview mit ihr hat am 21. Juli 2005 bei ihr zu Hause stattgefunden. Ich kenne Nina schon sehr lange,
ihre Mutter Darinka ist eine gute Freundin meiner Mutter. Ich habe Nina ein paar Mal an Heimspielen des FCS
gesehen und sie schliesslich wegen des Interviews angefragt.
304
An Auswärtsspielen war Nina noch nie dabei: „Aus Zeitgründen und auch, weil niemand mitkommt von den
Kollegen, die gehen auch nur an Heimspiele. Aber wenn die auch mal mitkommen würden und mein
Taschengeld etwas höher wäre, dann würde ich sicher auch an Auswärtsspiele gehen.“
Der finanzielle Aspekt spielt in dieser Hinsicht eine sehr grosse Rolle, gerade als Lehrling oder Schüler kann
man sich ein Auswärtsspiel kaum leisten: neben die üblichen Ticketpreise (in Basel im Minimum 30 Franken!)
treten die Kosten für die An- und Rückreise, die Verpflegung, etc. Fünfzig Franken sind so schnell einmal weg.
305
Von einem ihrer ersten Heimspiele hat Nina ein Brandloch in ihrer Jacke nach Hause getragen, wie mir ihre
Mutter im Verlaufe des Interviews erzählt. „Ja, das ist halt nach einem Tor passiert, da stehen dann ja alle auf
und werfen mit Bier um sich. (lacht). Aber das ist ja nicht so schlimm“, entgegnet ihr Nina darauf schmunzelnd.
103
von den gut zehn besuchten Heimspielen (2004/05) in der Bierkurve und fügt an, dass
sie sich als Frau wie Jacqueline, Sella und Jasmin, noch nie bedroht gefühlt habe in
der Kurve, „oder belästigt und mit dummen Sprüchen angemacht“ worden sei.
Wie bereits angesprochen ist Nina nur eine Person aus der immer zahlreicher auftretenden
„jungen Fangarde“, die sehr heterogen und vielschichtig auftritt; ihr Fallbeispiel darf auf
keinen Fall als Idealtyp eines (weiblichen) „Bierkurven-Kiddies“ angesehen werden.
3.3.5.
Zusammenfassung der „sozialen“ Struktur
Der typische Bierkurven-Fan ist: männlich, jugendlich306 und Schweizer! Diese klischierte
Behauptung ist tatsächlich wahr; doch wie jede vereinfachte und eindimensionale Darstellung
trifft auch diese nur die halbe Wahrheit.
Grundsätzlich besteht die Kurve aus drei verschiedenen Teilen. Im Mittelpunkt (auch
geographisch) steht dabei der aktivste Kern, der hauptsächlich aus dem Fanklub BKSH und
der ultraorientierten Fan-Gruppierung Abarticus besteht, die gemeinsam für den akustischen
und vor allem auch optischen Support zuständig sind und beides ins Zentrum ihres
Matchbesuches stellen. Von der Altersstruktur her deckt Abarticus das Spektrum von 17 bis
25 Jahren ab, während die BKSH-Mitglieder in der Mehrheit zwischen 25 und 30 Jahre alt
sind. Im etwa 20 Mitglieder starken BKSH-Verein betätigen sich sowohl Männer wie Frauen
gleichermassen am aktiven Support, wohingegen bei Abarticus in dieser Hinsicht ein krasses
Missverhältnis besteht: von gut 40 Mitgliedern ist nur eines weiblich.
In Richtung Nordgerade, vom aktivsten Kern aus gesehen, stehen zahlreiche Peer-Groups,
die sich unterschiedlich stark am Support beteiligen und neben dem (Haupt-)Interesse am
Verein und Spielgeschehen auch wegen der sozialen Kontaktmöglichkeiten im Stadion sind.
Die Grösse der oftmals geschlechtlich durchmischten307 Peer-Groups variiert sehr stark: von
drei bis vier Personen bis hin zu Gruppen mit zwanzig Personen. Viele Mitglieder von PeerGroups sind schon seit Jahren in der Bierkurve und haben sich, als die Bierkurve immer
grösser und unüberschaubarer wurde, langsam aus dem aktivsten Kern zurückgezogen. Vom
306
Als jugendlich definiere ich, gemäss Bromberger, die Altersklasse zwischen 15 und 35 Jahren. Siehe dazu:
Bromberger, Football, la bagatelle la plus sérieuse du monde, S. 93.
307
Und doch ist eine relativ klare Überzahl an Männern auszumachen. Gesamthaft betrachtet liegt der
Frauenanteil in der Bierkurve zwischen 15 und 20 Prozent.
104
Alter her lassen sich die Peer-Groups nicht klar einteilen, die meisten Fans in diesem Teil der
Bierkurve sind aber über 20 und unter 45 Jahre alt.
Als dritten „Block“ innerhalb der Bierkurve lassen sich die jüngsten Fans, die so genannten
Kiddies, ausmachen, die sich vor allem nahe dem Absperrgitter zur Amag-Tribüne hin und
ganz vorne am Zaun befinden. Seit dem Aufstieg in die Super-League vor zwei Jahren ist es
zu einem massiven Anstieg von Teenagern (13- bis 17-Jährige) in der Bierkurve gekommen,
wobei der weibliche Anteil mit annähernd 50% erstaunlich hoch ist. Während vor allem die
etwas älteren, männlichen Kiddies versuchen, Anschluss an die aktivste Szene der Kurve zu
finden und sich fleissig am Support beteiligen, hat es zahlreiche „Fans“ unter ihnen, die mehr
wegen der „actionreichen“ und fast schon exotisch anmutenden Atmosphäre in der Bierkurve
stehen und diese beobachten.
Männlich, jugendlich und Schweizer. Dieses Klischee über Fussballfans wird auch in der
Bierkurve, zumindest teilweise, bestätigt. Ein anderes gängiges Vorurteil muss auf die
Bierkurve bezogen allerdings klar revidiert werden: jenes vom arbeitslosen, aus der
Unterschicht stammenden und oftmals asozialen Fussballfan. Weder bei Abarticus, noch beim
BKSH-Verein oder bei den Peer-Groups kann man von einer einheitlichen sozialen Struktur
sprechen: Die Bierkurven-Fans stammen aus allen möglichen Milieus und Schichten. Vom
Juristen und Studenten über den Bankangestellten und Handwerker bis hin zum Bauarbeiter
und Arbeitslosen, findet man alles in der Kurve.308 Diese Durchmischung findet man sogar –
wie schon erwähnt – etwas stärker in den beiden Fan-Gruppierungen, aber auch bei vielen
Peer-Groups. Im Gegensatz zu weiten Teilen des beruflichen und gesellschaftlichen Lebens
scheint die Schichtzugehörigkeit in der Bierkurve kein entscheidender Faktor für die
Entstehung und Zusammensetzung sozialer Interaktionen und Gruppen zu sein.
Überraschend bezüglich der sozialen Struktur der Bierkurve ist für mich die Tatsache, dass
praktisch ausschliesslich Schweizer und ein paar Secondos in der Kurve verkehren.309 Dies,
obwohl in Schaffhausen viele Ausländer aus Ex-Jugoslawien, aus der Türkei und aus Sri
Lanka leben.310 Die Suche nach Gründen für diese offenbar nicht stattfindende Eingliederung,
ist nicht Gegenstand dieser Arbeit und bedarf einer eigenen Untersuchung. Vielleicht sagt
308
Eine Beobachtung, die auch Bromberger in seinen untersuchten Fankurven machen konnte: „Auch die
jugendlichen Fussballfans stammen keineswegs aus der unteren Bildungsschicht (arbeitslos und ungebildet). In
Tat und Wahrheit ist die Struktur weitaus komplexer. (…) Gerade bei den Ultra-Gruppierungen zeigt sich eine
besonders heterogene und nicht einem bestimmten Typen zugeordnete Struktur: oftmals handelt es sich sogar um
junge Leute, die soziologisch gesehen völlig gewöhnlich sind“. Bromberger, le match de footbal, S. 213.
309
Es ist kein Zufall, dass alle interviewten Personen Schweizer Bürger sind.
310
Gerade im Birch-Quartier, das in unmittelbarer Nähe zum Breite-Stadion liegt, wohnen zahlreiche
ausländische Familien.
105
ihnen der laute, chaotisch anmutende und „archaische“ Stil der Bierkurve nicht zu, und sie
besetzen bewusst andere Orte im Stadion. Offenbar besitzen weder der FC Schaffhausen,
noch die Bierkurve genügend Identifikationspotenzial für diese Bevölkerungsgruppen.311.
Abschliessend bleibt noch eine weitere Auffälligkeit in der sozialen Struktur der Bierkurve
festzuhalten: sie besteht praktisch nur aus „Einheimischen“.312 Im Gegensatz zu den
„Grossen“ der Branche wie der FC Basel, der GC Zürich, die Berner Young Boys oder der FC
Zürich fehlt es dem FCS am nötigen Einzugsgebiet, an zugkräftigen Spielern und
zahlungswilligen Sponsoren und vor allem an Reputation sowie internationalem Format.
Unter diesen Umständen ist es offensichtlich, dass sich die Anziehungskraft des FCS auf die
Region Schaffhausen beschränkt.
3.4.
Die Bierkurve und …
Nachdem bisher einzelne Gruppierungen sowie bestimmte Individuen und damit die soziale
Struktur der Bierkurve im Mittelpunkt meiner Betrachtungen und Ausführungen standen,
möchte ich nun den Fokus auf die Kurve als Ganzes richten und sie im Hinblick auf zentrale
Begriffe ihres Selbstverständnisses beschreiben.
3.4.1.
Alkohol und Bier
Bierkurve – ein Name, der zugleich Programm ist. Das Biertrinken313 gehört für viele
Bierkurven-Fans314 nämlich genauso zu einem Matchbesuch, wie das Tragen eines Fanschals,
das Mitsingen und -grölen der Fangesänge oder das Fachsimpeln und Kommentieren des
Spiels.
311
Auf diesen Umstand weist auch „Stocker“ hin: (…) die (ausländischen Mitbürger) haben nicht so viel mit
FCS am Hut, die feiern vielleicht in ihren Ferien und auch sonst für Hajduk Split oder weiss ich was oder so
Galatassaray. Ich glaube, die haben einfach nicht so viel mit dem FCS am Hut oder dann stehen sie an anderen
Orten im Stadion, oder ja, es ist schon eine Identifikation unter Schaffhausern, darum sieht man Ausländer
eigentlich nicht so…“
312
Mit „Einheimischen“ meine ich Personen aus der Region Schaffhausen (ganzer Kanton Schaffhausen, das
Zürcher Weinland, ein paar Thurgauer- und Hegau-Gemeinden).
313
Im Spätherbst und Winter wird auch Glühwein und „Tee mit Schuss“ getrunken, an Auswärtsspielen wird auf
der Hin- und Rückfahrt zuweilen auch Schnaps getrunken, dennoch bleibt Bier das Kurvengetränk schlechthin.
314
Die grosse Ausnahme bilden die Kiddies, die oftmals noch zu jung sind, um Bier (legal) zu trinken.
106
So spielt das Bier in der Kurve laut Bob „ganz eine grosse Rolle: Wir haben es schon ein
paar Mal geschafft, dass bei einem Auswärtsspiel, vor allem in der NLB und der ersten Liga
noch, dass wir den Gästeklub ruiniert haben, dass es kein Bier mehr gab.“ Jasi relativiert
diese (mit Stolz vorgetragene) Aussage jedoch ein wenig: „Der Alkohol spielt bei gewissen
Leute eine Rolle, bei gewissen nicht. Ich persönlich trinke schon mal gerne ein Bier, aber ich
gehe mich jetzt nicht volllaufen lassen am Spiel, aber es hat schon viele Leute, die sich an
einem Spiel einfach volllaufen lassen.“ Jasi spricht in ihrer Aussage zwei wichtige Punkte im
Bezug auf den Bierkonsum an: Bei weitem nicht alle Bierkurven-Fans trinken Bier und vor
allem trinken nicht alle gleich viel. Rouven zum Beispiel, seines Zeichens BKSHVizepräsident, trinkt gar kein Bier, Brundle trinkt mittlerweile „nur“ noch „ein paar Bier,
ganz gesittet“ und auch für MB von Abarticus spielt der „Alkohol nicht so eine Rolle“.315 Ein
Unterschied im Trinkverhalten besteht aber nicht nur von Person zu Person, sondern auch
zwischen Heim- und Auswärtsspielen: An Auswärtsspielen, an denen die Fans viel mehr Zeit
miteinander verbringen (Hin- und Rückreise), wird tendenziell weit mehr getrunken; vor
allem von jenen Personen, die mit dem Car oder dem Zug anreisen.316
Über den Einfluss des Alkoholkonsums auf den Support herrscht keine Einigkeit. „Ich sage
immer: Bei uns spielt das Bier leider eine fast zu grosse Rolle. Wenn du nämlich immer mit
einem Bier in der Hand da stehst, dann stört das den optischen Support extrem, (…) wenn du
als Capo die Hände oben sehen willst und die Hälfte erstmal das Bier abstellen muss. Es stört
einfach“, kritisiert Livo den Bierkonsum, weil er sich in diesem Falle negativ auf den Support
auswirkt, er fügt aber sogleich an, „für mich persönlich gehört es schon auch dazu und ich
trinke auch meine zwei, drei Bier am Spiel“. Schtiif hingegen, der findet, dass „ein Bier und
eine Bratwurst einfach dazugehören, so traditionell das jetzt auch klingt“, sieht im
Biertrinken durchaus positive Aspekte: „Auch mit der Stimmung, ich glaube, das kann man
nicht leugnen, aber die wird einfach besser, wenn man ein bisschen angeheitert ist. Das ist
bei mir persönlich so und das müssen viele von sich behaupten, dass sie an einem Spiel
nüchtern nicht so abgehen, wie angetrunken oder besoffen.“ Beide Beobachtungen konnte ich
während meiner Feldforschung ebenfalls machen: bei Supportaktionen, welche beide Hände
erfordern, beteiligen sich viele Fans aus dem von Livo genannten Grund gar nicht oder mit
grosser Verspätung; gleichzeitig war die Unterstützung für die Mannschaft, vor allem bei
Heimspielen, in der zweiten Halbzeit oftmals viel lauter und weitläufiger.
315
Ein ziemlich grosser Teil von Abarticus trinkt vor allem vor den Spielen ziemlich exzessiv Alkohol. Oftmals
trifft man sich schon früh am Nachmittag in der Bar „Brasserie“ beim Bahnhof Schaffhausen und geht dann ein
bis zwei Stunden vor Spielbeginn ans so genannte „Vormatch-Bier“.
316
Siehe dazu Kapitel 4.3.6. „Das (ausgebliebene) Wunder von Bern“.
107
Darüber, wie sich der grossflächige und zum Teil exzessive Alkoholkonsum auf die
Gewaltbereitschaft der einzelnen Fans auswirkt, gibt es innerhalb wie ausserhalb der
Bierkurve verschiedene Ansichten. Einigkeit herrscht allenfalls darüber, dass der
Alkoholkonsum die Emotionen schürt und Hemmschwellen sinken lässt – im positiven
(Stimmung,
Lautstärke)
wie
auch
im
negativen
(Gewaltbereitschaft,
Pöbeleien,
Sachbeschädigungen) Sinne. Meine Beobachtungen an den insgesamt 18 Spielen lassen keine
eindeutigen Aussagen über den Zusammenhang von Alkoholkonsum und Gewaltbereitschaft
zu. Mir ist aufgefallen, dass sich der Alkoholkonsum ganz allgemein als Emotionsverstärker
erwiesen hat, wobei es nur einmal zu übergreifenden aggrssiven Handlungen und Gebaren
von Bierkurvenfans gekommen ist.317 In diesem Sinne ist der weit verbreitete Alkoholkonsum
eine weitere Komponente, die eine Vorhersage des Fanverhaltens in der Bierkurve und an den
Auswärtsspielen verunmöglicht.
3.4.2.
Politik und Rassismus
„Die Bierkurve ist absolut unpolitisch und ausschliesslich zur Unterstützung des FCS da!“,
sagt Rouven, eine der zentralsten Figuren der Bierkurve, über das politische Selbstverständnis
und auch „Handeln“ in der Kurve. Mit dieser Behauptung hat er Recht, aber nicht nur.
Gerade in den Anfangsjahren galt die Bierkurve eher als linke und alternative Fankurve, so
sind etwa die ältesten „Bierkürvler“ wie Brundle, Simon oder Stocker klar dem linken
politischen Lager zuzuordnen. Gänzlich anders präsentiert sich die Situation beim BKSHVerein, in dem die meisten Mitglieder mit einer bürgerlichen (Rouven, Michi Zaugg) oder
zuweilen gar rechten (Hermy) Politik sympathisieren. Sehr durchmischt sind die politischen
Ansichten hingegen bei Abarticus318 und den Peer-Groups, während die meisten Kiddies noch
keine ausgereifte politische Meinung haben dürften und sich auch nie in dieser Richtung
äussern.
Grundsätzlich ist Politik in der Bierkurve kein Thema. Ich konnte im Verlauf meiner
Untersuchung kein einziges politisches Transparent und keine politische Parole in der Kurve
ausmachen. Auf der Bierkurven-Homepage werden politische Kommentare in den einzelnen
Foren sowie im Gästebuch immer sehr rasch von der Seite gelöscht. Die allermeisten Fans
halten sich auch an das „ungeschriebene Gesetz“, Politik und Politisches nicht in die Kurve
317
Siehe dazu: Kapitel 4.2.5. „Bis auf die Unterhosen“.
Wobei doch ein Grossteil der AP-Mitglieder eher rechts (Psycho, Backe) bis bürgerlich (MB, Günni)
eingestellt ist. Am linken Rand der Skala findet man Livo und Sella.
318
108
hineinzutragen. In jüngster Zeit ist es jedoch, durch vermehrt auftauchende Rechtsradikale,
hin und wieder zu rassistischen und damit auch politischen Äusserungen in der Bierkurve
gekommen. Diese Tendenz ist von vielen Bierkurven-Fans beobachtet, scharf kritisiert und als
Problem empfunden worden:319 „Was das Politische anbelangt, da ist die Bierkurve ja
eigentlich unpolitisch, wobei du in letzter Zeit immer mal wieder übel rassistische Sprüche
hörst, die nicht geil sind, sondern einfach daneben“, kommentiert Jasi solche Vorkommnisse.
Simon Stocker sieht in dieser Tatsache gar einen Zusammenhang mit einer generell
feststellbaren Zunahme von Rechtsextremismus unter Jugendlichen in der Region
Schaffhausen: „Es ist schon lustig wie es in Schaffhausen zum Anstieg von rechten
Übergriffen kommt (…) seit dem Aufstieg vom FCS. Ob das einen Zusammenhang hat, weiss
ich nicht. Aber die kommen jetzt öfter an den FCS-Match, weil sie in der Stadt nirgends mehr
hin können, seit man ihre häufig frequentierten Beizen geschlossen hat, und ich muss sagen,
es hat schon mal einen Nazimarsch320 gegeben etwa vor einem halben Jahr im März mit
200-300 Nazinasen, und ich war zufällig in der Stadt und habe das beobachtet und musste
einfach sagen ich habe ein paar Leute aus der Bierkurve gesehen und das hat mir schon zu
denken gegeben. Es sind meistens junge Leute, erstaunlich viele davon Frauen übrigens, mit,
sag ich jetzt mal, tendenziell rechter Gesinnung, vielmals Leute die noch in der Ausbildung
sind, vielleicht noch nicht mal in der Ausbildung oder eher für so etwas offen sind.“
Noch beschränkt sich die Anzahl rechtsextremer Fans in der Bierkurve auf rund ein Dutzend
Personen, die sich sporadisch mit rassistischen Äusserungen und Parolen melden. Eine
geschlossene Reaktion oder Stellungnahme der Kurve, wie auch der einzelnen
Gruppierungen, blieb bisher aus, obschon sich die allermeisten Bierkurven-Fans davon
distanzieren und solche Äusserungen scharf verurteilen.
Wohin diese Entwicklung führen wird, kann zum jetzigen Zeitpunkt nicht gesagt werden. Von
einer Integration der Rechten, bei gleichzeitiger Abwanderung von vielen (alten) BierkurvenFans, bis hin zu einer gewaltsamen Entfernung der betreffenden Personen scheint alles
möglich zu sein.
319
Die vermehrten rassistischen Äusserungen sowie das Auftauchen von Rechtsextremen an den Spielen wurde
sogar im Forum diskutiert. Siehe dazu: www.bierkurve.com; BK Forum; http://43588.rapidforum.com/; FC
Schaffhausen und Bierkurve [Matchthread] YB - FCS, 06.11.2005, 16:00 Uhr
320
Am Samstag, dem 12. März 2005, fanden sich abends über 150 Rechtsradikale (auch aus dem Ausland) zu
einer unbewilligten Demonstration in Schaffhausen zusammen. Organisiert wurde der Nazimarsch und
anschliessende Fackelzug durch die Altstadt von der NAPO (Nationale Ausserparlamentarische Opposition), die
auch Flugblätter an der Demo verteilte. Die Polizei liess die rund 150 Rechtsradikalen gewähren.
Nur eine Woche später wurde ebenfalls in der Schaffhauser Altstadt eine Platzkundgebung als Protest gegen den
„Nazi-Aufmarsch“ organisiert, an der rund 1000 Personen teilnahmen.
109
3.4.3.
Gewalt und Pyro
Das Thema Gewalt muss losgelöst vom Überbegriff „Bierkurve“ betrachtet werden, da es nur
einen bestimmten und kleinen Teil der ganzen Kurve betrifft. Der BKSH-Verein besteht zum
Beispiel auf einer Gewaltverzichtserklärung ihrer Mitglieder und auch die verschiedenen
Peer-Groups distanzieren sich entschieden und geschlossen von Gewalt. Bei Abarticus sieht
die Situation anders aus. Der Umgang mit Gewalt wird in dieser Gruppierung nicht klar
definiert und auch nicht hinterfragt, weshalb sich verschiedene Ausprägungen dieses
Umganges entwickelt haben. Marschiert die Gruppe als Mob zu den Stadien oder den
Bahnhöfen, wobei sie nicht zuletzt die Besetzung des jeweiligen Territoriums signalisiert,321
drücken die Abarticus-Mitglieder auch eine gewisse Gewaltbereitschaft aus, die sich in
physische Gewalt entladen kann, wenn sie auf den gegnerischen Mob treffen oder von
„Aussenstehenden“ provoziert werden (spontane Kick-offs). Gleichzeitig beteiligen sich
Personen von Abarticus, die sich eher mit dem Casual-Style identifizieren, auch an
vereinbarten Kick-offs und rücken so in die Nähe der Hooligan-Kultur. Diese untransparente
und auch unkritische Haltung im Umgang mit Gewalt wird Abarticus immer wieder von
verschiedener Seite vorgehalten und ist einer der Hauptgründe, weshalb die Gruppierung trotz
vieler positiver Aspekte (Choreografien, akustischer Support) von vielen Bierkurven-Fans
nicht akzeptiert oder sogar als Prügeltruppe322 wahrgenommen wird.
Zugleich muss man festhalten, dass Gewalt und gewalttätige Auseinandersetzungen erst mit
dem Aufstieg in die Super-League vor eineinhalb Jahren zu einem Thema in der Bierkurve
geworden sind. „Die Bierkurve war erst zwei- oder dreimal in kleinere, körperliche
Auseinandersetzungen verstrickt, ausgelöst durch Zufälle oder einzelne “komische Typen, die
geistig nicht ganz auf der Höhe sind“,323 haben mein Kommilitone Fabian Meier und ich die
Situation vor gut zwei Jahren zusammengefasst. Damals spielte der FCS noch in der
Challenge-League, Abarticus war erst im Entstehen begriffen und noch weit davon entfernt
einen solch prägenden Einfluss wie heute auf die Bierkurve zu entwickeln.
Trotz einer Zunahme von gewalttätigen Auseinandersetzungen und der grundsätzlich weit
weniger friedlichen und familiären Stimmung im Vergleich zu den Challenge-League-Spielen
beurteilten alle von mir interviewten Personen das Gewaltpotenzial, das aus der Bierkurve
321
Neben der offensichtlichen physischen Präsenz auch durch Gesänge, die Besitzansprüche implizieren, wie:
„Hier regiert der FCS!“ oder „Hurra, Hurra, die Schaffhauser sind da!“.
322
Siehe dazu den Kommentar von Nina Grubenmann: „Ja, den Namen Abarticus habe ich auch schon gehört.
Aber ich weiss nicht so genau, wer das ist. Ich glaube, das sind doch diejenigen, die prügeln, kann das sein?
(lacht).“
323
Siehe dazu: Meier/Jirát. Fussballfans, S. 20. (Es handelt sich dabei um eine Aussage von Stocker).
110
erwächst, als sehr gering und gaben an, sich sicher und wohl in der Kurve zu fühlen. Diesen
Eindruck kann ich auf Grund meiner Feldbeobachtungen bestätigen; ich hatte nie das Gefühl,
dass eine Gefahr von der Kurve selbst auf die „Bierkürvler“ ausging und auch die
Aggressionen und Provokationen der gegnerischen Fans richteten sich nicht auf die ganze
Bierkurve, sondern immer an bestimmte Personen oder Gruppierungen (Abarticus).
Ein weiteres, nicht nur in der Bierkurve viel diskutiertes Thema bilden pyrotechnische
Darbietungen, um die sich ein wahrer Machtkampf entwickelt hat. Auf der einen Seite stehen
der Schweizerische-Fussball-Verband und die Vereine, die so genannte Pyroshows verbieten
und büssen, während andererseits die Ultras den Einsatz von Pyromaterial als wichtigen
Bestandteil ihres Supportes und ihrer Subkultur verstehen und nicht gewillt sind, darauf zu
verzichten. Wie verhärtet die Fronten in dieser Auseinandersetzung sind, zeigen zwei
exemplarische Aussagen: „Die Pyrothematik ist sehr, sehr gefährlich. Man kann sich schwere
Verbrennungen holen und vor allem ist es sehr schlimm, wenn etwas passiert, die Fackeln
werden ja bis zu 1400 Grad heiss. Und es schadet, es schadet dem Schweizer Fussball, es
schadet dem FCS und es schadet dem Publikum, das kommt und dann Angst haben muss
wegen dem und schliesslich schadet es dem Verein, weil es dermassen hohe Kosten
verursacht.(… Alternative Lösungen) wird es ganz sicher nicht geben. (… Als Massnahme)
machen wir seit dieser Saison Videoaufnahmen, die wir aufnehmen und sukzessive bearbeiten
und beobachten. Und wir werden rigoros durchgreifen: ganz klar mit Stadionverbot.“
(Aussage von Matthias Bührer, Sicherheitsverantwortlicher des FC Schaffhausen). – „Der
Verein bekommt halt Bussen dafür, wobei man auch nicht immer weiss, ob das stimmt. (…)
Wir machen uns aber nichts daraus, weil wir uns sagen: das ist eine Subkultur, das kann man
nicht verdrängen. Pyro ist mein Leben! (lacht). Wenn ein Verein solch horrenden
Sicherheitsmassnahmen zahlen kann, dann vermag er auch solche Strafen zu bezahlen. So
denken wir. (...) Es ist im Prinzip ein Witz: Sobald die Fans, die vorher für eine Choreo gelobt
wurden, einmal zünden, werden sie schon als Chaoten bezeichnet (…) und es ist einfach
widersprüchlich, wenn auf der offiziellen Homepage des FC Schaffhausen immer wieder
Pyrobilder gezeigt werden, sie sich aber dagegen sträuben.“ (Aussage von Livo).
111
Fakt ist:
•
Auf pyrotechnische Darbietungen folgen umgehend vom Verband verhängte Bussen,
denen die Vereine nachkommen müssen.324
•
Das Abbrennen von Pyromaterial kann gefährlich sein, besonders wenn Fackeln oder
Leuchtraketen in einer grossen und unübersichtlichen Menschenmenge abgebrannt
werden.
Fakt ist aber auch:
•
Bei Abarticus zünden nur Personen, die schon Übung im Abbrennen von Pyromaterial
haben. (Problem: Alkoholkonsum vermindert Gefahrenbewusstsein)
•
Pyrotechnische Darbietungen haben in der Bierkurve eine gewisse Tradition, die zu
Erst-Liga-Zeiten begonnen hat.325 Damals und auch später in der NLB hat von
offizieller Seite her kaum jemand auf diese Pyroshows reagiert. Erst mit dem Aufstieg
in die Super-League rückte die Pyrothematik in den Fokus von Presse, Verein und
Verband.
Zwischen diesen beiden Fronten steht der grosse Rest des Stadionpublikums, der oftmals für
keine der beiden Seiten Verständnis aufbringt. Stellvertretend dazu die Aussage von Brundle:
„Zu Pyro habe ich ein gespaltenes Verhältnis. Einerseits denke ich, es ist ok, und es sieht
auch geil aus, aber ich sehe halt auch ein gewisses Risikopotenzial, das die Jungen vielleicht
so nicht sehen. Ich war zum Teil so hackedicht an den Spielen, ich wusste zum Teil nichts
mehr vom Spiel. (…) Ausserdem wird ja der Verein bestraft und gerade als kleiner Klub, der
jeden Rappen nötig hat, ist das schlicht Scheisse.“
Tendenziell hat sich die allgemeine Meinung in der Bierkurve über den Einsatz von
Pyromaterial eher in eine ablehnende Haltung gewandelt. Erstaunlicherweise ist es weniger
die Gefahr, die von den Fackeln und Leuchtraketen ausgeht, als vielmehr das Argument der
hohen Bussen für den Verein sowie die vermehrten negativen Berichte in den Medien, die für
eine eher negative Haltung gegenüber Pyro verantwortlich sind. Das Beharren auf den
Gebrauch von pyrotechnischen Darbietungen der Abarticus-Gruppierung ist überdies ein
weiterer Grund für die zunehmende Separierung vom Rest der Bierkurve.
324
Die Höhe der Pyro-Bussen für den FCS für die Saison 2004/2005 sind nicht offiziell bekannt. Sie bewegt sich
aber im fünfstelligen Bereich und soll, unbestätigten Gerüchten zufolge, 20`000 Franken betragen.
325
Damals beteiligten sich auch BKSH-Mitglieder regelmässig an Pyroshows.
112
3.4.4.
Lokalpatriotismus
Wir leben in einer sehr schnelllebigen und nervösen Zeit, die sehr stark von Begriffen wie
Globalisierung und Mobilität geprägt wird, was scheinbar zwangsläufig zu einem
Bedeutungsverlust der Ortsbezogenheit führt. An dieser Stelle tritt eine besondere Qualität
des Fussballs hervor: ein Fussballverein schafft, wie keine zweite Institution, eine erkennbare
und auch symbolische Ortsbezogenheit. „Über die Identifikation mit dem Fussballverein
erfolgt eine soziale und ideelle Verortung (…) am Ort des Geschehens“,326 sagt Brigitta
Schmidt-Lauber deshalb folgerichtig. Das liegt nicht zuletzt an der formalen und
symbolischen „Gestalt“ des Fussballspiels selbst: die bewusste „Manifestierung des Eigenen
durch Abgrenzung von einem Anderen“.327
In Schaffhausen ist die ideelle und soziale Verortung in der Region durch den FCS sehr stark
ausgeprägt. Ein Grund dafür ist sicherlich in der speziellen geografischen Lage des Kantons
Schaffhausen zu sehen: Schaffhausen ist nämlich der nördlichste aller 26 Kantone und liegt
als einziger auf der rechten (sonst deutschen) Seite des Rheinufers. Hinzu kommt eine eher
geringe politische und wirtschaftliche Bedeutung für den Rest des Landes, wodurch sich viele
Schaffhauser etwas „an den Rand gedrängt“ fühlen. Es erstaunt deshalb kaum, dass sich viele
Bierkurven-Fans sowie Schaffhauser ganz allgemein ausdrücklich zur Nord- und nicht zur
Ostschweiz zählen, wie es im Volksmund heisst, und der so genannte „Kantönligeist“ sehr gut
zu spüren ist. „Ich finde es cool, wenn man die Mannschaft unterstützen kann, wo du auch zu
Hause bist. Das ist meine Stadt, mein Ort, mein Verein. Das ist einfach geiler“, meint Jasi auf
die Frage, weshalb sie die Spiele des FCS und nicht eines anderen Vereines besucht. Diese
Verbundenheit mit der Region und der Stadt kommt auch bei Rouven zum Ausdruck: „Das
Schöne am Fussball ist auch das Mitfiebern für deinen Verein, für deinen lokalen Verein. Wir
jetzt halt für den FC Schaffhausen, weil wir hier geboren wurden, hier aufgewachsen sind. Es
ist ein Teil von dir geworden.“ In diesem Sinne verstehen viele Bierkurven-Fans den FCS
nicht nur als wichtigen Bestandteil der regionalen Kultur, sondern als Repräsentanten der
Region schlechthin, was einen zentralen Hinweis auf das Verständnis der Fans zu einem
326
Schmidt-Lauber, FC St. Pauli, S. 16.
Rolshoven, Fussball aus kulturwissenschaftlicher Perspektive, S. 47, in: Schmidt-Lauber, FC St. Pauli.
Ihre Aussage bezieht sich dabei nicht nur auf das „Lokale“. Diese Manifestierung des Eigenen und Abgrenzung
vollzieht sich auch auf der Ebene der Geschlechtszugehörigkeit (von den Frauen), der Schichtenzugehörigkeit
(vom dominanten bürgerlichen Habitus) und der Gruppenzugehörigkeit (Jugendliche grenzen sich von den
älteren Generationen ab).
327
113
Fussballspiel aufzeigt: Auf dem Feld stehen sich nicht einfach zwei Vereine gegenüber
sondern zwei Städte oder Regionen, zwei Mentalitäten und Kulturen.328
3.4.5.
Medien
Das Verhältnis „Fussballfans – Medien - öffentliche Wahrnehmung“329 ist in Bezug auf die
Bierkurve (seit dem Aufstieg in die Super-League) sehr aktuell und relevant. Denn auch in
den Schaffhauser Medien stehen immer wieder missverständliche und undifferenzierte
Aussagen über Fussballfans. Ich komme auf dieses Verhältnis allerdings nur kurz zu
sprechen, da mein volkskundlicher Untersuchungsansatz einer medienwissenschaftlichen
Analyse dieser Thematik nicht ganz gerecht wird und das Thema keine zentrale Rolle in
meinen Fragestellungen spielt.
Die „Schaffhauser Nachrichten“ (SN) und „Radio Munot“ sind dank ihrer Monopolstellung
für die ganze Region die wichtigste Informationsquelle. Man kann zwar nicht behaupten, dass
diese Medien die Bierkurve in ein schlechtes Licht rücken würden, aber sie schliessen sich
dem aktuellen medialen Trend an und berichten sehr kritisch (und oftmals ohne Hinterfragung
der Hintergründe oder Einbettung in einen übergeordneten, gesellschaftlichen Kontext) über
Fussballfans im Zusammenhang mit Gewalt, Pyroaktionen und Rowdytum.330 Diese
Darstellungen beziehen viele Leser und Hörer, die sich kein Bild vor Ort machen, auf
Fussballfans allgemein und damit auch auf die Bierkurve, die den meisten Leuten in der
Region ein Begriff ist. „Ich hab damals in der Sauna, im Freibad ein paar ältere Männer
über die Bierkurve sprechen hören, die konnten gar nicht glauben, dass ich dort bin, die
waren schockiert und haben mir dann gesagt, ich solle den Leuten da mal sagen, dass sie
328
Ein Spiel wie FC Schaffhausen gegen FC St. Gallen ist weit mehr als ein sportlicher Wettkampf zweier
Vereine, es ist für die Fans auch ein symbolischer „Kampf“ um die (fussballerische) Vorherrschaft in der
Ostschweiz.
329
Über dieses Verhältnis gibt es eine sehr gute Studie: Kübert, Rainer; Neumann, Holger; Hüther, Jürgen;
Swoboda, Wolfgang H. (Hrsg.), Fussball, Medien und Gewalt, Medienpädagogische Beiträge zur FussballfanForschung. München, 1994.
330
So stand am Mittwoch, 16. Februar 2005 folgender Eintrag auf der Fontseite der SN: „Mehr Gewalt auch in
Schaffhausen: (…) Insbesondere die Fälle von Gewalt und Drohung gegen Behörden und Beamte stiegen
sprunghaft an. Zoelly machte dafür die Fussball-Hooligans, die nach dem Aufstieg des FCS in die höchste
Spielklasse vermehrt Schaffhausen heimsuchen, sowie die autonome Szene verantwortlich.“ Am Dienstag,
1. November 2005, wurde im Sportteil ein Artikel über vermehrte Randale an Fussballspielen veröffentlicht,
darunter folgender Auszug: „Eine kleine Minderheit von gewaltbereiten Chaoten vergällt der grossen Masse
gesitteter Fans den Besuch von Fussballspielen der obersten Ligen. Am Samstag in St. Gallen wurden aus dem
Fanblock der Schaffhauser vier Raketen abgefeuert, allesamt quittiert mit einem gellenden Pfeifkonzert der
Zuschauer. In St. Gallen musste die Stadtpolizei neun Randalierer in den Farben des heimischen FC festnehmen.
Die Chaoten aus der Munot- und der Olmastadt gingen im Bahnhof St. Fiden aufeinander und auf die Polizei los.
Trauriger Alltag in Städten mit einem Super-League-Club.“
114
normal tun sollen in der Kurve. Da musste ich sagen – Nein, ich bin nicht das Mami von
denen, es soll jeder selbst wissen, was er tut. Das war halt dann eher die negative Seite,
dieses falsche Bild der Bierkurve“, beschreibt Jasi einen diesbezüglichen Vorfall. Auch Heidi
Sidler, 49, die die Spiele von der Amag-Tribüne aus verfolgt und Passivmitglied beim BKSHVerein ist, spricht den schlechten Ruf der Bierkurve in der öffentlichen Wahrnehmung an:
„Es ist ja fast schon ein Problem, dass jeder Bub den Traum hat auch in der Bierkurve zu
stehen. (…) Und dann mit dem Alkohol und so, das hat nicht jeder Vater gern, wenn die
Söhne in der Bierkurve stehen.“
Während der eher negative Ruf der Bierkurve, hervorgerufen in erster Linie durch
pyrotechnische Darbietungen und gelegentliche spontane Kick-offs (Abarticus), in der
öffentlichen Wahrnehmung offenbar gerade für jüngere Fussballfans anziehend wirkt, bereitet
er vor allem den älteren „Bierkürvlern“ doch einige Probleme. Sie fühlen sich zwar durch und
durch als Fussballfans und „Bierkürvler“, distanzieren sich aber ganz klar von gewalttätigen
Aktionen
oder
Pyroshows.
Inwieweit
die
Medien
einen
Einfluss
auf
diese
„Ausdifferenzierung“ der Bierkurve nehmen, ist schwierig zu beurteilen, auf jeden Fall aber
steht der FCS und auch die Bierkurve seit dem Aufstieg in die Super-League weit mehr im
Fokus der regionalen wie auch nationalen Medien.
3.5.
Zusammenfassung
Man muss sich stets vor Augen halten, was die Bierkurve eigentlich ist: ein Ort. Ein ganz
bestimmter Ort im Stadion Breite in der Ostkurve, der von hinter dem Tor bis hin zur
nordöstlichen Eckfahne reicht. An diesem Ort stehen an den Heimspielen zwischen 120 und
600 Zuschauer, die vor allem eines tun: den FCS unterstützen. Danach hören die
Gemeinsamkeiten unter den so genannten „Bierkürvlern“ ziemlich schnell auf.
Betrachtet man die Kurve als Ganzes fällt in erster Linie eine grosse Vielfalt auf: Mann und
Frau, Jung und Alt, „Büezer“ und Anwalt stehen Schulter an Schulter in der Bierkurve und
bilden eine scheinbare zeitlich wie örtlich begrenzte Einheit. Doch der äussere Schein trügt;
es gibt klar erkennbare Strukturen in dieser „Masse“, die sich in drei verschiedene Bereiche
einteilen lässt: einen aktiven Kern um Abarticus und den BKSH-Verein, eine grössere
Ansammlung von Peer-Groups sowie zunehmend auftauchende Teenager. Und auch wenn in
allen drei Bereichen schliesslich das Spiel und die Unterstützung des FCS im Vordergrund
stehen, gibt es doch grundlegende Unterschiede im Fan-Verhalten. Der aktive Kern hat sich
115
voll und ganz dem akustischen wie auch optischen Support verschrieben; für viele Personen
in diesem Bereich ist das Fussballfansein ein Lifestyle und eine bewusst ausgelebte Subkultur.
In den Peer-Groups wird dem sozialen Aspekt viel Bedeutung beigemessen: Gespräche und
Spielanalysen, das gemeinsame Biertrinken und Wiedersehen von alten Bekannten und
Kolleginnen sind fast genauso wichtig wie das Spiel selbst. Sowohl für die aktive Fanszene
wie auch für die Peer-Group-Mitglieder ist das Fansein eine Freizeitbeschäftigung, die weit
über ein Spiel hinausreicht und sich immer wieder im Alltag zeigt. Die Teenager schliesslich
wollen in einer ersten Phase „Bierkurven-Luft schnuppern“, sich ein Bild von dieser „Masse“,
diesem „chaotischen und lauten Haufen“ machen. In einer zweiten Phase kann es dann
durchaus zu einem Anschluss an einen der beiden anderen Bereiche kommen. Zu guter Letzt
bleibt ein Fussballfan aber immer auch Individuum mit einer eigenen Passion und eigenen
Fussballbegeisterung, sowie einer persönlicher Bedeutung des Fussballs im Lebenslauf.
Man darf nicht übersehen, dass sich die Kurve in den letzten Jahren, besonders nach dem
Aufstieg in die Super-League, in vielerlei Hinsicht verändert und vor allem vergrössert hat;
viele ältere Bierkurven-Fans bedauern den langsamen Verlust des familiären Charakters, der
lange Zeit die Stimmung und Atmosphäre untereinander geprägt hat. Zugleich hat die
Bierkurve jedoch an Struktur und Wirkung gewonnen. Gross angelegte Choreografien, die
besonders letzte Saison immer wieder zu sehen waren, oder auch der breitflächige und
lautstarke akustische Support waren vor drei, vier Jahren noch absolut undenkbar. Diese
Beispiele zeigen eindrücklich, dass die Bierkurve ein dynamisches und wandelbares Gebilde
ist, auf das sehr viele und verschiedene äussere wie innere Einflüsse einwirken.
Unter diesem Gesichtspunkt wird auch schnell klar, dass meine Ausführungen über die
Bierkurve und ihre Fans reine Momentaufnahmen sind, die keine Aufschlüsse über die
Zukunft der Kurve geben können. Dazu wirken schlicht zu viele auch unvorhersehbare Kräfte
auf diese Kurve ein. Was passiert bei einem allfälligen Abstieg? Welchen Einfluss wird die
Bildung der „Munot Hawks“ auf die Kurve haben? Wird Abarticus in der jetzigen Form
bestehen bleiben? Laut Livo gibt es im neuen Jahr Bestrebungen „eine Art C-FanGruppierung“ in Schaffhausen zu etablieren.331 Wird das der Einzug der Hooligan-Kultur in
der Bierkurve?
Die Zukunft ist ungewiss. Im Moment jedoch präsentiert sich die Bierkurve so lebendig und
veränderlich wie wohl noch nie.
331
Ich stütze mich hier auf Darstellungen von Livo, der er mir per E-Mail am 9. Januar 2006 übermittelte. Ich
kann diese Entwicklung, die nicht mehr in meinen Untersuchungszeitraum fällt, nicht bestätigen.
116
Der FCS ist für mich Leidenschaft,
ganz klar eine Leidenschaft,
die auch manchmal Leiden schafft.
- Kommentar eines Bierkurven-Fans über das Fansein
4.
Das Spiel in der Kurve
Nachdem im dritten Kapitel die soziale Struktur der Bierkurve, sowie einzelne Fans und
damit vor allem die qualitative Inhaltsanalyse der Interviews, im Zentrum meiner
Betrachtungen standen, möchte ich nun meine Feldbeobachtungen in die Arbeit einfliessen
lassen und aufzeigen, wie diese Kurve an den Spielen funktioniert und agiert.
Mittendrin statt nur dabei!
4.1.
Heimspiel vs. Auswärtsspiel
Die Bierkurve ist, wie ich bereits mehrfach betont habe, „nur“ ein ganz bestimmter Ort im
Schaffhauser Breite-Stadion. Diese an sich banale Feststellung führt zu einem sehr wichtigen
Punkt, den man in der Betrachtung und Handlungsbeurteilung von Fussballfans allgemein oft
vergisst: Es gibt grosse und zahlreiche Unterschiede zwischen Heimspielen und
Auswärtsspielen.
So fühlen sich die Bierkurven-Fans in ihrer Stadt, ihrem Stadion und ihrer Kurve „zu Hause“;
viele von ihnen bezeichnen das Breite-Stadion sogar als ihre Heimat,332 während sie in den
auswärtigen Stadien Fremde sind und meistens auch so behandelt werden. Die Rollen werden
folglich vertauscht an Heim- und Auswärtsspielen – vom „Hausherrn“ daheim wird man
auswärts zum „Gast“. Dieser Rollenwechsel kann sich auf das Verhalten von einzelnen Fans
auswirken. Grundsätzlich konnte ich an Auswärtsspielen einen ausgeprägteren Hang zum
exzessiven Alkoholkonsum, der sich auch mit den oft langen Anfahrten erklärt, und zu
332
Die Abarticus-Mitglieder gehen mit ihrem Ultra-Verständnis sogar noch einen Schritt weiter und bezeichnen
das Breite-Stadion als „ihr Territorium“, in dem sie das Sagen haben. „Es ist natürlich auch ein Kräftemessen,
welches über das Spiel und die eigene Stadt hinausgeht. Man will zeigen, dass man Jemand ist. Wir lassen nicht
mehr zu, dass zum Beispiel St. Gallen in unsere Stadt einmarschiert und den Dicken markiert. Man kann es ein
wenig mit dem „Dissen“ vergleichen im Spray-Business oder im Hip-Hop!“, erläutert Livo ihr „TerritorialVerständnis“.
117
„asozialem Handeln“333 feststellen. „Kann schon sein, dass wir an Auswärtsfahrten etwas
primitiver Auftreten (lacht)“, meint Bob zu diesem Thema, „es ist ja nicht unsere Stadt und
unser Stadion, das darunter zu leiden hat. Das ist aber bei allen Fanlagern so.“ Ein grosser
Unterschied besteht selbstverständlich auch in der Anzahl von Fans. Während es in der
Bierkurve zwischen 120 und 600 Zuschauer hat, liegt die Zahl der Schaffhauser Fans an
Auswärtsspielen zwischen 30 und 400, wovon der grösste Teil aus der Bierkurve stammt.
Die Bierkurve existiert also nur an den Heimspielen, wo sie einen Ort in der Ostkurve
beschreibt. Dennoch bezeichnet sich die FCS-Fanschar an Auswärtsspielen meistens ebenfalls
als Bierkurve, weil die grosse Mehrheit der mitgereisten Anhänger aus der Bierkurve
stammt.334 Die Bezeichnung „Bierkurve“ an Auswärtsspielen ist noch aus einem weiteren
Grund nicht ganz korrekt; die Zusammensetzung der Fans unterscheidet sich nämlich
grundlegend von jener an den Heimspielen, wo jede Gruppierung ihren fixen und
vorbestimmten Platz hat. An den Auswärtsspielen, bei denen alle Gästefans – bis auf die
„Tribünenhocker“ – in einem Sektor zusammengefasst sind, kommt es zwangsläufig zu einer
grösseren Durchmischung der Fans. Die Strukturen aus der Bierkurve (Abarticus – BKSH –
Peer-Groups) sind immer noch erkennbar, aber weit weniger deutlich. Gleichzeitig fehlt an
Auswärtsspielen eine bestimmte Fangruppe ziemlich offensichtlich: die Kiddies. Dies hat
einen sehr simplen Grund: Die meisten stecken noch in einer Ausbildung oder Berufslehre
und können sich ein Auswärtsspiel, das mit erheblichen Mehrkosten335 verbunden ist, nicht
leisten.
Diese veränderte Fan-Struktur bei Auswärtsspielen drückt sich auch auf die Stimmung aus:
„Ich finde die Auswärtsspiele eigentlich geiler. Weil du dort meistens nur die Leute dabei
hast, die mit Leib und Seele dabei sind und hinter dem Verein stehen. Man kennt sich halt und
dann ist auch das Erlebnis grösser. Man freut sich schon miteinander während der Hinfahrt,
man stimmt sich dann schon auf das bevorstehende Auswärtsspiel ein. Bei einem Heimspiel
trifft man sich schon auch eine Stunde vor Spielbeginn beim Spielplatz hinter der Kurve, aber
da geht jeder individuell hin. Aber zu einem Auswärtsspiel, da reist man als Gruppe und dann
ist auch der Kick grösser“, kommentiert Bob die Besonderheiten eines Auswärtsspieles. Auch
Livo bevorzugt Auswärtsspiele aus den gleichen Gründen: „Ich muss ehrlich sagen, dass ich
lieber Auswärtsspiele habe, weil an den Auswärtsspielen halt die ganzen Reisen sehr lustig
333
Unter asozialem Handeln verstehe ich unter anderem das Verunglimpfen und Provozieren von anderen
Fussballfans, das Urinieren in der Öffentlichkeit, die Beschädigung von öffentlicher oder Stadion-Infrastruktur,
das Herumschmeissen von Bierdosen und -bechern, etc.
334
Die BKSH-Mitglieder hissen praktisch an jedem Auswärtsspiel ein gelbes Transparent, auf dem in schwarzen
Lettern “BIERKURVE SH” steht.
335
Die Hin- und Rückreise; oftmals höhere Ticketpreise (in Basel etwa bezahlt man 30.- für ein ErwachsenenTicket, in Schaffhausen 19.-); Verpflegung.
118
sind, wo der Alkohol natürlich eine noch grössere Rolle spielt, als bei den Heimspielen. Und
es kommen halt effektiv, vor allem an weit entfernte Orte, nur die Leute mit, die auch
supporten und die man halt kennt. Die Stimmung ist dadurch meistens besser als an den
Heimspielen, weil wirklich alle voll am Supporten sind.“ Mit dieser Meinung stehen Bob und
Livo bei weitem nicht alleine da, die Mehrzahl der befragten Personen aus der Bierkurve
haben genau dieselben Qualitäten der Auswärtsspiele hervorgehoben: Die An- und Rückreise
als Gruppe wird als Ausflug und Erlebnis bewertet, die “fremden” Städte und Stadien machen
neugierig, und der Support wird von vielen als besser empfunden. „An Auswärtsspielen kann
ich 80% aller mitgereisten Fans beim Namen nennen, bei Heimspielen kenne ich manchmal
fast keine Sau mehr“, hebt Jasi zudem die familiäre Atmosphäre an Auswärtsspielen hervor.
Es gibt aber durchaus „Bierkürvler“, die grundsätzlich Heimspiele bevorzugen. „Am liebsten
sind mir schon die Heimspiele mit den Kumpels zusammen. (…) Nein, nein, nicht nur wegen
dem Falkenbier (lacht), das merkt man eh nicht so, da sind ja mehr Plattitüden, welches Bier
jetzt besser schmeckt. Ich gehe wirklich am liebsten ins Breitestadion, da weiss ich, was ich
habe und wen ich treffen werde, es ist ja praktisch mein Wohnzimmer“, schätzt Brundle die
Vorzüge eines Heimspieles in vertrauter Umgebung. Ein weiterer Punkt, der für die
Heimspiele spricht, sind die bereits angesprochenen Mehrkosten von Auswärtsspielen.
4.2.
Berichte aus der Bierkurve und fremden Stadien
Während meines etwa achtmonatigen Untersuchungszeitraumes habe ich insgesamt 18 Spiele
des FC Schaffhausen verfolgt. Darunter neun Spiele in der Bierkurve im Breite-Stadion und
neun Spiele in fremden Stadien: (in chronologischer Reihenfolge)
Saison 2004/2005
20. Februar 2005: FC Zürich vs. FC Schaffhausen 2:0 (Letzigrund)
•
13. März 2005: FC Schaffhausen vs. FC St. Gallen 0:0
•
16. März 2005: FC Basel vs. FC Schaffhausen 4:3 (St.-Jakob-Park)
•
•
20. März 2005: FC Schaffhausen vs. FC Thun 0:1
2. April 2005: GC Zürich vs. FC Schaffhausen 3:1 (Hardturm)
•
•
17. April 2005: FC Schaffhausen vs. Neuchâtel Xamax 2:1
•
•
20. April 2005: FC Schaffhausen vs. GC Zürich 2:2
24. April 2005: FC Thun vs. FC Schaffhausen 4:0 (Lachen)
119
1. Mai 2005: FC Schaffhausen vs. FC Basel 0:2
•
4. Mai 2005: FC Schaffhausen vs. FC Aarau 1:1
7. Mai 2005: FC St. Gallen vs. FC Schaffhausen 1:1 (Espenmoos)
•
18. Mai 2005: FC Aarau vs. FC Schaffhausen 0:1 (Brügglifeld)
•
•
•
29. Mai 2005: Young Boys Bern vs. FC Schaffhausen 4:1 (Neufeld)
Saison 2005/2006
•
16. Juli 2005: FC Basel vs. FC Schaffhausen 1:0 (St.-Jakob-Park)
•
•
•
25. Juli 2005: FC Schaffhausen vs. Neuchâtel Xamax 1:1
6. August 2005: FC Schaffhausen vs. FC St. Gallen 1:1
28. August 2005: FC Zürich vs. FC Schaffhausen 5:0 (Letzigrund)
•
11. September 2005: FC Schaffhausen vs. FC Aarau 0.1
Jedes dieser 18 Spiele hat eine eigene Geschichte zu erzählen, die nicht selten in einer
Niederlage des FCS mündete. Spieler wurden ein- und ausgewechselt, manche sogar
wegtransferiert, das Wetter war mal windig und eiskalt, dann wieder sonnig und drückend
heiss. Und die Bierkurven-Fans waren immer dabei, vom Anfang bis zum Ende und haben so
ihren Teil zum Spiel beigetragen.
Auf sieben dieser achtzehn Spiele möchte ich im Folgenden etwas genauer eingehen und so
meine Beobachtungen und Impressionen aus der Bierkurve und den Auswärtsspielen in diese
Arbeit einfliessen lassen. Schliesslich soll aus den einzelnen Mosaiksteinchen ein
(selbstverständlich unvollständiges) Bild der „Fans in Aktion“ und der Bierkurve als
„System“ entstehen.
120
4.2.1.
„Der erste Eindruck“
Im ersten Heimspiel meiner Untersuchung empfängt der FCS als Tabellenletzter den
FC St. Gallen zum so genannten „Ostschweizer-Derby“. Nach dem Rückzug von Servette
FC336 weiss der FC Schaffhausen, dass er nicht direkt in die Challenge-League absteigen
wird; es geht für den Verein jetzt primär darum, den rettenden achten Tabellenplatz zu
erreichen, um so die drohenden Barrage-Spiele zu vermeiden.
Mit 3350 Zuschauern ist das Breite-Stadion nur gut zur Hälfte ausgelastet, die Gästekurve ist
sehr gut besucht und auch die Bierkurve ist einigermassen gefüllt, sonst sind die Ränge eher
leer. Ich stelle mich zur „Chläggi“-Peer-Group und bekomme gleich ein Bier in die Hand
gedrückt. Als kurz darauf die Spieler aufs Feld laufen, hängen einige Abarticus- und BKSHMitglieder ein aus schwarzen Abfallsäcken gebasteltes Transparent mit der Aufschrift „The
Show Must Go On“337 an den Zaun vor der Bierkurve.
336
Servette FC, der Traditionsverein aus Genf, musste auf den 28. Februar 2005 hin Konkurs anmelden. Die
Resultate des Genfer Klubs bleiben in der der Wertung, die Profimannschaft wurde aufgelöst, die AmateurMannschaft in der ersten Liga beibehalten. Durch den Konkurs von Servette gab es in dieser Saison keinen
direkten Absteiger aus der Super-League, nur die zwei Barrage-Spiele des Tabellenneunten gegen den
Tabellenzweiten der Challenge-League, die am Ende der Saison über den verbleibenden freien Platz in der
Super-League entscheiden würden.
337
Der Spruch nimmt Bezug auf die zuletzt schwachen und erfolglosen Auftritte der Mannschaft. Die
Unterstützung der eigenen Mannschaft ist aber nur ein möglicher Bereich, der auf den Transparenten thematisiert
wird. Auch die Verhöhnung des Gegners („Eure Eltern sind Geschwister“ gegen St. Gallen) oder die eigene
Befindlichkeit („Humor ist, wenn man trotzdem klatscht!“ nach einer Niederlagenserie) sind weitere Bereiche.
121
Im Vergleich zu meiner vorhergehenden Untersuchung ist die Bierkurve um ein Vielfaches
gewachsen, viele Fans habe ich noch nie zuvor gesehen. Bis zur Pause geschieht nicht viel,
das Spiel ist vor allem spannend und steht noch 0:0. Bob, der als Capo auf dem Zaun steht,
schafft es nicht, die ganze Bierkurve akustisch zu einen, rund um uns herum regen sich sogar
gewisse Leute über den „Brüllaffen da oben“ auf. Kurz vor Wiederanpfiff werden in den
Reihen von Abarticus bengalische Fackeln gezündet, dazu skandiert die Ultra-Gruppierung
von Bob angetrieben: „Scheiss-Deltas338!“ und „Scheiss Polizei!“. Die Pyroaktion stösst
nicht in der ganzen Bierkurve auf Begeisterung, viele Leute ärgern sich sogar darüber wegen
den „Scheissbussen für den Verein!“
Das Spiel bleibt bis zum Schluss spannend, wenn auch auf bescheidenem spielerischem
Niveau und endet schliesslich mit einer leistungsgerechten Nullnummer. Die Stimmung ist
mit zunehmender Spieldauer besser geworden, in der letzten halben Stunde hat immer öfter
die ganze Kurve die Lieder mitgesungen. Nach Spielschluss kommen die Spieler des FCS –
wie immer – bei der Bierkurve vorbei und lassen sich abklatschen. Es sind hauptsächlich
Kiddies, die vorne am Zaun stehen.
Nach dem Spiel ist es in der Altstadt zu Verhaftungen gekommen. Offenbar hat auf einem
öffentlichen Platz ein spontaner Kick-off stattgefunden, zugleich wurde eine Leuchtrakete in
der Altstadt gezündet. Von diesen Vorfällen habe ich nichts mitbekommen, mit der „ChläggiPeer-Group“ habe ich mich gleich nach Spielschluss zu Fuss in eine Bar am Altstadtrand
begeben. Wir sind weder den beiden Mobs noch einem erhöhten Polizeiaufgebot begegnet.
Die prägenden ersten Eindrücke der Bierkurve waren der grosse Einfluss von Abarticus auf
die Kurve – davon war ein Jahr zuvor noch nicht allzu viel zu spüren – und natürlich die
massive Personenzunahme in der vormals übersichtlichen und familiär anmutenden Kurve.
Auch die Verjüngung der Kurve sowie der erhöhte Frauenanteil fielen mir auf.
4.2.2.
„Unterwegs mit Abarticus“
Gut drei Wochen nach dem Heimspiel gegen den FC St. Gallen steht das schwierige
Auswärtsspiel gegen den Grasshoppers Club Zürich auf dem Programm. Auf Grund der
Vorkommnisse beim letzten Gastspiel im Hardturm339 hat der BKSH-Verein beschlossen,
338
Delta ist der Name des Sicherheitsdienstes, der im Breite-Stadion aktiv ist.
Damals wurde ein Grossteil der Bierkurven-Fans von Personen aus dem Umfeld der Kategorie-CGruppierung „Hardturm Front“ angegriffen und verfolgt.
339
122
keine Car-Reise nach Zürich zu organisieren und dem Spiel fern zu bleiben. Also finde ich
mich um 17 Uhr im Schaffhauser Bahnhof ein, um mit den Abarticus-Mitgliedern nach
Zürich zu reisen.
Über Livo, der als einziger auf meine Mitteilung und kurze Präsentation meiner geplanten
Studie im Bierkurven-Forum reagiert hat, habe ich in der Zwischenzeit viele AbarticusMitglieder kennen gelernt. Ich war auch schon an einer ihrer Sitzungen im Falken-Restaurant
dabei und habe mich sowie meine geplante Untersuchung vorgestellt. Die meisten von ihnen
zeigten sich sehr interessiert und begegneten mir gegenüber ohne Vorurteile.
Im Zug besetzt die gut 30-köpfige Fanschar ein Raucherabteil; es wird gesungen, gequatscht,
geraucht und getrunken. Livo verteilt Gratistickets, die nach den Vorfällen beim letzten Spiel
von GC spendiert wurden. An alle möglichen Stellen im Zugabteil werden selbst entworfene
„Abarticus-Aufkleber“ angebracht, während eine kleine Gruppe Pyromaterial aufteilt und
untersucht, wo es am besten aufgehoben ist. Die meisten legen die bengalischen Fackeln und
Rauchbomben dann unter die Schuhsohle, oder stopfen sie sich in die Unterhosen. Vom
Hauptbahnhof aus geht es mit einem Bummlerzug weiter nach Zürich Altstetten, dabei
werden immer wieder Fangesänge und Schlachtrufe angestimmt. In Altstetten steigt die
Nervosität spürbar, niemand weiss genau, ob ein Zürcher Mob auf dem Weg zum Hardturm
wartet. Nach einem Gruppenfoto vor dem Bahnhof und einem zehnminütigen Fussmarsch
erreichen wir dann ohne Zwischenfall oder Begegnung mit GC-Fans das Hardturm-Stadion.
Offenbar haben die Erlebnisse rund um das letzte Spiel gegen GC ihre Spuren hinterlassen,
denn der Zuschaueraufmarsch aus Schaffhausen ist äusserst dürftig. Neben den BKSH-Leuten
fehlen auch sonst zahlreiche Bierkurven-Fans, die sonst immer dabei sind. Die Stimmung ist,
auch wenn Bob auf die Capo-Rolle verzichtet, ziemlich gut, besonders als Senn vor nur 4800
Zuschauern das 0:1 für Schaffhausen schiesst. Bis zur Pause können sie das Resultat halten
und Hoffnung keimt auf. Nach nur einem Punkt aus den letzten vier Spielen hat der FCS
einen Sieg bitternötig, will er den Anschluss an den Tabellenachten FC Aarau nicht ganz
verlieren. Ein Doppelschlag von Cabanas und Rogerio nach gut einer Stunde kehrt das Spiel
zu Gunsten der Grasshoppers. Aus der euphorischen Stimmung wird Resignation. In der
achtzigsten Minute ziehen sich plötzlich ein paar Jungs von Abarticus die Kapuzen ihrer
Pullover tief ins Gesicht, binden sich ihr Halstuch um, zünden drei bengalische Fackeln sowie
eine Rauchbombe an und schwenken trotzig ihre Fahnen.
123
Auf dem Platz bleibt das Aufbäumen aus, der FCS verliert schliesslich mit 3:1 gegen am Ende
überlegene Grasshoppers. „Toni“, der Fanbeauftragte340 des FCS an Auswärtsspielen, hat über
Telefon die Information bekommen, dass es nach dem Spiel zu Zusammenstössen kommen
könnte und dass er die Schaffhauser Fans so rasch wie möglich aus dem Stadion bringen soll.
Ich erfahre von dieser Massnahme erst später, da ich ein wenig abseits von den AbarticusMitgliedern gestanden bin, die zwei Minuten vor Schluss plötzlich alle abgehauen sind. Als
ich mit dem übrig gebliebenen Rest aus dem Hardturm komme, ist die Situation ruhig; wir
werden nicht angepöbelt und ein GC-Mob ist auch nicht in Sicht. Schliesslich fahren wir mit
dem Auto nach Hause.
Da ich die meiste Zeit meiner Feldbeobachtungen in Peer-Groups verbrachte, war es für mich
eine spezielle Erfahrung, mit Abarticus unterwegs zu sein, deren Mitglieder ein Fussballspiel
völlig anders erleben und ausleben, als die übrigen Bierkurven-Fans. Während die meisten
anderen Fans ihr Augenmerk ganz auf das Spielgeschehen richten, halten die Mitglieder von
Abarticus ihre Augen nach allen Richtungen offen. Neben dem akustischen und optischen
Support, den sie normalerweise steuern, gilt ihr Interesse auch den Sicherheitsdiensten
340
Auch das ist eine offizielle Forderung des Fussballverbandes. Als Fanbeauftragter bei Auswärtsspielen ist
„Toni“ vor allem das Bindeglied zwischen den Sicherheitsleuten und Vereinsverantwortlichen einerseits und den
Schaffhauser Fans andererseits. Er kennt die meisten Kategorie-B-Leute aus der Schaffhauser Fanszene und
weiss in brenzligen Situationen eher mit ihnen umzugehen, oder sie zu beruhigen, als Personen vom
Sicherheitsdienst oder vom Verein.
124
(pyrotechnische Darbietungen) sowie den gegnerischen Fans (spontane Kick-offs).341 Das
Spiel beginnt für sie früher als für alle anderen – dann nämlich, wenn sie an ihren Sitzungen
über mögliche Choreografien und sonstige Aktionen sprechen, die sie in den Tagen vor dem
Spiel planen, basteln und umsetzen – und hört zuweilen später auf, da sich einige AbarticusMitglieder auch an der so genannten „dritten Halbzeit“342 beteiligen.
4.2.3.
„Der Fan-Boykott“
„Keine Stimmung dank Willkür
Erinnerst Du Dich noch an das letzte Heimspiel gegen den FC Basel?
Damals versenkten wir symbolisch das Basler Schiff.343 Dies sollte am
heutigen Sonntag auf dem Rasen, wie auch auf den Zuschauerrängen
erfolgreich fortgesetzt werden.
Aufgrund der jüngsten Entwicklungen sehen sich die engagierten Fans
jedoch ausserstande, die notwendige Motivation für ein ähnliches Projekt
aufzubringen. Sich häufende, willkürliche Stadionverbote mit
fadenscheinigen Begründungen und zunehmende Repression, dürfen
nicht länger hingenommen werden.
Daher werden wir am Spiel gegen Basel auf jeglichen optischen, wie
auch akustischen Support, verzichten und das Stadion nicht betreten.
Wer sich mit dieser Aktion solidarisieren will, darf gerne mit uns Kontakt
aufnehmen.
Wir weisen an dieser Stelle ausdrücklich darauf hin, dass diese Aktion
nicht gegen die Mannschaft des FCS gerichtet ist.
Wir bedanken uns für Euer Verständnis.
Die aktive Szene der Bierkurve, BKSH & Abarticus“
341
Siehe dazu den Kommentar von Bob über solche Situationen an Heimspielen: „Ja du merkst ja schon
während des Spiels, ob Aggressionen vorhanden sind. Es laufen immer mal wieder Leute auf der Gegengerade
zum Gästesektor hinüber und dann sieht man schon, ob da Aggressionen sind. Und dann steigt schon mal die
Anspannung. Die Aggressionen merkt man einfach, es wurde ja auch schon provoziert, am Haag unten,
gegenseitig. Dann geht man aus dem Stadion raus und sucht halt den anderen Mob auf. Meistens treffen wir
dann spontan aufeinander. Entweder es passiert, oder es passiert nicht. Einen eigentlichen Treffpunkt gibt es
nicht.“
342
Ausdruck im Fussball-Fachjargon für das „Kräftemessen” unter Fan-Gruppen.
343
Das erste Heimspiel gegen den Liga-Primus Basel war ein Volksfest auf der Breite. 7300 Zuschauer (!) – so
viele wie nie zuvor in den letzten Jahrzehnten - verfolgten am 14.11.2004 dieses Spiel. Kurz vor dem Anpfiff
wurden unter der Anleitung von Abarticus und BKSH lange, blaue Papierstreifen über der ganzen Bierkurve
ausgerollt, die daraufhin ganz in blau getaucht war. Im Hintergrund tauchten dann plötzlich zwei aus Karton
gebastelte und an langen Balken befestigte Schiffe auf: ein grosser Basler Chemiedampfer und ein kleineres
Schaffhauser Piratenschiff. Die Schiffe steuerten aufeinander zu und schliesslich schoss das kleine Schaffhauser
Piratenschiff den scheinbar übermächtigen Basler Dampfer ab und versenkte ihn in den Fluten der blauen
Bierkurve, die natürlich den Rhein symbolisierte. Auf Grund der Direktübertragung des Spiels auf Sat.1-Schweiz
wurde diese Choreo von weiten Teilen der Fernsehnation gesehen. Das Spiel endete mit einem sensationellen
1:0-Heimsieg des FC Schaffhausen; Basel wurde an diesem Nachmittag also nicht nur symbolisch, sondern auch
tatsächlich „versenkt“.
125
Diese Botschaft steht auf den zahlreichen Flyern, die von BKSH- und Abarticus-Mitgliedern
am aufgeregt erwarteten Heimspiel gegen den FC Basel am 1. Mai 2005 vor dem BreiteStadion verteilt werden. Der Verein344 und die Mannschaft sind im Vorfeld des Spieles
informiert worden. Der Text wurde vorgängig auch im Internet veröffentlicht, wo er eine
hitzige Diskussion unter Bierkurven-Fans ausgelöst hat.
Der Aufruf zum Boykott, eigentlich gegen das Verhalten des Vereins und der
Sicherheitsdienste gerichtet, hat zunächst einmal die entstandene Kluft in der Bierkurve offen
dargelegt. Auf der einen Seite steht die aktivste Szene um Abarticus und BKSH-Verein, die
sich ungerecht behandelt fühlt, auf der anderen Seite stehen die alten „Bierkürvler“ und PeerGroups, die bei Weitem nicht alle Aktionen der aktivsten Szene befürworten. Da im
abgedruckten Text nur von „willkürlichen Stadionverboten“ und „zunehmender Repression“
die Rede ist, aber kein konkretes Beispiel aufgeführt wird, entsteht schnell einmal der
Eindruck, die aktivste Szene sei nicht bereit, die allseits bekannten Konsequenzen für das
Abbrennen von Pyromaterial und gewalttätiges Verhalten zu tragen.345
Man muss in diesem Fall auch von einem Kommunikationsproblem sprechen, denn in Tat und
Wahrheit ging es um zwei bestimmte Stadionverbote wegen Beamtenbeleidigung gegen ein
BKSH- und ein Abarticus-Mitglied sowie um das alles andere als freundschaftliche Verhältnis
zu den Deltas.346 In erster Linie prallen hier vor allem zwei verschiedene „Fan-Kulturen“
344
Hier die offizielle Stellungnahme des Vereins (28. April 2005): Der FC Schaffhausen hat heute ein Mail
erhalten, in dem Fans aufgerufen werden, am 1. Mai 2005 im Heimspiel gegen den FC Basel 1893 auf jegliche
Unterstützung zu Gunsten des FCS zu verzichten und das Stadion nicht zu betreten. Der FC Schaffhausen nimmt
dazu wie folgt Stellung:
Der FC Schaffhausen hat keine willkürlichen Stadionverbote ausgesprochen. Jedes Verbot wurde im Detail
protokolliert und hat in jedem Fall gemäss einheitlicher Beurteilung der Disziplinarkommission, die besteht aus
unabhängigen Personen besteht, die nichts direkt mit dem FC Schaffhausen zu tun haben) und der
Sicherheitsbehörden seine absolute Berechtigung. Matthias Bührer, Christian Stübi oder andere GL-Mitglieder
haben nie Stadionverbote erlassen. Dem FC Schaffhausen erwachsen aus dem Fehlverhalten einzelner Fans,
neben einem Imageschaden, sehr hohe Unkosten. So kann jedes einzelne abgebrannte Feuerwerk ein Bussgeld in
der Höhe von CHF 1'000.00 kosten, im Wiederholungsfall werden diese Beträge laufend erhöht. Weiter kann es
zum Spielabbruch, Punkteabzug oder einem Geisterspiel kommen. Auch im Zusammenhang mit den derzeit sehr
aktuellen Diskussionen um das Verhalten von Fangruppen in den Stadien, ist es auch für den FC Schaffhausen
unabdingbar, in diesen Fällen eine konsequente Haltung anzunehmen.
Mannschaft und Präsidium des FC Schaffhausen bedanken sich bei den korrekten Fans für ihre jederzeit
grossartige Unterstützung, auf die Spieler und Trainer angewiesen sind. Doch genau so sind sie darauf
angewiesen, dass sich alle Fans vor, während und nach den Spielen fair verhalten und den FCS voller
Leidenschaft, aber nie unter Missachtung der Regeln, unterstützen! Nur so können der Verein, die Mannschaft
und die Fans die gemeinsamen Ziele erreichen.
Ihr FC Schaffhausen, Sicherheitskommission
345
Aus der Stellungnahme des Vereins wird deutlich, dass auch dieser den Text auf die Pyro- und
Gewaltthematik bezog.
346
Leute des Sicherheitsdienstes haben beim Heimspiel gegen Aarau – laut Livo – einen “Tabubruch“ begangen
und sind während einer „Pyroshow“ in die Menge reingegangen, um die „Übeltäter“ zu identifizieren und so
Stadionverbote auszusprechen. Sollte sich dieser Vorfall tatsächlich so abgespielt haben, wäre das Eingreifen der
126
aufeinander, denen das gegenseitige Verständnis fehlt. Die eine Seite fühlt sich in der
Auslebung ihrer Fankultur beschnitten, während die andere es sogar teilweise begrüsst, wenn
irgendwo Grenzen gesetzt werden. Dies machen folgende zwei Kommentare deutlich: „Wir
wollen nicht nur Fussballfans sein, wir sind (im Gegensatz zu etwa 3000 Leuten, die am
Sonntag auf der Breite stehen werden) auch welche! Ich wage zu behaupten, auch ohne dieses
Spiel zu besuchen, Stunden mehr in den FCS investiert zu haben als viele andere! Und das gilt
wohl für Dutzende bei Abarticus und BKSH. Es kann tatsächlich Gründe für ein
Stadionverbot geben, und wenn diese vorhanden sind, akzeptieren wir dies auch. Was jedoch
in letzter Zeit passiert ist, kann einfach nicht länger hingenommen werden! Genauso wie
diese „Fans“ denkt übrigens auch die Chefetage des FCS: Solange wir brav unsere Choreos
basteln, Stimmung machen und Fahnen schwenken, ist die Bierkurve ihr Liebling; doch
sobald etwas ein ganz wenig nicht nach dem Geschmack von Stübi und Co. läuft, sind die
selben Leute plötzlich Chaoten und Hooligans! Und weisst du was? Das geht mir am Arsch
vorbei, ich supporte für die Mannschaft, für meinen Verein und nicht für die Tribüne...“,
verteidigt Livo den Boykott-Aufruf. Simon Baumann sieht das nachträglich ein wenig anders:
„Ich meine „Fan-Boykott“, das mache ich, wenn die Spieler das Gefühl haben, auf dem
Hosenboden spielen zu müssen, aber wegen dem…, es war sowieso „bireweich“, ich habs
jetzt wieder präsent, es ging um ein Stadionverbot, weil einer die Schmier beleidigt hat und er
hat dann Stadionverbot gekriegt, das ist OK, was willst nachher noch einen Boykott
machen?“
Am Spiel selbst wird diese Kluft endgültig offensichtlich. Abarticus und BKSH-Verein fehlen
praktisch gänzlich im Breite-Stadion, sie feiern gemeinsam eine Grillparty, doch davon
abgesehen hat sich nur ein ganz kleiner Teil der übrigen Bierkurve dem Boykott
angeschlossen. Symptomatisch auch, dass ein Transparent mit der Aufschrift „Keine
Stimmung dank Willkür“ schon nach wenigen Spielminuten vom Zaun gerissen wird.
Stimmung kommt in der Bierkurve vor „nur“ 5200 Zuschauern nicht auf, es werden kaum
Lieder angestimmt und besonders das Fehlen der Trommeln und des Capos macht sich extrem
bemerkbar.
Deltas absolut unverantwortlich, weil in der daraus entstehenden Unübersichtlichkeit und Panik, die
Verletzungsgefahr erheblich steigt.
127
Kurz vor Spielbeginn ist die Bierkurve noch halbleer
Die Geschichte des Spiels ist schnell erzählt. Kurz vor dem Pausenpfiff erzielt Julio Hernan
Rossi das längst fällige 0:1 für den haushohen Favoriten vom Rheinknie. Basels Topskorer
Gimenez entscheidet das einseitige Spiel in der 52. Minute mit einem weiteren Treffer.
Ähnlich wie den Fans in der Bierkurve, fehlt auch den FCS-Spielern der nötige Biss, um den
amtierenden Meister wirklich ernsthaft gefährden zu können. Der FC Schaffhausen bleibt
damit im Tabellenkeller stecken und steuert geradewegs auf die Barrage zu.
Der Fan-Boykott selbst hat seine Wirkung nicht verfehlt. Die zwei Stadionverbote werden
nach kurzer Zeit aufgehoben, womit der Boykott – zumindest aus Sicht von BKSH-Verein
und Abarticus – als Erfolg zu werten ist. Auch die Reaktion des Vereins auf den Boykott
bleibt nicht aus,347 er signalisiert auf seiner Homepage Bereitschaft zu einem Treffen348 aller
beteiligten Parteien. Seine grösste Wirkung erzielt der Boykott jedoch in Bezug auf das
Verhältnis der beiden Fan-Gruppierungen: „Das habe ich als einen riesigen Zusammenhalt
empfunden. Es war schade, dass nicht alle mitgemacht haben, aber das ist ja ihre eigene
347
Die Teilnahme des BKSH-Vereins am Boykott, zu dem die Beziehungen immer sehr gut waren – im
Gegensatz zu Abarticus – hat die Vereinsverantwortlichen wohl dazu bewogen, diesen Schritt zu machen.
348
Eintrag auf der Vereinshomepage vom 2. Mai 2005: „Der FC Schaffhausen nimmt die Diskussion der letzten
Tage sehr ernst und möchte deshalb, bei einem gemeinsamen Treffen zwischen Verantwortlichen aller Seiten,
Unstimmigkeiten aus dem Weg räumen. Zu diesem Zweck wird ein Treffen im Clubhaus des FCS organisiert.
Der FC Schaffhausen ist sehr stolz auf seine Fans und dies soll auch in Zukunft so bleiben. Wann dieses Treffen
stattfindet, wird nach Absprache mit den Parteien bekannt gegeben.“
128
Entscheidung gewesen, aber dieses Grillen war echt genial und schön. Ich finde einfach, dass
wenn einer Stadionverbot bekommt für Pyro oder einen sonstigen Scheiss, dann hat er’s
verdient, aber hier war es Willkür und dann mache ich gerne mit. Und unter den Fans von
Abarticus und BKSH hat dieser Anlass einen sehr guten Zusammenhalt gegeben“, blickt Jasi
gerne auf das gemeinsame Grillen zurück. Tatsächlich wird der Fan-Boykott und die damit
verbundene Grillparty in beiden Gruppierungen als einer der Saison-Höhepunkte und
schönsten Momente betrachtet, während er bei den übrigen Bierkurven-Fans schon wieder in
Vergessenheit geraten ist.
Das vom Verein initiierte Treffen fand schliesslich im Juli statt. Es hat die verschiedenen
Parteien zwar zusammen-, nicht jedoch nähergebracht. Trotz Beteuerungen von allen Seiten,
sich zu bessern, blieb es bei den verhärteten Fronten. Abarticus inszeniert weiterhin fleissig
Pyroshows und der Verein zeigt absolut kein Verständnis für diese Art von FussballfanKultur.
4.2.4.
„Wir singen Scheiss-FC-Aarau“
Nur gerade drei Tage nach dem Boykott-Spiel gegen Basel steht bereits das nächste
Heimspiel an: gegen den Tabellennachbarn FC Aarau. Ich nehme mein Diktaphon ans Spiel
mit und konzentriere mich während des ganzen Spiels für einmal nicht auf das
Spielgeschehen und das Verhalten der Fans, sondern ganz auf den akustischen Support; auf
Gesänge,349 Lieder und Sprechchöre aus der Bierkurve. In den folgenden Ausführungen über
den akustischen Support werden die wichtigsten Gesänge und Sprechchöre, sowie die
markigsten Sprüche, in chronologischer Reihenfolge wiedergegeben. Im Anhang dieser
Arbeit befindet sich eine komplette Liste mit allen Fangesängen und Sprechchören aus der
Bierkurve.
Da Bob dem heutigen Match fernbleibt, übernimmt Livo die Rolle des Capo, die beiden
standesgemässen Trommler, Hermy und Rüeger, stehen nach dem Boykott-Spiel wieder im
Einsatz. In der ersten Halbzeit spielt der FC Aarau in Richtung Bierkurven-Tor, das von FCSPublikumsliebling Marcel „Mäse“ Herzog gehütet wird. Am Zaun vor der Bierkurve ist ein
349
Sprechchöre bestehen, im Gegensatz zu Gesängen und Liedern, nur aus Textfragmenten und Wortfetzen (wie
„Scholololo“ oder „Lalalala“), die sich meistens mehrmals wiederholen. Oft wird einfach eine bekannte Melodie
aus der Volks- und Popmusik, oder aus der Werbung, nachgesungen. In der Bierkurve werden unter anderem
folgende Melodien für Sprechchöre verwendet: „An den Ufern des Mexiko Rivers“; „Biene Maja“ (Karel Gott);
„Volare“ (Gipsy Kings).
129
Transparent befestigt, das den Abstieg des FC Aarau beschwört und eine Todesanzeige
symbolisiert:
In den Anfangsminuten dieses „sechs-Punkte-Spiels“350 bleibt die Stimmung verhalten, die
Nachwehen des Boykotts sind noch deutlich zu spüren, am akustischen Support beteiligen
sich praktisch nur Abarticus und BKSH. Nach fünf Minuten versucht Livo die Kurve ein
erstes Mal aus der Reserve zu locken mit dem „Falkenbier-Lied“:
Capo: Was trinken wir?
Alle: Falkenbier!
Capo: Was pissen wir?
Alle: Falkenbier!
Capo: Prost ihr Säcke!
Alle: Prost du Sau!
Scholololololo Schololololoo, Schololololo Schololololoo, lolololololololooo …
Die Resonanz bleibt aber vorerst verhalten. Auch Reaktionen auf das Spielgeschehen gibt es
kaum, die beiden Teams neutralisieren sich weitgehend im Mittelfeld. Nur als Aaraus Stürmer
Rainer „Zufall“351 Bieli nach gut zehn Minuten einen schwachen Schuss Richtung
350
Der Rückstand auf das achtplatzierte Aarau beträgt vor dem Spiel fünf Punkte, bei noch fünf ausstehenden
Partien ist ein Sieg gegen den Tabellennachbar unbedingt nötig.
351
So nennen ihn die Bierkurven-Fans, weil es „reiner Zufall” sei, „wenn der mal treffe”.
130
Schaffhauser Tor abgibt, kriegt er die Häme der Bierkurven-Fans zu spüren: „Bieli, Bieli, haha-ha!“, skandiert gut die Hälfte der Kurve schmunzelnd. Nur wenig später setzt Livo auf
dem Zaun zum „Schaffhauserlied“ an, das sich vor allem in den Reihen der Kiddies grosser
Beliebtheit erfreut:
Capo: Schaffhauser, wo seid ihr?
Alle: Hier!
Capo: Schaffhauser, was wollt ihr?
Alle: Bier!
Capo: Schaffhauser, was wollt ihr lieber?
Alle: Freibier!
Refrain: Weil wir Schaffhauser sind, ai ai aio
das weiss doch jedes Kind, ai ai aio
wir reissen Bäume aus, ai ai aio
wo keine sind, jawohl das stimmt.
1. Strophe: Wir liegen unterm Bierfass und saufen wie die Sau,
wir rauchen unsern Joint und ficken jede Frau.
Refrain:
2. Strophe: Vom Norden bis zum Süden gar, wir sind die besten, das ist klar,
und die Sanitäter verkotzen wir dann später.
Refrain:
Nach 22 Minuten fällt aus heiterem Himmel und mitten in „FCS!-FCS!-FCS!“-Chöre hinein
das 0:1 für Aarau durch Manuel Schenker. Schtiif, der neben mir steht, wirft entnervt seinen
halbvollen Bierbecher Richtung Spielfeld, viele raufen sich die Haare oder werfen ihre Schals
und Fahnen auf den Boden. Nach einer halben Minute unkoordinierter Unmutsäusserungen
richtet sich der ganze Frust über das Gegentor an die auf der gegenüberliegenden Kurve
jubelnden Aarauer-Fans: „Hört ihr, hört ihr, hört ihr das Gestöhne? Aarau-Fans, AarauFans, alles Hurensöhne!“ und „Wir singen Scheiss-FC-Aarau, wir singen Scheiss-FC-Aarau,
Scheiss-FC-Aarau, wir singen Scheiss-FC-Aarau“ hallt es aus der Bierkurve. Während die
aktivste Szene und ein Grossteil der Kiddies lauthals mitgrölen, halten sich die meisten PeerGroups zurück; viele finden derartige Lieder und Gesänge „zu primitiv“ und wollen den FCS
lieber mit „positivem Support“ unterstützen.
Das Spiel des FC Schaffhausen ist immer noch zerfahren, es gibt kaum gelungene
Kombinationen, die Mitglieder der „Chläggi“-Peer-Group lassen ihrem Unmut freien Lauf:
„De huere Todi352 gseht hütt kän Ball, wiso bringt de Seebi353 nid endli de Toni354, de wür
352
Damit ist der pfeilschnelle aber weitgehend ungefährliche FCS-Angreifer Enzo Todisco gemeint.
131
wenigschtens en Ball treffe?“, fragt sich Lubo und ein anderer regt sich über den Eigensinn
von Flügelspieler Daniel Senn auf: „Spiel en doch zrugg, Schofseckel! De Todi isch völlig
frei!“ Als wenig später FCS-Stürmer Ursal Yasar einen Ball aus aussichtsreicher Position in
den rötlichen Abendhimmel setzt, schüttelt Schtiif nur den Kopf: „Ou läck, wa isch denn da
gsi? De hett wohl wider d` Schiischueh aa! Huerechrüppel!“ Nach gut vierzig Minuten wird
das Spiel der Schaffhauser endlich druckvoller und offensiver, das wirkt sich auch auf die
Bierkurven-Fans aus, die nun wieder hinter ihrer Mannschaft stehen. Als Livo „Uff goht`s
Schaffhuuse, schüss e Gool, schüss e Gool, schüss e Gool!“ anstimmt, macht erstmals die
ganze Kurve mit. Schliesslich ist es kurz vor der Pause so weit: Daniel Senn schiesst ein
Kopfballtor! Unkoordinierter Jubel bricht aus, die Leute schreien, umarmen sich, springen auf
und ab, werfen Bierbecher gleich dutzendweise Richtung Spielfeld und recken die Fäuste in
die Luft. Auf den zuvor angespannten Gesichtern zeigt sich plötzlich ein breites Lachen, die
Hoffnung ist zurückgekehrt.
In der Halbzeitpause lösen sich die zuvor klar erkennbaren Strukturen auf. Einige Fans suchen
die Toilette auf, viele holen sich ein neues Bier oder Mineral, Bratwürste und Hamburger
werden gekauft. Vor allem aber wird in Kleingruppen, die bunt durchmischt und ganz spontan
entstanden sind, über das Spielgeschehen diskutiert. Kurz vor Wiederanpfiff verteilen
Abarticus-Mitglieder gelbe und schwarze A4-Blätter an die ganze Kurve. Als die Spieler
wieder auf den Platz einlaufen, hält praktisch die ganze Bierkurve die gelb-schwarzen Blätter
hoch. Die Stimmung ist in der zweiten Halbzeit ungleich besser, als in der ersten; der FanBoykott vom vergangenen Wochenende scheint ein wenig vergessen zu sein, die Kurve rückt
auch physisch näher zusammen, die Gesänge und Sprechchöre werden nun lauter und von
weit mehr Personen mitgesungen.
Die Seiten sind gewechselt worden. Im Bierkurven-Tor steht nun Aaraus Massimo Colomba,
der sogleich von den Fans begrüsst wird: „Du bisch en hässliche Goalie, en hässliche Goalie,
en hässliche Goalie!“,355 skandiert die Menge. Im Gegensatz zur Stimmung in der Bierkurve,
353
Spitzname des damals sehr beliebten deutschen Trainers Jürgen Seeberger, der den Verein von der ersten
Liga aus in die Super-League geführt hat. Nach der grossen Misserfolg-Serie im September, Oktober und
November 2005 (kein einziger Sieg), wurde erstmals Kritik an ihm laut. Er sei zu brav, hiess es, und er rede die
dramatische Situation schön. Noch geniesst „Seebi“ aber das volle Vertrauen der Vereinsführung.
354
Spitzname des Brasilianers Antonio Dos Santos, der auf die Rückrunde hin vom FC Thun zurück an seine alte
Wirkungsstätte kam. Seine gefährlichen Standards und Weitschüsse haben den FCS in der Rückrunde offensiv
entscheidend gestärkt. Auf die Saison 2005/2006 hin wechselte er zu den Grasshoppers Zürich, wo er
Stammspieler ist.
355
Ganz anders der Umgang mit FCS-Goalie Marcel Herzog, der nach erfolgreichen Paraden gefeiert wird:
„Marcel Herzog, Marcel Herzog, Marcel Herzog, - du bisch en geile Siech!”
132
ist das Spiel auf dem Rasen nicht besser geworden, Chancen bleiben Mangelware. Als der
Schiedsrichter nach siebzig Minuten den unbedrängt vor dem Tor stehenden Todisco aus dem
Abseits zurückpfeift, bekommt er umgehend die Wut der Bierkurven-Fans zu spüren, die mit
seinem Pfiff ganz und gar nicht einverstanden sind. Während die aktivste Szene „Hu-Hu-HuHurensohn, Hurensohn, Hurensohn!“ skandiert, kommen aus dem Peer-Group-Lager
„Hoyzer!-Hoyzer!“356-Rufe.
Impression aus der Bierkurve:
Links unten die beiden Trommler; Abarticus-Mitglieder am Fahnenschwingen.
Die Reaktionen, wie auch die Gesänge und Sprechchöre der Bierkurven-Fans beziehen sich
aber nicht nur auf den jeweiligen Gegner und das Spielgeschehen, sondern auch auf die
eigenen Zuschauer. Besonders die Zuschauer, welche auf der unmittelbar an die Bierkurve
angegliederten Amag-Tribüne sitzen, geraten wegen ihrer Passivität ab und zu in den Fokus
des aktivsten Bierkurven-Kerns. „Steht auf, wenn ihr Schaffhauser seid, steht auf, wenn ihr
356
Robert Hoyzer (*1979) ist ein ehemaliger deutscher Fussballschiedsrichter und eine der Hauptpersonen im
deutschen Fussball-Wettskandal 2005. In dessen Verlauf gab Hoyzer Anfang des Jahres 2005 zu, gegen Geldund Sachzuwendungen den Ausgang von ihm geleiteter Fußballspiele beeinflusst zu haben, um Teilnehmern an
Sportwetten Gewinne zu ermöglichen. Er wurde vom Deutschen Fußball-Bund (DFB) lebenslang gesperrt (siehe
dazu: http://de.wikipedia.org/wiki/Robert_Hoyzer).
133
Schaffhauser seid!“, singt Livo zur Amag-Tribüne gewandt vor. An solchen Aktionen, bei
denen auch schon Bierbecher und Kartonfetzen Richtung Tribüne geflogen sind, beteiligen
sich allerdings nur Abarticus357 und ein paar andere, die restliche Bierkurve verurteilt solche
Aktionen grundsätzlich, da sie nicht verstehen können, wie man die „eigenen Fans anpöbeln
kann“, wie Simon Baumann im Interview erklärt.
Schliesslich bleibt es beim Unentschieden, das beiden Mannschaften nicht wirklich
weiterhilft. Die Bierkurven-Fans sind zwar froh, nicht erneut verloren zu haben, können sich
über den Punktgewinn aber nur bedingt freuen. Es wäre mehr möglich gewesen heute.
„Gopfertammi! Wenn mier nid mol die schlönd, wer denn?“, fragt sich Lubo und spricht dann
aus, was viele denken, „jetzt cha üs fasch nur no e Wunder rette“. Nach dem Schlusspfiff
wird noch auf die Mannschaft gewartet, die beklatscht, aber nicht gefeiert wird, und dann
strömen die Leute aus dem Stadion; Abarticus versammelt sich hinter dem Stadion zu einem
Mob,358 der Rest zieht in Kleingruppen und über das Spiel diskutierend in die Stadt hinunter,
in die Bars oder nach Hause, „um im Sportpanorama nochmals die wichtigsten Bilder des
Spiels zu sehen“, wie Lubo zum Abschied meint.
Über das ganze Spiel gesehen hat der Capo 108-mal einen Gesang oder ein Lied angestimmt,
die mit zunehmender Spieldauer immer häufiger von der ganzen Bierkurve übernommen
wurden. Insgesamt 36 verschiedene Fangesänge und Sprechchöre sind dabei zum Einsatz
gekommen, was sozusagen dem Gesamtrepertoire (40) entspricht. Wie schon erwähnt,
nehmen diese Gesänge und Sprechchöre Bezug auf ganz verschiedene Matchelemente: die
gegnerischen Fans und Spieler, die eigenen Spieler, sowie die eigene Mannschaft, die
Schieds- und Linienrichter oder sogar die eigenen Fans. Weitere häufige Bezugsquellen
sind die Stadt oder der Kanton Schaffhausen359 und das (Falken)-Bier, die verdeutlichen,
welch wichtige Rolle der Lokalpatriotismus für die Bierkurven-Fans spielt.
357
In den Augen vieler Abarticus-Mitglieder sind die Amag-Tribünen-Zuschauer keine richtigen Fans, da sie
sich nur sehr verhalten am akustischen Support beteiligen und “erst noch den viel besseren Blick aufs Spielfeld
haben”, wie sich Psycho echauffiert.
358
Es kam zu keinen grösseren Auseinandersetzungen nach dem Spiel.
359
Unter anderem werden in der Bierkurve auch die beiden „Stadtlieder”, „Das Munotglöcklein“ (Dr. Ferdinand
Buomberger, 1911) und „Bloss e chliini Stadt“ (Dieter Wiesmann, 1977), regelmässig gesungen. Und der wohl
bekannteste Fangesang der Bierkurve nimmt Bezug auf das Kantonswappentier: „Wer hett de Bock mit de
goldige Hödä? Hödä, Hödä, Hödä, Hödä! Wer hett de Bock mit de goldigä Hödä? Hodä, Hödä, Hödä, Hödä! –
Schaffhuuse, Schaffhusse!“
134
Der akustische Support ist mit wenigen Ausnahmen360 nicht ritualisiert oder vorprogrammiert,
sondern immer sehr situativ. „Ich habe mir jetzt nicht einen Spickzettel gemacht auf dem
steht: in der fünften Minute kommt dieses Lied und in der siebten Minute jenes, das kommt
wirklich aus dem Bauch und aus dem Kopf heraus und ist natürlich abhängig vom
Spielverlauf, ganz klar“, weist auch der etatmässige Capo der Kurve, Bob, auf die
Spontaneität beim akustischen Support hin.
Zum Abschluss noch ein paar Bemerkungen zu den Kommentaren und der Rhetorik
allgemein in der Bierkurve. Man muss dabei bedenken, dass die Sprache in der Kurve eine
ganz andere ist, als diejenige im Alltag oder gar in der Berufswelt. Sie ist knapp, vulgär,
pervers, simplifizierend und sehr emotionsgeladen. Für die Dauer eines Fussballspieles rückt
die Komplexität des sozialen Gesellschaftslebens in den Hintergrund. Es gibt nur noch „Wir“
und „Sie“, „Gut“ und „Böse“; die Rollen sind klar verteilt. Dieser Umstand drückt sich
dementsprechend stark in einer primitiven und unmissverständlichen „Stadionsprache“361 aus,
die aber gleich nach Spielende – abgesehen von zuweilen hitzig geführten Diskussionen unter
Fans – der herkömmlichen Alltags- und Freizeitsprache weicht.
4.2.5.
„Bis auf die Unterhosen“
Den Bierkurven-Fans bleibt kaum Luft zum Atmen, denn nur drei weitere Tage nach dem
nervenaufreibenden Spiel gegen den FC Aarau, kommt es in St. Gallen zum „OstschweizerDerby“. Im Kampf um den rettenden achten Tabellenplatz gegen Aarau ist ein Sieg der GelbSchwarzen Pflicht. Im Wissen, dass der FCS in den bisherigen drei Duellen gegen die
Olmastädter immer gut mithalten konnte (1 Sieg, 2 Unentschieden), nehmen über
120 Fans die Reise ins „Espenmoos-Stadion“ auf sich.
Als ich um 16.30 Uhr am Bahnhof Schaffhausen eintreffe, ist die gut 40-köpfige FCSFanschar kaum zu übersehen. BKSH und Abarticus haben sich darauf geeinigt, mit dem Zug
nach St. Gallen zu fahren. Im Zug wird wiederum singend, trinkend und rauchend ein ganzes
Abteil „okkupiert“. Die Stimmung ist aufgeladen, einige sind angespannt, wie immer, wenn
360
Die Begrüssung des gegnerischen Torhüters etwa, oder das kollektive Kreischen bei Eckbällen des Gegners
vor der Kurve und die Schiedsrichterbeleidigungen nach einem Pfiff gegen Schaffhausen.
361
Neben dieser Primitivierung der Sprache, kommt es zuweilen auch über den Fussball hinaus zu einer
Erschliessung anderer Bereiche, die primitiviert und teilweise auch enttabuisiert werden. Zum Beispiel die
Bereiche Homosexualität oder Rassismus. Der Spruch „Analverkehr!“ und das Fanlied „Der FCS, das ist unsere
Welt, wir ficken für Geld, nur der harte Kern, steck ihn rein, zieh ihn raus, für den Verein!“ von Abarticus
verweisen zumindest darauf. Rechtsextreme Inhalte konnte ich an meinen untersuchten Spielen keine
ausmachen, was sich – laut unterschiedlichen Berichten von Bierkurven-Fans – in der Zwischenzeit aber
geändert haben soll.
135
es gegen den Ostschweizer-Rivalen362 St. Gallen geht. Livo erzählt mir auf der Zugfahrt, dass
es heute wohl „krachen“ werde und vielleicht schon ein „Begrüssungskomitee“ am Bahnhof
auf uns warte. Beim Umsteigen in Winterthur zünden zwei Abarticus-Mitglieder in der
Unterführung eine bengalische Fackel an, drei in der Nähe stehende Bahnpolizisten wollen
erst eingreifen, ziehen sich aber angesichts der Grösse des Schaffhauser Mobs wieder zurück.
Als wir nach gut eineinhalb Stunden Zugfahrt die Haltestelle St. Fiden erreichen, sind schon
einige betrunken und bekifft. Schliesslich bilden wir alle zusammen einen Mob, um uns gegen
einen allfälligen „Angriff“ der St. Galler bestmöglich wehren zu können, und schreiten
Richtung „Espenmoos“. Die vorderste Reihe des Mobs hält ein Transparent mit der Aufschrift
„Auswärtssieg“ in den Händen. Nach gut zehn Minuten Fussmarsch erreichen wir das Stadion
ohne Probleme.
Dort erwartet uns eine Einrichtung, die im Zuge des repressiven Umgangs mit Fussballfans in
St. Gallen offenbar Schule gemacht hat: ein Container. Erst muss einem Sicherheitsangestellten ein gültiger Ausweis vorgelegt werden, dann wird man höflich gebeten, ein
Formular mit dem Titel „Einverständnis zur Leibesvisitation“ zu unterschreiben.363
Schliesslich wird man in einer Einerreihe in den Container geschleust, um dort in einer der
zahlreichen, abgetrennten Kabinen von einer Person des Sicherheitsdienstes sehr genau
untersucht zu werden. Wie ich später erfahre, mussten sich einige bis auf die Unterhosen
ausziehen, bei mir haben sie nur den ganzen Körper abgetastet und den Rucksack
kontrolliert.364
Noch bevor das Spiel beginnt, setzt strömender Regen ein und die ganze Schaffhauser
Fanschar verzieht sich in den kleinen Gästesektor in der Geraden, der überdacht ist. Der
grössere, ungedeckte Gästesektor in der Kurve bleibt praktisch unbesetzt. Die Stimmung unter
den FCS-Fans ist von Beginn an gut, auch als St. Gallen nach drei Minuten durch den
bulligen Angreifer Eric Hassli in Führung geht und der FCS auch in der Folgezeit nicht ins
Spiel findet. Die anfänglich gute Stimmung kippt langsam, Resignation und teilweise auch
Aggression machen sich breit, Bierbecher werden aufs Spielfeld geschmissen, der
Schiedsrichter und St.-Galler-Spieler beschimpft. Schliesslich kommt es zu ersten Reaktionen
aus dem St.-Galler-Publikum, das oberhalb und links vom Gästesektor (integrierte Stehrampe)
sitzt (!)
362
Obwohl sich die Schaffhauser, wie schon erwähnt, ganz klar als Nordschweizer sehen.
Als ein Mitglied von Abarticus das Formular mit „Pornobrille” (sein Spitzname) unterzeichnet, wird er, eher
unhöflich, darauf hingewiesen, dass er so nicht ins Stadion komme.
364
Dieser Prozedur müssen sich auch die St.-Galler-Kurvenfans unterziehen. Ein grosses Transparent bezieht
sich darauf: „Unser Einsatz: Treue, Support. Euer Dank: Container.“
363
136
Blick in den Gästesektor:
Hinter der Absperrung sitzen St.-Gallen-Fans.
In der zweiten Hälfte eskaliert die Situation endgültig. Auf vermehrte Provokationen365 der
Schaffhauser Fans an die Adresse der St. Galler folgen nun auch verbale Retourkutschen.366
Als die St.-Galler-Fans die gelb-rote Karte gegen Schaffhausens Kapitän Remo Pesenti
(Unsportlichkeit) lauthals bejubeln, platzt einigen Abarticus-Mitgliedern und auch einigen
übrigen Fans der Kragen. Bierbecher werden gezielt auf die Tribüne geworfen, ein paar
springen auf das Gitter, wollen drüberklettern, andere drohen mit der Faust, schreien wild
herum und gebärden sich aggressiv. Schliesslich schreitet der Sicherheitsdienst ein und stellt
sich demonstrativ zwischen die beiden Fanlager; auf Diskussionen lassen sie sich nicht ein.
Nur wenig später schiesst Dos Santos per Freistoss das 1:1. In Unterzahl. Wieder kippt die
Stimmung, Euphorie und Hoffnung macht sich breit, die Scharmützel mit den St.-GallernFans sind vergessen, der FCS wird wieder lautstark angefeuert und unterstützt.
365
„Hört ihr, hört ihr, hört ihr das Gestöhne? Gülle-Fans, Gülle-Fans, alles Hurensöhne!” oder „Eure Eltern sind
Geschwister. („Gülle“ ist eine Anspielung auf die landwirtschaftliche Tradition im Kanton St. Gallen, der Spruch
wirft den St. Gallern Inzucht vor).
366
„Scheiss Schaffhuuse, hoffentlich stiiged ihr wieder ab!” oder „Ihr Vollidiote sind Letschte!“
137
Am Ende bleibt es beim 1:1, der Rückstand auf das spielfreie Aarau beträgt nun vier Punkte,
die Barrage rückt immer näher. Wieder formieren sich Abarticus und BKSH-Mitglieder zu
einem Mob, der diesmal tatsächlich von St.-Gallern angegriffen wird. Doch sowohl in
St.
Fiden,
als
auch
am
St.-Galler-Hauptbahnhof
kann
die
Polizei
grössere
Auseinadersetzungen vermeiden, es kommt „nur“ zu vereinzelten Steinwürfen und lautstarken
Beschimpfungen, sowie zu Pfefferspray-Einsätzen der Polizei. Die Situation beruhigt sich, als
der Zug einfährt und die Schaffhauser Fans einsteigen.
In keinem meiner zuvor besuchten Spiele war die Stimmung auch nur annähernd so gereizt
und teilweise auch aggressiv wie an diesem Spiel gegen den FC St. Gallen. Besonders
einzelne Mitglieder von Abarticus verhielten sich aggressiv und aufbrausend. Diese erhöhte
Aggression – auch bei anderen FCS-Anhängern feststellbar – ist auf verschiedene Gründe
zurückzuführen:
•
Vier Runden vor Schluss steht der FCS mit fünf Punkten Rückstand auf dem neunten
Tabellenrang; der „Kampf ums nackte Überleben“ geht in die entscheidende Phase. In
dieser Ausnahmesituation sind viele FCS-Fans besonders angespannt und nervös.
•
Die Spiele gegen St. Gallen erhalten durch den Derby-Charakter367 einen zusätzlichen
Reiz. Gegen den unmittelbaren (und mächtigeren) Nachbar verliert man doppelt
ungern. Man spricht in diesem Zusammenhang auch von „soziokulturell aufgeladenen
Emotionen“.368
•
Der Gästesektor liegt im „Espenmoos“ sehr ungünstig, er ist in eine Tribüne integriert,
die von St.-Gallen-Fans besetzt wird. (Verbale) Zusammenstösse sind unter diesen
Umständen (keine klare Sektorentrennung) sehr viel wahrscheinlicher.
•
Die gelb-rote Karte nach einer Stunde für den Kapitän (!) der Mannschaft, bei
gleichzeitigem Rückstand, hat die bereits vorhandene Resignation und Frustration
verstärkt.
367
„St. Gallen ist vielleicht eine Ausnahme, weil es halt Derbycharakter hat und es einfach nur Hass
ist. Es sind einfach diese Emotionen, die dann hoch kommen“, beschreibt Livo sein Verhältnis zum
FC St. Gallen und dessen Fans, aber auch Simon Baumann, der einer ganz anderen Fankultur angehört, denkt
ähnlich: „Also ich hasse absolut St. Gallen, ich weiss nicht wieso, aber die St. Galler, die sind für mich einfach
doof und nichts. Und dann ist es halt schon so, dass es einen gewissen Stadt- und Kantonsehrgeiz gibt, ja.“
368
Koordinationsstelle Fanprojekte (KOS) bei der deutschen Sportjugend (Hrsg.). Fussball als Droge? Frankfurt
am Main, 2002. S. 54.
138
4.2.6. „Das (ausgebliebene) Wunder von Bern“
In meinen Ausführungen über das letzte reguläre Meisterschaftsspiel der Saison 2005/2006
gegen die Young Boys aus Bern, möchte ich für einmal nicht die Bierkurven-Fans ins
Zentrum meiner Betrachtungen stellen, sondern mich als Forscher. Das hat einen bestimmten
Grund: Ich habe an diesem Spiel meine Position als Forscher und Beobachter vollständig
aufgegeben und bin selbst zu einem Fan geworden. Die nun (fast wörtlich) folgende Bericht
stammt aus meinen persönlichen Notizen zu diesem Spiel.
29.05.2005. Auswärtsspiel in Bern.369
Zusammen mit drei Mitgliedern der „Chläggi“-Peer-Group fahre ich mit dem Zug schon
vormittags nach Bern. Wieder hat jeder von uns ziemlich viel Bier dabei, das auch fleissig
getrunken wird. Das allgemeine Gesprächsthema ist immer wieder Fussball; national wie
international. Die Zeit vergeht wie im Flug und schon bald rückt die Berner „Reitschule“ in
unser Blickfeld. Wir beschliessen, zu Fuss zum Neufeld-Stadion zu gehen. Als wir
schliesslich dort ankommen, ist es noch sehr früh, das Spiel beginnt erst in zwei Stunden.
Also trinken wir im nahe gelegenen Tennisclub nochmals ein Bier und begeben uns dann in
die sehr gut gefüllte Gästekurve. Wie schon gegen Aarau, sind auch in Bern gegen 400 (!)
FCS-Fans im Stadion.
Vor dem Anpfiff verteilen die Abarticus-Mitglieder selbst gebastelte Fähnchen. Die Hälfte
der Fans kriegt ein gelbes, die andere ein schwarzes Fähnchen; insgesamt mögen es wohl 100
sein. Ausserdem ist ein Spruchband am Geländer aufgehängt, auf dem „Das Wunder von
Bern“ steht, eine Anspielung auf den sensationellen WM-Titelgewinn der Deutschen im Jahre
1954, es ist förmlich zu spüren, dass rundherum an dieses Wunder geglaubt wird.
Das Spiel läuft gut in der ersten Halbzeit, es steht 0:0. Die Blicke wandern oft auf die
Anzeigetafel, wo auch die Resultate der anderen Matches stehen. Auch im Letzigrund steht es
0:0 zwischen dem FC Zürich und dem FC Aarau; noch ist alles offen. Jeder holt abwechselnd
Bier, und ich spüre, wie mir der Alkohol langsam aber sicher in den Kopf steigt. Wie alle
anderen um mich herum, schmettere ich jedes Lied und jeden Spruch – die meisten kenne ich
mittlerweile auswendig – aus voller Kehle in Richtung Spielfeld. Die zweite Halbzeit läuft gar
nicht nach Wunsch, der FCS kommt schwer unter die Räder. Altmeister Stéphane Chapuisat
erzielt noch vor Ablauf einer Stunde das 1:0, kurz darauf fällt das 2:0. Doch dann schiesst
369
Die Ausgangslage vor dem Spiel ist äusserst spannend: Der FC Aarau und der FCS liegen punktgleich mit 32
Punkten am Tabellenende und weisen auch noch das gleiche Torverhältnis auf. Aarau belegt auf Grund der mehr
geschossenen Tore den achten Rang (42 Tore; FCS 35).
139
Dos Santos mit einem sehenswerten Weitschuss den Anschlusstreffer und der Gästesektor
brodelt wieder, ich brodle wieder und kann nicht glauben, dass Aarau im Letzigrund das 0:0
hält. Zwanzig Minuten später ist der Spuk vorbei, YB hat auf 4:1 erhöht, der FCS muss in die
Barrage. Die Fähnchen liegen achtlos am Boden, die ersten FCS-Fans verlassen das Stadion,
singen tut keiner mehr. Nach Spielschluss erfahren wir von der Anzeigetafel, dass der FCZ
noch mit 2:0 gewonnen hat; das 1:2 hätte dem FC Schaffhausen also gereicht. Ein paar Leute
beginnen zu weinen, andere lassen ihren Frust an der Werbebande aus und treten voll
dagegen, niemand sagt ein Wort, alle schauen betreten zu Boden.
Choreografie in Bern:
Wir verlassen das Stadion mit hängenden Köpfen. Wir sind jetzt bedeutend mehr als beim
Reinkommen, gut zehn Leute. Plötzlich beginnt einer zu singen, ganz leise nur, doch mit der
Zeit stimmen alle mit ein: „We love Schaffhausen, we do – We love Schaffhausen, we do – We
love Schaffhausen, we do – Schaffhausen we love you!“, singen wir immer lauter und
besessener. Im Bus reissen wir uns die T-Shirts vom Leibe, singen „1-2-3, Oberkörper frei“
und stampfen und johlen die ganze Zeit. Die Niederlage ist vergessen, wir feiern uns selbst,
als FCS-Fans, als Botschafter dieses Vereins und dieser Stadt. Wir steigern uns in einen
140
regelrechten Rausch, im Berner Bahnhof laufen und rennen wir johlend durch die PendlerMenge, kaufen dann viel Falkenbier in einem Bier-Spezialitäten-Laden. Im Zug erreicht
unsere trotzige Euphorie den Höhepunkt. Wir füllen jetzt ein ganzes Abteil und sind
permanent am Johlen und Singen. Es kommt sogar zu einer kleinen Polonaise durch vier
Zugabteile, bei der sich einer sein linkes Knie verdreht. Die Niederlage ist endgültig
vergessen, es existieren nur noch wir: eine Horde Verrückter, die sich unbesiegbar und
unaufhaltsam vorkommt. Wir sind keine Individuen mehr, wir sind eine Masse, eine Wand.
Langsam nimmt die Euphorie ab. Wir sind alle sichtlich betrunken und müde von der Sonne,
der Hitze, dem ewigen Schreien und Johlen. Am Hauptbahnhof Zürich kaufen wir trotzdem
wieder Bier ein und geben auch in Schaffhausen noch nicht auf, trinken in einer Bar beim
Bahnhof weiter. Irgendwann, so zwischen 22.00 und 24.00 Uhr, landen alle daheim. Als ich
am nächsten Morgen aufwache, bleibt das Kopfweh und die Erinnerung an einen
denkwürdigen Ausflug unter Gleichgesinnten. Das lustige und bierselige Zusammensein, das
gemeinsame Abfeiern, das Johlen und Grölen hallt sogar stärker nach als die Niederlage des
FCS und mein Kopfweh.
Nach diesem Erlebnis in Bern ist mir klar geworden, dass das Fansein der Bierkurven-Fans,
so sehr die Unterstützung der Mannschaft auch hervorgehoben und tatsächlich ausgeführt
wird, immer auch eine Selbstinszenierung mit Erlebnischarakter ist. Man feiert und
unterstützt nicht nur den Verein, sondern auch sich selbst, das Fansein an sich und den Strudel
an Emotionen, die dadurch zum Vorschein kommen können. In dieser Erkenntnis
widerspiegelt sich auch eine grundlegende Aussage über das Zusammenwirken von
Fussballfans und Fussballspiel von Christian Bromberger: „Das Stadion (…) besitzt einen
zweifachen Charakter, es ist nicht nur Austragungsort des Spektakels selbst (des Matches),
sondern auch ein eigenes Spektakel (das Verhalten der Menge).“370
Diese letzten paar Spiele der Saison 2004/2005, die mit einem dramatischen 0:1 Auswärtssieg
im Barrage-Spiel gegen Vaduz und damit mit dem Verbleib in der Super-League endete,
waren die intensivsten und schönsten während meiner gesamten Untersuchung. All die
Unterschiede und Differenzen innerhalb der Bierkurve sind in den Hintergrund getreten, um
Platz zu machen für einen starken Zusammenhalt und gemeinsamen Support.
370
Bromberger, Christian. Fussball als Weltsicht und Ritual, in: Belliger, Andréa; Krieger, David J. (Hrsg.).
Ritualtheorien. Wiesbaden, 1998. S. 290.
141
4.2.7.
„Missstimmung im Misserfolg“
Der letzte Bericht aus der Bierkurve steht unter völlig anderen Vorzeichen als die bisherigen,
denn das betreffende Spiel gehört zur neuen Saison 2005/2006. Die hat, zumindest sportlich
gesehen, erfolgreich begonnen, mit 9 Punkten aus den ersten sechs Spielen. Die BierkurvenFans hingegen sind von ihrer Bestform noch weit entfernt, sie müssen sich nach den
Sommerferien erst wieder finden und vor allem neu motivieren.371 Choreografien sind bisher
keine durchgeführt worden, dafür erstaunlich viele Pyroshows, die auf immer weniger
Begeisterung in der Kurve stossen.
Das Spiel gegen den FC Aarau am Sonntag, 11. September 2005, steht noch aus einem
weiteren Grund unter völlig anderen Vorzeichen: im Vorfeld des Spiels ist ein AbarticusMitglied während eines heftigen Gewitters von einem Blitz erschlagen worden. Es starb,
genauso wie ein Kollege, der mit ihm unterwegs war, noch an Ort und Stelle.372 Nach diesem
tragischen Unfall wird die von Abarticus geplante Choreografie für das Aarau-Spiel
umgehend abgesagt, stattdessen erscheinen die Mitglieder geschlossen in schwarz. Auf einem
grossen Transparent, das sie vor dem Spiel am Zaun vor der Bierkurve befestigen, steht: „Der
Tod nahm, was niemand zu geben vermag“.373 Nach Spielbeginn verhält sich das ganze
Abarticus-Lager, in Gedenken an das verstorbene Mitglied, eine Viertelstunde lang völlig
still.374 Auch danach will im Lager von Abarticus keine Stimmung aufkommen; der Rest der
Kurve bemüht sich zwar, es bleibt aber das ganze Spiel über bei einzelnen, verhalten
vorgetragenen Gesängen und Sprechchören. Das liegt zum Teil auch am miserablen Spiel, in
dem sich zwei spielerisch arg limitierte Mannschaften gegenseitig neutralisieren und kaum
Torchancen zulassen. Schliesslich gelingt Aarau in der Schlussminute nach einem feinen
Konter das entscheidende Tor.
Erst im Nachhinein habe ich von verschiedenen Seiten erfahren, dass es während des Spiels
zu einem Disput zwischen Abarticus- und einzelnen BKSH-Mitgliedern gekommen ist.
Offenbar ist der Ultra-Gruppierung mangelnder Support vorgeworfen worden. Seit diesem
371
Zu Beginn einer Meisterschaft steht noch nicht so viel auf dem Spiel, wie gegen Schluss, wenn die
Entscheidungen bezüglich Meisterschaft, internationale Plätze und Abstieg fallen.
372
Siehe dazu: http://www.shn.ch/pages/archivartikel.cfm?id=157409&b1=blitzeinschlag&o1=&b2=&o2=&b3
=&re=&ra=AM&da=&startrow=1
373
Auch in Wil, mit dessen Ultras Abarticus eine enge Fanfreundschaft pflegt, stehen zwei Spruchbänder:
„R.I.P. nach Schaffhausen“ und „The following victory is dedicated to Zehndi“.
374
Schon im Frühjahr war ein Mitglied von Abarticus verstorben (Selbstmord), auch da wurde dem
Verstorbenen auf diese Art und Weise die letzte Ehre erwiesen. Viele Abarticus-Mitglieder haben noch am
Samstag an einer Gedenkfeier für die insgesamt zwei Todesopfer teilgenommen und eine abendliche Trauerfeier
am Unfallort mitgestaltet.
Die Bitte von Abarticus an den Verein, eine offizielle Schweigeminute abzuhalten, ist abgelehnt worden.
142
Vorfall ignorieren sich nun gewisse Mitglieder von BKSH und Abarticus komplett; der
ehemals enge Zusammenhalt zwischen den beiden Gruppierungen ist nur noch im Ansatz
vorhanden. Jasi, die einen Bezug zu beiden Gruppierungen hat, beschrieb das Klima innerhalb
des
aktivsten
Kerns
der
Bierkurve
während
unseres
Interviews
Ende
Oktober
dementsprechend wie folgt: „Es ist im Moment ganz extrem, seit etwa vier Wochen. Ich finde,
es hat wieder eine Art Spaltung gegeben. Es gab ja schon mal eine Spaltung, und dann haben
wir ja diesen Boykott gemacht wegen Backe, wir sind dort grillen gegangen. Und das war
sehr schön, weil dort wirklich alle Leute zusammen gekommen sind. Du hast nachher wirklich
einen grossen Zusammenhalt gespürt, ich bin danach auch mal Choreos mitbasteln gegangen,
weil ich gefunden habe, ich müsse diesen Leuten auch eine Chance geben, die sind sicher gar
nicht so schlimm, wie ich gedacht habe. Und das hat sich dann auch bestätigt. Man war dann
halt zusammen, die aktive Fanszene, ja und dann der Todesfall, das hast du sicher
mitbekommen, seit diesem Zeitpunkt ist die einstige Spaltung einfach wieder da. Ich finde das
recht schade. Und das ist auch der Grund, weshalb ich zurzeit nicht gross Bock habe, an die
Spiele zu gehen.“
Ein weiterer und wahrscheinlich wichtigerer Grund für die anhaltend schlechte Stimmung im
Herbst, die nicht nur den aktivsten Kern der Bierkurve erfasst hat, sind die sportlichen
Leistungen des FC Schaffhausen in dieser Zeit. In zehn aufeinander folgenden Spielen
verbuchen die Munotstädter keinen einzigen Sieg und holen gerade einmal einen Punkt. Der
Verein rutscht unaufhaltsam ans Tabellenende, viele Bierkurven-Fans verlieren den Glauben
an die Mannschaft, hadern mit der Mannschaftsaufstellung, vermissen den Kampf und Biss,
den sie zum Ende der letzten Saison hin gezeigt haben. Ein Teufelskreis.375 Doch zum
Abschluss der Hinrunde gelingen dem FCS zwei Auswärtssiege gegen den FC Aarau und den
Angstgegner FC Thun. Die „rote Laterne“ wird an Aarau abgegeben, der angepeilte achte
Tabellenrang liegt nur einen Punkt entfernt (Xamax); mit einem Schlag hat sich die Situation
des FCS wieder stark verbessert. Es wird sich nun nach der Winterpause zeigen, ob sich der
sportliche Aufwärtstrend fortsetzt und auch auf die Bierkurve einwirkt, die zum Ende meiner
Untersuchung hin den Elan und die Begeisterung des Frühlings und Sommers vermissen liess.
Das Spiel gegen Aarau und die schon ein Spiel zuvor eingeleitete Misserfolg-Serie (0:5 gegen
den FC Zürich) schieben zwei Begebenheiten besonders in den Vordergrund: Aus Abarticus
ist im Verlauf der Zeit ein soziales Netzwerk geworden, das weit über den Fussball hinaus
375
Ein Kollege aus der “Chläggi”-Peer-Group überlegt sich in dieser Zeit ernsthaft, seine Saisonkarte auf e-bay
zu versteigern, wegen mangelnden Erfolgsaussichten behält er sie schliesslich doch.
143
auch den Alltag der Mitglieder prägt und die sportliche Leistung des Vereins hat einen
grossen Einfluss auf das Wirken und Verhalten der Kurve.
Die Teilnahme am Gedenkgottesdienst und an der Trauerfeier des verstorbenen AbarticusMitgliedes sind nur zwei Beispiele, die den Status des sozialen Netzwerkes belegen. Als
Milan einmal etwas knapp bei Kasse war, hat eine Abarticus-Kollekte das nötige Geld
aufgebracht und ihm so den Besuch eines Auswärtsspieles ermöglicht. Immer wieder gehen
einzelne Abarticus-Mitglieder zusammen in die Ferien oder Ground-hoppen, man trifft sich
am Wochenende zu gemeinsamen Sauftouren und hilft dem Kollegen auch mal bei der
Autoreparatur oder dem Korrigieren einer Schularbeit. Diese Entwicklung ist wohl vor allem
darauf zurückzuführen, dass die Gruppierung einst aus einem grösseren Freundeskreis heraus
entstanden ist, der zuvor schon existiert hat. Gleichzeitig entscheiden die AbarticusMitglieder immer selbst, wer in ihren Reihen aufgenommen wird, im Gegensatz etwa zum
BKSH-Verein, wo die Mitgliedschaft auch per Antrag erfolgen kann.
Das zunehmende Auseinanderdriften der Bierkurve, das im Frühling und vor allem im
Frühsommer (kurzfristig) völlig aufgehoben wurde, ist im Herbst, offen wie nie zuvor, zu
Tage getreten. Setzt man diese gegensätzlichen Entwicklungen in Beziehung zum sportlichen
Werdegang des FC Schaffhausen kommt man zu einem durchaus logischen und eindeutigen
Fazit: Der sportliche Erfolg des FCS bestimmt massgeblich und nachhaltig die Stimmung und
das Wirken der Bierkurve.
4.4.
Zusammenfassung
Zum Abschluss der Ausführungen meiner Feldbeobachtungen möchte ich auf die drei
wichtigsten Erkenntnisse, die ich über die Bierkurve gewinnen konnte, eingehen:
•
Neben den drei verschiedenen „sozialen“ Teilen der Bierkurve (aktiver Kern – PeerGroups – Kiddies/Modefans) gibt es auch drei verschiedene Verhaltens- und
Funktions-Ebenen: eine „kollektive“ Ebene, in der die Kurve tatsächlich als Einheit
auftritt und sich auch als Einheit fühlt, eine „Gruppierungs“-Ebene, in der man sich
als Teil einer Gruppe oder Peer-Group versteht, und eine „individuelle“ Ebene.
Während eines Spiels switchen die Fans mehrmals von einer Ebene in eine andere.
Beim gemeinsamen Tor- oder Siegesjubel, bei strittigen Schiedsrichterentscheidungen,
wenn sich der Unmut kollektiv auf den „Mann in schwarz“ richtet oder wenn die
144
ganze Kurve gemeinsam ein Lied anstimmt und die Mannschaft nach vorne peitscht,
wird die Bierkurve tatsächlich zu einem erlebten Ganzen, einem Kollektiv. Beim
Kommentieren und Analysieren des Spielgeschehens, dem Beobachten gewisser
Vorgänge und Handlungen in der Bierkurve oder dem akustischen und optischen
Supporten teilt sich die Bierkurve in ihre drei „sozialen“ Teile auf und funktioniert
dann auch nicht mehr als Einheit. In Phasen völliger Konzentriertheit auf das
Spielgeschehen, etwa bei Straf- oder Freistössen oder während einer spannenden und
fesselnden Schlussphase, nimmt man das Fansein nur noch auf einer individuellen
Ebene wahr und vergisst sein sonstiges Umfeld fast gänzlich. Man muss sich deshalb
bewusst sein, dass die Bierkurve nicht einfach die Summe aller Individuen ist;
vielmehr teilt sie sich während eines Spieles in viele und unterschiedliche Bereiche
auf, die unter Umständen zu einer Einheit und einem Kollektiv werden können. Die
Bierkurve ist folglich keine „unanimierte Masse, die, angeführt von ein paar Wenigen,
willenlos und vernunftlos im gleichen Tonfall Parolen und Lieder skandiert“,376
sondern eine komplexe Ansammlung von Individuen und (Teil-)Gruppen, die auf
verschiedene Einflüsse und Handlungen mit wechselhaftem Status reagiert.
•
Die Einflüsse auf die Kurve und die Fans sind in der Tat sehr vielfältig und
reichhaltig. Ich verwende dabei grundsätzlich zwei Kategorien: äussere und innere
Einflüsse. Zu den äusseren Einflüssen zählt alles, was über die Bierkurve hinausgeht.
Die sportlichen Leistungen des FCS, das unmittelbare Spielgeschehen,377 der jeweilige
Gegner
und
seine
gesamtgesellschaftliche
Fans,378
das
Wetter,
Strömungen,380
etc.
Anstosszeit,379
die
Medien,
die
Die
inneren
Einflüsse
dagegen
entspringen aus der Kurve selbst. Im Zentrum stehen dabei sicherlich die Spannungen
zwischen den drei „sozialen“ Teilbereichen, ausgelöst etwa durch pyrotechnische
Darbietungen, als unpassend empfundene Gesänge und Sprechchöre, aggressives
Verhalten einzelner Fans, sowie persönliche Sympathien oder Antipathien
untereinander.
376
Bromberger, le match de football, S. 208.
Dazu gehören auch das Spieler- und Schiedsrichterverhalten.
378
Die Duelle gegen St. Gallen entfalten auf dieser Ebene eine andere Dynamik als Spiele gegen Yverdon.
Auf Grund der Ereignisse am letzten Auswärtsspiel gegen GC Zürich, sind am 2. April 2005 viele BierkurvenFans zu Hause geblieben.
379
In der Saison 2004/2005 wurde am Mittwoch (Abend), Samstag (Abend) und Sonntag (Nachmittag) gespielt.
Gerade längere Auswärtsfahrten unter der Woche können sich viele Fans aus zeitlichen Gründen nicht leisten.
An Samstagen wurde auffallend mehr Bier konsumiert.
380
Das vermehrte Auftauchen von Rechtsradikalen könnte darauf zurückführen sein. Es handelt sich dabei bloss
um eine Annahme, die, um der Realität standzuhalten, genau untersucht werden müsste.
377
145
Gerade weil so viele verschiedene Einflüsse auf die Kurve einwirken können, ist eine
genaue Voraussage über das Verhalten und Wirken der Bierkurven-Fans an einem
konkreten Spiel unmöglich. In einem von der „Koordinationsstelle Fanprojekte
(KOS)“ herausgegeben Werk381 wird dieser Umstand anschaulich beschrieben:
„Während sich in der Kosmologie Sternbewegungen auf Millionen Jahre angeben
lassen, ist vom Wetter allgemein geläufig, dass man eine Jahreszeit zwar noch auf
ferne Zukunft prognostizieren kann, seine genaue Vorhersage aber schon über mehrere
Tage hinweg kaum möglich ist. Dies sind keine hier kopierbaren Bilder, aber sie
erläutern doch den Unterschied zwischen stabilen Systemen (Kosmos) und instabilen
Resonanzsystemen (Wetter). Fussballfans mit ihrem Verhalten gehören zu den
letzteren.“382 Die Bewegungen des „Systems“ Bierkurve bleiben zwar determiniert,
sind aber nicht voraussehbar.
•
Etwas überraschend konnte ich im Rahmen meiner Untersuchung der Bierkurve nur
sehr wenige ritualisierte Handlungen ausmachen. Gerade auf kollektiver Ebene fehlen
sie gänzlich, mit Ausnahme ein paar weniger Gesänge und Sprechchöre, die an jedem
Spiel, allerdings zu keinem bestimmten Zeitpunkt, gesungen werden, und dem
Konsumieren von Bier. Auf der Gruppierungs-Ebene sind vermehrt ritualisierte
Handlungen auszumachen, besonders Abarticus sticht mit dem Vormatchbier-Treff,
der einheitlichen Fankleidung und der regelmässigen Mobbildung vor und nach den
Spielen heraus. Bei den Peer-Groups lässt sich höchstens ein „Bier-und-Bratwurst“Ritual erkennen sowie die Lust am Kommentieren und Diskutieren, und der BKSHVerein nimmt zu jedem Spiel ihr gelb-schwarzes Transparent mit der Aufschrift
„Bierkurve SH“ mit. Grundsätzlich bleibt aber festzuhalten, dass die Bierkurve so gut
wie keine ritualisierten Handlungen kennt und sehr situativ auf die verschiedenen
inneren und äusseren Einflüsse reagiert.
Die verschiedenen Fankulturen, die heute in der Bierkurve anzutreffen sind, haben
sich in Schaffhausen erst in den letzten fünf Jahren entwickelt. In dieser kurzen Zeit ist
es zu zahlreichen strukturellen Veränderungen gekommen. Erst in den letzten zwölf
Monaten
begannen
sich
klare
Strukturen
und
Formen
der
Fankultur
herauszukristallisieren, die vermehrt zu ritualisierten Handlungen führen könnten.
381
Das Werk untersucht Fussballfans mit dem spannenden Ansatz, das Fansein als Suchtverhalten zu
deklarieren.
382
Koordinationsstelle Fanprojekte (KOS) bei der deutschen Sportjugend (Hrsg.). Fussball als Droge? Frankfurt
am Main, 2002. S. 13.
146
Solange ich zwei gesunde Beine habe,
werde ich sicher in der Bierkurve stehen.
Kommentar aus der Bierkurve
5.
Schlusswort
Der Kreis schliesst sich. Er schliesst sich mit den jeweils ersten Spielen des FC Schaffhausen
in den Kalenderjahren 2005 und 2006: Vor ziemlich genau einem Jahr, an einem kalten
Februarsonntag, bildete ein Auswärtsspiel gegen den FC Zürich den Startschuss meiner
Studie über die Bierkurve und ihre Fans; nun, 12 Monate später, läutet ein Heimspiel gegen
den FC St. Gallen den finalen Akt meiner Untersuchung – das Schreiben der Arbeit – aus.
Der Kreis schliesst sich auch, weil mit diesem Schlusswort der Bogen zurück zur Einleitung
gespannt wird. Die zu Beginn aufgeworfenen Fragen sind über viele Seiten und Ausführungen
hinweg zu konkreten Antworten gereift, die nun meine Feldstudie zusammenfassen und
zugleich beenden werden.
Die Bierkurve ist „nur“ einer von zahlreichen räumlich abgegrenzten Bereichen im
Schaffhauser Breite-Stadion, gleich hinter dem nach Osten gewandten Tor, und doch
unterscheidet sich sie sich deutlich von allen anderen Stadionbereichen; sie ist nämlich die
„Heimat“ der fanatischsten und lautesten Fans des im Stadion ansässigen FC Schaffhausen:
der so genannten „Bierkürvler“. Schon Christian Bromberger hat in seinem wegweisenden
Werk „le match de football“ sehr genau darlegen können, wie jeder Stadionbereich seine
„eigenen“ Fans „generiert“, die sich dieser Tatsache auch bewusst sind: „Die Zuschauer selbst
sind sich der Art, wie sie in Sektionen voneinander getrennt sind, bewusst. Jene auf der
Tribüne sind sich bewusst, dort zu sein, wo sie hingehören, manchmal spotten sie über Fans
des eigenen Teams, die die Stehplätze belegen, von denen sie als zu förmlich und zu wenig
enthusiastisch bezeichnet werden.“ 383
Gleich zu Beginn stellt sich die Frage, wer sich hinter diesen fanatischsten und lautesten Fans
verbirgt, die das ganze Spiel über in ihrer Kurve stehen, singend und johlend ihre Mannschaft
unterstützen und die Farben des Vereins, gelb und schwarz, stolz und ausdrucksstark – auf
Schals, Trikots, Fahnen und Transparenten – ins Stadion tragen. Die Antwort fällt
überraschend vielschichtig aus: Frau wie Mann, Alt wie Jung, Links wie Rechts, sowie
383
Bromberger, le match de football, S. 209.
147
„Büezer“ wie „Banker“, sie alle sind sie in der Bierkurve vertreten, die damit praktisch alle
Gesellschaftsbereiche erreicht. Schaut man jedoch etwas genauer hin, sind „soziale“
Strukturen erkennbar: Die Attribute jugendlich, männlich und Schweizer beschreiben eine
Vielzahl von Bierkurven-Fans; es hat deutlich weniger männliche Fans, die älter als 35 sind.
Bei den relativ zahlreich vertretenen Frauen (15-20 %) in der Kurve tritt dieses Verhältnis
noch klarer hervor: Ein Grossteil von ihnen ist im Teenageralter, der Rest zwischen 20 und 30
Jahre alt. Während also die Alters- und die Geschlechtsstruktur der Bierkurve klare
Tendenzen aufweisen, lassen sich bezüglich der sozialen Schichten und politischen Ansichten
keine eindeutigen Aussagen machen; die Bierkurven-Fans stammen aus allen möglichen
Milieus und Schichten. Sehr auffallend ist hingegen das fast völlige Fehlen von Ausländern in
der Bierkurve, für die der Verein und das Fansein offenbar nicht genügend
Identifikationspotential und Anziehungskraft besitzen.
Diese homogene „Fanmasse“ verteilt sich keineswegs zufällig und völlig ungeordnet über die
Bierkurve, vielmehr erstreckt sie sich über drei verschiedene Bereiche. Im Zentrum der Kurve
steht der aktivste Kern, der hauptsächlich aus dem BKSH-Verein384 und der UltraGruppierung Abarticus385 besteht. Den zahlenmässig grössten Teil machen die Peer-Groups
aus, die etwas abseits vom aktivsten Kern stehen und in ihrer Grösse und Zusammensetzung
stark variieren. Schliesslich gibt es noch die so genannten Kiddies, weibliche und männliche
Fans im Teenageralter, deren Zahl nach dem Aufstieg in die Super-League vor eineinhalb
Jahren sprunghaft angestiegen ist.
An den Auswärtsspielen löst sich diese Dreigliederung auf: Der aktivste Kern386 und eine je
nach Distanz zu Schaffhausen unterschiedlich grosse Zahl von Peer-Groups vermischen sich
in den Gästesektoren der Auswärtsstadien mit (nicht sehr zahlreichen) FCS-Fans, die an
Heimspielen nicht oder nur selten in der Bierkurve stehen. Kiddies hingegen sieht man an
Auswärtsspielen, die mit erheblichen Mehrkosten verbunden sind, eher selten. Diese
strukturellen Veränderungen beeinflussen sowohl das Verhalten der Fans, als auch den
Support auf den Rängen: durch die oftmals langen Auswärtsfahrten steigt der Alkoholkonsum
gerade bei den Fans, die mit öffentlichen Verkehrsmitteln zu den Spielen fahren, massiv an,
was zu einer niedrigeren Hemmschwelle führen kann. Das wiederum zieht mitunter ein
384
Die Mehrheit der gut 20 Mitglieder ist zwischen 25 und 30 Jahre alt. Der Frauenanteil liegt mit beinahe
50 % sehr hoch.
385
Von über 40 Mitgliedern ist nur eines weiblich. Die Mitglieder sind alle zwischen 17 und 25 Jahre alt.
386
Während die Mitglieder von Abarticus und BKSH auch an Spielen in der Westschweiz oder im Tessin (Cup)
relativ zahlreich vertreten sind, schrumpft die Zahl der Peer-Groups mit zunehmender Entfernung immer mehr.
148
„asoziales“ und teils auch aggressives Handeln387 nach sich, verbessert aber auch die
Lautstärke und die Beteiligung am Support. Gleichzeitig ist die Atmosphäre in den
Auswärtssektoren oftmals familiärer, da man sich in diesem kleineren Rahmen viel eher
untereinander kennt als in der Bierkurve.
„Wenn ich guten Fussball sehen will, bin ich im Breite-Stadion am falschen Ort“, lautete ein
(oft berechtigter) Kommentar, den ich zufällig an einem Heimspiel aufgeschnappt habe.
Weshalb zieht es trotzdem Wochenende für Wochenende so viele Leute in die Bierkurve und
auch an die Auswärtsspiele? Die Antwort fällt wiederum vielschichtig aus. Ein zentraler
Punkt ist sicherlich der stark ausgeprägte Lokalpatriotismus, der bei fast allen BierkurvenFans festzustellen ist, und das damit verbundene hohe Identifikationspotenzial des Vereins.
Hier zeigt sich, dass ein Fussballverein und eine Fankurve durchaus als Lokalitätsproduzenten
fungieren können. Neben dem Interesse am Sport, am konkreten Spiel und am Verein geht es
schliesslich auch um den „sozialen Ort“ Bierkurve, um die besondere Stimmung an diesem
Ort, um die räumlich und zeitlich begrenzte Auszeit von den Alltagssroutinen, um die vielen
Leute, die man hier kennt und trifft, um das Bier und die Bratwurst in der Hand, um Tradition
und Leidenschaft.
Greift man in diesem Zusammenhang auf die Dreigliederung der Bierkurve zurück, stellt man
fest, dass die einzelnen Fangruppierungen unterschiedliche Gründe motivieren, ein
Fussballspiel des FCS vor Ort zu erleben. Für den aktivsten Kern, die ihr Fansein als Lifestyle
und zentrale Freizeitbeschäftigung verstehen, steht der akustische und optische Support und
damit auch eine Selbstinszenierung und -verwirklichung ganz klar im Vordergrund. Die
Mitglieder der Peer-Groups messen dem sozialen Aspekt eines Matchbesuches eine hohe
Bedeutung zu; Gespräche und Spielanalysen, das „Sprücheklopfen“ und gemeinsame
Biertrinken sowie das Wiedersehen von bekannten Gesichtern sind fast genau so wichtig wie
das Spiel. Die jüngsten Bierkurven-Fans wiederum (12-16-jährig) beobachten die Bierkurve
selbst mindestens so intensiv wie das Spielgeschehen; sie sind fasziniert von dieser lauten und
chaotisch anmutenden Masse, die mit ihren Fangesängen und Choreografien immer wieder
für Unterhaltung sorgt. Die älteren Teenager suchen zum Teil bereits die Annäherung an die
aktivste Szene und beteiligen sich rege am Support. Mit der kürzlich erfolgten Gründung der
387
Bezieht sich insbesondere auf Abarticus-Mitglieder, die vor und nach Heim- wie Auswärtsspielen teilweise
bewusst die Auseinandersetzung mit gegnerischen Fans suchen (aggressives Handeln). Das asoziale Handeln
(Provozieren, öffentliches Urinieren, Beschädigung oder Verunstaltung von öffentlicher Infrastruktur, etc.)
hingegen beschränkt fast ausschliesslich auf Auswärtsspiele.
149
„Munot Hawks“ versucht nun sogar eine Gruppe männlicher Teenager, die Lücke zur ultraorientierten Gruppierung Abarticus zu schliessen.
Zu guter Letzt bleibt ein Fussballfan aber immer auch ein Individuum.
Während eines Spiels funktioniert die Bierkurve als „System“ auf drei verschiedenen Ebenen.
Erstens auf der kollektiven Ebene, wenn die Bierkurve als Einheit auftritt, die ganz in der
Unterstützung der Mannschaft aufgeht. Dann auf einer Gruppierungs-Ebene, in der die
Dreigliederung der Kurve augenscheinlich wird und sich die drei Teilbereiche in ihrem
Verhalten und Handeln klar unterscheiden. (Aktivster Kern – Support; Peer-Groups –
Gespräche, Kommentare; Kiddies – Beobachten/Support). Und schliesslich auf einer
individuellen Ebene, wenn sich ein Fan in Phasen völliger Konzentriertheit so sehr auf das
Spielgeschehen konzentriert, dass er sich seines Umfeldes nicht mehr bewusst ist. Während
eines Spieles switchen die Bierkurven-Fans mehrmals von einer Ebene in eine andere.
Das Verhalten der Fans, im Rahmen dieser drei Ebenen, unterliegt einer Reihe von äusseren
und inneren Einflüssen,388 die auf die Bierkurve einwirken. Gleichzeitig muss man bedenken,
dass die im alltäglichen sozialen Leben geltenden Normen und Hierarchien während eines
Fussballspiels aufgehoben werden; in einem zeitlich und räumlich begrenzten Rahmen
entsteht gewissermassen eine „Anti-Struktur“ im Turnerschen Sinn, die Bierkurven-Fans
werden zu einer Communitas.389
Zu meiner Überraschung konnte ich im Verlaufe meiner Untersuchung so gut wie keine
ritualisierten Handlungen oder ausgeprägte Verhaltensmuster in der Bierkurve ausmachen.
Die meisten Handlungen geschehen aus einer konkreten Situation heraus. Eine Ausnahme
bildet die Ultra-Gruppierung Abarticus, die einem Matchbesuch doch gewisse Strukturen und
auch ritualisierte Handlungen aufdrückt. Das zeigt sich etwa beim „Vormatchbier-Treff“, bei
der einheitlichen Fankleidung sowie bei der regelmässigen Mobbildung vor und nach den
Spielen. Diese ausserordentliche und von vielen Bierkurven-Fans kritisierte Rolle von
Abarticus, die sich auch in anderen Bereichen zeigt – etwa beim Einsatz von pyrotechnischem
Material oder ihrem undurchsichtigen Verhältnis im Umgang mit Gewalt –, ist einerseits auf
388
Diese Vielzahl von Einflüssen, die in unzähligen Kombinationen auf die Bierkurve einwirken können,
machen eine genaue Voraussage über das Verhalten und Wirken der Bierkurven-Fans an einem bestimmten
Spiel unmöglich (äussere Einflüsse: Die sportlichen Leistungen des FCS, das unmittelbare Spielgeschehen, der
jeweilige Gegner und seine Fans, das Wetter, die Medien, die Anstosszeit, gesamtgesellschaftliche Strömungen,
usw; innere Einflüsse: Spannungen zwischen den drei „sozialen“ Gruppen, ausgelöst etwa durch pyrotechnische
Darbietungen, als unpassend empfundene Gesänge und Lieder, aggressives Verhalten einzelner Fans sowie
persönliche Sympathien oder Antipathien untereinander).
389
Besonders deutlich ist diese „Anti-Struktur“ bei Abarticus zu erkennen.
150
ihr
Fan-Verständnis
(Ultra-Mentalität)
zurückzuführen
und
andererseits
auf
die
Altersstruktur390 der Gruppierung.
Abschliessend bleibt anzumerken, dass das Fansein den Alltag der allermeisten BierkurvenFans nicht nur prägt, sondern ein wichtiger Bestandteil davon ist. Besonders deutlich zeigt
sich das bei Abarticus (Basteln von Choreografien; regelmässige Sitzungen; die Mitglieder
tragen ihre selbst entworfenen Fan-Kleider sehr oft auch im Alltag) und beim BKSH-Verein
(Unterhalt der Homepage; das Organisieren von Auswärtsfahrten). Aber auch die Mitglieder
von Peer-Groups werden fast täglich von ihrem Fansein geprägt; bei Gesprächen mit
Arbeitskollegen, beim Lesen der Tagespresse oder beim Reinschauen und Mitdiskutieren im
Fanforum auf dem Internet. Bei den (jüngeren) Kiddies hingegen ist der Einfluss des Fanseins
wohl noch nicht so stark im Alltag verankert.
In diesem Sinne trifft die zugespitzte Aussage von Brundle den Kern der Sache: „BierkurvenFan ist man nicht einfach 90 Minuten lang, sondern jeden Tag und jede Woche, ja, sein
ganzes Leben lang.“
Die in der Einleitung aufgestellte These hat sich, auf die Bierkurve bezogen, also bestätigt: Es
handelt sich bei den Fans in der Bierkurve keineswegs um eine homogene und formlose
Masse, sondern vielmehr um eine heterogene und komplexe Ansammlung von Menschen, die
nicht aus einem sozialen und gesellschaftlichen Gesamtkontext herausgerissen werden darf.
Diese Tatsache weist auf einen wichtigen Punkt hin: Das Portrait der Bierkurve und ihrer
Fans ist eine reine Momentaufnahme; die Zukunft der Kurve bleibt offen. So wird die
Bierkurve schliesslich von Begriffen geprägt, die man nicht unbedingt im Zusammenhang mit
Fussballfans erwarten würde: Dynamik und Veränderbarkeit; aber auch soziale Vielfalt
und
ein
grosses
Angebot
an
individuellen
wie
kollektiven
Entfaltungs-
und
Identifikationsmöglichkeiten. Das sind Eigenschaften, welche die Bierkurve und ihre Fans
nur schwer fass- und begreifbar machen – vielleicht generieren die Medien und die
allgemeine öffentliche Wahrnehmung deshalb so viele Klischees und Vereinfachungen in der
Betrachtung von Fussballfans.
390
Das Durchschnittsalter der Mitglieder liegt bei knapp 20 Jahren. Es liegt deutlich unter jenem des BKSHVereins und auch jenem der meisten Peer-Groups. Grenzerfahrungen spielen in dieser Phase des Lebens eine
zentrale Rolle; das soziale und berufliche Umfeld ist oftmals noch nicht sehr stabil, die eigene Persönlichkeit
nicht ausgereift.
151
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Ich möchte mich bei ganz vielen Menschen bedanken, ohne die meine Lizentiatsarbeit nie zu
Stande gekommen wäre; eine Arbeit, die mir sehr viel Spass und Freude bereitet, aber auch
Schweiss und Nerven gekostet hat.
Ich ziehe den Hut und sage Danke:
Mama, Flo und Albi
Daniela
Fabian, Dome, Raphi, Gray und viele weitere fussballsüchtige Freunde und Kumpane
Stephan, der lieber Rugby schaut
Prof. Dr. Ueli Gyr vom Volkskundlichen Seminar der Universität Zürich
PD Dr. Phil. Johanna Rolshoven vom Centre for Cultural Studies in Architecture an der ETH
Zürich
Rouven, Michi, Hermy, Jacqueline und dem BKSH-Verein
Fabio, MB, Chälle, Dena, Psycho, Günti, Müntsch, Ronny
Abarticus
Jasi, Nina, Heidi
Brundle, Simon, Stöge, Schtiif, Lubo und vielen weiteren Bierkurven-Fans
David Zimmermann, Christian Stübi, Matthias Bührer
Meinen Arbeitskolleginnen und Arbeitskollegen bei den „Schaffhauser Nachrichten“
Die Arbeit ist meiner Grossmutter, Margret Scholl, sowie meiner Babi, Jarmila Jirátová, und
meinem Deda, Mirsolav Jirát, gewidmet.
Jan Jirát
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