Die Räuber - Heidelberg
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Die Räuber - Heidelberg
1. Der Wunsch, ein anderer zu sein Ich will alles um mich her ausrotten, was mich einschränkt, dass ich nicht Herr bin. Theater und Philharmonisches Orchester der Stadt Heidelberg Die Räuber von und nach Friedrich Schiller Die Räuber von und nach Friedrich Schiller * 14.10.05 Besetzung Libertiner, nachher Banditen Maximilian, Graf von Moor Spiegelberg Roller / Ein Fremder Ronald Funke Hagen von der Lieth Björn Bonn Karl Moor Schweizer Schwarz Stephan Schäfer Roger Ditter Alexander Peutz Franz Moor Grimm Hermann, Bastard von einem Edelmann Jens Koch Alexandre Pelichet Till Bauer Amalia von Edelreich Razmann Daniel, Hausknecht des Grafen Moor / Ute Baggeröhr Klaus Cofalka-Adami Ein Pater Gotthard Sinn Schufterle Nikolaos Eleftheriadis 04 05 Inszenierungsteam Regieassistenz Technische Einrichtung Leiterin Requisite Ila Schnier Martin Fuchs Esther Hilkert Ausstattungsassistenz Licht Leiter Malsaal Helke Hasse Till Grab, Jörg Schuchardt Dietmar Lechner Inspizienz Ton Dekorationswerkstatt Silvia Edvesi Wolfgang Freymüller, Andreas Legnar Markus Rothmund Soufflage Leiter Kostümabteilung Leiter Schlosserei Miguel Wegerich Frank Bloching Karl-Heinz Weis Technik und Werkstätten Leiterin Maske Leiter Schreinerei Kerstin Geiger, Anja Dehn (Stv.) Klaus Volpp Regie Martin Nimz Bühne Julia Scholz Kostüme Justina Klimczyk Dramaturgie Axel Preuß Mitarbeit Dramaturgie Technische Leitung Katrin Spira Ivica Fulir 06 07 Ein ganz herzliches Dankeschön an die Werkstätten und Abteilungen unseres Theaters sowie den Kolleginnen und Kollegen des Landestheaters Württemberg-Hohenzollern! 08 Zum Stück Die Räuber sind für mich ein zeitloser Sektionsbericht aus den Bereichen des Lasters. Walter Jens Libertiner: lat.; „Freigelassener“, wird seit der Reformation für Freigeister verwendet, die von der offiziellen kirchlichen Lehre und Zucht abweichen; das frz. libertin nahm die Bedeutung „ausschweifender Mensch, Wüstling“ an, und so ist auch Schillers Bezeichnung zu verstehen ...1 Nun aber ist für Karl die Zeit gekommen, schließen sich der Bande an, wobei sich zu seinem Vater und seiner Verlobten insbesondere der machtbewusste Spie- zurückzukehren. Doch Franz, der Amalia gelberg dabei hervortut, neue Räuber zu für sich gewinnen und möglichst bald rekrutieren. Unterdessen gewinnt Franz auch die Herrschaft übernehmen möchte, den verschlagenen Edelmann Hermann bringt vermittels einer Intrige seinen für seinen Plan, seinen Vater und Amalia alten Vater dazu, Karl zu verstoßen. von Karls Tod zu überzeugen. Auf die- Der im Grunde seines Herzens gute sem Wege hofft Franz seinen Vater - im Der regierende Graf Maximilian von besuchte und mit so genannten Liberti- und schicksalsgläubige Karl ist derart wahrsten Sinne des Wortes - zu Tode Moor lebt mit seinem Sohn Franz und nern, „einem Zirkel lüderlicher Brüder“ geschockt vom väterlichen Verweis, dass zu erschrecken. Doch der Plan gelingt seiner Ziehtochter, der Waise Amalia von (Schiller), seine Zeit totschlug. Während er sich an die Spitze einer Räuberbande nur bedingt. Zwar übernimmt Franz die Edelreich, in seinem fränkischen Schloss. Karl sich die Hörner abstieß und immer stellt. Fortan jagt Karls Bande, Furcht Herrschaft, doch Amalias trauerndes Sein ältester Sohn Karl hingegen wohnt wieder an den Rand der Legalität geriet, und Schrecken verbreitend, durchs Land. Herz bleibt ihm verschlossen. Karl selbst in Leipzig, wo er einst die Universität wartete seine Verlobte Amalia auf ihn. Weitere Unzufriedene und Hasardeure erfreut sich bester Gesundheit - obwohl 010 011 seiner Bande eine Generalamnestie sowie Roller schwört Karl seiner Bande, für alle verhungerten Vater, den Franz dort heim- Treue geschworen hat, fordert sie von ein Lösegeld in Aussicht gestellt wird für Zeiten ihr Hauptmann zu bleiben. Doch lich einkerkern ließ. Karl schwört seinem ihm den Tod. Karl ersticht sie und liefert den Fall, dass sie Karl an die Regierungs- dann zieht es ihn plötzlich heim nach Fran- Bruder Rache und schickt seine Räuber sich selbst der Justiz aus. truppen ausliefert. Die Räuber schwören ken. Durch das Eintreffen des Edelmannes zu ihm. Der angstgeschüttelte Franz hat In Schillers erstem erhaltenen Stück jedoch Karl die Treue und ziehen mit Kosinsky, dessen Lebensgeschichte ihn Visionen vom Jüngsten Gericht und lässt sterben alle Hauptpersonen. Die apoka- ihm in die Schlacht gegen die Truppen, an sein eigenes Schicksal erinnert, drängt Pastor Moser rufen, um mit ihm über die lyptische Vision, die Franz heimsucht, die das Lager der Räuber umstellt haben. es Karl, seinen Vater und seine Verlobte Existenz Gottes zu streiten. Aus Angst prägt das gesamte Stück. Schiller selbst, Die Schlacht mit den übermächtigen wiederzusehen. Verkleidet betritt er das vor den Folgen seiner Sünden sowie vor der in seiner Jugend Theologie studie- Regierungstruppen wird zum Gemetzel, väterliche Schloss und erkennt, dass den eintreffenden Räubern bringt sich ren wollte, war durch den realen Pastor bei dem zwar mehrere hundert Soldaten Amalia ihn noch liebt. Franz, der die Ver- Franz um, indem er sich selbst erdrosselt. Moser von Johann Albrecht Bengel2 und sterben, jedoch - wie durch ein Wunder kleidung durchschaut, will seinen Bruder Unterdessen gibt sich Karl seinem Vater dessen apokalyptische Vorstellungen - nur ein Räuber ums Leben kommt. durch den Diener Daniel vergiften lassen. als Räuber zu erkennen, worauf der alte geprägt. „Das Verhängnis der Zeit sah Eingedenk der Treue seiner Räuber und Doch der gute Daniel deckt Karl alles auf. Moor stirbt. Als die hinzugeeilte Amalia Bengel, hier mit dem Schiller der Räuber beim Leichnam des getöteten Freundes Im Wald schließlich findet Karl seinen halb erfährt, dass Karl seiner Bande ewige völlig konform, in dem Voranschreiten 012 013 des Skeptizismus, Immoralismus und zwischen guten und schlechten Herrschern, Naturalismus. Er bekämpfte die Macht- er verdammt alle Gewalthaber dieser Welt. einflüsse des weltlichen Regiments auf Bengel hat konzessionslos das Vernunftjahr- die Kirche, deren Pastoren im deutschen hundert als Jahrhundert des Teufels und der Klein-Absolutismus mehr und mehr als Gottlosigkeit verurteilt - Schiller folgt ihm Räte der Fürsten galten. darin, seine Polemik gegen das Vernunft- Er bekämpfte insbesondere diese Fürsten jahrhundert geht noch auf Bengel zurück.“3 selbst, er stellte sie und die Gottähnlich- Das Stück erschien 1781. Schiller veröf- keit ihrer Nachäfferei des Absolutismus, fentlichte es anonym unter dem Titel Die wie dies insbesondere in Württemberg Räuber. Ein Schauspiel bei Metzler in üblich war, als Sendboten des Satans hin. Stuttgart; die Ortsangabe auf dem Titelblatt Gerade diese Herrscher der Welt wird war jedoch fingiert und lautete Frankfurt Christus im Jüngsten Gericht vertilgen. und Leipzig. Der Druck stürzte Schiller in Bengel macht keine Unterscheidung Schulden, die ihn noch lange belasteten. 014 Am 13. Januar 1782 folgte die Urauffüh- aus dessen Nebeln eine neue Schöpfung rung am Mannheimer Nationaltheater. hervorbricht!“4 Der Erfolg war durchschlagend. Die Schiller hatte das Stück zuvor auf Geheiß grausame Geschichte um Liebe, Intrige, des Mannheimer Intendanten von Dalberg Glaube, Hass und Mord beschwor laut mehrfach umschreiben müssen. Heute Augenzeugenbericht unter dem Premi- jedoch wird vor allem die erste Fassung erenpublikum abenteuerliche Zustände von 1781 gespielt. herauf: „Das Theater glich einem Irren1 Christian Grawe: Friedrich Schiller. Die Räuber, Stuttgart 1993, S. 10. 2 Johann Albrecht Bengel (1687-1752) war ein bedeutender Vertreter des schwäbischen Pietismus. 3 Heinz Rieder: Schiller. Religion und Menschenbild, Stuttgart 1961, S. 14. 4 Anton Pichler: Chronik des großherzoglichen Hofund Nationaltheaters in Mannheim, Mannheim 1879, S. 67f. hause, rollende Augen, geballte Fäuste, stampfende Füße, heisere Aufschreie im Zuschauerraum! Fremde Menschen fielen einander in die Arme, Frauen wankten, einer Ohnmacht nahe, zur Türe. Es war eine allgemeine Auflösung wie im Chaos, 016 Zum Autor G Friedrich Schiller jungen Schiller an die eigene Eliteschule: und sein erstes erhaltenes Schauspiel: An der herzöglichen Militärakademie Die Räuber. Im Sommer 1781 erschien sollte Schiller Jura studieren, wechselte das Stück anonym. Zu dieser Zeit war aber nach kurzer Zeit zur Medizin. Durch Schiller bereits Militärarzt in Stuttgart. Er ist einer der bedeutendsten Dichter täuscht. Aufgewachsen ist der 1759 gebo- das Medizinstudium geriet er „unter den Bei der Mannheimer Uraufführung 1782 deutscher Sprache: Friedrich Schillers rene Schiller in einem frommen und von Einfluss der geistigen Strömungen der war Schiller selbst anwesend; allerdings literarisches Werk umfasst Schauspiele, einer starken Demutshaltung geprägten deutschen Spätaufklärung, deren Vertre- ohne Erlaubnis. Als er kurze Zeit später Gedichte, kunstästhetische und histo- Elternhaus - zunächst in Marbach, dann in ter man unter dem Schlagwort ‘Philoso- erneut eigenmächtig nach Mannheim rische Abhandlungen und Briefe. Er war Lorch. Schon als Kind zeigte er sich sehr phische Ärzte’ zusammengefasst hat. Die reiste, wurde ihm von seinem obersten Begründer und Herausgeber von Zeit- wissbegierig und begabt. Sein Vater, der Medizin und insbesondere die Physiologie Dienstherrn jedes weitere Schreiben für schriften zu Kunst und Literatur und wur- herzogliche Landschaftsgärtner Caspar im Verbund mit philosophischen An- die Bühne verboten. de mit knapp dreißig zum Geschichtspro- Schiller, wollte, dass sein Sohn Theologie sprüchen wurde als Anthropologie zur Schiller floh daraufhin über Mannheim 1 fessor in Jena berufen. Was sich allerdings studierte. Doch der württembergische Lan- Modewissenschaft.“ Während des Studi- und Frankfurt nach Oggersheim. Die nach einer beispielhaften Karriere anhört, desherr Herzog Karl Eugen beorderte den ums schrieb Schiller zahlreiche Gedichte nächsten acht Jahre seines Lebens waren 018 019 von Höhen und Tiefen geprägt. In dieser erstes Versdrama Don Carlos. Innerhalb ken, dass er seine Lehrtätigkeit fortsetzen von Orleans, Die Braut von Messina und Zeit entstand u. a. das Drama Kabale der nächsten zwei Jahre lernte er deut- könnte. Ein weiteres Mal verhinderten Wilhelm Tell. Von einer schweren fiebrigen und Liebe. 1783 erhielt Schiller einen sche Berühmtheiten wie Christoph Martin Gönner eine finanzielle Katastrophe und Erkrankung im Februar 1804 erholte sich Vertrag am Mannheimer Nationaltheater. Wieland und Johann Gottfried Herder ermöglichten es ihm als freier Schriftstel- Schiller nicht mehr. Er starb am 09.05.1805 Dort musste er allerdings gegen Neid und kennen. Im September 1788 traf er dann in ler zu leben. 1793 reiste Schiller zurück in seinem Haus in Weimar. Missgunst seiner Kollegen ankämpfen. Rudolfstadt erstmals auf Johann nach Schwaben, zog 1794 allerdings Die finanzielle Krise verschärfte sich, als Wolfgang Goethe. Dieser vermittelte ihm wieder nach Jena, wo sich eine intensive der Intendant Dalberg Schillers Vertrag die Geschichtsprofessur an der Univer- Freundschaft mit Goethe entwickelte. nach einem Jahr nicht verlängerte. sität Jena. Im Februar 1790 heiratete 1799 siedelte Schiller nach Weimar über. Notgedrungen wandte sich der Schrift- Schiller Charlotte von Lengefeld, die er in Obwohl sich sein gesundheitlicher Zu- steller an Christian Gottfried Körner, Rudolfstadt kennen gelernt hatte. Doch stand beständig verschlechterte, schrieb einen ihm nicht persönlich bekannten bereits ein Jahr später erkrankte Schiller er außergewöhnlich viel. In seinen letzten Gönner aus Dresden. Ab 1785 lebte er in schwer und erholte sich nur langsam. vier Lebensjahren entstanden die großen Leipzig und Dresden und vollendete sein Nach 1793 war nicht mehr daran zu den- Dramen Maria Stuart, Die Jungfrau 020 1 Götz-Lothar Darsow: Friedrich Schiller, Stuttgart 2000, S. 17. 021 Schillers Räuber heute Gilt für den nachschaffenden Künstler im allgemeinen der Grundsatz der Werktreue in seiner Arbeit an der Dichtung – bei den Räubern müssen wir Schillers eigene Forderung nach „Freiheit“ auch für uns in Anspruch nehmen. Herbert Maisch, Regisseur der Heidelberger Räuber-Inszenierung von 1956, Premiere 28.06.1956 im Schlosshof Heidelberg 022 Zur Inszenierung h Drei andere Wer oder was sind die Räuber heute? Regisseur Martin Nimz hat sich entschieden, die Räuberbande radikal ins Heute zu ziehen, um die Inszenierung nicht zum historischen Anschauungsstück des Sturm und Drang werden zu lassen. Er versteht die Bande vor dem politisch-sozialen Hintergrund des beginnenden 21. Jahrhunderts in Deutschland: eine Arbeitslosenquote von um die 10%, eine Sozialpolitik, die vorwiegend aus sozialen Kürzungen besteht, eine restriktive Gesundheitspolitik, Studiengebühren, Stellenkürzungen, Entlassungen ... Und was geschieht? Bislang wenig. Die Räuber personifizieren zunächst die Millionen, die gescheitert sind, aber erstaunlicherweise nicht aufbegehren. 023 Diese konzeptuelle Entscheidung schafft nicht nur den direkten Bezug zum heutigen Leben. Vielmehr entspricht die Vorstellung, sich mit Theater möglichst nah an der eigenen Gegenwart zu bewegen, auch der des über 200 Jahre alten Stückes. Immerhin musste Schiller für die Mannheimer Uraufführung 1782 auf Drängen des Intendanten Dalberg seine Fassung abschwächen und in die Vergangenheit verlegen, damit das Ergebnis nicht zum Skandal führe. Schillers Ziel war jedoch „der getreue Kopist der wirklichen Welt“ zu sein.1 Sein Interesse galt dabei den Menschen. Trotz der gemilderten Fassung waren die Reaktionen des Publikums turbulent (siehe auch „Zum Stück“). Die Menschen und ihre Probleme waren damals selbstverständlich andere als heute. Um dieses Verhältnis auszugleichen, arbeitet Martin Nimz sozusagen „mit“ Schiller „gegen“ Schiller. „Mit“ Schiller, weil die Grundidee, die Gegenwart zu spiegeln, ebenso geblieben ist wie der Handlungsfaden des Stückes. „Gegen“ Schiller, weil die Sprache aktualisiert bzw. in Improvisationen mit den Schauspielern neu gefunden wurde. Dass jeder Räuber sich mit einer eigenen, heutigen Biografie vorstellt, bedingt das Loslösen vom Original. Dennoch sind die durch das Stück vorgegebenen Situationen die gleichen geblieben. Auf ihnen bauten im Probenprozess die Improvisationen auf. Wie bei Schiller sind alle Räuber gescheitert. In unserer Inszenierung wird das Scheitern konkret. Modern gekleidet, spiegelt die Räuberbande aktuelle Schicksale: sie besteht aus Menschen, die nicht weiter wissen, aber wütend sind. Die Räuber sind ohne Halt in der Gesellschaft und dennoch ein Teil von ihr. Sie verfügen über eine Menge Energie, haben jedoch kein Ziel. Ihr Potenzial könnte zum politischen Handeln, zum Verbrechen, zum Aufruhr oder zur Selbstzerstörung führen. Doch niemand von ihnen handelt. Die Schlosswelt um Karls ungleichen Bruder 024 025 Franz von Moor wirkt demgegenüber ferner. Schon räumlich ist sie auf der Bühne von der Räuberwelt getrennt: Maximilian von Moor, Hermann, Amalia von Edelreich und Franz beanspruchen den Platz unten vor der Stahlrampe, die sich vor dem Zuschauer erhebt. Die Räuber spielen dagegen oben auf einer schmalen Plattform in 2,60 m Höhe (Bühne: Julia Scholz). Dass die Schlossbewohner als gesellschaftlich Saturierte den Schillertext im Original sprechen, verstärkt den Kontrast beider Welten. Schiller im Original rückt das Geschehen vom Zuschauer weg. Mit der Figur des Grafen Maximilian setzt das Stück Machtausübung voraus, ohne sie zu zeigen. Die Inszenierung zeigt den Grafen als senilen Herrscher, der nicht mehr in der Lage ist, Macht auszuüben. Die Senilität des Alten Moor und die Dummheit des „Bastards“ Hermann sowie die von Schiller vorgesehenen hochfahrenden Gefühle geben den Figuren des wohlhabenden Schlosslebens einen karikaturhaften Zug. 026 Von Visionen und Anführern Wieso ändert sich nichts, wieso halten alle still, wenn so viele unzufrieden sind? Eine Annahme der Inszenierung ist, dass grundlegende - positive wie negative - gesellschaftliche und politische Umwälzungen denkbar wären, gäbe es eine Möglichkeit, das diffuse Unbehagen zu einer Kraft zu bündeln. Was also, wenn „der Richtige“ käme? Einer, der die Massen lenkt? Wie sähe der Weg zur Veränderung dann aus? Gewaltige Revolution, friedliche Reform oder zielloser Amoklauf? Die Inszenierung stellt drei Wege mit drei völlig unterschiedlichen Zielen vor. Die drei Alternativen, wie man von der ungerichteten Energie letztlich zum anderen Leben gelangen könnte, werden von drei denkbaren Anführern verkörpert. 027 Der egoistische Anarchist Der Familienvater als Tribun Dies ist eine Spaßverteidigungsveranstaltung. Check the speakers, join the move.2 Da ist zum einen der intellektuelle „Meisterredner“ Moritz Spiegelberg. Seine Vision ist eine kaputte Form von Anarchie. Er geht dabei von sich selbst und seiner eigenen Lust aus und plant Großes, aber nichts Gutes. Er hat kein originär politisches Programm, verspricht aber reichlich Spaß und Action. Für ihn heißt es alles nehmen, genießen, vergewaltigen, töten, zerstören, Star werden, groß rauskommen - egal wie. Spiegelberg glaubt, dass man in dieser Welt auf Vergnügen, Lust und Ruhm setzen muss. Und die Bande braucht er als persönliches Spaßbeschleunigungsmedium. Karl wünscht sich keinen ausschweifenden Lebenswandel, sondern Sicherheit und Geborgenheit. Dazu braucht er keine wütenden Massen, sondern eine Familie. Folgerichtig möchte er anfangs auch die Zeit mit den Kumpeln unter dem Kapitel „Jugendsünde“ abhaken und „zurück in Papas Goldschoß“. Als ihn aber der Brief seines intrigant-intelligenten Bruders Franz von zu Hause verbannt, entbrennt Karls Hass: Er würde die ganze Welt am liebsten vernichten. Dass der Anlass dafür lediglich seine private Verletztheit ist, interessiert Karls Zuhörer wenig. Die Bande fragt nicht nach dem Grund, sondern hört auf die großen Worte: Alles ändern, alles zerstören, alles neu machen. Deshalb wird Karl zum Anführer. Das geht natürlich nicht gut - oder besser: zu gut. Denn Karl ist ein Gutmensch. In Wahrheit wünscht er sich keineswegs Veränderung oder gar eine Revolution, sondern hängt fest am Idealmodell „Familie“. 028 029 Und genau dieses Wunschmodell baut er sich: Er macht aus dem losen wütenden Haufen eine Räuberbande à la Moorscher Ersatzfamilie. So werden bürgerliche Aufgaben wichtiger als politische Aktionen: Kochen, Post holen, einer alten Dame eine Freude machen, den Garten bepflanzen. Diese Bändigung der Gruppenenergie wird allerdings in Frage gestellt, wenn aus der verordneten Idylle alte Wut hervorbricht; wenn Spiegelberg wieder zu „schwärmen“ anfängt oder wenn Razmann „Kommandante“ Karl an seine revolutionäre Rede erinnert. Immer dann muss der friedliche Karl hart durchgreifen und für seinen Haussegen kämpfen – notfalls mit Gewalt. 030 Der Diktator Ich will alles um mich her ausrotten, was mich einschränkt ...3 er über das Mikrofon. Die Verwendung des Mikrofons stellt eine eigene Ebene dar: Auf diese Weise wenden sich die Figuren an das Publikum und erzählen ehrlich über ihre Motive und Probleme. Der eigentliche politische Kopf ist Karls Bruder Franz. Er glaubt nicht an ein Familienidyll oder an eine anarchische Spaßkultur. Sein Wunsch ist Herrschaft und Macht. Inmitten einer dekadenten Hochgesellschaft, die fernab aller Krisen einen operettenhaft degenerierten Lebensstil zelebriert, spinnt Franz unaufhaltsam seine Intrigen, um die Staatsgewalt von seinem Vater zu übernehmen (und nebenbei Karls Verlobte Amalia für sich zu erobern). Auf dem Weg dorthin wird er zunächst nicht zum Mörder, sondern zum Schauspieler. Er lügt und intrigiert, indem er Amalia, seinem Vater und dem „Bastard von einem Edelmann“ Hermann etwas vorspielt: den liebenden Sohn, den großen Liebhaber, den selbstlosen Kuppler. Seine wahren Motive aber gesteht Die hohe Stahlrampe fährt zum Ende hin nach vorn und reduziert den Spielraum auf einen schmalen Streifen. Wenn Karl, Franz, Amalia, Maximilian und die Bande hier schließlich aufeinander treffen, herrscht bittere Enge. Handlungsfreiheit ist nicht mehr gegeben, das Scheitern der Figuren und die Unausweichlichkeit der Umstände manifest. Karl, Franz und Spiegelberg scheitern als Menschen ebenso wie als potenzielle Machthaber und gesellschaftsrelevante Köpfe. Was bleibt ist die Unzufriedenheit, die ungerichtete Energie, die Wut und die Frage nach der besseren Art zu leben. 032 033 Die bittere Enge Zum Spielzeitmotto In den drei Modellen des Machtanspruchs spiegelt sich auch unser Spielzeitmotto „Der Wunsch, ein anderer zu sein“. Spiegelberg, der egoistisch-sadistische Anarchist, sucht mit allen Mitteln, ein anderer zu sein. Spiegelberg will raus aus der Anonymität, der Macht- und Glanzlosigkeit. Wie kaputt auch immer seine Sehnsucht ist, sie ist stark genug, um sich und andere ins Verderben zu stürzen. Karl, der Hauptmann wider Willen, sehnt sich nach seiner ursprünglichen Bestimmung. Sein Wunsch, ein anderer zu sein, ist identisch mit seiner Sehnsucht nach Familie, Sicherheit und Geborgenheit. Karls Fluchtpunkt ist der väterliche Stammsitz, der Inbegriff eines großbürgerlichen gelingenden Lebens. Demgegenüber sehnt sich Karls Bruder Franz nach der Überwindung 034 seiner angeborenen Rolle. Franz will den Thron, auf den er als zweitgeborener eigentlich keinen Anspruch hat. Sein Ziel ist die politische Herrschaft. Sein Programm die erklärte Diktatur. Sein Mittel die Gewalt. Der Wunsch, ein anderer zu sein, entspricht der Perversion einer Sehnsucht, die unter normalen Vorzeichen nicht zu verurteilen ist: der Sehnsucht, die gesellschaftlichen Rollenzuweisungen hinter sich zu lassen und seines eigenen Glückes Schmied zu sein. 1 Friedrich Schiller: Unterdrückte Vorrede zu Die Räuber, in: Christian Grawe: Friedrich Schiller. Die Räuber, Stuttgart 1993, S. 149. 2 Andreas Neumeister: Gut Laut, Frankfurt a. M. 1998, S. 36. 3 Franz Moor, in: Friedrich Schiller: Die Räuber. 035 j „Die Räuber“ am Theater Heidelberg 23.11.1901 28.6.1956 Festliche Spiele Regie: Hermann Rudolph Schlosshof Heidelberg Karl Moor: Hermann Rudolph Regie: Herbert Maisch Franz Moor: Alfred Bernau Raum: Heinz Lahaye Karl Moor: Thomas Holtzmann 17.10.1875 10.11.1893 Karl: Herr Hengen Regie: Direktor Heinrich 11.11.1903 Franz: Herr Schwartz Karl Moor: Franz Meßner Regie: Adolf Steinmann Franz Moor: Horst Eisel Karl Moor: Conrad Holstein 24.09.1966 Franz Moor: Adolf Steinmann Regie: Alfons Lipp 11.11.1878 10.11.1897 Zur Gedächtnisfeier an Friedrich Regie: Gustav Dankmar Schillers Geburtstag Karl Moor: Eugen Frank 10.11.1908 & 04.02.1909 Karl Moor: Jürgen Kloth Direction: Theodor Böllert Franz Moor: Gustav Dankmar Regie: Max Engelhardt Franz Moor: Ulrich Wildgruber Bühne und Kostüme: Bert Kistner Karl Moor: Herr Bolten Karl Moor: Bruno Wächter Franz Moor: Herr Merlé Franz Moor: Eugen Keller 036 037 22.10.1989 Regie: Friderike Vielstich Bühne: Erich Fischer Kostüme: Heidelinde Bruss Karl Moor: Rainer Bock Franz Moor: Klaus Hemmerle 01.10.2000 Regie: Wolfgang Maria Bauer Bühne: Katharina Sichtling Kostüme: Monika Cleres Karl Moor: Daniel Hajdu Franz Moor: Daniel Graf 038 Regie Bühne Martin Nimz Julia Scholz Martin Nimz, 1956 in Brandenburg geboren, studierte Schauspiel an der Staatlichen Julia Scholz wurde 1973 in Hannover geboren. Von 1993-1997 studierte sie Bühnen- Schauspielschule Rostock und war anschließend als Schauspieler und Regisseur u. a. und Kostümbild am Central St. Martin‘s College of Art and Design in London. Danach in Gera, Eisenach, Rostock und Berlin engagiert. Von 2002 bis 2004 war Nimz Schau- war sie als Ausstattungsassistentin zunächst an den Bühnen der Stadt Köln, dann von spieldirektor und Regisseur am Staatstheater Kassel. Außerdem inszenierte er u. a. 1999-2000 am Staatstheater Stuttgart und von 2000-2002 am Thalia Theater Hamburg sehr erfolgreich am Landestheater Württemberg-Hohenzollern Ein Volksfeind, Effi tätig. Seitdem arbeitet Julia Scholz freischaffend u. a. am Thalia Theater Hamburg, am Briest und Die Nacht des Leguan, am Staatstheater Cottbus Kabale und Liebe (Bühne Schauspiel Leipzig, am Staatstheater Wiesbaden, am Volkstheater München und zuletzt Julia Scholz) sowie am schauspielfrankfurt zuletzt Die Gerechten. Das Heidelberger für Urfaust am schauspielfrankfurt (Regie Jorinde Dröse). Für Martin Nimz hat sie Publikum wird von Nimz in dieser Spielzeit noch zwei weitere Inszenierungen sehen: außer für Die Räuber auch für Pinocchio und Kabale und Liebe die Bühne entworfen. Effi Briest (*12.11.05) und Woyzeck (*08.04.06). Die Räuber ist ihre erste Arbeit in Heidelberg. 040 041 Kostüme Maximilian, Graf von Moor Justina Klimczyk Ronald Funke (*1954) studierte an der Staatlichen Schauspielschule Rostock. Engagements in Eisleben, Greifswald, Schwerin, am Theater Magdeburg, am Nationaltheater Mannheim, am Theater Biel Solothurn, am Luzerner Theater, am Volkstheater Rostock, am HansOtto-Theater Potsdam und am Theater Osnabrück. Seit dieser Spielzeit Justina Klimczyk wurde 1973 in Polen geboren. Sie studierte von 1994-1999 Bühnen- fest am Theater und Philharmonischen Orchester der Stadt Heidelberg. und Kostümbild an der Staatlichen Akademie der Bildenden Künste in Stuttgart. Nach ihrem Studium arbeitete sie als Ausstattungsassistentin am Staatstheater Stuttgart und am Thalia Theater Hamburg. Seit 2003 ist sie freischaffende Bühnen- und Kostümbildnerin. Sie arbeitete u. a. am Hamburger Thalia Theater in der Gaußstraße etwa mit Martin Kusej sowie am Theater Freiburg, am Theaterhaus Jena und zuletzt mit Sebastian Hirn in Graz für die Oper Siroe. Die Räuber ist ihre erste Arbeit am Theater und Philharmonischen Orchester der Stadt Heidelberg. 042 Karl Moor Stephan Schäfer (*1977) 98-02 Schauspielstudium an der Hochschule für Schauspielkunst „Ernst Busch", Berlin; 2000 Gast am Berliner Ensemble und Maxim Gorki Theater, Berlin; 02-05 Ensemblemitglied am Landestheater Württemberg-Hohenzollern. Ab 05_06 im Festengagement in Heidelberg. 043 Franz Moor Spiegelberg Jens Koch (*1978) 99-03 Schauspielstudium am „theater Hagen von der Lieth (*1975) 97-98 Musikstudium in Dresden; der keller“ in Köln; 03-05 Engagements in Neuss, Köln, Singen, 98-02 Schauspielstudium an der Hochschule für Musik und Theater Felix Trier und Aachen. Seit Beginn der Spielzeit 05_06 gehört er zum Mendelssohn-Bartholdy, Leipzig. 00-02 Schauspielhaus Leipzig; 02-05 Heidelberger Schauspielensemble. Landestheater Württemberg-Hohenzollern. Ab 05_06 Ensemblemitglied des Theaters und Philharmonischen Orchesters der Stadt Heidelberg. Amalia von Edelreich Ute Baggeröhr (*1973) Studium an der Hochschule für Musik Schweizer und Theater Felix Mendelssohn-Bartholdy, Studio Chemnitz; Roger Ditter (*1974) studierte 96-00 an der Berliner Hochschule Engagements u. a. am Thalia Theater Hamburg, Theater Freiburg, für Schauspielkunst „Ernst Busch“. Gastengagements u. a. in Potsdam Theaterhaus Jena, schauspielfrankfurt, bat-Studiotheater, den So- und Göttingen. 00-02 Ensemblemitglied der Vereinigten Städtischen phiensaelen in Berlin, am TIF Dresden und am Landestheater Würt- Bühnen Krefeld/Mönchengladbach. 04/05 fest am Landestheater temberg-Hohenzollern; ab 05_06 Ensemblemitglied in Heidelberg. Württemberg-Hohenzollern, seit dieser Spielzeit in Heidelberg. 044 045 Grimm Schufterle Alexandre Pelichet (*1967) Schauspielausbildung in der Nikolaos Eleftheriadis (*1976) studierte von 00-04 Schauspiel Schweiz und in Hamburg. Engagements u. a. in Erfurt, am Staats- an der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst in Stuttgart. theater am Gärtnerplatz München, am Bremer Theater, und am 04/05 festes Ensemblemitglied am Landestheater Württemberg- Volkstheater Rostock; 02-05 Landestheater Württemberg-Hohenzol- Hohenzollern. Seit dieser Spielzeit fest am Theater und Philharmo- lern. In den Räubern erstmals als Gast am Heidelberger Theater. nischen Orchester der Stadt Heidelberg. Razmann Roller / Ein Fremder Klaus Cofalka-Adami (*1953) Ausbildung zum Bankkauf- Björn Bonn (*1978) 00-04 Schauspielstudium an der Folkwang mann. 80-84 an den Städtischen Bühnen Dortmund, 84-89 am Hochschule Essen, Studiengang Schauspiel Bochum. Gast an den Kinder- und Jugendtheater des Landestheaters Württemberg-Ho- Wuppertaler Bühnen und am Schauspielhaus Bochum. 04/05 Erst- henzollern, 90-92 Kinder- und Jugendtheater des Nationaltheaters engagement am Landestheater Württemberg-Hohenzollern. Seit Mannheim. 92-05 am Landestheater Württemberg-Hohenzollern. Ab 05_06 Festengagement in Heidelberg. 05_06 Ensemblemitglied in Heidelberg. 046 047 Schwarz Daniel, Hausknecht des Grafen Moor / Ein Pater Alexander Peutz (*1971) 91-94 Studium an der Akademie für Gotthard Sinn (*1952) 1970 Handelsmarine in Westafrika, Sozialarbeit, Wien, 95-99 Studium an der Hochschule für Theater, Russisch- und Geschichtsstudium; 78-80 Schauspielausbildung, 80-84 Bern. 99-01 Peter Steins Faust-Inszenierung; 02-04 Ensemblemit- Junges Theater Göttingen; seit 1984 Ensemblemitglied des Landes- glied am luzernertheater, 04/05 Landestheater Württemberg- theaters Württemberg-Hohenzollern. In Die Räuber ist Gotthard Sinn Hohenzollern. Seit dieser Spielzeit fest in Heidelberg. als Gast in Heidelberg zu sehen. Hermann, Bastard von einem Edelmann Till Bauer (*1974) studierte 99-03 Schauspiel am „theater der keller“ in Köln. Engagements in Bochum, Köln, Hamburg und am Theater der Altmark Stendal. In der Spielzeit 04/05 festes Ensemblemitglied des Landestheaters Württemberg-Hohenzollern, ab 05_06 in Heidelberg. 048 049 V Einer, dem es zu viel wurde von Björn Kern Enttäuscht und frustriert sind wir alle. Hät- Zugang zu Schusswaffen zu erschweren. te er die Hemmschwelle nicht übertreten, Statt 18-Jähriger sollen jetzt erst 21-Jährige hätte ich vielleicht sogar Mitgefühl. Denn in Pistolen erwerben können? Manchmal Erfurt ist nicht plötzlich einer durchgedreht, glaube ich, ich bin im falschen Film. Denn in Erfurt ist es einem zu viel geworden. die Tat an sich ist zwar eine Einzeltat, Er ist wirklich so prominent geworden, Ehrlich gesagt, kann ich das schon ver- Mich wundert, dass nicht öfter einer und wir können nur hoffen, dass es dabei wie er es sich erhoffte: Robert Steinhäu- stehen. Die Wut, die Verzweiflung, den Hass. losschießt. Natürlich ist das Spekulation. bleibt. Aber das Gefühl dahinter, die Zu- ser, Amokläufer in Erfurt. Aber ist er Die Tat natürlich nicht, die kann man nicht Wir wissen ja nichts: Gewaltvideos, Waf- kunftsarmut und Wut, die Ausweglosigkeit ein Monster, ganz anders als die ande- verstehen. Warum die Hemmschwelle hier fenbesitz, Schulverweis - das ist alles und und Verzweiflung prägen eine ganze Gene- ren, die nicht mordeten? Oder hat seine fiel und anderswo nicht? Wer soll das be- passt uns wunderbar. Denn es sieht aus, ration. Und der lassen sich mit verschärf- tödliche Verzweiflung eine Seite unserer antworten. Aber wenn man den Amokläufer als könnten wir damit etwas erklären. Als ten Gesetzen keine Perspektiven geben. Gesellschaft kenntlich gemacht, die die einfrieren könnte, kurz vor dem Moment, in reichte es, Gewaltvideos zu verbieten (wo Es wird Zeit, das zuzugeben und endlich meisten gerne im Dunklen belassen dem er die Grenze übertritt: Dann wäre er das größte Gewaltvideo ohnehin live und nicht mehr so zu tun, als stellten sich würden? nicht allein. Bei weitem nicht. rund um die Uhr auf CNN läuft) und den junge Menschen seit Achtundsechzig keine 050 051 Sinnfragen mehr. Sicher ist es gewagt, laufen kam. Und vor allem: wo überall es das aufzufangen ist. Plötzlich erscheint oder das Thema in Rundschreiben an die hier Parallelen - ist Erfurt die Folge jener bereits randvoll gefüllt ist. Es bringt nichts, selbst die Pisa-Studie in einem neuen Licht: Kultusministerien aufzugreifen. Jahre? - zu ziehen. Vielleicht waren die den Amokläufer zu dämonisieren und als Die Schule müsse wohl doch noch mehr Das ist traurig und logisch zugleich. Motive (wenn man bei einer solchen Tat durchgedrehten Einzeltäter abzuhaken. leisten, als die Schüler nur für ökonomische Schließlich werden wir ja von Anfang an von Motiven sprechen kann) des Amokläu- Zum einen wird sich ein Amoklauf an Bedürfnisse fit zu machen. Das hätte man auf individuelle Karriere getrimmt, auf ein fers völlig banal. Vielleicht würde er nicht einer deutschen Schule wiederholen. Und Cool-Schily gar nicht zugetraut. persönliches Bessersein und Voranschrei- einmal verstehen, was hier steht, oder zu- vor allem sind die, die das Verhältnis zur Nicht zufällig führt beispielsweise Japan ten, das für Kollektivität, für ein solida- mindest nicht zustimmen. Das werden wir Wirklichkeit verlieren und tatsächlich sowohl bei der wirtschaftlichen Globali- risches Stützen und Auffangen, ja für den nie wissen, aber darum geht es auch nicht. losschießen, ja nur die berühmte Spitze sierung als auch bei der Selbstmordrate Anderen keinen Platz bietet. Heute halten Denn mit seiner Tat hat der Amokläufer des Eisbergs. von Jugendlichen. Wenn man Schily ernst wir uns für dumm, wenn wir auf die Real- einen Nerv getroffen, der bisher verborgen Sogar Otto Schily möchte schauen, was nähme, würde das unsere gesamte Gesell- schule gehen und nicht aufs Gymnasium. blieb. Was immer die konkreten Anlässe jungen Menschen in der Gesellschaft fehlt, schaftsordnung auf den Kopf stellen. Daher (Geht noch jemand auf die Hauptschule?) in Erfurt waren: Interessant ist nur, was wo sie allein gelassen werden, wo ihnen wird er sich bald wieder darauf beschrän- In der Oberstufe fliegen wir in die Staaten, dahinter steht, wie das Fass zum Über- Perspektiven gestohlen werden und wie ken, hier und da ein Gesetz zu verschärfen weil man ohne fließendes Wirtschaftsa- 052 053 merikanisch nicht weit kommt. Wenn wir gegammelt. Wir verlassen unsere Freundin Beim Handball suchte er sich den Part aus, müssen wir nur noch glücklich werden nach einem Jahr zurückkehren, stören wir oder unseren Freund, um Auslandserfah- der am meisten einsteckt: Er stand im Tor. damit. Und da zeigt uns keiner, wie das uns nicht daran, dass wir zwischen allen rungen zu sammeln. Wir füttern unseren So einer geht nicht zum Psychologen, von geht. Vorsichtige Nachfragen werden mit Stühlen sitzen. Wir haben ja etwas für un- Lebenslauf, bis wir merken, dass wir selbst sich aus schon gar nicht. Zum Psychologen Spott oder Polemik beantwortet: Geht sere Zukunft getan. Beim Abitur brauchen nichts gegessen haben. Wer sich da auch gehen nur Schwache, „Weiber“. doch zurück in die Kommune oder Schafe wir einen Einserschnitt und fühlen uns noch als Mann beweisen muss, hat es Das Phänomen ist natürlich nicht neu. Ein züchten - alles schon ge-habt. Aber nicht sonst, für den Rest des Lebens, nur halb besonders schwer. Sinn hat noch immer gefehlt, sobald man verstanden. legitimiert. Wir sammeln Praktika seit der Für einen Möchtegernmacho wie Robert anfing, ihn zu suchen. Neu ist, dass wir das Denn es geht hier nicht um ein roman- Oberstufe, und wenn keine Firma, keine Steinhäuser kam es nicht in Frage, auf nicht mehr zugeben dürfen. Sinnsuche ist tisches Zurückschauen. Wir wollen nicht Redaktion mit Namen dabei ist, schämen andere zuzugehen, von außen Hilfe zu uncool. Wir leben ja nicht in den Siebzi- in die Zeit vor der industriellen Revolution wir uns, davon zu erzählen. suchen. Auf alten Bildern, die im Fernse- gerjahren. Politische und gesellschaftliche zurückfallen, wir wollen nicht verstaubte Wir studieren und spüren die Regelstudien- hen auftauchten, gibt er sich betont cool Alternativen haben sich nicht bewährt und Träume (unserer Eltern?) aufleben lassen. zeit als Bedrohung: Wer lange studiert, weil und unverwundbar: Bierflasche am Mund, sind gescheitert. Heißt es. Wir sind am Wir wollen hier und heute leben, aber er noch sucht, hat keine Chance. Der hat ja Sonnenbrille vor den Augen, Rapperpose. Ende der Geschichte. Wir haben alles. Jetzt anders als bisher. Wir wollen, dass kollek- 054 055 tive Sinnstiftungen möglich sind, ohne im dreißig sind wir diejenigen, die wirklich echter Weg in eine lebenswerte Zukunft. der ruhig. Aber eben nur in der Öffentlich- Verdacht zu stehen, totalitär zu sein. fühlen und spüren, wovon wir sprechen. Die Vorstellung, junge Menschen seien keit. Denn der Wunsch, anders zu leben, Wir wollen uns engagieren und sehen, Soziale Ungerechtigkeit, die Ausbeutung entweder hip und auf der Loveparade oder das Gefühl, nicht gehört zu werden, die dass wir Erfolg damit haben. Wir möchten der Umwelt, die Monetarisierung aller konformistisch und karrieregeil, hat das Wut über die Fremdbestimmung unseres die Berufszyniker aus den Zeitungsre- Lebensbereiche, das Zweckdenken, der Bewusstsein völlig zugekleistert. Wer da Lebens sind geblieben. Und es ist nur daktionen vertreiben. Wir möchten sagen Karrierezwang, die Ellbogengesellschaft rausfällt, ist entweder fanatisch und gewalt- natürlich, dass dieser Hass immer wieder dürfen, dass uns der Umweltschutz wichtig - all das sind für uns keine Floskeln, die wir tätig („Seattle“, „Genua“) oder eben durch- einen Weg an die Oberfläche sucht. ist, ohne süffisant belächelt zu werden. auf Befehl für besinnliche Gedenkreden gedreht („Erfurt“). Dass aber gerade die Und wir möchten nicht als Fanatiker und auspacken. Nein, wenn wir Zeitung lesen Globalisierungskritiker eine fundamentale Björn Kern (*1978) studierte in Tübingen, Spinner abgetan werden, wenn wir gegen und Radio hören, werden wir wütend und und berechtigte Kritik an unserer Lebens- Passau, Aix-en-Provence sowie am Deutschen die wirtschaftliche Globalisierung demons- fühlen uns gemeint - in einem ganz existen- form äußern, will keiner wahrhaben. Literaturinstitut Leipzig. Soeben erschien sein trieren, weil sie die Reichen reicher und ziellen Sinn. Als Carlo Giuliani an einem Sommertag er- zweiter Roman Einmal noch Marseille im die Armen ärmer macht. Sustainability ist für uns kein Modewort schossen auf dem Pflaster lag, gab es einen beck-Verlag. Sein Erstling Kipppunkt wurde Denn im Gegensatz zu denen jenseits der aus Managementseminaren, sondern ein kurzen Aufschrei, und dann wurde es wie- mehrfach ausgezeichnet. 056 057 Impressum Herausgeber: Theater und Philharmonisches Texte: Nicht namentlich gekennzeichnete Orchester der Stadt Heidelberg Texte sind Originalbeiträge von Katrin Spira & Intendant: Peter Spuhler Axel Preuß Verwaltungsleiterin: Andrea Bopp Björn Kern, in die tageszeitung vom 04.05.02 Redaktion: Katrin Spira & Axel Preuß Gestaltung: atelier september Wenn wir trotz unserer Bemühungen Rechte- Herstellung: abcdruck GmbH, Heidelberg inhaber übersehen haben sollten, bitten wir Anzeigen: Greilich / Neutard um Nachricht. N Neu! Schülergruppenrabatt Ab 10 Schüler in der Städtischen Bühne 8,50 € bzw. 6,40 € pro Person. Im zwinger1 & bei Konzerten des Philharmonischen Orchesters 6,40 €! Begleitperson frei! Nachweise Internet: www.theaterheidelberg.de Fotos: www.norbert-schnitzler.de (S. 9, 15, 31); http://perso.wanadoo.fr (S. 17); Theater und Philharmonisches Orchester der www.kirkbytimes.co.uk (S. 39) Stadt Heidelberg 2005_06, Programmheft Nr. 03 058 HeidelbergTicket 06221.5820000 [email protected] Theater und Philharmonisches Orchester der Stadt Heidelberg Wir danken für Ihre Unterstützung c Wir gehören jetzt zusammen! Konzerte der Heidelberger Philharmoniker in der Spielzeit 05_06 Philharmonische Konzerte Familienkonzerte Kammerkonzerte Bachchor-Konzerte HeidelbergTicket 06221.5820000 [email protected] Theater und Philharmonisches Orchester der Stadt Heidelberg Bibliographicum Erna Tenner Ihr Fachgeschäft für dekorative Graphik des 16. bis 19. Jahrhunderts Hauptstraße 194 69117 Heidelberg Telefon o 62 21 /2 62 52 www.bibliographicum.de Sichern Sie sich Ihr Abo! RE C HTSANWÄ LT E Dr. Klaus Zimmermann Wirtschafts- u. Technologierecht Gesellschaftsrecht Eberhard Gretz Vertragsrecht, Technologierecht Bau-, Immobilien- u. Mietrecht Gerda Trautmann-Dadnia Fachanwältin für Familienrecht a. Erb-, Miet- u. Int. Privatrecht Tim Bäuerle, LL. M. Int. u. Nat. Vertragsrecht Produkthaftungs- u. Gesellschaftsrecht Tel 50 25 60 · Fax 50 25 610 www.zimmermann-kollegen.de Bergstr. 21 69120 · Heidelberg Einen anregenden Theaterabend wünscht Ihnen Wir machen den Weg frei in Heidelberg und der Kurpfalz Galerie Signum Winfried Heid Galerie für zeitgenössische und moderne Kunst www.galerie-signum.de Dossenheimer Weg 9 69121 Heidelberg Fon 06221/45 14 90 Die H + G BANK ist der ideale Partner für Ihre Altersvorsorge sowie Privat- und Firmenfinanzierungen. Nutzen Sie unsere kompetente und persönliche Beratung beim Handel mit Wertpapieren oder für ein durchdachtes Anlage- und Vermögensmanagement. Schöpfen Sie aus den Möglichkeiten einer erfahrenen Bank.