Ulrich Beck / Elisabeth Beck-Gernsheim Individualisierung in
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Ulrich Beck / Elisabeth Beck-Gernsheim Individualisierung in
Ulrich Beck/ ElisabethBeck-Gernsheim Individualisierung in modernenGesellschaften Perspektivenund Konrroversen einersubjektorientierten Soziologie UnseremLehrerKarl Martin Bolte in Dankbarkeitgewidmet r. \Wasmeint 'Individualisierung der Lebensformen..? "]{ie-rging erstvorgesrern,vo_rvierJahrenerst, einvierzigjähriger Großversuchfür die Menschheitzu Ende..,sagteFriedrichschä.lemmerEnde ry93in der Lutherstadt'Wittenberg. ,,Dahabenauch r7 Millionen Deutschein der ummauerrenProvinz in Kollekdvierungszwängen gelebt,dieeineEinheitspartei alshöchsteForm der Freiheitansah,Individualisierungals Subjektivismusverdammre, Zukunftsrisikenmit nwissenschaftlich. begründetemZukunftsoptimismus abwies, wo die 'Siegerder Geschichte.die Normen vorgabenund die Einheitsgesellschaft ansrrebten(die sozialistis_che Menschengemeinschaft), in der die Menschenals stetstätige Gemeinschaftswesen verstandenwurden, mit dem sicheren,gesetzmäßigverbürgten Ziel des Kommunismus gefüttert. Man durfte nicht mehr entscheiden,weil nichts mehr zu entscheiden war, weil die Geschichteallesroben.entschieden hatte.Aber man mußte auch nicht enmcheiden.. . Nun in der Freiheit, selbstentscheidendürfen und selbstentscheidenmüssen,zerfall aller vorhandenenInstitutionen,Verlusraller Sicherheiten.. . Das Glück der Freiheitist gleichzeitigdasFallenin ein Loch. Nun sehejeder zu! \üas gilt? \[er gilt? Es gilt, wer hat und wer zu mehrenweiß, was er hat, ry Millionen sind dazugekommen,aberdie.üüestkarawane zieht weiter und ruft uns zu: ,Kommt mir. \üfir wissenden \fleg.rüürir wissendasZiel. \Vir wissenkeinen]üüeg. \(ir wissenkein Ziel. \(as sicherist?Daß allesunsicherund risikoreichist. Genießt die BindungslosigkeitalsFreiheit....l Anders- und in vielemdoch ähnlich- verläuftdie Entwicklung in China. Auch in China zerbrichtdaskollektive System,daseii garantiertesEinkommen gab, die Früher "eiserneReisschüssel... hattendie Menschenkaum \7ahlmöglichkeitenin Privat- und Be- rufsleben,aber das minimale Sicherheitsnerzdes Kommunismus bot ihnen staatlich subventionierre Sflohnung, Ausbild.rrrf;;J Gesundheitsversorgung.Genau dieseVersotg-rrtrg von der iVi.g. bis zur Bahre, angebundenan das Arbeitskodäktiv in Fabrik oder Landwirtsch aft,löst sich jetzt auf, und sramdessenkommen Verträge, die Einkommen und Arbei rcplatzsicherheitmit Fähigkeir und Leistung verknüpfen. Heute -ird von den Menschen erwartet' daß sie ihr Leben selbstin die Hand nehmenund für Dienstfeislulgen einen ma$tgerechten Preis zahlen ,,Der ständige Refrain unter städtischenChinesenlauret, daß sie mit dem beschleunigtenT.*po des Lebensnicht mehr Schritt halten korrren. Sie sind verwirrt vom Wandel der Verte und Blickwinkel, was Grundfragen in Arbeit, Ehe, Familie angeht.<<z Man nehme, was man will: Gott, Nrt.rr, \fahrheit, Vissenschaft,Technologie,Moral, Liebe, Ehe - die Moderne verwandelt allesin ',riskanteFreiheiteno.Alle Metaphysik, alle Trans zendenz, alle Notwendigkeit und Sicherheit wiid'durch Ardstik ersetzt. \Vir werden - im Allgemeinsten und Privatesren- zu Artisten in der Zirkuskuppel: ratlos. ilnd viele stürzen ab. Dies nicht nur im \üesten,so_nderngerade auch in den Ländern, die sich abrupt für westlicheLebensformenöffnen. Die Menschenin der .h.rrriligen DDR, in Polen, it Rußland, in China befindensich in einem d,ramatischen (H. Viesenthal). "Abs turz in die Moderne<< Solche Beispiele, für die Bürger der alten nu"desrepublik scheinbarfern, verweisendoch r"f eine Dynamik, die ,.r.h hier wohl vertraut ist. In SchorlemmersRede fellt das Stichworr: ,rlndividualisier1lg". Mit diesem Begriff ist ein Ensemble gesellschaftlicher Entwicklungen und frfahrungen gemeinr, d; vor allem durch zwei BedeutungengekennzeiJhn.Jist, wobei diese sich, in der Diskussion wie in dä. Realität, immer wieder überschneidenund überlagern (was, wenig verwunderlich gdnzeSet rien von Mißverständnissenund Kontiovers en erzeugrhät): IndividualisierYng meint zum einen die Auflö.sung ,rärg.g.b.rr., sozialerLebensformen - ztrm Beispiel das Brüchi[*.rd".n"rron lebensweltlichenKategorienwie Klaise und Stand,b.r.hlechtsrollen, Familie, NachbJrr.hrft usw.; oder auch,wie im Fall der DDR und anderer Ostblocksta äten, der Zusammenbruch staatlich verordneter Normalbiographien, Orientierungsrahmenund Leirbilder.\7o immer solcheAuflösungstenderrr.ririch zeigen,srellt sich zugleich die Frage: Welche neuen Lebensformen .rrtst.hen dort, IO II wo die alten, Quä Religion, Tradition oder vom Staat zugewiesenen, zerbrechen? , Die Antwort, auf die zweite Seite von Individualisierung verweisend, heißt schlicht: In der modernen Gesellschaftkommen auf den einzelnenneue institutionelle Anforderungen, Kontrollen und Zwänge zu. Übet Arbeitsmarkt, Wohlfahrtsstaatund Bürokratie wird er in Netze von Regelungen,Maßgaben,Anspruchsvoraussetzungeneingebunden. Vom Rentenrecht bis zum Versicherungsschvtz)vom Erziehungsgeldbis zu den Steuertarifen:all dies sind institutionelle Vorgabenmit dem besonderenAufforderungscharakter,ein eigenesLeben zu führen. tndividualisierung ä diesem Sinne meint also ganz sicherlich nicht eine ,'unb ,girn t im quasi freien Raum jänglierende. . . Handlungslogik"3, und auch nicht bloße "Subjektivität", ein Absehendavon, daß "hinter der Oberfläche der Lebenswelteneine hoche ffiziente, engmaschige Institutionengesellschaftist...4 Im Gegenteil, es ist ein alles andere als gesellschaftsfreier Raum, in dem sich die modernen Subjekte mit ihren Handlungsoptionen bewegell.Die Regelungsdichteder modernen Gesellschaftist bekannt bis berüchtigt (vom fÜV bis zur Steuererklärungbis zu Mülisortierungsb.tti-tttungen), i- Summeneffekt ein hoihst diff erenziertesKun$twerk mit labyrinthischen Anlagen. Das enmcheidendeKennzeichendiesermodernen Vorgabenist, daßdasIndividuum sie,weit mehr alsfrüher, gewissermaßen selbst herstellenmuß, im eigenenHandeln in die Biographiehereinholen muß. Das hatwesentlichdamit zutun, daß die traditionellenVorgaben oft rigoroseHandlungsbeschränkungen,jaHandlungsverbote beinhalteten(wie etwadie Heiratsverboteder vorindustriellenGesellschaft, die den besitzlosenBevölkerungsgruppeneineEheschließung unmöglich machten; oder die Reiseverboteund Heiratsverboteder Ostblockstaaten, die Kontakt zu.m "Klassenfeindo untersagten). Dagegen sind die institutionellen Vorgaben der modernen westliche" Gesellschafteher Leistungsang.Lo,e bzw. F:landlungsanreize -man denke etwa an den Vohlfahrtss taat,,vonArbeitslosengeld bis zu BAföG und Bausparprämien.Vereinfacht gesagt:In die ffaditionelle Gesellschaftund ihre \Äcrgabenwurde man hineingeboren (wie etwa in Stand und Religion). Für die neuen Vorgaben dagegenmuß man etwas twn, sich aktiv bemühen. Ffier muß man erobern, in der Konkurrenz um begrenzte Ressourcensich durchzusetzenverstehen- und dies nicht nur einmal, sondern tagtäglich. T2 Die Normalbiographie wird damit zur,,vahlbiographieo , znr Das muß nicht "reflexivenBiographieo, zur ,rBastelbiographie...5 gewollt sein, und es muß nicht gelingen.Bastelbiographie ist imzugleich "Risikg|iographie.., i; ,, rahtseilbiJgräphieo,ein 3.t Zustand (teils offenen, teils verdeckten) Da.räg.fahrj,rrrg. 4.t Die Fassaden von \flohlstand,Konsum, GlimÄ., täuschenoft darüber hinweg, wie nah der Absturz schon isr. Der falsch. B.; oder die falscheBranche, dazudie privaten lJnglücksspiralen von Scheidung,Krankheit, Vohnungs,oerl.rst- PeÄ gehaütl ieißt es dann. Im Falle des Falleswird ofT.n erkennbar,was unrergründig immer schon lngelegt ist: Die Bastelbiographi. krrrn schn e1lzur Bruchbiographiewerden. An die StelleI.lürtversrändlich vorgegebener' oft erzwungenerBindungen tritr das Prinzip ,rBis *f weiteres<<, wie Zyg^unt Bauman sagr: allessichgegen. . . lebenslange "Heut zutagescheint Entwürfe,dauerhafte Bündnisse, .ttt*rttdelbare lden"titäten zu ver.schwörerl. !in{un8€n, -ewise Ich kannnichtlangfristig aufmeinenArbeitsplatz, meinenBeruf,ja nicht einmalauf Fähigkeiten bauen;ich kanndaraui*.rr.rr, daß .meineeigenen meinArbeitsplatzwegrationalisiert wird, daßmeinBerufsichbiszur Unkenntlichkeit verändert, daßmeineFähigkeiten nicht länge,g.frrg, sind. Auch aufPartnerschaft oderFamilieist iiZ"kunft nicht ät iru gr".irrden; im Zeitalterdessen, *T Anthony Giddens,confluentlove<nennt,währt dasBeisammensein nichtlängeralsdie Befriedigung einesder partner,il; Bindunggilt von vornhereinnur ,bis auf *eiteier.,-di.intensiveBindung von heutemachtFrustrationen morgennur um so heftiger.., Kennzeichen der Gegenwarr ist so eine Art ,rlandstreicherMoral..: Der Landstreicher ,rweißnicht,wie langeer dort, wo er isr, nochbleiben wird, und zumeistist nicht er es,der r,ib.rdie DauerseinesAufenthalts befindet.Ijnterwegswählt er sichseineZiele,wie siekomrnenund wie er sievon denWegweisern abliest;aberselbstdannweißer nichtsicher,ob er andernächsten StationRastmachenwird, und für wie lange.Er weißnur, daß seinesBleibenssehrwahrscheinlich nicht langeseinwird.-$flas ihn forttreibt, ist die Enttäuschung über den Ort seinesletztenVerweilens sowiedie nie versagende Hoffnung,der nächsteOrt, von ihm nochnicht besucht, odervielleichtderübernäihste möchtefreiseinvon Mängeln, -----o---die ihm die bisherigen verleidet hab,en...6 Sind dies, wie manchevermuten, Zeichenvon Egoismus und Hedonismus,einesim Westengrassierenden E,go-Fiäers?Nein, man schau genauerhin: Ein *eit.r., Kennz.iÄen der Vorgaben der r3 Moderneist, daßsie ehergegenalsfür familialesZusammenleben und Zusammenhaltwirken. Die meistenRechte,Anspruchsvordes\flohlfahrtsstaates für Unterstützungsleistungen aussetzungen zugeschnitten, nicht auf Familien. sind, wie gesagt,auf Individuen Siesetzenin vielenFällenErwerbsbeteiligung(oder,im Fallevon Arbeitslosigkeit, Erwerbsbereitschaft)voraus. ErwerbsbeteilibeidesMobilität und gung wiedcrunr$ctztBildungsbeteiligung, voraus,allesAnforderungen,die nichtsbeMobilitätsbereitschaft fehlen, aber das Individuum dazu auff.ordern,sich gefälligst als Individuum zu konstituieren:zu planen,zu verstehen'zu entwerfen, zlhandeln - oder die Suppeselbstauszulöffeln,die essichim - Falleseines,Versagens.. dann selbsteingebrockthat. Der Sozialzur Konditionierungichstaatist derarteineVersuchsanordnung bezogenerLebensweisen.Man mag das Gemeinwohl mit einer Pflicht-Impfung in die Herzen der Menschenspritzen,die gerade Litanei der verlorengeheutewieder öffentlich heruntergebetete gangenenGemeinsamkeitist doppelzüngig,doppelmoralisch,solangedie Mechanik der Individualisierungintakt bleibt und niemand sie wirklich ernsthaft in Frage stellt - weder will noch kann. Auch hier wieder dasselbeBild: Entscheidungen,möglicherweise unentscheidbareEntscheidungen,unter Vorgaben,die in die den einDilemmatahineinführen- aberebenEntscheidungen, zelnenals einzelneninsZentrumrückenund traditionaleLebensund Umgangsformenmißlohnen. DynaIndividualisierung,so gesehen,ist eine gesellschaftliche mik, die nicht auf einer freien Entscheidungder Individuen beruht. Um esmitJean-PaulSartrezu sagen:Die Menschensind zur Individualisierungverdammt. Individualisierungist ein Zwang, ein paradoxer Zwang allerdings,zur Flerstellung,Selbstgestalnicht nur der eigenenBiographie,sontung, Selbstinszenierung dern auch ihrer Einbindungen und Netzwerke, und dies im und unter dauernder . Wechselder Präferenzen und Lebensphasen Abstimmung mit anderenund den Vorgabenvon Arbeitsmarkt, usw. Bildungssystem,'Wohlfahrtsstaat Merkmalen von IndividualisierungsZu den enrccheidenden prozessengehört derart, daß sie eine aktive Eigenleistungder Individuen nicht nur erlauben,sondernfordern. In erweiterten wächstder indiOptionsspielräumenund Entscheidungszwängen viduell abzuarbeitendeHandlungsbedarf,es werden Abstimr4 mungs-' Koordinations- und Integrationsleistungen nötig. Die Individuen müss€D,um nicht zu scheitern,langfriitig planen und den umständen sich anpassenkönnen, müssenorgÄisieren und improvisieren, Ziele entwerfen, Hindernisse erketrn.tt, Nied erla\r gen einsteckenund neue Anfänge versuchen.Sie brauchen Initia1tive, Zähigkeit, Flexibilität und Frustrarionstoleranz. Chancer, Gefahren,Unsicherheitender Biographie,die frülrer im Familienverbund, in der dörflichen Gemeinschaft, im Rückgriff auf ständischeRegeln oder soziale Klassendefiniert waren, ' müssennun von den einzelnenselbst wahrgenommen, interpretiert, entschiedenund bearbeitetwerden. Die Folgen - Chancen wie Lasten - verlagernsich auf die Individuen, wobei diesefreilich, angesichtsder hohen Komplexität der gesellschaftlichen Zu-sind, sammenhänge,vielfach kaum i" der Lage die notwendig werdendenE,ntscheidungen fundiert zu treffen, in Abwägung von Interesse,Moral und Folgen. Dabei wird vielleicht erst im Generationenvergleichspürbar, wie schnelldie Anforderungen steigen,denendie Individuen jetzr ausges etzt sind. In einem Roman von Michael Cunningham fragt die Tochter die Mutter, warum sie den Vater geheiratetliat: auf dieser\7elt ausgerechnet ihn "\flußtestdu, daßdu von allenMenschen heiratenwolltest?Hast du nie Angst gehabt,dr könntesteinenriesigen Fehlermachen,irgendwiedie richtigeSpurdeinesLebensverlierenund sonsrwolanden,aufirgendeiner von der du nie zurückkommen Tangente, kannst?o Doch dieMutter,rwinktedieFrageabwie eineträge,aberbeharrlicheFliege.,Damalsstelltenwir nicht so großeFrag€o.,sagtesie.,Ist es nichtschwerfür euch,immerall diesesNachdenken und Überlegenund Planen ?,,,7 Ahtrlich schildert Scott Turow in einem Roman eine Begegnung zwischenVater und Tochter: ,Währender Sonny zuhörte,die zwischenimpulsivenGefühlenhin- und hergeschleudert Ironie,Arger-, sahStern wurde- Flehen,Bedrängnis, mit einemMal, da{3Clara[seineFrau]und er von einemgütigenSchicksal profitierthatten.Damals,zu seinerZeit, warendie Vorgaben klarer.Alle \üZelt, Männerund Frauender westlichen die in der Mittelschichtaufgewachsen waren,wolltendamalsheiraten,Kinderbekommenund aufziehen.I-Jndsoweiter. ausgetretenen Spuren.Aber Jederreistein denselben für Sonny,diespätheiratete, in derNeuenEpoche,war alleseineFrageder Entscheidung. Siestandmorgens aufundfingallesvonvornean.Siedachte überBeziehungen, E,he,Männernach,überdenunberechenbaren Gefährten,densiesichausgesucht hatte- nachihrerBeschreibung schiener noch It zu sein.Er erinnertesichanMarta,dieoft sagte,siewtirde einhalberJunge einenmännlichenBegleiterebensoschnellfinden,wie ihr einfiel,wozu sie ihn brauchenkonnte.<<8 I)em einen klingen solche Beispielevertraut. Dem anderenscheinen sie fremd, Geschichten aus einer fernen Welt. D aian wird deutlich: Es gibt nicht "die" individualisierteGesellschaft.LJnbestreitbarist die Situation in Großstädtenwie München oder Berlin anders als in Vorpommern oder Ostfriesland. Zwischen-städti schen und ländlichen Regionen finden sich deutliche Unterschiede, empirisch nachweisbaretwa in b ezugauf Lebensstil und Familienform.e \Washier längst selbstverständlich,Teil des Normalen, ist dort auffallend, irritierend, bedrohlich. S7obeifreilich Lebensformenund -orientierungender Stadt- gebrochenund and.erseingefärbt - sich auch auf dem Land ausbreiten.Individualisierungmeint, beinhaltetUrbanisierung.Urbanisierungaberträgt die Leitbilder der \flelt draußen bis in die \Tohnstube im Dorf, über Bildungsexpansion, über Fremdenverkehr, nicht zuletzt auch über Werbung, Massenmedienund }vlassenkonsum.Auch wo die scheinbar festgefügten Lebensstile und traditionalen Sicherheiten gewählt unä ittizettiert werden, sind dies oft genug 'BedürfEntscheidungen gegen neue Sehnsüchteund geweckte nisse, So ist je nach Gruppe, Milieu, Region zv prüfen,wie weit Indi- offen oder verdeckt- jeweilsausgeprägt vidualisierungsprozesse und fortgeschritten sind. Keineswegswird behauptet, die Entwicklung habe flächendeckendund unterschiedslosdie gesamte Bevölkerung erfaßt. Vielmehr ist das Stichwort "Individualisierung<<als Trendaussagezu verstehen. Die Systematik der Entwicklung ist entscheidend,die mit dem Fortschreitender Moderne verknüpft ist. Martin Baethge schreibt: ). . . 'was das Morgen ankündigt, kann ja heute kaum schon repräsentativsein...10In diesem Sinne ist Individualisierung beides exemplarischeGegenwartsdiagnoseund Zukunftsmusik. $ilassich im Zuge dieser Entwicklung letztlich ankündigt, ist das Ende der festen, vorgegebenenMenschenbilder.Der Mensch wird (i- radikalisierten Sinne Sartres)zur Wahl seiner Möglichkeiten) zum homo optionis. Leben, Tod, Geschlecht, Körperlichkeit, Identität, Religion, Ehe, Elternschaft, soziale Bindungen entscheidbar,muß, einmal zu Optionen zerschellt, entschieden ß werden.l l Im bestenFall erinnert dieseKonstellationan den Baron von Münchhausen, d:- gelungensein soll, was heute zvmallgemeinen Problem wird: sich an seinem eigenenSchopfe aus dem Sumpf der (Un)lvlöglichkeiten zu ziehen. Am klarsien hat (mit pessimistischemZungenschltg) diese artistische Zivilisarionsirg. wohl Gottfried Benn gefaßt: 'rDenn meiner Meinung nach fänlt die Geschiclttedes Menschen heute ersr an, seine öefährdrrr"g, seineTragodie. Bisher sianden noch die Altäre der Heilig.n .rnä die Flügel der Erzeneel hinter ihm, aus Kelchen und %uTbecken rann esüber seineSchwächenund \ü7underl.Jetztbeginnt die Serie der großen unlösbarenVerhängnisse seinerselbst.. .rrt2 2. vön der unlebbarkeitder Moderne: E,ntroutinisierung desAlltags Fragen,in die sie'zerschellen,in den Köpfen herum. Aber es ist mehr als das. SozialesHandeln vollzieht sich eingebemer in Rourinen' Man kann sogar sagen: \üas wir nicht oder kaum wissen, prägt unser Denken und Handeln am tiefsten. Es gibt einen großen Literaturkreis, der in diesem Sinne die Fntlasi mg, g€näuer: die tlnverzichtbarkeit von vor- und halbbewußt verinn.rli.hren Routinen betont, weil in ihnen erst die Lebensführungund ldentitätsfindung der Menschen in ihrer sozialenKoordination möglich wird. Es geht im Alltag, wie Hartmann Tyrell zeigt, wesentlich >>um die zeitlicheOrdnung desTuns. . . Aber nicht alleindie zeitliche Ordnungalssolcheist wichtig,sondernebensosehr diedamitverbundene Edebnisschicht des,Imrnerwied€r.,desNormalen,desRegulären, des Übettaschungsfreien. Zugleichist der Alltag eineSphärederleduzierten Aufmerksamkeit, des routinisiertenTuns, der entlastet-sicheren Verfügbarkeit,alsodes ,Immer-wieder.desTunkönnens . . . Es geht um dasmitunterin einemdezidiertpartikularistischen Sinne- ,beiuns.,im familialenZusammenleben, im Dorfe, in dgr Regionusw. alltägli.ttüUliche undVertraute. . ., alsoum das,'was,beiuns<jedertut...13 Genau diese Ebene von vorbewußten "kollektiven Habitualisierungell<<, von Selbstverständlichkeiten ist es, die mürbe wird, ins Denken und Verhandeltwerdenmüssen zerstaubt. Die Tiefenschicht von Entscheidungsverschlossenem wird in die Entschei- r7 dung gedrängt.Daher das Nervend., \flundscheuernde, endlos und die entsprechenden Lästige Abwehr-Aggressionen dagegen. Man kann den Fragenund Entscheidungen, die ausdem Boden emporsteigen, der Lebensführung wederentkommen,noch kann man siezurückverwandetrn in schweigenden Grund, auf dem sich lebenläßt.Jedenfallsgelingtdiesimmer nur zeitweise,vorläufig, durchsetzt,mit Fragen,die jederzeiterneut aufbrechenkönnen. Nachdenken,Überlegen,Planen,Abstimmen,Aushandeln,Fesr, legen,\fliderrufen (und allesfängt immer wieder von vorne an): i Das sind die Imperativeder 'rriskantenFreiheiten..,unrer die das Lebenmit Fortschreitender Modernegerät.Auch die Nichtenrscheidurg,die GnadedesHinnehmenmüssens verfluchtigtsich. Manchmaltritt an ihre Stelleein Zwitter, der dasVergangene zurückgaukelt:die Entscheidungfür den Zufall die Entscheidung für die Nichtentscheidung,ein Versuch,der die Zweifelverjagen soll und doch bis in die innerenDialoge ' hineinvon ihnenverfolgt wird. 'rlch glaubte, daß ich bald schwangerwürde. Ich nahm keine Verhütungsmittel mehr. Aber irgendwie konnte ich es niemand sagen,weder Bobby noch Jonathan.Wahrscheinlichschämteich mich über meine Motive. Ich gefiel mir nicht in der Vorstellung, berechnendoder hinterhältig zu sein. Ich wollte nur eines: zufäIlig schwangerwerden. Der unerwarreteNachteil des modernen Lebens bestehtdarin, daß wir das Schicksalbesiegthaben. Von uns wird erwartet, daß wir vieles, fast alles entscheiden.. ."In einer anderen Epoche hätte ich Kinder bekommen, als ich in den Zwanzigern war, während meiner Ehe mit Denny. Ich wäre Mutter geworden, ohne groß darüber nachzudenken.Ohne die Konsequenzenabzuwägen...14 Das Leben verliert seine Selbstverständlichkeit, heißt: selbst der soziale ,rlnstinkt-Ersatzrr, der es trägt und leitet, gerät in die Mühen und Mühlen dessen, v/as bedacht, bestimmt werden muß. 'Wenn es richtig ist, daß Routinisierung und Institutionalisierung eine endastende, Individualität und Entscheidung ermöglichendä Funktion haben, dann wird deutlich, welche Art von Beschwernis, Anstrengung, Nervigkeit mit dem Zermürben der Routinen entsteht. Ansgar \üeymann verweist auf die Anstrengungen, die das Individuum unternimmt, um dieser "Tyrannei der Möglichkeiten" (Hannah Arendt) zu entkommen - z,B. durch Flucht in Magie, Mythos, Metaphysik. Das überforderte Individuum ,rsucht, findet und produ ziert zahlloseIns tanzensozialer und psychischer Interventionen, die ihm professionell-stellverrretend die r8 Frage nach dem ,Was bin ich und was will ich. abnehmen und damit die Angst vor der Freiheitmindern...15 Hier habendie Antwort-Fabrik€n, der Psychoboom, die Ratgeber-Literatur ihren Markt, jene Mischung aus Esoterik, LJrschrei,Myrtik, Yoga und Freud, die die Tyrannei der Möglichkeiten übertönen soll und im \Techselder Moden weiter bestärkt, Nun sagenmanche,wer von Individualisierungspricht, meine Autonomie, Ema nzipation, ebensoBefreiungwie Selbstbefreiung des Menschen.16 Dies erinnert dann an jenesstolze Subjekt, von der Philosophieder Aufklärung postuliert, dasnichts geltenlassen will als die Vernunft und ihre Ges etze. Aber manchmal scheint statt Autonomie eher Anomie vorarherrschen, ein Zustand der Regellosigkeitbis hin zur Gesetzlosigkeit(wobei Emile Durkheim in seiner klassisch gewordenen Studie Anomie geradezuals das ,rÜbel der fehlenden Grenzen<< versteht, alsZeit der überbordenden, nicht mehr durch gesellschaftlicheSchranken disziplinierten Wünsche und BegierdenrT).Jede Verallgemein€rurlg,die die individualisierteGesellschaftnur unter dem einen oder anderen Vorzeichen- Autonomie oder Anomie - b.greifen will, verkirzt und verstellt die Fragen, die hier aufbrechen. Kennzeichnend sind Miqghf91nq.tt,Vidersprüche, Ambivalenzen (abhängig von politischen, wirtschaftlichen, familialen Bedingungen). Kenndie je nach Konjunkzeichnendist die ,,Bastelbiographie..l8, turverlauf, Bildungsqualifikation, Lebensphase, FamilienlaB€, Kohorte-- gelingen oder in eine Bruch-Biographie umschlagen kann. Scheiternund unverzichtbareFreiheit wohnen nah beieinander, mischen sich vielleicht sogar (r.8. in der "gewählten" Single-Existenz). Itt jedem Fall rühren die Them€n, an denen die einzelnensich Lebensbereichehinein. Es könabarbeiten,ir die verschiedensten nen "kleine.<Fragen sein (etwa um die Verteilung der Flausarbeit kreisend), aber auch ,'große..,die Tod und Leben einschließen (von der Pränataldiagnostikbis zur Intensivmedizin).Die Entroutinisierung entläßt also Fragenvon ganzunterschiedlichemsozialen und moralischen Format. Durchgängig aber gehen sie ans Zentrum der Existenz. Man kann geradezusagen:Die EntscheiFragen, die mit dungen der Lebensführung,werden>>vergottet<<. Gott untergegangensind, tauchen nun im Zentrum des Lebens neu wieder auf. Der Alltag wird postreligiös>'theologisiert<<. Es läßt sich eine säkulareLinie zeichnen:Gott, Natur) soziales r9 System. Jede dieser Kategorien und Sinnhorizonte ersetzt in gewisser Veise die vorangegangenenund steht für eine Art von eine Legitimitätsquellesozialen HanSelbstverständlichkeit ""J delns, die als eine Abfolge säkularisierter Notwendigkeiten gedacht werden kann. In dem Maß, wie die Dämme durchlässig werden und brechen, verwandelt sich, was einmal Gott vorbehalten oder von der Natur vorgegebenwurde, nun in Fragen und Entscheidungen,die in der privaten Lebensführungihren Ort haben. (Mit den Erfolgen der Fortpflanzungsmedizin und Humangenerikgerätdie Anthropologie desMenschensogarwortwörtlich in die Entscheidung.)Insofern kann man in einer kulturgeschichtlichen Perspektivesagen:Die Moderne, die mit dem Anspruch der Selbstermächtigungdes Subjekts angetretenist, löst ihr Versprechen ein. Mit der Durchsetzung der Moderne tritt in kleinen und großen Schritten an die Stellevon Gott, Natur, Systemdasauf sich selbstgestellteIndividuum. Mit dem lJntergang der alten Koordinaren geht auf, was verteufelt und bejubelt, verlacht, heilig und schuldig gesproch€r, totgesagtwurde: die Fragenach dem Individuum. 3. Wasist neu an Individualisierungsprozessen? der Ehe Das Beispielder Sozialgeschichte In seinem r 86o erschienenen Buch Die Kwhur der Renaissa.ncein Italien schreibt Jakob Burkhardt: Im Mittelalter LagdasBewußtseinder Menschen,rwieunter einem gemeinsamen Schleierträumend oder halbwach. Der Schleier war gewoben aus Glauben, Kindesbefangenheitund Vahn; durch ihn hindurchgesehenerschienenWelt und Geschichtewundersam gefärbt, der Mensch aber erkannte sich nur als Rasse,Volk, Partei, Korporation, Familie oder sonst in irgend einer Form des Allgemeinen. In Italien zuerst verwehte dieser Schleierin die Lüfte; es erwachteeine objektive Betrachtungund Behandlung desStaatesund sämtlicherDinge dieser\7elt überhaupt; danebenaber erhebt sich mit voller Macht das Subjektive; der Mensch wird geistiges Individuum und erkennt sich als solches... Burkhardts Schilderung der Renaissance trägt - paradox gesagt Zige der Postmoderne. Alles wird von Moden erfaßt; der politisch indifferente Privatmensch enrcteht; Biographien und Selbstbiographien werden geschrieben und erfunden; die Bildung der 20 Frauen formt sich nach männlichen Idealen. ,'Das Ruhmvollste, was damalsvon den großen Italienerinnengesagrwurde, isr, daß sie einen männlichen Geist, ein männlichesGemüt hätten.<< Aus dem Ho rizont des ry. Jahrhundertsmerkt Burkhardt an, hier enrsteheein "E,twas. . .1 das unseremJahrfiundert, wie Schamlosigkeit vorkömmt ,..re Ver clieseund ähnliche Schilderungenliest, fragr: Sflasist neu und spezifischan den Individualisierungsprozessenin der zweiten Hälfte des zo.Jthrhunderts?20Knapp und direkt geanrworrer: Das historisch Neue bestehtdarin, daß das, was früler wenigen zugemutetwurde - ein eigenesLeb en zu führen -, nun mehr und mehr Menschen,i- Grenzfall allen abverlangtwird. Das Neue ist erstensdie Demokratisierungvon Individualisierungsprozessen und zweitens (.ttg damit zusammenhängend)die Tatsach., daß Grundbedingungender GesellschaftIndividualisierungenbegünstigen bzw. erzwingen (Arbeitsmarkt, Mobilitäts- und Ausbildungsanforderungen,Arbeits- und Sozialrecht,Rentenvorsorge etc.): die institwtionalisierteIndividualisierung. Diese Geschichteder Ausbreitungund Ourchsetzungvon Individualisierungen kann an verschieäenensozialen Phänomenen und Gebilden nachgezeichnetwerden. Im folgenden soll dies exemplarisch und skizzenhaft anhand der Sozialgeschichteder Ehe geschehen.Vorweg als These formuliert: Während die Ehe früher zuallererst eine individuumüberhobene Institution sui generiswar, wird sie heute immer mehr zumProdukt und Konstrukt der sie eingehendenIndividuen. Betrachtenwir nun diesenhistorischenBogen genauer: Noch im 17, und r 8. Jahrhundertist die Ehe nicht von unten nach oben, sondern von oben nach unten zu begreifen,als direkter Bestandteil der Gesellschaftsordnung.Sie ist eine dem individuellen Zugriff weitgehend verschlossene,sozial verbindliche Lebens- und Arbeitsform, i. der Männern und Frauen bis in die EinzelheitendesAlltags, der Arbeit, derWirtschaft, der Sexualität vorgegebenist, was sie zu tun und zu lassenhaben.(Natürlichhalten sich keineswegsalle daran Aber dassozialeNetz von Familienund Dorfverband ist eng, die Kontrollmöglichkeiten sind allgegenwärtig. So hat, wer gegendie herrschendenNormen verstößt, oft mit empfindlichen Sanktionen zu rechnen.) Zuge.spitztformuliert: Die Ehe ist eine Art verinnerlichtes'rNaturge set"z<<, das- abgesegnet durch Gott und die Autorität der Kirche, gesichertdurch die 2T - in der materiellenInteressender darin Zusammengebundenen Ehe sozusagen"exekutiert.<wird. Deutlich tritt dies an einem scheinbaren Gegenbeispiel, nämlicheinererkämpftenScheidung, hervor,von der GiselaBockund Barbaral)uden berichren: des r 8. Jahrhundertserschienenim Gebiet Seine/Marne in Frank"Anfang reich vor dem zuständigenKirchengericht zweil-eute: JeanPlicque, Veinbauer in Villenoy, und Catherine Giradin, seine Frau. Sieben Monate vorher hatten sie wegen absoluter LJnverträglichkeitmühsam eine f1-ennung von Tisch und Bett durchgesetzt. Jetzt kommen sie wieder und erklären, daß es für.sie nicht nur besser,sondernvor allem rviel vorteilhafter und nützlicher sei, sich zusammenzu tun, als ggtrennt zubleiben..Die Einsicht diesesPaaresist t1'pischfür sämtlichelandüchenund städtischen \Tirtschaften: Mann und Frau waren aufeinander angewiesen,weil und solangees jenseitsder famili.alenGesamtarbeitkeine Nahr,rngs- und E,rwerbsmöglichkeit gab. rr2r Die Einsicht dieses Paaresbringt auf den Punkt, was ftir die vorin- dustrielle \flelt (bei aller Vielfalt) typisch zu sein scheint. Es gibt (abgesehenvon Kirche und Kloster) keine gesichertemareri.tt. Existenzbasisjenseits der E,he.Diese hat ihien Grund und Kitt nicht in der Liebe, sondern in der religiösenVerbindlichkeit und materiellen Verankerung ehelicher Arbeits- und Lebensformen. Wer den Sinn dieser Institution Ehe begreifenwill, muß gerad,ezu von den Individuen abstrahieren tttd das übergreifend! Ganze einer letzdich in Gott, im Jenseitsbegründeter Ordnung ins Zentrum stellen, Die Ehe dient hier nicht dem individuellen Glück, sondern der Sicherung der Erbfolg., der familial begründeten Herrschaft im Adel usw. An ihr hängt die Stabilität ä.r. gesellschaftlichen Ordnung und Hierarchie in einem sehr greifbaren Sinne. Mit der beginnendenModerne lockert sich der übergeordnere Sinnzusammenhangsozialer Existe nzformen. Der Z"{ zur Individualität - zunächst des bürgerlichen, auf privaten Kapitalbesitz gegründeten "Markt-Individuums<< stellt die Schwerkraft der kollektiven Identitäten und Handlungseinheitenin Frage, zumindest latent. In der Trennung von Familien- und \Wirtschäftssphäre zerbricht die Arbeits- und Virtschaftseinheit von Mann und F rau. Bezeichnenderweisewird diese Auflösung der mareriellen Basis ehelicher Gemeinschaft mit einer Überhöhung der moralischen und rechtlichen Grundordnung der Ehe beantworter. Auch hier wird die Ehe "deduktiv", also von oben nach unten, gerechtfer22 tigt, nun aber mit moralischenAusrufungszeichen,als Eckpfeiler 4.t bürgerlich-christlichen Weltordn.tngl Noch im Entw"rf für das Bürgerliche Gesetzbuch, r 888 .rtihienen, heißt es: ,'Ein deutschesbürgerlichesGes,B. wird der christlichen Gesamranschauungim Volke gemäß. . . davon auszugehenhab€r, daß im Eherecht nicht das Prinzip der individuelletr Freiheit der Ehegatten herrscht, sondern die Ehe als eine von dem Villen der Ehegatten unabhängige sittliche und rechtliche Ordnung anzus.f,.r, ist...22 'rNicht das Prinzip der individuellen Freiheit..,starrdesseneine >vomWillen der EhegarrenunabhängigeOrdnung..: In der Nega-G.*.insamkäit tion schwingt die drohendeMöglichkeit mit. Die ist allerdingseine einseitige.Der Ehefrau wird der eigeneName ausdrücklich verwehrt. Der Familienname wird damit der des Mannes.Exemplarischwird das Allgemeine mit der Macht - hier: desMannes- gleichgesetzt. So heißt esnoch 19t6 ineinem Urteil: ,Vielmehr läßt Arr. 6 GG die Gleichberechtigungim Familienrecht nur so zvm Zuge kommen, daß unse-r herkömmlicher, christlich bestimmter Familienbegriff dabei erhaltenbleibt. Allen übersteigertenindividualistischenBestrebungenist damit die Auswirkung im Eherecht versagt.. . Das muß auch für das eheliche Namensrecht gelten.rr23Hier findet sich schon die Bannformel von den die "übersteigertenindividualistischenBestrebungen<<, nichtsvon ihrer Aktualität verloren hat. Mit ihr soll der Beelzebub desIndividualismusausgerrieben werden. Familienstammbüchersind eine ungeöffnete Fundgrube für gleichsam ex cathedra verkündete .\fl,i"schfamilienbiläer. Zwei sollenhier gegenübergestellt werden: einesausder Zeitdes Nationalsozialismus,'einesaus den siebzigerJahren der Bundesrepublik. Viel radikaler könnte der Gegän tit, kaum ausfallen. Di. Geleitworte verdeutlichen die individualistische Konversion, die sich in Deutschland innerhalb von nur drei Jahrzehnten- auch amtlich! - vollzogen har. Anfang der vieizigerJahre hieß es: ,,ZumGeleitl Die Ehe kann nicht Selbstzwecksein, sondern muß dem einen größeren Ziele, der Vermehrung und Erhaltung der Art und Rassedienen. Adolf Hitler.rr24Das klingt wie ein Befehl und ist wohl auch so gemeint. Die Rassenlehreder Nationalsozialistenist ein exrremesBeispiel der "Gegenmodernisierung<<2s, die die Maskeradeder Vergatt[.trheit inszeniert, um die der Moder ne zu"Auflösungstendenzen<< 23 rückzuschrauben.Siebetreibt- mit allenMitteln - die hergestellte Fraglosigkeit blurcgemeinschaftlicherReintegration. Die Ehe wird so zur staatlichen Zweigniederlassung,zum Kleinsrsraarsgebilde) znr "Keimzelle des Staates<<. Sie gilt und dienr als Ort d.t rrdeutschen Reproduktion der Rasse... Die kommentierenden Sätzeim Familienstammbuchder siebzrgerJahre lesen sich wie der Gegenschwur. Hier heißt es: ,rAufgtbe einer privatrechtlichenOrdnung der Ehe ist, sie nichr primär im Dienste weiterer, außerhalb ihrer liegender Zwecke zv-seh€n, sondern in der Ehe selbstden Haup tzweck zu finden .1126 Im heutigen Ehebuch ist also nicht mehr rttt der ,rchristlichen\flelt- und Verteordnung" schon gar 4i. Rede, auch nicht von ,rstaatszielen<<, nicht von der Rasse... Srart dessen wird der Schritrvon "Erhalrung der auf das Ganze zu der auf die Personen gerichrerenSicht ausdrücklich formuliert, Da haut sich der Staatsogargleichsamselbst auf die Finger, indem er die von ihm angetrauten"Eheleure davor warnt, das zu tun, was bis dahin Grund satzstaatlichenEherechts und smatlicher Ehepolitik war: Naturalisierung überkommener Leitbilder. ,rVorsicht ist insbesonderegegenüberder gefährlichenVersuchung geboten, die überko--.tr.tt Leitbilder von Ehe und Familie einfach ungeprüft als >natürlich.hinzunehmen und auf diese Veise rechtlich zv versteinern. Die rasche Entwicklung unserer modernen Industriegesellschaft, die zunehmendeBerufstätigkeit der Frau, die zu erwartenden weiteren Arbeitszeitverkürzungen, der Umbau der Berufsbilder usw. zwingen die Rechtsordnungzu unvoreingenommener Aufgeschlossenheitgegenüber neuen Lebensformenin Ehe und Familie.r.27 Da klingt geradezusoziologie durch. Doch den frisch Getrauten wird auch noch dieser ,rsegenssPruch" Martin \Talsers- in einem eigenenKapitel ,rDie Eh.*ftosung< wortwörtlich ins Stammbuch geschrieben: ,rVon einem gewissenGrad der Auseinandersetzungan erscheinensie [die E,[eleute] wie zwei Chirurgen, die einanderandauerndohn. Nrrkose operieren, tund lernen immer besser,was weh tut<.rr28Das ist witzig-treffend und zeigrdoch in kaum überbietbarer Dramadk zum Kontrapunk! der "Rasseneheooder der noch in den funfziger Jrhren rechtlich verbindlichen,rchristlichenEheo den radikalenWechsel von der individuumsenthobenen zur exklusiv individuellen Interp retationdesDreibuchstablers,rE,heoan. Hier wird nicht nur in der Eheschließungdie Eheauflösungangesprochen.Ehe wird auch als individualisiertesProgramm i"rtiätiänalisiert. Ihr S7as, \üie, \flie lange wird nun ganzin die Hände und Herzen der in ihr Verbundenengelegt.Für das, w?s Ehe ist, meint, gibt esjetzr nur noch die eine Maxime: Das Skript ist die Indivia""rlisier,rrrg der Ehe. Arntlich wird hier sozusrg.r, der Individual-Code der Ehe verordnet. \flomit zweierleideutlich wird: Auch alte Eheformen müssen nach ihrer bürokratischenAbdankung nun auf persönlichesRisiko gewählt und gelebt werden. Scho! das Stammbuch enthältsozus-agen die Sflarnung:Die Ehe ist - vergleichbarder überhöhten Geschwindigkeitauf ku.venreicherStre.L. - einpersönlich riskantesLJnternehmen,für dasVersicherungennichr h*ften. Zum anderenkann ietztniemand sag€r, irr hinter dem ach so gleichgebliebenenStandardetikett "Ehe* geschieht,möglich, erllubj, gefordert, tabu oder unverzichtbariir. Diese Welärdrrung der Ehe ist von nun ab eineIndividualordnung, die im Gang dur.t den Blick der Individuen erfragt,rekonstr,riert werd.r, 1näß. Um keine Mißverständnisseaufkommen zu lassen:Auch die neueIndividualordnung der Ehe ist nicht bloßesProdukt der Individuen und ihrer \Münsche.Sie ist vielmehr an institutionelle Vorgabengebunden- zentral zum Beispiel des Rechtssystems.Sie verweist auf die Anforderungen yon Bildungssystem, Arbeits'Prrtrrern markt, Altersversorgung, die heute bei beiden (nicht mehr wie früher nur beim Mann allein) auf eine eigenstatrdige (Erwerbs-)Biographie mit eigener Existenzsicherung rng.l.it sind. Auch in bezug auf die Zweierbeziehung- dieserr-sche-inblr glnz privat€D, ja intimen Bereich bedeutet Individualisierung also keineswegs, daß die Erhöhung von \flahlmöglichkeiten gleichbedeutendmit Regellosigkeitsei.2eVielmehr zeiitsich hier wie anderswo auch, 'wasbei Talcott Parsonsschon "institutionalisierter Individualismus<<genannt wird.3o \7as in freier übersetnrng heißt, das Individuum der Moderne wird auf vielen E,benen mit der Aufforderung konfrontiert: Du darfst und du kannsr,ja du sollstund du mußt eineeigenständige Exis tenzführen, jenseitsder alten Bindungen von f'amilie und S"ippe,Religion, Herkunft und Stand; und du sollst dies gleichzeiüf t,rtr diesieits der neuen Vorgabenund Regeln, die Staat,Arbeitsmar,kt,Bürokrarie usw. enrwerfen. In diesemSinneist auchdie Ehe in ihrer modernenVersion nicht bloß Individualordnung, sondern eine rrinstitutionenabhängigeIndividuallage...3l ! 24 2' 4. Perspektiven und Kontroversen individuums orientierter Soziolo gie Alle Soziologiespaltetsichauf in zweigegensätzlichePerspektiven Man kann dasSozialeeinmalvom Standpwkt derIndidesselben: vidwen, zum anderenvom Standpunkt desGanzen (der Gesellschaft,des Staates,des Gemeinwohls,der Klasse,der Gruppe, BeideStandpunkte Familie,Organisationetc.) ausbetrachten.32 liegenin deiS.truktur sozialenHandelnsbegründet,dasebeneinmal von den Handelnden,dasandereMal von der sozialenStruktur her analysiert werden kann. Gleich möglich, nötig oder ursprünglichheißt abernochlangenicht: gleichwertigoder gleichberechtigtund schon gar nicht deckungsgleich. Viehnehr relativiert, kritisiert jede dieserBetrachrungsweisen vom die jeweilsandere(subtil, aberfolgenreich):\Ver Gesellschaft Standpunkt des Individuums analysiert,nimmt ihre jeweilige Form nicht als vorgegebenes,unverrückbaresDatum, sondern stellt sie in Frage.Hier ist, wie PeterL. Bergerin Anlehnung an Denken nicht weit von der Nietzscheformuliert, soziologisches ,oKunstdesMißtrauens<< entfernt33,ja es tendiert zvr "Destabili'sierung..der vorgefundenenMachtverhältnisse,wie etwa Zygmunt Bauman sagt.34Dagegenwerden da, wo die sogenannten der Gesellschaft(oder ihrer Teilberei"Funktionserfordernisse.. che)den Bezugsrahmenbilden, dieselbenoft schlichtals BinnenglückdesIchspropagiert.ZurDurchsetzungdiesesGlücksgibt es dannTrichter - "Pflichten.. genannt- und Eintrichterungs-,Ein- Schulen,Gerichte,Ehen, Orgaschüchterungsveranstaltungen nlsatronenusw. Die vorherrschende Soziologie hat es sich insofern leicht gemacht, als sie die Fragen, die hier aufbrechen,meist rigoros durch den bücherdicken Hinweis abschnim:daß Individuen nur in GesellschaftIndividuen sein oder werden können. So wurde immer wieder der Gedankeverdrängt:Waswird, wenn ebendieseIndividuen eine andereGesellschaft,vielleicht sogar eine andereArt von Gesellschaftlichkeitwollen ? Dagegen war uhd irr di. alte, immer noch sehr lehrbestuhlte Soziolo[i. auch gewappnet:D as zur Struktur geronneneGesamtinteressewurde zum rrfunctional prerequisite.. (Talcott Parsons) zugleichverdichtet und hochgejubelt. Daraus ließen sich - wie aus einem Füllhorn der säkularisiertenPflichtethik - "Rollenmuster<<, z6 'rErfordernisse<, "Funktionen.., "Teilsysteme<<schütten und schütteln,gleich weit von Gott und der Erde enrfernr, de- Handeln entzogenund do'chvorgegeben,die man als Maßstab andie Verwirrungen und Aufmüpfigkeiten der Individuen anlegenund so zu Urteilen wie >>norm alrr, >>abwegigo, ,irbr.rrd... "abweichend<<, , kommen konnte. DementsPrechendwird die ,,individualistische..Sicht auf Gesellschaftbis heute zumeist als anmaßendund selbstwidersprüchlich abgetan.Es ist - aktuell gewender- von ,rAnspruchsinfiation.. und ,'Ego-Gesellschafr., die Rede. Man beklagf,'d.tr Verfall der \Merteund vergißt, daß dies schon Sokratesgeran hat. Die Gegenftagehat - bisher- exemplarischschon die DDR erlebrund ist an .silas ihr gescheitert: wirdaus Institutionen ohne Individuen? \flas bedeutetes' wenn die Individuen den Institutionseliten die Zustimmung entziehen? Auch im Italien des Jahres 1991_ (ebensoin Frankreich, Schweden,Finnland, f)eutschland, den USA usw.) wird dieseFragelebendig, und die Antwort fellt ähnlich aus: Die politischenSystemebeben. In der Dominanz funktionalistischer, systemtheoretischerSichrweiseerscheint dementsprechendeine Soziologie oft nicht nur abweichend, son"subjektorientierte<< dern subversiv. Denn sie deckt unter Umständen auf, daß die Partei-und InstitutionselitenReiter ohne Pferde sind. Nun ist es zwar richtig, daß beide Betrachtungsweisendes Sozialenfür sich genommen unvollständig und somit wechselseitig ergänzungsbedürftig sind. Doch bevor so im allgemeinenHarmoniebedürfnisein Streit geschlichtetwird, der noch garnicht offen ausgetragen wird, sei hier darauf verwiesen,daß einigeJahrhunderte lang die Sicht auf das Ganzedie der Individuen unterdrückt hat. Insofern ist es an der Zeft, den Spieß umzudrehen und zu fragen,welche Art von Gemeinsamkeitenrsrehtnach dem Ende der großen politischen Lager und parteipolitischen Konsensformen? Mit'anderenWorten: Beide Sichtweisenbleibenbis auf weiteres ünvereinbar,werden sogarmit einer Modernisierungrdie die Individuen und ihre Dilem mata und Ansprüche freisetit, immer unversöhnlicher, bringen gegensätzlicheErklärungen, Merhoden, Theorien und Theorietraditionenhervor. Dagggenkann und wird man einwenden:Das ist doch gar kein sinnvoller Gegen satz.\flas sich analytischvoraussetzr,Indlviduen und Gesellschaft,kann nicht als sozialer Konflikt beschrieben 27 werden. Im übrigen beanspruchen beide Standpunkte beide Standpunkte. \fler das ,rGanze" (der Gesellschaft),die Funktionalität sozialer Gebilde in den Blick nimmt, beanspruchtselbstverständlich auch, den Standpunkt der Individuen mit einzub eziehen; notfalls den moralisch richtigen, der gegen die falschen Selbstbewußtseineder Individuen in ihren wohlverstandenen Eigeninteressenbehauptetwerden muß. \flährend umgekehrtjede Variante subjekt- und individuumsorientierter SoTiologieselbstversrändlich auch Aussagen und E,rklärungeq.ufibietet über die Eigenrealitätsozialer Gebilde und Systeme,d&.n Konstruktion, Inszenierungus'w. ,r f i \flas im vorangegangenenAbschnitt t-h.ispiel der Ehe gezergt wurde, gilt generell:Der Gegensatzzwrischenindividual- und sysremrlreär.Ärher Sicht ist ali historlsche Entwicklung zu begreifen. Kann man .vielleicht - noch in traditionalen, vorindustriellen Gesellschaften von einem gewissen Entsprechungsverhältnis beider Bezugsrahmen ausgehen, so zerbrtcht diese prästabilisierte Harmonie mit der Entfaltung der Moderne. I)as ist bereits das zenrrale Thema der Soziologie bei Emile Durkheim und Georg Simmel. Doch beide unterstellen noch die Möglichkeit einer \Wertinte gration d er individu alis i erten gleichs am tr anszend entalen Gesellschaft.I)iese Idee freilich wird um so irrealer, je mehr die Individuen freige setzt werden aus den klassischen Gruppen- und \Was Integrationsformen (auch aus denen der Familie und Klasse). heute zvm Vorschein kommt, kann man mit Hans Magnus Enzensb erger die "durchschnittliche Exotik des Alltags<<nennen. ,rSieäußert sich am deutlichstenin der Provinz. NiederbayerischeMarktflecken, Dörfer in der Eifel, Kleinstädte in Holstein bevölkern sich mit Figuren, von denen noch vor dreißig Jahren niemand sich etwasträumen üeß. Also golfspielendeMetzger, aus Thailand importierte Ehefrauen,VMänner mit Schrebergärten,türkische Mullahs, Apothekerinnen in Nicaragua-Komitees, mercedesfahrendeLandstreicher, Autonome mit BioGärten, waffensammelndeFinanzbeamte,pfauenzüchtendeKleinbauern' militante Lesbierinnen; tamilische Eisverkäufer, Altphilologen im \ilarentermingeschäft, Söldner auf Heimaturlaub, extremistischeTierschützer, Kokaindealermit Bräunungsstudios,Dominas mit Kunden ausdem höheren Managernent,Computer-Freaks, die zwischen kalifornischen Datenbanken und hessischenNaturschutzparkspendeln, Schreiner,die goldene Türen nach Saudi-Arabien liefern, Kunstfälscher, Karl-May-Forscher, B odyguards,lazz-Experten, Sterbehelferund Porno-Produzenten.An die Stelle d.r Eigenbrötler und der Dorfidioten, der Käuze und der Sonderz8 lingeist der durchschnittliche Abweichlergerreren,der unrerMillionen seinesgleichen garnichtmehrauffallr...35 Unter diesenBedingungensind die Institutionen aufanriquierten Bildern der Individ.tett, ihrer gesellschafrlich." Situationen und gegründet.Um nicht die eigeneMacht zugefährden, !ts:" halten Institutionenverwalterauf Biegen-und Brech.n ärran fest'(unrerstützt von einer in den alten Begriffsstereoqrpen 'aiß fors.henden S-oziologie). Eine amüsante Eolsfiruo,, ist, die f"iiiirche Klasse die Individuen ,,draußen.iiü, ebenso dumm und ire.h hält, wie die Gesellschaft der Individuen sie. Die Frage, wer recht hat, ist - im Prinzip - leich t zu entscheiden. Daß ,rri äi. prä phze und der bürokratische Apparat weiß, s/o es langgeht, und alle anderen blöde sind, ist ei"ä Auffassung, die fr,i. dIä So*jet.rnio' charakteristisch war - bis sie zerbrach. " schreibtHans MagnusEnzensberger(gemeintist "DieseGesellschafto, die der Bundesrepublik),',ist nicht mehr .rittä,rschbar. Sief,r, sehrfrüh, sehr raschregistriert,was in Bonn los ist. Zu dieserzymschen Auffassungträgr auch die Selbstdarstellungder Parteienbei. Di; pofitiker versuchen,den Schwund ihrer Autori täi, die E,rosionihrer Macht und des Vertrauens durch einen riesigenVerbeaufwand zu kompensieren. Aber dieseMaterialschlachtensind kontraproduktiv. Ihre Botschaften sind tautologischund immer nu. eines,nämlich ,Ich bin ich. oder ,wir k:t._s_te..sagen sind wir.. Die Null-M:]{""g ist die bevorzugleArt ihrer Selbstdarstellung. Das bestärkt natürlich den Eindruck, drß von dieser Kaste kein Gedanke zu erwarten ist . . . Wenn auf plakaten steht: ,Es geht um Deutschland.,dann weiß jeder, daß dasleeresStroh ist. Es gehtinrio.hsten Fall ,rm ü;i.irpfennig, um den Krankenkassenbeitrrg oi.r um die Stütze .. . Die Bundesrepublik ist relativ stabil und relativ ärfolgreich,nicht weil, sondernobwohl sie von den Leuten regiert wird, die den wahlplakaten herunt., grirr"J" Sen...36 r In dieser Auseinandersetzungbezieht die Individualisierungstheorie in einem doppelten Sirrrr. Partei: Zum einen wird ein Be-zugsrahmenerarbeitet,der das Themenfeld - die forrftiil; von Individuen und antiquierteninstitutionalisierten Gesellschaftsbildern - aus der Sicht der Individuen zu analysieren erlaubt. Znm anderen zeigt die Theorie geradeauf, wie iÄ zuge der weiterenrwicklung. der modernen Gesellschafrdie Lfntersäilurrg rrrJi.;;;, Sinn- und Haldlungseinheiten fragwürdig wird. Damit aber verSystemtheori€n, die eine vom Handeln und Denken li.i:l der Individuen unabhängigeExistenz und Reprodukrion desSozialen 29 annehmen, dn Realitätsgehalt. Zugespitzt formuliert: Systemtheorie wir d zur System-Metapbysik, die den Blick verstellt auf die sozialeund politische Virule rrz, mit der in allen Handlungsfeldern Inhalte, Ziele, Grundlageo, Strukturen des "Sozialen.. neu verwerden. Sieverdeckt die Repohandelt, erfunden und ausgestaltet litisierung von Politik und Gesellschafr,.37 Eine Söziologie, die in diesemSinneder Perspektiveder Institutionenerhaltunt die Perspektiveder Individuen entgegenhält,ist ein weitgehend unterentwickeltes Themengebiet in der Gesellschaftswissenschaft.Fast alle Soziologie beruht aufgrund eines ,rGeburts-Bias<< auf der Negation des Individuellen und des Individuums. Fast immer wurde das Sozialein Stämm€D,Religionen' Klassen,Verbänden, neuerdingsvor allem in sozialen Systemen gedacht. Die Individuen waren das Austauschbare,das Produkt der Verhältnisse, Charaktermasken, der subjektive Faktor, die tJmwelt der Systeme, kurz: das Undefinierb are. Das Credo der Soziologie, dem sie ilrre professionelleIdentität verdankt, lautet immer wieder: Das Individuelle ist die lllusion der Individuen, denendie Einsicht in die sozialenBedingungenund Bedingtheiten ihrer Existenz verstellt ist. Die \flerke der Veltliteratur, die großen E rzählungen und Drahaber, variierenin men, die die Epochen in ihren Bann geschlagen und Dignität des Re alität höheren von der Lehre die Sinne diesem ja Begriff - unteilder schon Allgemeinsozialen,dessen das sagt \t{issenschaft vom bare Einheit das "Individere.. ist. Ist aber eine ,'Individere.. überhaupt möglich ? Ist eine "Soziologie des Individuums.. (wenn sie nicht, diskurstheoretisch gewandt, mit der Sozialgeschichtedes Begriffs sich begnügt) nicht ein schwarzer Schimmel, ein verkappter App ell zur Selbstabschaffungder Soziologie? Man muß nicht dem Gegenextremnachjagen, uffi doch zu erkennen, daß viele der soziologischenGroßbegriffe auf Kriegsfuß stehen mit dem Grundgedanken der Individualisierungstheorie, die da besagt:traditional eZusammenhängewerden aufgelöst,neu vernetzt, umgeschmolzen, ir jedem Fall entscheidbar, entscheidungsabhängig, rechtfertigungspflichtig. \Wo diese historische Entwicklung sich durch setzt, fallen die Perspektivenvon "oben.. vom Gesellschafßganzen und vom Individuum ausund >>unter<(r einander. Dabei bleibt das, was die systemtheoretische Sicht : anfiragestellungenaufrührt, durchaus erhalt€n, ja gewinnt sogar 3o angesichtszunehmender unsteuerbarkeit in immer stärkerem Mäß an Bedeutung: Man nehme als Beispiel den Geburrenrückgangrder nur aufzu.schlüsseln ist, wenn man ihn vor dem Hintergrund der verändertenWünsche, Hoffnungetr, Lebensplanungen von Frauen und Männern sieht - und der gleichzeirigzuf gesamrgesellschaftlicherEbene in einen ganzen Rattenrlh*rä, von Nebenfolgen und Folgefragen hi"einführt (Bildungspolitik, Arb eitt rnttkts t eu€rurl g, Ren-ten sich erung, Kommun rt"pirnurlg r Einwanderungspolitikusw.). Die Individüen, ihre Vorlieb.r .rrrä Nachlieb€D, werden zum Störfaktor, zvm Unkalkulierbaren schlechthin, zu einer Dauerquelle von Irritationen, weil sie alle Berechnungen Ausbildungsquoten, Studiengangplanungen, Rentenkalküleusw. - über den Haufen werfen. Di.r ärhöht ä.r, Irrationalitätsverdachtbei den Akteuren in Politik und Verwaltung und ihren wissenschaftlich en Zuarbeitern,weil so die gängiqettRechts-, Verwaltungs- und Berechnungsformelnimmei *irder zuMakulatur werden. Vo bislangfunktionierendeAnnahmen versag€r;beginnt das Gezeter: "Stimmungsdemokratie..,rrEllenbogen-Gesellschafto. Es wird normiert .mä moralisiert.Aber die Flutwelle der neuen Lebensentwürfe,der Bastel- und Drahtseilbiographienkann so weder zurückgedämmt noch durcfischaut werden. Das GewieseleindividualisierterLebensführungen,irszeniert im persönlichen Versuch- und lrrtum-VerfahrÄ @wischenAusbildung, Umschulung, Arbeitslosigkeitund Kariiere, zwischen Liebeshoffnung, Scheidung, neuen täumen von Glück), verschließt sich den Standardisierungsnorwendigkeiten bürokratisierrerPolitik- und Sozialwissenschait. Niemand leugnet, daß auch dort Wichtiges erqrogenund bewegt wird. Doch was zuvor als zu vernachlässigendä Störquelle gak,wird nun immer unabweisbarerzur Grundrit.rrtion: Die BezugsrahmenstaatlichinstitutionalisierterPolitik und Verwaltung einerseits und die Bezugsrahmender Individuen, die ihre Biographie-Bruchstücke zusammenzuhaltenversuchen, brechen nun auseinanderund prallen konfliktvoll aufeinander in gegensätzlichen Entwürfen von ,'Gemeinwohl.., ,rlebensquafiä; , ,rZukunftsfähigkeit..,,,Gerechtigkeit", rrFortschritt...tr Riß rur sich auf zwischen den Gesellschaftsbildern,die in Politik und Institutionenvorherrschen,und den Entwürfen, die ausden Lebenslagen der um lebb areFormen ringendenIndividuen enrstehen. In diesem Spannungsfeldmuß die Soziologie ihre Begriffsbil- 3r überdenken. Algesichts desdung und ihre Forschungsro_utinen di; r'durchschninliche E xotik des Alltags << sen,-*r, F-,nzensberger nennr, was vorsichtig wissenschaftlichformuliert nun "Pluralisierung i.r- LebensforÄ.tt" heißt, werden alte Klassifikationen und Schemataebensoideologieverdächtig wie für institutionelle Akreure wichtig. Man ,r.h-. beispielsweisel-Jntersuchuttg-.t,die äaß die sich ausbreiteqdennichtehelichenLebensge,rbeweisen.., meinschaftenim Grunde voreheliche sind und die nachehelichen, sprich Scheidungen,tatsächlich auch nur eine Vorfo rm ztx näch,i.r, Ehe darstellen, weshalb durch alle Turbulenzenhindurch die Ehe als vanszendentalerSieger ausgerufenwerden kann. Derartige ,rEntwarnungen.. haben ihren Markt und dankb are Abnehheißt die Botschaft, ist ein mer: Der Individ"ualisierungsaufruhr, Sturm im Wasserglasder foitbestehenden E,he. Hier bestätigt iich die alte \fleisheit, daß es aus dem Wald herausschallt,wie man in ihn hineinruft. \fler auch noch die alternativen Lebensformen ,rverehelicht", darf sich nicht wundern' wenn er überall Ehen sieht, wohin er auch blickt. Doch dabei handelt es sich um-ein Paradebeispielblinder Empirie. Auch methodische BrillarLz,die ihren kategorialenRahmen nicht in Frage zu stellen weiß, wird zirkulär, *itd zurn Antiquariat einer Standardgrup\Wunschbildexistiert, als solpen-Gesellschaft, die nur noch als ches allerdingssehr lebendig ist.38 t. Ausblick:Vie sind hochindividualisierte integrierbarl Gesellschaften Individualisierung hat - wie der Buchtitel sagt ein DoPpelgesicht: 'rriskante Freiheiten... In alten, falschen Begriffen ausgedrückt: Em anzipation und Anomie gehenchemisch-politischeine explosive Mischung ein. Entsprechend tiefgreifend und nervtöt.ttd sind die Folgen und Fragen,die in allen Bereichender Gesellschaft aufbrechen, mehr ,trd mehr auch die Öffetttlichkeit alarmieren und die Vissenschaft beschäftigen.Um nur einige zu nennen: Iflie wachsen Kinder auf,wenn esin den Familien immer wenigerklare Vorgaben und Zuständigkeiten gibt? Lassensich Zusammenhänge zvrwachsenden Gewaltbereitschaftunter Jugendlichen aufzeigen?Läuft mit der Pluralisierung der Lebensformen das 32 Zertalterder Massenproduktionund desMassenkonsumsaus,und \üirtschaft und Industrie müssen sich auf individuell kombinierbare Produkte, Produktmoden und entsprechendeProduktionsweisenumstellen? Wie kann eine Gesellschaftim Flugsandder Individualisierung überhauptstatistischerfaßt und sozialwissenschaftlich analysiert werden? Gibt es denn noch eine Grundeinheit des Sozialen Haushalt, Familie, Wohngemeinschaft?\fie wäre diese zu definieren und zu operationalisieren ? In welcher Veise müssen die verschiedenenPolitikbereiche z.B. Kommunalpolitik, Verkehrspolitik, Umweltpolitik, Familienpolitik, Sozialpolitik - auf die Vervielfältigung und Verunstetigung von Bedürfnissenund Lagenreagieren? Vie muß sich die Sozialarbeit(und ihre Ausbildungsinhalte)ändern, wenn Armut zerstückelt,sozusagenbiographischqueiverteilt wird ? rWelcheArchitektur, welche Raumplanung, welche Bildungsplanung erfordert eine Gesellschaft unterIndividualisierungszwängen ? Ist dasEnde der Großparteien und Großverbändegekommen oder beginnt nur ein neuer Abschnittihrer Geschichte? Hinter all diesenirritierenden Fragen meldet sich immer deutlicher eine Grundfrage zu Wort: Sind hochindividualisierteGesellschaften überhauptnoch integribrbar? \fie die Renaissancedes Nationalen, der 'ethnischenlJnterschiedeund Konflikte in Europa zergr,ist die Versuchunggroß, auf diese Herausforderungenmit den klassischenInstrumenten der Ab grenzung gegen,'Fremde" zu reagieren.\fas heißt, die Räder gesellschaftlicherModernisierung zurückzudrehen.Tatsächlich hat wohl die Hinnahme fremdenfeindlicherGewalt auf den Straßen(neben vielen anderen)auch diesen Grund: In Deutschland wie in anderenStaaten\flesteuropastobt ein Aufstand gegen die siebziger und achviger Jahre, ein Kulturkampf der zwei Modernen.Alte Gewißheiten,gerademürbe geworden,werden wieder beschworen schaft. Die hochindividualiiierte Suchgesellschaftsoll ersetzt werden durch eine irn Innern ungleiche und nach außen zur Festung ausgebaute Gesellschaft und die Ab grenzung gegen uFremde"dient diesemKalküI. Ironisch gesagt:Da Mann den Frauen das \flahlrecht nicht mehr entziehenkann, dr ihre Ausbildungswilligkeit nur noch mit Mühen zurückzuschraubenwäre, d^ überhaupt alles, was in dieser 33 Hinsicht nützlich wäre, sich nicht gutmacht, ergibt sich - nicht ganz bewußt, aber auch nicht ganz unbewußt - ein vielleicht ganz tauglicher UmweB, dasselbein der Dramaturgie der Gewalt und des Nationalen doch noch zu erreichen.F{ier hat der Tabubruch gegen rechtsradikale Gewalt einen bislang wenig beachteten Grund: die auch im Westen aufgestauteGegenrevoltegegendie Individualisierung, Feminisierung, Ökologisierung des Alltags, Die Gewalt restauriert ganznebenbeidie Prioritäten der orthodoxen Industriegesellschaft \Wirtschaftswachstum,Technikglauben, Kleinfamilie, Geschlechterordnung und verj agt so die lästigen Geister der dauerndenInfragestellung:scheinbar. Denn das Festhalten am Status quo oder gar ein Salto mortale rückwärts können an der Vende ins 2r. Jahrhundert keine Legitimität mehr stiften. Dasselbe gilt wohl für die drei Arten der Integration hochindividualisierterGesellschaften,die in der Diskussion immer wieder genanntwerden. Auch siewerden unsicher, brüchig, können auf Dauer kaum funktionieren: Daist erstensdie Möglichkeit einesgleichsam transzendentalen Konsens, einer Wert-Integration, wie sie von Durkheim bis Parsonsdie klassischeSoziolögiebewegthat. Dagegensteht heute die Erfahrung, daß die Verviilfältig.rttg von k"lt"rellen \Wahrnehmungen und selbstherzustellendenBindungen genaudie Grundlagen auf.zehrt,aus denen sich \Werte-Gemeinsamkeitenspeisen und immer wieder erneuern können. Andere stellen dieser \tflertintegration zweitens eine in der GemeinsamkeitmateriellerInteressenbegründeteIntegration gegenüber. Sie sagen,wenn eine EinschwöÄng auf g.m.insame Vätt. (die ja immer auch eine beengende,repressiveSeitehat) nicht oder nicht mehr gelingt, tritt an ihre Stelle in der hochentwickelten Gesellschaftdie Teilhabe am \flohlstand, die für breite Bevölkerungsgruppen spürbar wird und sie damii in diese Gesellschaft einbindet. Demnach beruhte der Zusammenhaltder altenBundesrepublik wesentlichauf dem wachsenden die "\Tirtschaftskuchen<<, neue Großrepublik freilich - wo Rezession,Mangel und Armut neu ihr Regiment entfalten- wird vor schwereBelastungsproben hestellt. Aber auch wenn man von dieser aktuellen E,ntwicklung einmal absieht, bleibt schon die Grundannahme selbst fraglich-: Die Hoffnung, daß allein materielleInteressenund institutionelle Abhängigkeiten (Konsum, Arbeitsmarkt, Sozialstaat, Renten) Zusammenhalt stiften, verwechselt wohl das Problem mit der 34 Lösung, macht aus der Tugend der zerfallendenGruppen und Gruppenbindungeneine(theorieerwünschte)Tugend. Schließlichvermag drittens auch das Nationalbewußtseinkeine stabileIntegration mehr zustiften, Dies zeigtsichnichr nur an den Polarisierungen,die das 'rnationale Projekt.. erzeugt. Es ist, schreibtRend König schon r97g, auch ,rdenrealenund sehr handgreiflichenSpaltungengegenüberviel zu abstrakto3t;esist ein fach nicht mehr in der Lage, diesezu erreichenund zu binden. uMankanndasalseinen,Rückfallins Mittelalter.und die Auflösungder bestehenden Großgesellschaften in lokaleSonder-und Gegenmächte als Zerfallder alten'Nationen< ansehen, ein Prozeß,der anvielenStellender altenund der neuenWelt schonseitgeraum er Zeit Wirklichkeitist. Hier wird dannder alteW"g von Bünden zu Imperienumgekehrt;die Großreiteilsin föderativeGebild.,ode,esspaltensicheinzelneTeile chezerfallen entlang politisch,ethnischodersonstwiedeterminierter Linienab.o.40 Anders gesagr: Mit der Mobilisierung ethnischerIdentitäten zerfällt geradedie nationaleIntegration. Was also bleibt? \7ir wollen zum Abschluß die Möglichkeit einer anderen Integrationsform wenigstensandeutenund zur Diskussionstellen.Auf den Grundgedanken zusammengefaßt: Ein Zusammenbinden hochindividualisierterGesellschaftenist - wenn überhaupt - zum einen nur durch die Einsicht in genau diese Lage möglich; zvm ander€n, wenn es gelingt, die Menschenfür die Herausforderungen zu mobilisierenund zu motivieren, die imZentrum ihrer Lebensführung präsentsind (Arbeitslosigkeit,Naturzerstörung usw.). \7o die alte Gesellschaftlichkeit'verdampft..,muß Gesellschaftneu erfunden werden.Integration wird hier also dann möglich, wenn man nicht versucht,den Aufbruch der Individuen zurückzudrängen - sondern wenn man, i- Gegenteil, bewußt daran anknüpft und aus den drängenden Zukunftsfragenneue, politisch offene Bindungsund Bündnisformen zv schmieden versucht: projektiae Integration. In einem seiner letzten großen Aufsätze entwirft Ren6 König in diesemZusammenhangeine durchausutopischeRolle der Soziologie.Er sieht sie in einemIntegrationsbeitrag durch methodische Selbstreflexion,Selbstbeobachtungder hochkomplexen Gesellschaft.In drastischenVendungen kritisiert er die ,rheuteregierende Klasse<<, weil sie ,'eben einzig aus einer von alten E,liten erborgten Legitimität gelebt und ihr aus eigenem nichts hinzuzufügen vermocht" hat. In dieser Situation, fährt König fort, 3t ,rkönntenun die Soziologie diesenhochkomplexen thematischen Zusamrmenhang durchsichtig machen . . . Integration wäre dann zugestandenermaßennicht mehr erreichbar auf institutioneller Ebene" - weder ethnisch noch sozial, wirtschaftlich oder staatlich-nationalistisch."Sie kann gewissermaßennur noch ,in GeAlso ,reinzigim Rahmen einer neuen danken.vollzogenwerden. << Philosophie, die aber nun nicht mehr um ,Sein. und '\Terden<rotiert, sondern um die Chancen desMenschen unter den gezeichneten Existe nzb edingun gen...4I \[as König lror-r.hlagt, ist tatsächlich hochaktuell die ,in Gedanken.., im Ringen um neue Existenzgrvndlagen der Industriezivilisationzu gewinnendeIntegratiorl. Nachtraditionale Gesellschaften können nur im Experiment ihrer Selbstdeutung, Selbstbeobachtung, Selbstöffnung,Selbstfindung,j^ Selbsterfindung integrierbar werden. Ihre Zukunk, Zukunftsfähigkeit, Zukunftsgestalrung,ist der Maßstab ihrer Integration. Ob dies gelingt, bleibt allerdingsfraglich. Vielleicht erweist sich am E,nde doch, daß Individualisierung und Integration einandertatsächlich ausschließen? Und die Soziologie,ist sie überhaupt in der Lage, einen Beitrag zur gedanklichenIntegration pluraler Gesellschaften zu leisten? Oder wird sie in ihren Routinen verharren und im Kleinrechnen der Entwicklungstrends die,Linien der Veränderung und der Herausforderung unsichtbar machen? Robert Musil untetscheidetin seinemRoman Der Mann obne Eigenschaftenzwischen Virklichkeitssinn und Möglichkeitssinn. Letzteren definiert er als die Fähigkeit, "alles, was ebensogutsein könnt e, zu denken und das,was ist, nicht wichtiger zu nehmen als das, was nicht ists..Jemand, der auf ,rmöglicheVährheiten sieht, hato.,fährt Musil fort, ,rin den Augen andärer oft ein Feuer, einen Flug, einen Bauwillen . . ., der die Wirklichkeit nicht scheut, wohl aber als Aufgabe und Erfindung behandelt. . . Da seine Ideen . . . nichts als noch nicht geboreneWirklichkeiten sind, hat natürlich auch er Wirklichkeitssinn; aber es ist ein Sinn für die mögliche Wirklichkeit . . .rr42Kein Zweifel, einen solchen Sinn für die mögliche Virklichkeit müßte auch die Soziologie entwickeln - aber dasist eine andere Frage. 36 Anmerk,ungen r FriedrichSchorlemmer , Der Befund istnicht alles,Diskussionsbeitrag bei der Disputation über "Bindungsverlustund Zukunftsangstiri der <., Jo. Oktober ry93 in Halle; Manuskripr, S. r f. Risikogesellschaft 2 Lena H. Sun, Freedornhasa Price. ChineseDiscover,in: International Herald T'ibune, r4. Juni ,99j (eigeneübersetzung). 3 SoverstehenOstner/Boy Individualisierung.SieheIlona Ostner/Peter Boy, SpateHeirat - Ergebnisbiographiscbunterschiedlicher Erfabrungen rnit ,cashoand >)ctt'e<(tProjektant i^g^ndie DFG, Bremen,ggr, S. r8. Siehe 4 So versteht Karl Ulrich Mayer die Individualisierungsrhese. ders., Soziale (Jngleichheitund Lebensaerlciufe,ir: Bernd Giesen/ ClausLeggeu'ie(Hg .), E*periment Wreinigung,Berlin rggr, S. 87-99; d o r t S . 8 8f . spricht Ronald Hitzler in seinemBuch Kleine t Von ,,Bastelbiographie* Lebenswelten- Ein Beitrag zum Verstebenaon Kultur, Opladen r988 (sieheauch in diesem Band S. 3o7ff,); von ,,reflexiverBiographie" spricht Anthony Giddens, Seffidentityand Modernity, London_r99r; von ',Wahlbiographie" Katrin Ley, Von der Normal- zur Wahlbiograpbie, in: KohlilRobert (Hg.), Biograpbie und soziale Wirklichk,eit, Stuttgartr 984, S. z 1,9\ z6o. 6 Zygmunt Bauman, Wir sind wie Landstreicher- Die Moral im Zeitalter der Beliebigkeit,in: Süddeutsche Zeitu.ng,16./17.r r. 19%, S. 17. Michael Cunningham A Home at the End of the World, Harmands, 7 worth rygr, S. r89f. 8 ScottTurow, Tbe Burden of Proof, Harmondsworth r ggr, S. 34g. 9 Hans Bertram/ClemensDannenbeck,Pluralisierwngvon Lebenslagen und Individualisierunguon Lebensfabrungen.Zur Theorieund Empirie regionaler Disparitriten in dei Bunditrtprblik Deutscbland, irt Peter A. Berger/StefanHradil (Hg.), Lebenslagen,Lebensläufe,Lebensstile,Göttingen r9go, S, 2o7-zz9;Hans Bertram/Hiltrud Bayer/ Renate Bauereiß, Familien-Atlas. Lebenslagen und Regionen in Deutschland, Opladen 1993; Günter Burkait/Martin Kohli, Liebe, Ehe, Elternscbaft,München rg92 Io }vlartin Baethge,Arbeit, Vergesellscbaftur?g, Identität - Zur zunehmen'W. den normativen Subjektivierung der Arbeit, ir: Zapf (Hg.), Die ModernisierungrnodernerGesellschaften, Frankfurt/M . r99r, S. 27r. II Von Multi-Options-Gesellschaft sprichtPeterGroß. SeinentsprechendesBuch wird im Herbst rg94in der edition suhrkamperscheinen. r z G o t t f r i e dB e n n ,E s s a yus n d R e d e n ,F r a n k f u r t / M. 1 9 7 9 , S . r y o f . rJ Hartmut Tyrell , SoziologischeAnnterkungen zur HistorischenFamilienforschu.ng,in: Gescbicbteund Gesellscbaftrz Q986), S. z t4-273; d o r tS . t t t . 14 Cunningham r99r, S. zo3. 37 rt Ansgar Weymann, Handlwngsspielräume im Lebenslauf, in: Ders. (Hg. ), H andlungsspielrcinme. U nt ersucltungen z ur I n dia id ualisierun g und Institutionalisierung aon Lebensläufen in der Moderne, Stuttgart, ry89, S. j. t6 So z.B. Günter Burkart. Sieheders., Individualisierungund Ehernscbaft - das Beispiel USA, ir: Zeitschrtft fA, Soziologie, Heft 3/Juni r99j, S. It9-177. 17 Emile Durkheim, Der Selbstmord,FrankfurVM. 1973, S. 289 und S.3rr. r 8 Ulrich Beck/Elisabeth Beck-Gernsheim, Nicht Autonomie, sondern Bastelbiograpbie, in: Zeitschrift fA, Soziologie, Heft 3/Juni 1991,, S . r 7 8 -t 8 7 . in ltalien, Stuttgart r987, ry JakobBurkhardt, Die Kubur der Renaissance S. 16rund S. 428. zo Vgl. u.a. Louis Dumont, Indiaidu.alisrnus- Zur Ideologie der Moderne, Frankfurt/M . r99r; Alan Macfarlane, Tbe Origins of English Indiaidualism, Tlte Family, Property and Social Transition, New York 1979; Colin Morris, The Ditrirury of the Indiaidual rato-r2oo, Toronto t97z; Michel Foucault,Die Sctrge um sich,Frankfurt/M.1989. zr Gisela Bock/Barbara Duden, Arbeit aus Liebe - Lielte als Arbeit, in: Frauen und WissenscbaftBeiträgezLrrBerliner Sommeruniversitätfür Frauen,Berlin 1977,S. r r 8- r99; dort S. I 26. zz Motive zlr dem Entwurfe eines Bürgerlichen Gesetzbuclresfür das Deutsche Räich. Leipzig r888; zrt nach Dirk Blasius, Ehescheidt4ng i,n Dewtschland im rg, wnd zo. Jahrhirndert, Frankfurt/M. 1992, S. r3of. 23 OVG Hamburg 19j6, zit, nach: Gerh ard Struck, Die miihselige Gleicbberechtigungvon Mann und Frau im Ebenamensrecbt,in I{eue 2 J u s t i z g / t 9 g r , S . 3 9 0 - 3 9 2 ;d o r t S . j 9 o . 24 Familienstammbuchmit Ahnenpaf , Paul Albrechts Verlag: Stolp und Berlin, o.J. (circa r94o);dort S. 3. z, SieheUlrich Beck, Die Erfindung des Politischen,Kapitel IV, Frankfurt/M . 1993. z6 Stammbucb, herausgegeben vom Bundesverbandder deutschenStandesbeamtene. V., Verlag für Standesamtswesen: Berlin und Frankfurt o.J. (circa rg1o),ohne Seitenangaben. 27 z8 29 Ebd Ebd. verbreitete Gegendieses Mißverständnis wendetsichexplizit\Yolfgang Zapf. Sieheders., Entwicklungund SozialstrukturmodernerGesell(Hg .), Einfübrungin schaften,in: HermannKorte/BernhardSchäfers Hauptbegriffe der Soziolo7ie,Opladen r 992, S. ryof . 3o Talcoff Parsons, Religion in Postindustrial Society, ir: Ders., Action, Theory and tbe Human Condition, New York 1978,S. 3zr. 38 Arf demWgin eineandereModerne, iI Ulrich Beck, Risikogesellscbaft. Frankfurt/M, 1986,S. 2ro. Soziolagie- Plädoyerfür eine 3z Ygl. Karl Martin Bolte , Su.bjektorientierte Forschu?tgsperspektiae, in: BoltelTreutner (Hg.), Subjektorientierte Arbeits- und Berufssoziologie, Frankfurt/M. r98j, S. 12-36. 3j PeterL. Berger,Einladungzut' Soziologie,München r 977,S. 4o. 34 Zygmunt Bauman, Thinking Sociologically,Oxford rg9r, S. 17. jt Hans Magnus Enzensberger,Mittelmaß und Wabn, Frankfurt/M. r 9 9 r ,S . 2 6 4 , . 4j und S. 228. 36 E,bd.S 37 Siehedazu die Theorie reflexiverModernisierung,in: Beck r99j, insbesondereKapitel III, sowie Beck/Giddens/Lash,ReflexiaeModernisierung,Frankfurt/M . rg94(i- E,rscheinen) . Apriori der Massenda38 Bemerkenswertist das methodenpragmatische ten-Soziologie: Quantitative Methoden setzen Kategorisierungen, Gruppenbegriffsbildungen voraus(selbstwenn sie nominal entschärft werden). E,inesich individualisierende Gesellschaftentziehtsich aber diesen untersuchungstechnischen Standardisierungszwängen (was heute schon beispielsweise in den Flexibilisierungenvon Arbeitszeit und Arbeitsvertragzu undurchschaubaren Verwicklungenführt). Deshalb ist esfür eineauf ihre technischeBrillanz stolzeSoziologieschwer, sich über ihren eigenenScharrenhinweg für die Fragender sich individualisierendenGesellschaf t zu öffnen. Gleichzeirigwird aberauchhier wieder deutlich, wie sehr die Frage bislang rträfli.h vernachlässigt wurde, welche Art soziologischerEmpirie, wissenschaftlich-gesellschaftlicherSelbstbeobachtung für eine Gesellschaftim Flugsandder Individualisierungangemessen ist; siehe dazu u. Beck{. AllmendinB€r,Individttalisierung und die Erhebung sozialer tJngleichhert,DFGForschungsantrag, München r99j Ren6 König, Gesellscbaftliches Bewt{ltsein und Soziologie, in: Gün39 ther Lüschen(Hg .), DeutscheSoziologieseit r94t, Sonderheftzr/t979 der KZfSS, S. j64. E 4 0 b d . ,S . 3 6 4 f . BeretuJltsein und Soziologi.e,a.a,ö., 4r Ren6 König, Gesellscbaftliches 1979,S. J 67ff .; vgl. auch BernhardPeters,Die Integration moderner Gesellscbaften, Frankfurt/M . r993. Robert Musil, Der Mann ohne Eigenschaften,Reinbek bei Hamburg 42 t 6 f . ry67,5. skanteFreiheiten Individualisierung often in modernenGesellscb von Herausgegeben Ulrich Beck und ElisabethBeck-Gernsheim Mit dem Begriff "Individualisierung.. werden drei zusammenhängende bezeichnet. Zum einen die Proze.sseinnerhalb der Gegenwartsgesellschaft Lebensformen wie soziale Klassen, Auflösung industriegesellschaftlicher Kleinfamilien, Geschlechterrollen,ihre Bedingungen, Reichweiten usw. Zum zweiten die biographischen Modi und Verläufe, die dadurch entstehen, und die Art, wie diesein institutionelle Muster eingebundenbleiben bzw. werden. Drittens schließlich erfaßt dieser Begriff die individuellen (politischen,sozialpolitischen)Bedeutungen und gesamtgesellschaftlichen und Folgen dieses Strukturwandels. Im vorliegenden Band werden die konkreten, das Leben jedes einzelnen betreffendenFormen dieser Individualisierung beschrieben.Es geht um das Widerspiel von neuer Freiheit um Kindheit und Jugend,üffi und neuen Risiken in allen T,ebensbereichen: Frauen, uffi Liebe und Scheidurg, Sozialpolitik und Armut. Ulrich Beck lehrt Soziologie an der Universität München, Elisabeth Beck-Gernsheim Soziologie an der Universität E,rlangen.Von beiden zusammen erschienim Suhrkamp Verlag Das ga,nznormale Cbaos der Liebe (rt rTzj), von Ulrich Beck zulerzr. Die Erfindung des Politischen (.t r78o). 8j2 Suhrkamp 4"' a*'F - { tl s ri r ./r 'r--! {*.- Inhalt '!,.1.,f r.ß--1,t)*, t) V 'vorr 9 L ch Beck/Elisaberh Beck-Gernsheim Ir;c^vidualisierung in modernenGesellschaften PerSpektivenund Kontroverseneinersubjektorientierren Soziologier o \ .Bibli, t\.. ./ P a s s a l / (.. f ' { l , 1 1 Ulrich Beck Jelseitsvon Standund Klasse?# Lt I I ,f l I \ I rlJ i r.'l ! l - Drtmar Brock F ckkehr der Klassengesellschaft ? Die neuensozialen G, ,.benin einermareriellenKultur 6t BarbaraRiedmüller Sozialpolitikund Armut. Ein Thema zwischenOst und \üZest 74 ThomasRauschenbach InszenierteSolidarität:So zialeArbeitin der Risikogesellschaft 89 II edition suhrkamp r816 Neue Folge Brrrd 8 r 6 Erste Auflag e ry94 O Suhrkamp Vellag Frankfurt anr Main t994 t ,.l tl AlteRechte vorbeh"rr.,',1::Täj:3:..dasderüb.rserzu,rs, des öffentlichen Vortrags sowie der Überrragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelnerTeile. Satz: Hümmer, \Waldbüttelbrunn Druck: Nomos Verlagsgesells chaft, Baden-Baden Umschlagentwurf : \7illy Fleckh aus Printed in Germany r 2 3 4 5 6 9 9 9 8 9 7 9 6 9 t 9 4 ElisabethBeck-Gernsheim Auf dem w.g in die postfamilialeFamilie!' rn der Notgemeinschaf t zvr \flahlverwandmch aft r r t ' lirgit Geissler/MechtildOechsle .b".rrrplanungals Konstruktion: BiographischeDilemmat6 -nd Lebenslauf-E,ntwü rf e jungerFrauen r 39 ra Blakeslee ; udith \Mallerstein/Sand Scheidung- Gewinner und V_erlie rer ßB III |{iklas Luhmann CopieryeExis tenzundKarriere. ZurHerstellungvon Individualität r9r Maria S. Rerrich : was auseinanderstrebt Zusammenfügen, Zur familialenLebensführungvon Berufstätigen zor Martin Kohli Institutionalisi erun g und Individualisierung der Erwerbsbiographiezr9 Martin Baethge Arbeit und Identität z4t IV Karl Ulrich Mayer/Walter Müller im Strukturwandel Individualisierungund Standardisierung im $flohlfahnsstaat265 der Moderne. Lebensverläufe VolfgangZapf Staat,Siäherheitund Individualisierung 296 V Ronald Hi vler/Arrrr. Honer enz. Über subjektiveKonsequenzender Bastelexist Individualisierung 3o7 ElisabethB eck-G ernsheim Gesundheitund Verantwortungim Zeitalter der Gentechnologie 316 Heiner Keupp AmbivalenzenpostmodernerIdentität 336 VI Helga Zeiher Kindheitsräume. ZwischenEigenständigkeitund Abhängigkeit 3t 3 \flilhelm Heitmeyer e und Gewalt 376 Entsicherungen.DesintegrationsProzess Volfgang Kühnel von Gewalt bei Jugendlichen Entslehungszusammenhänge im Osten Deutschlands 4oz VII Ralf Dahrendorf Das Zerbrechender Ligaturenund die Utopie der \Weltbürgergesellschaft 4zr JürgenHabermas IndividuierungdurchVergesellschaftung $7 Ronald FIivler/E,lmar Koenen Kehren die Individuen zvrück? Zwei divergenreAntworren auf eineinstitutionentheoretische Frage 447 Ulrich Beck Neonationalismus oder dasE,uropader Individuen 466 Drucknachweise+81