Invent | tura - Robert Bosch Kulturmanager
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Invent | tura - Robert Bosch Kulturmanager
Invent | tura Zeitgenössische Kunst und Literatur aus Bosnien und Herzegowina Herausgegeben von Sibylla Hausmann und Karin Rolle Inhaltsverzeichnis 03 Vorwort Bildende Kunst ////////////////////////////////////// 05 11 12 13 14 16 17 18 Karin Rolle Archivierende Bilder Rebecca Wilton Margret Hoppe Wiebke Elzel / Jana Müller Igor Bošnjak Radenko Milak Borjana Mrd–a Mladen Bundalo Literatur ////////////////////// 19 Hana Stojić Zeitgenössische Literatur aus Bosnien Sibylla Hausmann Geister der Gegenwart – Geister der Vergangenheit Marko Tomaš Die vergessene Stadt Marko Raguž Literatur, Trauma, Grenze Tanja Stupar-Trifunović Über Poesie und Erinnerung Jan Wagner Lob der Unschärfe 54 56 Biografien Impressum Invent | tura //////////////////////////////////////////// Zeitgenössische Kunst und Literatur aus Bosnien und Herzegowina 23 28 33 Herausgegeben von Sibylla Hausmann und Karin Rolle im Rahmen des Programms „Robert Bosch Kulturmanager in Mittel- und Osteuropa“ 47 50 karin.rolle @ kulturmanager.net sibylla.hausmann @ kulturmanager.net ISBN: 978-3-00-034380-3 Vorwort Foreword Despite the fact that Banja Luka and Mostar are divided by a full day bus ride, huge karst mountains, an entity border and the unforgotten front lines from the 1992 – 1995 Bosnian war, in autumn 2009, we began to work on the conception of Invent | tura . The starting point for this undertaking was our conviction that art and literature can create a space where free expressions of opinion are possible. So we designed Obwohl zwischen Banja Luka im Norden und Mostar im Süden Bosnien und Herzegowinas (BiH) eine tagesfüllende Busfahrt, ein von tiefen Schluchten durchzogenes Karstgebirge, eine Entitätsgrenze und unvergessene Frontlinien des Bosnienkriegs 1992 – 1995 liegen, starteten wir im Herbst 2009 gemeinsam mit der Konzipierung von Invent | tura . Ausgehend von der Überzeugung, dass Kunst und Literatur einen Raum eröffnen können, in dem freie Meinungsäußerung möglich ist, entwarfen wir ein Projekt, das sich mit der problematischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft von Bosnien und 3 a project whose purpose was to deal with the problematic past, the present and the future of Bosnia and Herzegovina (BiH) in an artistic way. The basic idea behind the concept is implied by the title itself : Invent | tura as an INVENTORY of memories and current developments in BiH; Invent | tura as “TURA” – a tour through BiH, which gives young artists and authors the possibility to communicate and cooperate by overcoming political and ethnical borders; Invent | tura lastly, as a frame in which future scenarios for this country, which has been stuck in a political and economical standstill for many years now, can be constructed anew, starting with a debate about the past and present time : INVENT ! Invent | tura als INVENTUR oder Bestands aufnahme von Erinnerung und Zeitgeschehen in BiH; Invent | tura als eine „TURA“ – eine Tour durch BiH, die jungen Künstlern und Schriftstellern die Möglichkeit gibt, sich über politische und ethnische Grenzen hinweg auszutauschen und zusammen zu arbeiten; Invent | tura schließlich als Rahmen, in dem – aufbauend auf der Auseinandersetzung mit der Vergangenheit und Gegenwart – Zukunftsszenarien für ein Land entworfen werden, das sich seit Jahren in einem politischen und wirtschaftlichen Stillstand befindet : INVENT ! Two fine artists and two authors from BiH, as well as panelists from Germany and BiH were involved in our project, which was realized between March and June 2010. They held discussions, collaborated and then finally, presented their works in two closing exhibitions and readings in Banja Luka and Mostar. We would like to thank the four main participants in this project : Igor Bošnjak (Trebinje), Mladen Bundalo (Brno / Prijedor), Marko Raguž (Sarajevo) and Marko Tomaš (Mostar), along with our panelists and everyone else who participated in our joint venture. Most of them are listed as contributors to this book. Zwei bildende Künstler und zwei Autoren aus BiH sowie Referenten aus Deutschland und BiH beteiligten sich an unserem Projekt, das wir im Zeitraum von März bis Juni 2010 realisieren konnten. Sie diskutierten und arbeiteten mit einander und präsentierten in jeweils einer fina len Ausstellung und Lesung in Banja Luka und Mostar ihre Ergebnisse. Neben den vier Hauptbeteiligten Igor Bošnjak (Trebinje), Mladen Bundalo (Brünn / Prijedor), Marko Raguž (Sara jewo) und Marko Tomaš (Mostar) danken wir unseren Referentinnen und Referenten und allen weiteren Beteiligten, die größtenteils auch mit Beiträgen in diesem Band zu finden sind. Furthermore, we would like to thank the Robert Bosch Stiftung, Heinrich Böll Stiftung and the Goethe-Institut in Bosnia and Herzegovina for their financial support, without which Invent | tura could have never been realized. Außerdem danken wir der Robert Bosch Stiftung, der Heinrich Böll Stiftung und dem Goethe-Institut Bosnien und Herzegowina für die finanzielle Unterstützung, ohne die Invent | tura nie hätte umgesetzt werden können. Enjoy our publication. Viel Spaß mit unserer Publikation wünschen Karin Rolle, Banja Luka Sibylla Hausmann, Mostar February 2011 Karin Rolle, Banja Luka Sibylla Hausmann, Mostar Februar 2011 4 Archivierende Bilder Herzegowina künstlerisch auseinandersetzen sollte. Die Grundidee ist schnell anhand der Implikationen des Projekttitels erklärt : Positionen zeitgenössischer Kunst in Bosnien und Herzegowina im Bezug zu Tendenzen in Berlin und Leipzig /////////////////////// Karin Rolle Images and Archives Contemporary art production in Bosnia and Herzegovina compared to tendencies in Berlin and Leipzig In her essay “Images and Archives”, Karin Rolle researches the method of archiving in contemporary art production in Bosnia and Herzegovina and compares it to examples from Germany, that is in Berlin and Leipzig. She argues that the attempt to archive a certain history and present is a reaction to the instability of the political and social system the artists live in, however, this uncertainty derives from very different backgrounds. She writes on the artists Igor Bošnjak (Trebinje), Mladen Bundalo (Prijedor / Brno), Wiebke Elzel (Berlin), Margret Hoppe (Leipzig), Radenko Milak (Banja Luka), Borjana Mrd–a (Banja Luka), Jana Müller (Berlin) and Rebecca Wilton (Berlin) and describes how these artists are collecting and storing certain stories, while at the same time critically indicating the fragility and incompleteness of their own projects. In addition, Karin Rolle gives an overview on active cultural spots and the contemporary art production in the cities of Banja Luka, Mostar and Sarajevo, an art scene that we know very little so far. „Wir leben im unwirklichen Staat Bosnien und Herzegowina. – Unser Land ist vor die Hunde gegangen. Nichts Neues, die Geschichte wiederholt sich selbst. Dekadenz der Worte. – Es macht keinen Sinn, dass es so lang dauert, die grundlegenden sozialen Systeme wieder aufzubauen. Ich kapiere es einfach nicht. Wir sind wirklich seltsame Menschen. Jeder schert sich nur um sich selbst, und man lebt von einem Tag auf den anderen ohne zu planen, was morgen oder übermorgen sein wird. – An diesem Ort erfährst du entweder alles, oder du erfährst 1 nichts.“ Bosnien und Herzegowina ist unweigerlich mit tragischen Ereignissen verknüpft. Die gewaltvollen Auseinandersetzungen der 1990er Jahre und deren Folgen bestimmen bis heute die Gesellschaft, die sich in einer fortwährenden Suche nach einer funktionierenden Stabilität zu befinden scheint. Wie kann man dies beschreiben, ohne immer wieder Gesagtes zu wiederholen, ohne in eine sentimentale Litanei zu verfallen oder in Sprachlosigkeit zu verharren? Vielleicht mit gänzlicher Illusionslosigkeit und einem rückhaltlosen Bekenntnis gegenüber dem Geschehenen? So bestimmen die Ereignisse der 1990er Jahre die zeitgenössische künstlerische Praxis in Bosnien und Herzegowina maßgeblich : Themen sind die Kriegsvergangenheit, das politische, ökonomische und soziale Wirrwarr im 2 Land sowie die Konflikte um eine Identität. ////////////////////////////////////////////////////////////////////////////////////////////////// 1 2 Zitate aus: Bundalo, Mladen, Bus Stop Prijedor - Bus Stop Banja Luka, Video 2010, 57 min. Das Video ist 2010 im Rahmen des Projektes Invent | tura entstanden. Vgl. Blažević, Dunja, Interview with Dunja Blažević on her research in Bosnia and Herzegovina, http://erstestiftung.org/gender-check/ bosnia-and-herzegovina-dunja-blazevic/ Zugr. 10.02.2011 5 //////////////// //////////////// Igor Bošnjak Igor Bošnjak «Contemporary Cemeteries» Video, 3 : 57 min Länge, 2010 aus Balkanication 14 «BHS» Video, 2 : 32 min Länge, 2010 aus Balkanication 15 /////////////////// ////////////////// Radenko Milak Borjana Mrd–a «And what else did you see? I couldn‘t see everything!» Öl auf Leinwand, 60 x 40 cm, 2010 Serie von 6 Bildern 16 «Cut Out Moments» Farbstifte und Schreibmaschine auf Papier, 29,5 x 21 cm, 2009 Serie von 27 Zeichnungen 17 Zeitgenössische Literatur aus Bosnien Ein Archiv von Erinnerungen //////////////////////// Hana Stojić Contemporary Bosnian Literature An Archive of Memories ///////////////////// Mladen Bundalo «Bus Stop Prijedor - Bus Stop Banja Luka» Video, 52 : 00 min Länge, 2010 18 Hana Stojić shows various examples of how the latest history of Bosnia and Herzegovina is reflected in contemporary Bosnian literature. She distinguishes two main groups of authors affecting the literary scene : authors who directly experienced the 1992-1995 war and authors who lived in exile. Essential for the first group of authors are those who fought as soldiers at a young age and are now remembering and reconsidering their war experiences. The authors in the second group are connected by their exile experiences and their melancholic hints to pre-war times which regularly appear in their works. In fact, the Bosnian society is still coping with scars of the traumatic war-experiences, thus the war remains the most important literary topic – whether this is aesthetically beneficial or not. However, Stojić also claims that the cruel and paradoxical status quo of the country today, ironically lets the literary scene flourish as it continuously delivers new stories. „Glücklich ist das Volk, dessen Geschichte sich langweilig liest“ schrieb einst Charles-Louis de Montesquieu. Zu jenen Glücklichen können sich die Bewohner Bosniens nicht zählen. Das gilt auch für die Schriftsteller, die sich mit der jüngsten Geschichte ihres Heimatlandes, dem Krieg 1992 bis 1995, auseinandersetzen. Die Realität Bosnien und Herzegowinas ist grausam. Ironischerweise jedoch glänzt die Literatur des Landes gerade im Bereich der Be schäftigung mit dieser. Der Lyriker Mile Stojić beschreibt es so : Dafür haben wir den Triumph der Phantasie errungen / über die Wirklichkeit sprechend erzielen wir seltsame, fast unglaubliche Effekte / in unserem Fall sind Bezeichner und Bezeichnetes identisch / Die Hölle ist für uns kein Symbol, sondern bedrückende Erfahrung Die Kriegserfahrung ist ein Albtraum, der noch immer die ganze bosnisch-herzegowinische Gesellschaft verfolgt. Sie ist in der Literatur in zwei große Themen zu unterteilen : erstens die Erfahrung am Schauplatz der Ereignisse im Land – und zweitens das Leben im Exil. Viele der besten ErzählerInnen und Lyriker Innen mit unmittelbarer Kriegserfahrung stammen zweifelsohne aus der Generation, die in den siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts geboren wurde. Es sind vorwiegend Männer, die um die zwanzig Jahre alt waren, als der Krieg begann, etwa Faruk Šehić, Josip Mlakić oder Asmir Kujović. Diese jungen Männer wurden von heute auf morgen Soldaten. Ungefragt, ungewollt. Ihr Werk widmet sich daher fast ausschließlich der Erinnerung an das im Krieg Erlebte. 19 dieser Maßnahmen gleich Null ist. Das hat viele Gründe. Mir scheint, dass schon die Idee problematisch ist, Mostar bei der Vergangenheitsbewältigung helfen zu wollen, indem Erinnerungen in Form eines kollektiven therapeutischen Prozesses gesammelt und artikuliert werden. Vielleicht liegt es gerade aus deutscher Perspektive nah zu denken, dass man die Mostarer dazu bringen muss, über den Krieg zu reden und in einem sogenannten „geschützten Raum“ ihre eigene Opfer- und Täterschaft zu rekapitulieren. Ein Raum, der von der eigentlichen Lebenswelt vor Ort abgehoben ist und künstlich erscheint. Denn auch unaufgefordert reden die Menschen in Mostar viel über ihre Erfahrungen mit dem Krieg und auch über die weiter zurückliegende Vergangenheit der Stadt. Es gibt vielfältige Weisen des artikulierten Erinnerns, die, wie jeder kommunikative Akt, auf die Empfänger zugeschnitten sind. Eine davon ist die des Fremdenführers, welcher Reisenden die Zerstörung der Stadt präsentiert (die imposanten unter den Ruinengebäuden sind als Fotomotive fast genauso beliebt wie die alte Brücke). Diese Art des Erinnerns hat etwas von der Präsentation alter Volksbräuche und -riten für Reisende auf der Suche nach dem „Ursprünglichen“, Nachinszenierung eines rituellen Tanzes ums Feuer. Also die Befriedigung der Hör- und Schaulust des reichen Fremden für Geld. Das Gezeigte hat in diesem Kontext seine ursprüngliche Bedeutung komplett verloren. Aber nicht nur diese einseitige, praktisch motivierte Form des Redens über Vergangenes ist verbreitet. Auch der Beobachter mit tieferem Interesse und Vorkenntnissen, der sich mehr Zeit für Gespräche nimmt, wird bald feststellen, dass die Redebereitschaft und die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit in Mostar sehr groß ist. Das Erinnern zeigt sich hier als ein alltäglicher performativer Akt des Umgangs mit Verlorenem. Es ist, als müsste das schmerzhaft Fehlende umkreist und immer neu vergegenwärtigt werden. 24 Mostar ist seit dem Krieg entlang ethnischer Trennungslinien in einen Ost- und Westteil geteilt. Im Westen wohnen mehrheitlich katholische „Kroaten“, im Ostteil muslimische „Bosniaken“. Heute treffen sich kroatische und bosniakische Jugendgangs in der Mitte zwischen den beiden Stadtteilen, dort, wo die Frontlinie verlief. In einem performativen Akt vollziehen sie, die Anfang der neunziger Jahre Kleinkinder oder noch gar nicht geboren waren, die gewaltsame Teilung der Stadt nach : Sie verprügeln sich vor dem Hintergrund einer (hauptteils konstruierten) Andersartigkeit. So buchstäblich kann schmerzhaftes Erinnern in Mostar sein. Gleichzeitig kommt in fast jedem Gespräch über die Vergangenheit der Stadt in stolzem Ton die Rede darauf, dass es hier vor dem Krieg die meisten „gemischten“ Ehen in ganz Bosnien und Herzegowina gab. Damit sind Ehen zwischen orthodoxen, katholischen und muslimischen Einwohnern gemeint. Die Stadt und die Literatur In dem dokumentarischen Film „Sevdah“ von Marina Andree (2009), der unter anderem in Mostar spielt, wird eine traditionelle, typisch bosnisch-herzegowinische Liedform vorgestellt, der sogenannte „Bosnian Blues“. Es geht in diesen Liedern, die bis heute beliebt sind und die Literatur in Bosnien und Herzegowina beeinflussen, stets um unerfüllte Liebe und schmerzhafte Sehnsucht. Besonders das „Karasevdah“-Lied, also das schwarze Sevdah-Lied, kann zu Tränen rühren. Der Sevdah-Sänger und Gitarrist Damir Imamović begründet die Beliebtheit der traurigen Lieder so : Die Lust an der Traurigkeit sei „Teil unseres kulturellen Codes. Wir mögen es, uns selber Schmerz zu 27 zufügen.“ Der Umgang der Mostarer mit ihrer Vergangenheit erinnert an die leidenschaftliche Hingabe an den Liebesschmerz im Karasevdah-Lied. In dieser Liedform kann man Hinweise auf kommunikative und literarische Besonderheiten finden, die auch für das literarische Schreiben in Mostar und der Herzegowina prägend sind. Die eloquente Auseinandersetzung mit negativen Erfahrungen gehört dazu – und ein Reden über Vergangenes, das gerade nicht therapeutisch ist, sondern der fortwährenden Vergegenwärtigung von Verlusterfahrungen dient. Der Mostarer Schriftsteller Marko Tomaš, geboren 1978, schreibt in den poetischen Miniaturen zu seiner Stadt, die im Rahmen des in diesem Band vorgestellten Invent | tura-Projektes entstanden sind : Neben so ernsthaften literarischen Projekten wie dem Marko Tomaš’, welche der Trauer über die Teilung der Stadt und den Verlust von Vertrautem poetischen Ausdruck verleihen, gibt es in Mostar auch solche Autoren, die ihr Werk in den Dienst nationalistischer Bestrebungen stellen. Sie müssen wegen ihrer geringen literarischen Bedeutung nicht namentlich erwähnt werden. Als ein gesellschaftlich unerfreuliches Phänomen arbeiten diese „Heimatdichter“ aber wesentlich daran mit, ethnische Gegensätze als unüberwindlich darzustellen und eine „rein“ kroatische bzw. bosniakische (Erinnerungs-) Kultur zu behaupten. „ … Der grüne Körper des Flusses war in den glühenden Sommermonaten die Feuertreppe und die Kraft, mit der wir aufwuchsen … … Ein Geist. Das bin ich. Das ist es, was jeder darstellt, der etwas sucht, was nicht länger existiert, etwas, was nie wieder da sein wird. Alle, die die Stadt suchen, einen offenen, toleranten Raum, ein respektables Zuhause 28 und eine gelegentliche Rast am Weg.“ Eine weitere Gruppe ist jene der ganz jungen Autoren, die in den achtziger Jahren geboren sind und den Krieg als Kinder miterlebten. Die Erinnerung an das vereinte Mostar vor dem Ausbruch des Konflikts ist bei diesen Autoren schon weniger lebendig als noch beim 1978 geborenen Marko Tomaš. Dementsprechend steht die Trauer um das Verlorene in ihrem Werk oft weniger im Vordergrund als die Auseinandersetzung mit den Absurditäten der Mostarer Gegenwart. Diese wird zum Beispiel beim 1982 geborenen Schriftsteller und Übersetzer Mirko Božić zynisch-ironisch formuliert. Neben der Tatsache, dass denkwürdig wenige weibliche Schreibende im Licht der Öffentlichkeit stehen, ist dies wohl eines der erstaunlichsten Phänomene der aktuellen Literatur in Mostar : Es gibt einen Bruch in den Generationen, der sich ungefähr um das Geburtsjahr 1980 formiert. Wenige Jahre Altersunterschied wirken sich hier so stark auf den literarischen Umgang mit Vergangenheit und Gegenwart aus, dass ein deutlicher poetologischer Unterschied zu bemerken ist. Die Stadt Mostar gleicht in dieser Passage tatsächlich einer schönen Geliebten, an die geschmiegt man eine Ruhe fand, die nun für immer verloren ist. Der – durch die Zerstörung der Stadt im Krieg 1992-1995 – zum rastlosen Geist gewordene Mostarer wandert in Tomaš’ Text durch die Straßen und kommt zu immer drastischeren Vergleichen und Bildern : „die Stadt ist ein psychotisches Konzentrationslager“, „ein Grab“, ein „Tal der Tränen“. Schließlich gibt die von der rhythmischen Fortbewegung des Sprechenden geprägte Beschreibung der Stadt anno 2010 einen direkten Hinweis auf ihre Verwandtschaft mit der (Sevdah-)Musik : „Das ist purer Blues. Gebrochener Rhythmus. Schritte auf dem Asphalt. 29 Dies ist die Zeit des Blues’.“ /////////////////////////////////////////////////////////////////////////////////////////////////// 27 S. Marina Andree: Sevdah Film, 2009. 28 S. Tomaš in diesem Band. 29 S. Ebd. Eine Vertonung des Textes ist übrigens geplant. Tatsächlich besteht in der Wahrnehmung der Rezipientinnen und Rezipienten in Bosnien und Herzegowina eine starke Nähe zwischen Gedicht und Lied. Das ist schon daran zu erkennen, dass für beides der Begriff „pjesma“ verwendet wird, eine lexikalische Unterscheidung wie im Deutschen oder im Englischen zwischen „poem“ und „song“ ist nicht gegeben. 25 Parallelen zu Literatur aus anderen Städten Dieser Bruch findet sich in ähnlicher Form auch in der bosnisch-herzegowinischen Literatur im Allgemeinen. In seinem Essay „Literatur, Trauma, Grenze“, der ebenfalls 2010 im Rahmen des Invent | tura-Projektes entstand, betont jedenfalls der 1986 geborene Sarajewoer Autor und Essayist Marko Raguž das Potential der ganz jungen Autorengeneration. Diese sei seiner Meinung nach in ihrem Schaffen nicht mehr so stark an die Geister der Vergangenheit gebunden. Denn sie habe keine lebendige Erinnerung des Krieges und der Vor30 kriegszeit mehr. Raguž setzt sich in seinem Werk mit der kulturellen Gegenwart Bosnien und Herzegowinas auseinander; dabei nimmt er keinen betroffenen, sondern einen distanziert-theoretischen Standpunkt ein. Die Beschreibung der Gegenwart in seinem Essay deckt sich dabei an einigen Stellen sehr wohl mit den Bildern, die Marko Tomaš’ Texte von Mostar entwerfen. Es handelt sich um eine Welt, die nicht vertrauenswürdig ist. Nichts ist wirklich oder ausschließlich so, wie es auf den ersten Blick scheint. Alle Elemente des öffent lichen Lebens haben eine verborgene Seite, eine komplizierte Geschichte oder ein heimliches Interesse. Wenn Tomaš von Geistern schreibt, die die Stadt bevölkern, drückt dies dieselbe Unsicherheit aus über das, was wirklich ist, wie Raguž’ Metaphern der Masken, Spiegel und Schatten. Und beide Autoren versuchen dieser mit einer verstärkten Beweglichkeit zu begegnen, einem literarischen Reisen oder Spazierengehen. Während bei Tomaš aber mehr die Begegnung mit vergessenen Orten in Mostar im Vordergrund steht, Schauplätzen seiner Kindheit, die durch Krieg und Teilung als Orte des öffentlichen Lebens verloren gegangen sind, geht es Raguž um das Überschreiten der verfestigten ethnischen Grenzlinien im Land. Der 26 jüngere Autor glaubt daran, dass diese Gren zen in und mit dem Medium der Literatur aufgebrochen werden können. Er plädiert für das Lesen und Schreiben als Reisen durch die „postapokalyptische Realität“ Bosnien und Herzegowinas. Denn das Reisen und Sich-Begegnen ist im geteilten und zerstrittenen Land selten geworden. Den Glauben an die hohe Einflusskraft der Literatur teilt Raguž mit der Schriftstellerin Tanja Stupar-Trifunović aus Banja Luka. Die 1977 geborene Dichterin und Journalistin steuert dieser Publikation ein Statement zu „Poesie und Erinnerungen“ und eines ihrer Gedichte bei, die sich so eindrücklich wie humorvoll mit der schwierigen Geschichte und Gegenwart des Landes befassen. Wie Raguž erwägt sie die (poetische) Sprache als rettenden Ort und Ersatzheimat, auch wenn das 31 leider nie „die ganze Wahrheit“ sein kann. Gemeinsame Erinnerung – getrennte Erinnerung Was nun heißt Erinnerung in Mostar 2010? Erinnerung ist immer individuell, und doch sind die Verlusterfahrungen der Mostarer auf beiden Seiten der Stadt vergleichbar. Die, in Raguž’ Worten, Apokalypse, die vor knapp 20 Jahren in Bosnien und Herzegowina stattfand, ist eine gemeinsame Erfahrung fast aller Einwohner des Landes. Die Autorengeneration, von der hier die Rede ist, war noch zu jung, um sich selbst verbrecherischer Taten schuldig zu machen. Sie hat den Krieg im Kindes- oder Jugendalter erlebt Im Krieg in den 1990er Jahren zerstörtes Kanzleigebäude aus der Habsburgerzeit, Mostar und daher gibt es hier nur das gemeinsame Leid und die erzwungene Neuorientierung unabhängig von ethnischer Zugehörigkeit. Gemeinsamkeiten in der Erinnerung gestalten zu können, ist eines der wichtigsten Potentiale dieser Schriftsteller und die Voraussetzung dafür, auch der Komplexität der Gegenwart gerecht zu werden. Das ist eine Möglichkeit, die die Menschen in Mostar noch nicht für sich entdecken konnten. Erinnerung in Mostar 2010 ist noch immer ein getrenntes und „die Anderen“ ausschließendes Erinnern. /////////////////////////////////////////////////////////////////////////////////////////////////// 30 Allerdings sei diese Generation landesweit sehr schlecht vernetzt und es gebe nur wenige Zeitschriften, wie die „Bundolo Offline“, die die ethnonationalistischen Grenzlinien im Land erfolgreich überschreiten und die drei kulturellen Zentren Sarajewo, Mostar und Banja Luka miteinander und mit den Nachbarländern verbinden, meint Raguž. Autoren aus Mostar seien in den anderen beiden Städten kaum bekannt und umgekehrt. (S. Raguž in diesem Band). 31 Vgl. Stupar-Trifunović in diesem Band. 27 Stadt Das ist eine Stadt am Ende der Welt. Muschelschalen ohne Inhalt. Um zur Vernunft zu kommen, gehe ich oft an vergessene Orte. Dort treffe ich manchmal jemanden. Ich bin jedesmal überrascht, wie wenige von uns Freaks übrig geblieben sind, von jenen, die das alte Ritual respektieren. Alles, was ich weiß, ist, dass ich versuche, mich selbst zu finden, indem ich zu den alten Orten gehe. Die vergessene Stadt ///////////////////////////// Marko Tomaš The Forgotten City In his poetical texts, which are planned to be part of an alternative documentary movie, Marko Tomaš describes public places in Mostar which were once filled with urban life, for example the huge partizan monument, the banks of the river Neretva, the Aleksa Šantić Park or the destroyed orthodox church. Since the 1992-1995 war and the division of the city, these places have been forgotten, ravaged, dirty. Tomaš’ texts remind us of these places, sometimes with melancholy, sometimes with fury, but always with impressive poetical pictures – accompanied by three subtle photos taken by the author. 28 Das Projekt „Die vergessene Stadt“ besteht aus Texten von Marko Tomaš und einer Serie kurzer Dokumentarfilme, die vergessene und verlassene Plätze in Mostar beschreiben, welche einmal voller urbanem Leben waren. Die Doku mentarfilme sind eine Art visuelle Intermezzi in der Erzählung der Hauptfigur, welche versucht, sich selbst durch ihre persönlichen Erinnerun gen zu finden : Wie erinnern wir uns an uns selbst ? Wie erinnern wir uns an die Stadt? Wo haben wir uns verloren? Wo hat sich die Stadt verloren? Wer ist der Täter ? Die Zeit oder die Menschen? Schauplätze sind unter anderem das Flussufer der Neretva, das Partisanendenkmal von dem Architekten Bogdan Bogdanović, der Aleksa Šantić Park und die zerstörte orthodoxe Kirche der Drei Heiligen in Mostar. // Alle Gedichte aus dem Bosnisch-KroatischSerbischen übersetzt von Elvira Omerika und Sibylla Hausmann. Es ist alles noch da, aber seit langem ist es nur noch ein Mythos. Genau wie die Kinder, die wir waren, bevor wir erwachsen wurden. Ich will spazieren gehen, um mich zu retten. Um mich vor der Vergesslichkeit zu retten. Um die Stadt zu retten, die nicht länger existiert. Dies ist eine Geschichte über eine Stadt, die verschwunden ist. Über eine Stadt, in der es von Geistern wimmelt. Dies ist eine Geschichte über uns und die Stadt, die wir verbannten. Geister und Zeit … Der grüne Körper des Flusses war in den glühenden Sommermonaten die Feuertreppe und die Kraft, mit der wir aufwuchsen … … Ein Geist. Das bin ich. Das ist es, was jeder darstellt, der etwas sucht, was nicht länger existiert, etwas, was nie wieder da sein wird. Alle, die die Stadt suchen, einen offenen, toleranten Raum, ein respektables Zuhause und eine gelegentliche Rast am Weg. // … Jetzt schlafen die Partisanen. Niemand braucht mehr einen Helden. Ewigkeit ist ein Albtraum. Die Vergangenheit ist die Hölle. Die Gegenwart ist lediglich ein Zustand zwischen einem schlechten Traum und einem Teufelspakt … … Es ist die Zeit der Menschen, deren Un anständigkeit offensiv ist, eine Zeit arroganter Politiker, charakterloser Superstars, gewalttätiger Kinder, die Zeit der Nachbarschaftsdiebe und Schläger, der aufgespritzten Lippen und Silikonbrüste, eine Zeit schlechter Drogen, verbitterter Soldaten, die vergessen wurden, eine Zeit der Faulheit, der ungelesenen Bücher, die anspruchsvolle Musik und der Frühling sind irgendwohin verschwunden. … Der Dichter ist zurückgekehrt. Er steht im Schatten mit der Hand auf seinem Herz. Von dort floss vor langer Zeit ein Gedicht … Aleksa Šantić Park … Nur die Steine sind noch da, um die Geschichte der Menschen zu erzählen. Sonst geht niemand mehr hoch über die Stadt, um zu beten. 29 Bogdans Trost 32 Der Stein wirkt auf den Wald ein. Dort gab er allen einen Namen, Auch wenn nicht, Ich trauere dieser Existenzlosigkeit nach. Das Wort hat schon die Blumen bewohnt. Irgendwo in der Tiefe des Steinwegs Hört man das Glasspiel der Kinder, Und noch tiefer, Was verbirgt sich noch hinter der Kindheit, Wer hat sie dir geraubt? Das Leid ist nicht im Stande, den Menschen zu bekehren, Wir gehorchen den Worten der Mutter und des Vaters Faust. Die Neretva Gehen Ein eiskaltes Messer, gestochen in den Mutterleib der Stadt, wegen ihr verkrampfen sich die Straßen. Ihre einzigartige Unveränderlichkeit. Die Schönheit ist immer hartherzig. Sie zermalmt uns unter dem Stiefel, den wir bereit waren zu umarmen. Gib ihm deinen Körper, Er wird es dir wahrhaftig und eiskalt zurückzahlen. Der Fluss ist der unveränderliche Regen der Erde. Sind wir alle längst gestorben? Sind wir nur Geister, die so tun, als wären sie am Leben? Sind wir vergewaltigt, ermordet und in die Grube geworfen? Ich bin mir nicht sicher, ob ich weiß, was gerade passiert. // Rufen die Schultern uns, um uns zu umarmen und zu trösten? Dachau, Bergen-Belsen, Jasenovac, Gradiška … Eine Geografie voller Qualen. Das Opfer ist die Waffe in der Stimme des neuen Todfeindes. Neretva // Platanen-Blues Weg zum Partisanendenkmal /////////////////////////////////////////////////////////////////////////////////////////// 32 Bogdan Bogdanović war ein serbischer Architekt (1922-2010). 30 1965 baute er in Mostar ein weitläufig angelegtes Partisanendenkmal. Außerdem entwarf er Gedenkstätten für Opfer des Holocaust, u.a. in Jasenovac. Was ist eine Baumreihe ? Die Baumreihe ist die Harfe der Stadt. Wie wird die Sünde gemessen ? In Kilowatt ? Woraus besteht der Mensch ? Aus Wasser. Sind wir Blut ? Wir sind Blut. Sind wir Herz ? Wir sind Musik. Wie hast du geschlafen ? Albträumerisch. Woraus ist nun das Holz ? Das Holz kommt vom Wind. Ich weiß nicht, wo ich lebe. Ich weiß nicht, was passieren wird. Ich habe keinen Plan für die Zukunft. Die Vergangenheit hat mich ausgelaugt. Die Gegenwart versklavt mich. Ich gehe und schreibe über das Gehen und dass ich existieren könnte. Ich liebe das Leben, aber weiß nicht, wie ich es gestalten soll. Wenn ich gehe, verschwindet alles. Nichts passiert mehr. In meinem Kopf ist ein weißes Rauschen, Leere, verzerrte Stille. Aus der Stadt ist ein psychotisches Konzentrationslager geworden. Scheinbar taugt sie mehr zur Parklücke als zum Lebensraum. Ihre romantische Vergangenheit ist ein Mörder, der uns erlaubt, uns wegzubewegen vom Zustand des Steckengebliebenseins im Nichts und Nirgendwo. Hier floriert der Kannibalismus. Es ist eine vorpolitische Gesellschaft. Es gibt keine Struktur hier. Dies ist eine Maschine, die auseinanderfällt und unsere Haut schälen lässt. Das Desaster ist in uns injiziert mit der Spritze des Todes. Diese Stadt ist ein Grab. Wir suchen nach Müttern, die schon vor diesem Leiden lebten. Wir suchen Vaterfiguren. Wir suchen die Kinder, die wir waren, bevor der Tod uns mit einem Knall in das Tal der Tränen stürzte. Das ist purer Blues. Gebrochener Rhythmus. Schritte auf dem Asphalt. Dies ist die Zeit des Blues’. Ich gehe, aber ich würde mich lieber ausruhen. Ich würde weggehen, aber ich weiß nicht, ob ich hier oder dort toter bin. Dort bin ich nicht, aber hier kann ich mich nicht finden. Letztendlich hat niemand gewonnen. Wir spucken auf das, worauf wir geschworen haben. Wir schwören einen Eid auf das, worauf wir gespuckt haben. Wir trampeln, wir zerstören, wir pissen und ficken auf den Gräbern. Schamlos und zynisch. Das ist purer Blues. Ich gehe, aber ich würde mich lieber ausruhen. Dort bin ich nicht, aber hier kann ich mich nicht finden. 31 sozialen Bereichen), wenn wir wissen, dass auf der Basis solcher Instrumentalisierungen viele (Geschichts-)Fälschungen stattfinden, nur dann können wir die wahre Absicht und Bedeutung von Kunst herausfinden. Der russische Regisseur Andrei Tarkowski schrieb, dass Kunst deshalb entsteht, weil die Welt so unvollständig ist, weil etwas einfach nicht stimmt. Bosnien und Herzegowina ist ein Gebiet voller Spalten und Risse im kollektiven und individuellen Bewusstsein. Und es sind genau diese Spalten, die das Fundament der Kunst ausmachen. Sprache als Heimat (Oder : Wieso eine ideologische Abbildung der Heimat an einen Kerker erinnert.) Die Heimat des Menschen ist die Sprache. Im Alltagsleben wird diese Erkenntnis meistens irgendwo in die Tiefen des Bewusstseins verdrängt. Deswegen wird das Verständnis von Heimat durch etwas ganz anderes, was gar nichts damit zu tun hat, bestimmt. HansGeorg Gadamer schreibt (im Buch „Wahrheit und Methode“), dass die Basis der Welt in der Sprache liegt und die Welt durch Sprache repräsentiert wird. Er meint, für den Menschen sei die Welt als (Begriff) Welt anwesend, während diese Welt für kein anderes Wesen auf der Welt existiere. Und die Existenz dieser Welt sei von der Sprache abhängig. So wie bei Gadamer die Beziehung zwischen der Welt und der Sprache begründet ist, so kann man sich auch die Ebene der einzelnen Sprachen vorstellen. Hans-Georg Gadamer erwähnt auch die Meinung von Humboldt, dass Sprachen Perspektiven von der Welt sind und dass jeder Mensch von Geburt an in die Sprache hineinwächst und somit in ein bestimmtes Verhältnis zur und ein bestimmtes Verhalten gegenüber der Welt. Aus so einem Verhältnis kann man wichtige Schlussfolgerungen ziehen – das Erwähnte sagt uns, dass die wesentliche Heimat des Menschen nicht durch Länder oder irgendwelche anderen 34 sozialen Formen institutionalisiert werden kann. Denn Sprache überschreitet immer Grenzen, die durch politische, religiöse und öko33 nomische Machtzentren bestimmt werden. Durch das Hineinwachsen in eine bestimmte Sprache wächst jeder Mensch in ein viel weiteres und vielfältigeres kulturelles Spektrum hinein als in dasjenige, das von politischen Regimen angeboten wird. Das Erwähnte zeigt uns ebenfalls, dass das gewöhnliche Verständnis von Heimat auch von Sprache abhängt, aber in der Weise, dass diese Form der Sprache den Interessen der Machtzentren angepasst ist. Mit anderen Worten sind in diesem Falle alle wichtigen Kategorien, die die Konzeption von Heimat begründen, Fälschungen oder Ideologien. Deren Produkt ist eine falsche Identifikation oder ein falsches Verständnis von Identität. Sprache ist als solche voller Risse, also folgt logisch, dass jeder, der in eine Sprache hineinwächst, seine Identität auf Rissen gründet oder an Grenzen, während die ideologische Repräsentation das negiert und auf eine homogene und holistische Identität insistiert. Aufgrund dessen können wir folgern, dass jede Sprache umso reichhaltiger ist, je mehr verschiedene Perspektiven auf die Welt sie darstellt. Diese Vielfältigkeit hängt auch von der Kommunikation zwischen verschiedenen Sprachen ab, beziehungsweise von Übersetzung. (Wie A. S. Puschkin sagt – Übersetzer sind die Boten der Ausbildung). Wenn wir uns bewusst sind, in welchem Maße die Sprachen verschiedene Perspektiven auf die Welt haben, dann sind wir uns auch bewusst, dass die Identität jedes Menschen eigentlich die gleichen Prinzipien hat. Die Position, dass jeder Einzelne in einer gewissen Art und Weise „in die Sprache hin einwächst“, passt zu dem, was der Philosoph Gabriel Marcel bestätigt hat (im Text „Der fragende Mensch“). Marcel meint, solange ein Kind in einer positiven Umgebung sprechen lerne, nehme es an der Erschaffung der Welt teil. Es gibt keinen Zweifel, dass Eltern durch das Erziehen von Kindern auch ihre eigene Welt neu erschaffen. Aber dies wird nicht durch Zwang ermöglicht – davon hat auch Noam Chomsky in seinem Buch „Language and Mind“ geschrieben. Chomsky interessiert sich für die Problema tik des Sprachenlernens und kommt dadurch zu verschiedenen Schlussfolgerungen über die „Natur“ der Sprache. Noam Chomsky meint, dass Sprache nicht auf eine zwangvolle oder künstliche Art gelernt werden kann, sondern auf eine organische Weise, denn in jedem neugeborenen Kind existiert eine angeborene Fähigkeit, in die Sprache hinein zu wachsen. Somit wird Sprache durch einen organischen Prozess gelernt anstatt durch mechanischen Zwang. Das alles verweist auch zurück auf Gadamers Behauptung, dass die Sprache keine „unabhängige Existenz“ hat, genau so wie der Mensch außerhalb von Sprache nicht existieren kann. Gadamer ist der Meinung, dass die Welt durch Sprache repräsentiert wird. Das Erleben der Sprache ist ihm zufolge nicht „absolut“. Sie ist außerhalb aller Relativitäten des Daseins, weil sie schon das Dasein in sich enthält, egal in welchen Verhältnissen sich dieses Dasein zeigt. Die Sprachfähigkeit unseres Erfahrens geht allem voran, was als existierend angesprochen wird. Daraus folgt nicht, dass die Welt zum Objekt der Sprache wird. Sprache umfasst den Horizont der Welt durch Wahrnehmung und Äußerung. Die Sprachfähigkeit der menschlichen Erfahrung impliziert nicht, dass die Welt zum Objekt wird, so Gadamer. Was wäre dann die gemeinsame Eigenschaft von Sprache, menschlicher Erfahrung und Literatur ? Diese gemeinsame Eigenschaft ist die Veränderung von Form. Sprache, Menschen und das Leben, „brechen zusammen“ und „regenerieren sich“. Sie werden durch Literatur konserviert und so ist es auch mit der menschlichen Erfahrung. Ludwig Wittgenstein hat Sprachen mit Städten verglichen (in dem Sinne, dass Städte immer gleichzeitig verfallen und sich regenerieren). Interessant ist auch die Notiz in Karahasans Roman „Schahrijars Ring“, dass die Vergangenheit wie Sprache ist, unbeweglich und allumfassend und die Gegenwart wie die Rede. Die Gegenwart, genauso wie Rede im Bezug zu Sprache, benutzt Teile der Vergangenheit und durch ihren Willen erreicht sie das Ziel ihrer Natur. In der Gegenwart ist nur das möglich, was schon in der Vergangenheit ist. Genauso ist in der Rede nur das möglich, was schon in der Sprache liegt. Dieser künstlerische Vergleich, ein unbestreitbar relevanter Gedanke, ist durch den Unterschied Sprache vs. Rede, den Ferdinand de Saussure begründet hat, entstanden. Dies ist ein sehr bedeutender Unterschied, und damit befasst sich auch Gadamer in seinem Buch „Wahrheit und Methode“, wenn er klar macht, dass die Sprache erst in der Rede, also im Prozess der Verständigung, das wahre Dasein erreicht. (Gadamer ist auch der Meinung, dass Sprache auf keinen Fall der einzige Weg zur Verständigung ist). Dies alles zeigt uns, dass die Sprache, in der wir leben, ein Organismus ist und dass alle jetzigen und spezifischen Kennzeichen der Zeit und Umstände, in denen wir leben, auch in der Sprache anwesend sind. Allein dadurch ist die Sprache der erste und einzige Rahmen, in dem wir unendlich viele Fragen anschauen können, die mit der Realität und der Literatur als Reflexion der Realität zu tun haben. Am Ende dieses Kapitels sollte klar sein, dass die Sprache unsere Heimat ist, und dass die menschliche Erfahrung und die Literatur auf der Sprache gegründet sind. Wenn von der Beziehung zwischen der Welt und der Literatur die Rede ist, sollte man immer die Funktion der Sprache im Gedächtnis behalten. Alle diese Fragen haben auch eine dunklere Seite. Unsere Erfahrung macht uns manchmal pessimistisch, wenn es um die Wirksamkeit der Sprache und der Literatur geht. Folgerichtig war zum Beispiel Roland Barthes der Meinung, dass die ganze Mühe des Autors Mallarmé darauf hinauslief, die Sprache zu zerstören, Literatur konnte er nur als eine Art von Leiche sehen. /////////////////////////////////////////////////////////////////////////////////////////////////// 33 Gerade im ex-jugoslawischen Raum, in dem – trotz unterschied- licher Benennungen – im Grunde nur eine Sprache gesprochen wird. (Anm. d. Hrsg.) 35 Leben und Literatur Bora Ćosić hat in einem Interview gesagt, dass das Leben die größte literarische Form darstellt. Wenn wir über diese Aussage gründlicher nachdenken, können wir auf mindestens zwei Wegen ihre Wahrheit feststellen. Der erste Weg wäre durch die Beziehung des Lebens zur Literatur und der zweite Weg durch die Be ziehung der Literatur zum Leben (wir dürfen nicht vergessen, dass diese zwei eine organische Einheit sind und dass jede Aufteilung mehr oder weniger mechanisch ist). Litera rische Formen sind sogar eine Weise, auf welche sich das Leben des Menschen verwirklicht. Wenn das stimmt, dann folgt daraus, dass das Leben des Menschen die größte Form der Literatur darstellt, aber auf keinen Fall heißt das, dass das Leben und die Literatur ein und dasselbe sind. In der Geschichte der Literatur gibt es Versuche, die gesamte menschliche Erfahrung in einen Roman zu verwandeln, angefangen mit den ersten Erinnerungen bis zum Tod, eines der besten Beispiele ist der Romanzyklus „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ von Marcel Proust. Marcel Proust war der Meinung, dass er durch Litera tur den Tod vermeiden kann. Dies wollte er durch das Sammeln aller Erinnerungen und deren Konservieren durch Literatur erreichen. Die Literatur sollte dann diese Essenzen des Lebens dem Bewusstsein anderer Menschen vermitteln. Das alles bedeutet nicht, dass Literatur und Leben gleich sind, sondern, dass so etwas wie ein Austausch stattfindet, wenn die Literatur zu etwas „Lebhafterem“ wird, als das Leben selbst. Davon hat auch Peter Brook („The Open Door“) geschrieben : „Wir gehen ins Theater, um dort das Leben selbst zu finden, aber wenn es keinen Unterschied gibt zwischen dem Theater und der Außenwelt, dann hat das Theater keinen Zweck.“ Jedenfalls bezweifelt niemand, dass Literatur eine der Formen unseres Lebens darstellt. 36 Doch dies ist eine unvollständige Erklärung, denn oft wird vergessen, dass die geformte Er fahrung des Menschen eine wichtige Eigenschaft beinhalten sollte. Platon schreibt in „Der Staat“, dass Kinder durch Geschichten und Musik gebildet oder geformt werden sollten. In unserer Zeit ist die Hauptfunktion der Literatur auch in anderen Medien vorhanden (in Filmen, Videospielen usw.), und man könnte sogar behaupten, dass animierte Filme oder Videospiele jetzt viel mächtigere Medien sind, als die „alte“ Kinderliteratur. An sich ist dies gar nicht negativ, weil die Essenz der Kinderliteratur durch Zeichentrickfilme oder Videospiele genauso vermittelt wird. Negativ sind die vielen ideologisch oder kapitalistisch motivierten Instrumentalisierungen. Wegen bestimmter Marktbedingungen hat die Literatur ihre primäre Funktion fast verloren – in der heutigen Zeit wird die Literatur massenhaft „plastifiziert“. Es reicht, einfach zu einem Literaturfestival zu gehen und den Blick auf die Tische zu werfen, wo man unendlich viele reißerische Einbände und riesige Titel findet. Wertvolle Literatur ist von diesem „Plastik“ aufgesogen worden. Diese „Plastifizierung“ entwertet die Essenz der Literatur. Es entsteht eine leere „Hülle“, die konsumiert wird und ihren Marktwert hat. Diese Art von Literatur kann in einem essenziellen Sinn nicht mit dem Leben korrespondieren. Die wahre Korrespondenz zwischen Literatur und Leben enthält die Macht, die Seele zu bilden und zu formen. In seinem Werk „Berichte aus der dunklen Welt“ schreibt Dževad Karahasan, dass Kunst den Zweck hat, uns die Kunst des Lebens beizubringen. Also ist Kunst etwas Immanentes im Leben und der Seele selbst und nicht etwas Getrenntes und in verschiedene Sorten Klassifiziertes. Nur ein so formiertes Leben kann man als ein Leben bezeichnen. Ein traumatisches Erlebnis ist dabei ein wichtiger Teil der Beziehung zwischen dem menschlichen Erleben und der Literatur. Literatur, Trauma, Grenze (Reisen und Lesen in der postapokalypti schen Realität Bosnien und Herzegowinas) Das Problematisieren der Beziehung zwischen Literatur und Grenze ist auf der einen Seite so wichtig, dass das Konzept der Grenze als Fundament der Literatur bezeichnet werden kann, und auf der anderen Seite so komplex, dass es am besten ist, so konkret wie möglich zu sein. Im Kontext der Problematik, von der hier die Rede ist, ist es am wichtigsten, sich mit imaginären ideologischen Grenzen zu beschäftigen bzw. mit der Art und Weise, wie deren Setzung im Verhältnis zu kollektiv-sozialen Kategorien stattfindet. Genauso wie eine unzertrennliche Verbindung zwischen Literatur und Grenze besteht, so ist das traumatische Erlebnis deren logische Fortsetzung. Traumatische Erfahrung ist eines der zentralen literarischen Themen. Gleichzeitig ist diese Erfahrung auch die Grundlage für die Konstruktion von imaginären Grenzen. Durch das Gestalten von traumatischen Erfahrungen überwältigt Kunst diese Grenzen und zerbricht das Trauma, während Ideologien die traumatische Erfahrung instrumentalisieren und einen festen Zustand durch konstante „Erneuerung“ des traumatischen Zustands erwirken. Dadurch wird die Existenz der Ideologie entweder auf der einen oder anderen Seite der imaginären Grenze begründet, während die Literatur, wie auch das Leben des Menschen, auf dem Bruch, an der Grenze selbst, begründet ist. Das ist einer der wichtigeren Gründe, weshalb wahre Literatur und Ideologie im direkten Gegensatz stehen : Sie sind auch wegen der Beziehungen zwischen der kollektiven und in dividuellen Erfahrung gegensätzlich. Literatur ist das einzige Gegengewicht zur Historiografie, welche die „Perspektive auf die Welt“ in einer bestimmten Zeit bildet und damit soziale Werthierarchien. Nur wenn wir wissen, dass das historiografische Grundgesetz der bosnischherzegowinischen Realität auf nichts anderem als einer Fälschung beruht, wird der potentielle soziale Wert der wirklichen Literatur klar (der Literatur, die gegenwärtig kaum existiert, weil sie systematisch von den ethnonationalen Machtzentren erstickt wird). Alles sagt uns, dass durch die Gestaltung des traumatischen Erlebnisses die Literatur dieses Trauma zerbricht, indem sie es „öffnet“ oder ermöglicht, dass jede einzelne Stimme gehört wird, in einem Raum, der ideologisch gesehen immer der Raum des Anderen hätte sein sollen. In der Literatur von Ivo Andrić finden wir die Meinung, dass die 34 Geschichte dieser Gebiete auf der „Erstickung von Traumata“ gegründet sei. Die Regime an der Macht übernehmen nie Verantwortung für ihre Untaten, sondern versuchen, diese zu ersticken und zu verdecken. Die Systeme funktionalisieren negative Energie, die aus dem kollektiven Trauma stammt. Durch deren gezielte Freilassung wird die gleiche Ungerechtigkeit verursacht und die negative geschichtliche Kette fortgesetzt. Die Literatur von Dževad Karahasan hält fest, dass hier niemals eine wesentliche, innere Konfrontation mit den ethnonationalistischen Ideologien (noch nicht mal während der Zeit Jugoslawiens) stattfand. Multikulturalismus ist auf ähnlichen Prinzipien gegründet. In Bosnien und Herzegowina wird viel von Multikulturalismus gesprochen (besonders in der offiziellen bosnischen Politik ist dieses Thema anwesend). Doch obwohl dieser Multikulturalismus eine sehr wertvolle Basis der Gesellschaft sein könnte, ist er nur eine ideologische Instrumentalisierung und tatsächlich kaum im sozialen Feld anwesend. Ethnonationalistisches Theater und Literatur (Oder : Wieso man nicht Diogenes’ Trompete sein sollte, die nichts außer sich selbst hört.) „Der Kleinbürger ist ein Mensch, der unfähig ist, sich den Anderen vorzustellen. Wenn der Andere /////////////////////////////////////////////////////////////////////////////////////////////////// 34 Also des südosteuropäischen Raumes, des früheren Jugoslawiens (Anm. d. Hrsg.). 37 sich seinen Blicken zeigt, wird der Kleinbürger blind, oder er ignoriert oder leugnet ihn …“ Roland Barthes („Mythen des Alltags“) Das soziale Leben funktioniert überall wie ein Theater und jede Gesellschaft ist so sehr entgleist, wie die Lüge es anzeigt, die hervordringt. In der bosnisch-herzegowinischen Realität (was auch immer diese Formulierung heute bedeutet) ist das soziale System dermaßen auf Lügen gegründet, dass es endlich Zeit ist zu fragen, ob es überhaupt eine Realität gibt. Die durch den Krieg entstandenen Masken sind die Grundlage, auf der die paradoxe Realität gegründet ist. Jeder, der aktiv (oder im System) am sozialen Leben teilnehmen möchte, muss sich eine dieser Masken aussuchen, eine der Figuren in der Galerie, fabriziert in politischen, religiösen und medialen Machtzentren. Kurz gesagt ist der bosnisch-herzegowinische öffentliche Raum nichts anderes als ein ethnonatio nalistisches Theater. Die soziale Realität ist fragwürdig, weil die Basis, auf der sie besteht, fiktiv ist. Deshalb können wir sagen, dass der pragmatische, ökonomische Zweck der Existenz des sozialen Systems ausgetauscht worden ist mit Illusionen oder ausgedachten Geschichten, die nun die Grundlage sind. Die erwähnten Sozialmasken sind auf kollektiven und histo rischen Geschichten gegründet oder auf ob jektivierter Fiktion. Jede Gesellschaft in der westlichen Zivilisation existiert auf einer kollektiven oder historischen Basis. Jedoch sind einige Gesellschaften ökonomisch so machtlos, dass jeder reale Grund für die Existenz des Sozialsystems mit ausgedachten, imagi nären Gründen ausgetauscht wurde. Die bosnisch-herzegowinische Gesellschaft ist eine solche Gesellschaft. Hier ist der öffentliche Raum als System von Lügen und Spiegeln eingerichtet. Was auch immer in dieses System hineinkommt, wird durch Reflexion eine Lüge. Wenn jemand die Wahrheit sagt, ist er sich gleichzeitig bewusst, dass er lügt, weil jede Rede im öffentlichen Raum an sich 38 schon eine Lüge ist. D. h. das System gestaltet die Rede so, dass sie zur eigenen Reproduktion genutzt oder komplett abgelehnt wird. All das sagt uns, dass unsere Realität aus vielen fiktiven Schichten besteht (ohne hier auf den philosophischen Diskurs über imaginäre Eigenschaften der Sprache einzugehen). Kurz gesagt, ist die Realität, in der wir leben, sehr ähnlich wie im Film „Das Cabinet des Dr. Caligari“. In diesem Film durchlaufen wir mehrere Schichten, bis wir in der Realität ankommen, nur um am Ende alles auf den Kopf zu stellen. Denn erstens wird uns bewusst, dass die imaginären Schichten ein Produkt von schizophrenen Gedanken sind – und zweitens stellt sich heraus, dass das alles nur VIELLEICHT so ist. Dies ist der präziseste Weg, die Platzierung der Wahrheit in den imaginären Schichten unserer sozialen Realität zu beschreiben. Nach Friedrich Nietzsche ist das Konzept der „Wahrheit“ sehr fraghaft. Die Wahrheit ist eine Maske, durch die wir Zufriedenheit erreichen. Nach Nietzsche sind alle Impulse mit Zufriedenheit und Unzufriedenheit verbunden – man kann den Antrieb nach einer Wahrheit nie ohne Rücksicht auf Konsequenzen, ganz sauber und ohne Affekt besitzen, denn dann würde man sowohl Zufriedenheit als auch Unzufriedenheit verlieren. Zufriedenheit im Denken ist kein Beweis für das Verlangen nach Wahrheit. Im bosnisch-herzegowinischen öffentlichen Raum gibt es viele Perspektiven auf die Wahrheit, und stets anwesend sind andauernde Kämpfe und das Beweisen des eigenen Standpunkts. Doch hier geht es weniger um das Beweisen von Wahrheit als vielmehr darum, dass man im Namen irgendeiner Wahrheit eine bestimmte Form von Zufriedenheit erreicht (in Politik und anderen Machtstrukturen gründet diese Zufriedenheit oft auf einer materiellen Basis). In den vorangegangenen Kapiteln war die Rede von Literatur in verschiedenen Kontexten und in Bezug dazu werde ich versuchen, über die Position von Literatur im bosnisch-herzegowinischen sozialen Kontext zu sprechen. In der Literaturkritik wird schon seit einiger Zeit nicht mehr über Kriegsliteratur gesprochen (in anderen Worten über die Literatur, die den Krieg in den 1990er Jahren themati siert), sondern jetzt ist vielmehr die Rede von sogenannter Transitionsliteratur. Theoretisch kann man davon ganz einfach reden, verschiedene theoretische Rahmen auf der Basis von verschiedenen Erlebnissen konstruieren, aber realistisch gesehen ist neuere bosnisch-herzegowinische Literatur kaum existent. Von Zeit zu Zeit erscheint irgendeine Sammlung persönlicher Impressionen in einer literarischen Form, aber bedeutendere und umfassendere Versuche der Literarisierung von Realität gibt es gar nicht. Eine Gesellschaft, in der Kunst fast gar nicht existiert (oder im finanziellen und institutionalisierten Sinne ganz marginalisiert ist), eine Gesellschaft, deren literarische Tradition von gerade mal fünf oder zehn Schriftstellern bestimmt wird, ist eine kleinstädtische, provinzielle Gesellschaft. Wenn also die Rede ist von der sozialen Position der Literatur, dann ist das Grundproblem die kleinstädtische Mentalität. Der öffentliche Raum in einer Gesellschaft, in der so eine Mentalität dominiert, ist gegründet auf dem Prinzip der Diogenischen Trompete, die nichts hört, außer sich selbst (so hat Diogenes den Philosophen Antistenes beschrieben). In diesem Kontext rede ich über Platons Höhle, die eine Gesellschaft, aufgebaut auf fiktiven Positionen, symbolisiert (dies wird im nächsten Kapitel besprochen). Warum erinnert die bosnisch-herzegowi nische Realität an Platons Höhle? (Oder : Auf welche Art und Weise ist die klein städtische Mentalität in Bosnien und Herze gowina mit Platons Höhle verbunden?) Platons Allegorie von der Höhle (beschrieben im siebten Buch von „Der Staat“) sollte man hier nicht als metaphysische Kategorie (wie ursprünglich gedacht) sehen, sondern auf die konkrete Realität anwenden. In Platons Höhle verbringen Menschen ihr ganzes Leben in einer Umgebung, in der es kein Sonnenlicht gibt, sondern nur Schatten, die durch Feuer in einer Höhle entstehen – so sehen die Einwohner niemals die eigentliche Realität, sondern nur deren Spiegelung. Das bedeutet, dass die Gefangenen (die die Mehrheit der Menschen darstellen) ihr ganzes Leben verbringen, ohne sich bewusst zu sein, dass sie in einem Kerker leben. In bosnisch-herzegowinischen Gemeinden, entstanden durch den Zerfall Jugoslawiens, findet man solch einen Zustand. Das Grundprinzip, auf dem das Sozialleben basiert, ist Sklavenhaltung mit Hilfe von Schatten, Illusio nen oder einfach verunstalteten Reflexionen. Der Anfang von Kovačs Roman „Die Stadt im Spiegel“ deutet auf so eine Situation hin, sie beschreibt, wie das Bewusstsein des Menschen in diesen Gebieten gestaltet wird. Es geht um einen Wald, der dem Großvater der Hauptfigur gehört (dieser Wald dient auch als ein symboli scher Topos). Es wird beschrieben, dass jedes Familienmitglied eigenartige Erlebnisse in diesem Wald hatte (dort erscheinen böse Mächte, Hexen, Dämonen und ähnliches). Es geht um einen Mikrokosmos, auf den die Familienmitglieder eigene Ängste projizieren, eventuell wird dieser Raum zu einer Form von Familienmythologie. Das Interessante daran ist, dass eine der Traditionen darin besteht, die Kinder so zu „erziehen“, dass sie dem Wald ausgesetzt sind, um sie mit verschiedenen Illusionen zu konfrontieren. Der Roman spricht auch von einer Situation, in der die Hauptfigur, wegen dieser Familientraditionen, als Kind großen Ängsten ausgesetzt war und somit auch traumatisiert wurde. Dieser Topos (der Wald als symbolischer Ort) verdient hohe analytische Aufmerksamkeit, denn er symbolisiert die Er ziehung der Kinder in unseren Gebieten. Sie werden durch die Aktivierung von Ängsten erzogen. Alle genannten Methoden dienen dazu, die kleinstädtische Mentalität zu wahren, die schon zitiert wurde („Mythen des Alltags“, Roland Barthes) : „Der Kleinbürger ist ein 39 Mensch, der unfähig ist, sich den Anderen vorzustellen. Wenn der Andere sich seinen Blicken zeigt, wird der Kleinbürger blind, oder er ignoriert oder leugnet ihn …“ Nach Barthes ist die Struktur unseres Gebietes gegründet auf der Ablehnung, „sich den Anderen vorzustellen“. Die Fähigkeit des Zuhörens und der Wunsch, den Anderen zu verstehen, sind nicht vorhanden. Der Raum, der dem Anderen gehört, wird nicht kennengelernt, sondern für Projektionen der eigenen Angst benutzt – epische und novellistische Codes charakterisieren die öffentliche Rede. Der große russische Schriftsteller Nikolai Gogol hat in der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts an Geschichten aus der ukrainischen Folklore gearbeitet, was in der Literatur als ethnographisches Schreiben eingeordnet werden kann. Wenn wir jetzt irgendein Motiv aus der ersten Phase seiner Schöpfung in den heutigen bosnisch-herzegowinischen Kontext einfügen würden, wäre das nicht eigenartig oder veraltet. Als Beispiel kann man ein Detail aus Gogols Erzählung „Schreckliche Rache“ nehmen : „ ‚Hab’ keine Angst, Katharina ! Sieh, es ist nichts ! ‘ sagte er, nach allen Seiten hin weisend : ‚Der Zauberer will nur die Menschen schrecken, daß Niemand in sein verruchtes Nest dringe. Weiber allein kann er damit in Schrecken jagen ! Gib mir den Jungen auf den Arm ! ‘ Mit diesen Worten hob Herr Danilo den Knaben in die Höhe und an seine Lippen. ,Nicht wahr, Iwan, Du fürchtest keine Zauberer ? Sag : Nein, Vater, ich bin ein Kosak. Nun, so sei doch ruhig, hör’ auf zu weinen ! Wir kommen nach Hause ! kommen nach Hause – Mutter wird dir Grütze zu essen geben, wird dich in die Wiege legen und wird singen : Luli, luli, luli ! / Luli, Söhnchen, luli ! / Erwachse zur Augenweide / Den Kosaken zur Ehr’ und Freude, / Den Hexen zu Weh und Leide ! ‘ “ Es ist ganz eindeutig, dass jeder Mensch seine „eigenen Geschichten“ findet oder sich mit etwas identifiziert, das er von jemandem anderen hört. Volkserzählungen funktionieren auf der Basis ähnlicher Prinzipien und durch diese Geschichten wird für 40 das Volk die Macht oder das Kapital akkumuliert. Was geschieht, wenn es keine Formen des Denkens gibt, die darüber hinaus gehen, solche Geschichten zu akzeptieren, in denen alles, was auf der anderen Seite der imaginären Grenze ist, dunkel und böse ist ? Es führt zu einem Leben in Illusionen, die durch erfundene Geschichten begründet werden, die als Ersatz für konkrete, materielle Mängel dienen (anders gesagt : Solche Geschichten fordern patriarchalische, ethnonationalistische oder andere Werte, die die Stärkung einer bevorzugten Sozialschicht berechtigen). So eine Gesellschaft ist eine kleinstädtische Gesellschaft; sie hat nie die Fähigkeit, sich selbst durch die „Augen des Anderen“ zu sehen. Durch Kunst ist es möglich, durch „andere Augen“ zu sehen, und solange Kunst und Formen des kritischen Denkens in einer Gesellschaft kaum existieren, ist eindeutig, dass Platons Höhle das genau richtige Gleichnis für eine solche Gesellschaft ist. Reisen als Lesen der postapokalyptischen Realität „Reisende lesen Bücher während sie reisen, sie schreiben fast immer nach ihrem Plan und als Gegenleistung entsteht ein Buch – oder wir würden darüber jetzt gar nicht diskutieren. Sie reisen, damit sie schreiben können oder reisen, während sie schreiben und das alles nur, weil auch das Schreiben selbst für sie eine Reise darstellt.“ Michel Butor („Reise und Schreiben“) Reise als Lesen und Lesen als Reise sind Formulierungen, die von dem französischen Schriftsteller Michel Butor stammen. Wenn die Rede von geteilten Ländern oder geteilten Städten ist (d. h. von Orten, an denen parallele Realitäten gelebt werden), dann ist die Reise der einzige Weg zur Erkenntnis. Wenn in irgendeiner Stadt die Positionen fixiert sind, gefesselt durch imaginäre Grenzen, dann ist es nötig, die Identität durch das Reisen zu beiden Seiten der Grenze zu gestalten. Wenn die parallelen Realitäten in einem so großen Gegensatz sind, dann ist die nomadische Identität ein Weg, den Status quo zu überwinden, denn sonst gäbe es nicht die Möglichkeit, die schmalen, ethnonationalistischen Visionen, die auf der Instrumentali sierung von Traumata gegründet sind, zu über winden. In Bosnien und Herzegowina, durch den Übergang von einer Realität in die andere, ist es immer nötig, den Blickwinkel zu wechseln – das wird durch die schon erwähnten Masken ermöglicht. Vor kurzem hat die Anreise des berühmten Paares Angelina Jolie und Brad Pitt eine große öffentliche Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Durch dieses Ereignis können wir einige Analysen anstellen. Das Motiv berühmter Menschen, nach Bosnien und Herzegowina zu kommen, ist humanitärer Natur, wie z. B. der Besuch eines Flüchtlingscamps in Ost-Bosnien. Die ganze Ge schichte geht folglich darum, wie man ein traumatisches Erlebnis instrumentalisiert. Angelina Jolie und Brad Pitt haben ihr eigenes Interesse erfüllt, und auch bosnische Medien, die es geschafft haben, das Paar zu begleiten, haben ihre Karriere gefördert. Sogar die Frau im Flüchtlingscamp, d. h. das Kriegsopfer, war sehr glücklich, weil sie von jemandem, der berühmt ist, besucht worden ist. D. h. sie war nicht glücklich wegen der Hilfe, sondern weil es sich bei ihrem Besuch um berühmte Schauspieler handelte – ihre Funktion als Opfer ist eine Folge dieses Mechanismus, der es überhaupt ermöglicht, dass jemand berühmt wird. Die sozialen Masken, die durch den Krieg entstanden sind, ändern sich mit der Zeit – aber die fundamen talen Aspekte bleiben gleich. Wenn wir Mostar als Beispiel nehmen, können wir sehr gut be schreiben, wie die Positionierung gegenüber Kriegsgeschichten das Sozialleben dieser Stadt bestimmt. Wenn jemand spricht, dann sollte man weniger darauf achten, worüber er spricht und mehr darauf, wer finanziell dahinter steckt. Wenn jemand eine Arbeitsstelle in einer öffent- lichen Institution haben möchte, kann er sie nur bekommen, indem er sich in dem schon existierenden sozialen Zustand positioniert. Nur dadurch schafft er es, genug Mittel zum Überleben zu erwerben. In Mostar dominieren ethnonationalistische Strukturen, die ein Interesse daran haben, die durch den Krieg entstandenen Grenzen zu zementieren – sie wollen ihr Leben in gewohnten Bahnen verlaufen sehen. Internationale Organisationen, die daran arbeiten, Verbindungen zu erstellen, sind in einer paradoxen Position. Wieso ist das so ? Weil durch verschiedene Projekte und Spenden finanzielle Mittel für Leute zur Verfügung gestellt werden, die offen für einen Dialog und den Aufbau von Beziehungen sind. Diese Leute positionieren sich dann aus primär materiellen Gründen und übernehmen eine der sozialen Masken. Das Paradox dieser sozialen Positio nierung ist, dass der „kulturelle Dialog“ in ei nem weiteren sozialen Sinn unmöglich ist, dass Nationalismus eine Sammlung von Geschich ten ist, mit denen sich die meisten Leute iden tifizieren und dass alle diese Geschichten auf Spannungen basieren und nicht auf einem Dialog. (Je schwieriger die Lebensbedingungen, desto leichter werden Geschichten akzeptiert, die solche Spannungen und Traumata weiter verbreiten.) Terry Eagleton schreibt in dem Buch „The Idea of Culture“, dass es eine wichtige Beziehung zwischen Kultur und Macht gibt. Keine politische Macht könne nur durch Zwang überleben. So würde sie zu viel ideolo gischen Wert verlieren und würde in kritischen Momenten viel zu verletzlich werden. Um die Zustimmung der Menschen zu behalten, müsse sie diese näher kennen als einfach nur durch Diagramme und Statistik. Da wahre Autorität die inneren Gesetze wahrnehme, versuche diese sich an der menschlichen Subjektivität zu bestätigen, an ihrer anscheinenden Freiheit und Privatsphäre. Um erfolgreich zu regieren, müsse sie bis zu den geheimen Wünschen und Abneigungen vordringen und nicht nur herausfinden, für wen die Leute stimmen und was 41 ihre sozialen Wünsche sind. Um von innen steuern zu können, müsse man das Innere kennen lernen. Diese Aussagen machen nachvollziehbar, wie verwurzelt Ethnonationalismus im kollektiven Bewusstsein der Menschen ist und wieso solche politische Manipulationen möglich sind. Deshalb wird durch die Kultur des Dialogs und des institutionalisierten Antinationalismus nichts Bedeutendes erreicht, außer, dass durch diese Positionierung zu dem traumatischen Erlebnis ein finanzielles Einkommen entsteht – allein durch das Geld wird man gezwungen, eine bestimmte Maske aufzusetzen. Das ist so, weil das System nach dem Prinzip, sich selbst zu nützen, gestaltet ist. Es wurde schon erwähnt, dass der Krieg die sozialen Masken gestaltet hat, aber es ist wichtig zu erwähnen, dass die internationalen Organisa tionen am Anfang eine reale Basis, eine Position in den aktuellen Umständen hatten und dass mit der Zeit diese Position irgendwie erschöpft worden ist. Das alles sagt uns, dass diese imagi nären Grenzen als die Basis der postapokalyp tischen Realität schon längst überwundene Geschichten, die mit der Konstruktion nationaler Identitäten zu tun haben, dermaßen „zementiert“ oder fixiert haben, dass organische Beziehungen in der Gesellschaft und zu anderen Gesellschaften aufgebraucht und zerstört worden sind. Alles ist auf ein absurdes Theater reduziert worden, auf die Existenz verschiedener Formen – wegen der Formen selbst und nicht wegen ihrer Funktion. Die Reise als Lesen (oder das innere Erlebnis) der postapoka lyptischen Realität ist eine Form von Öffnung hin zu einer nomadischen Form von Identität, das Gründen einer „heimatlosen“ Position. Dies ist auch gleichzeitig der einzige Weg, die Identität von beiden Seiten der imaginären Grenzen her zu erzeugen. Der Kulturtheoretiker Stuart Hall ist der Meinung, dass jede Identität an ihren Rändern einen Überschuss enthalte, ein „Zuviel“ von etwas. Die innere Hegemonie, die das Konzept Identität als Basis behandele, ist nicht organisch, sondern eine 42 Form des Schließens, die jede Identität als sein Anderes bezeichne, das Andere, das ihm fehle, auch wenn dieses Andere unaussprechlich ist. Eine ethnozentrische Perspektive auf Identität ist auf völlig falschen Fundamenten gegründet, auf einer unwahren Homogenität, d. h. sie kann als „tötende Identität“ klassifiziert werden, über die Amin Maalouf geschrieben hat. Ethnonatio nalismus ist also eine brutale Form des Verschließens, während alles, was dadurch Überschuss kreiert, ein traumatisches Erlebnis ist. Dieses Erlebnis macht es unmöglich, sich der Welt zu öffnen. Ethnonationalismus selbst basiert auf dem Sich-Einschließen in das traumatische Erlebnis. Alle sozialen Positionen in der postapokalyptischen Realität Bosnien und Herzegowinas sind von diesem traumatischen Erlebnis versklavt, während ein nomadisches Verständnis der Realität (die Kunst gehört hierhin) der einzige Weg ist, diesen ideologischen Kerker zu überwinden. Am Ende dieses Kapitels sollte klar sein, dass Kunst der Weg ist, die traumatischen Erlebnisse zu überwinden und zwar durch Öffnung nach außen und das Bauen von Brücken. Gleichzeitig ist es auch schwierig für Kunst, diese weitgehende soziale Bedeutung zu ummanteln. Es wurde schon beschrieben, inwiefern das Sozialleben ein Theater ist, ein Ausspielen von historischen Rollen (auf die Art, wie die Lüge zur Weltordnung gemacht wird, wie Kafka in „Der Prozess“ schreibt), aber auch, dass Kunst eine Spiegelung davon ist, und zwar so, dass die Masken das bedeutendste Merkmal sind. Ivo Andrić schrieb dazu : „ – Sehen sie, der Künstler ist eine verdächtige Figur, ein maskierter Mensch im Zwielicht, ein Reisender mit einem gefälschten Pass. Das Ge sicht unter der Maske ist wunderschön, sein Rang ist viel höher als in seinem Pass steht, aber wen interessiert es? Menschen mögen diese Ungewissheit nicht und deshalb bezeichnen sie ihn als verdächtig und doppelzüngig. Und wenn Zweifel einmal entstehen, gibt es keine Grenzen. Auch wenn der Künstler irgendwie dazu fähig wäre, sein wahres Ich der Welt zu zeigen, wer würde ihm glauben, dass dies sein letztes Wort ist ? Und wenn er auch seinen wahren Pass zeigen würde, wer würde ihm glauben, dass er nicht noch einen dritten in seiner Tasche hat? Und wenn er seine Maske abnehmen würde, weil er ernsthaft lachen möchte und wirklich sehen möchte, auch dann würde es Menschen geben, die ihn bitten würden, ganz ehrlich zu sein und diese letzte Maske loszuwerden, die der menschlichen so ähnlich ist. Das Schicksal des Künstlers ist, im Leben von einer Unwahrheit in die andere hineinzusteigen. Sogar auch die Friedlichen und Glücklichen, bei denen man dies am wenigsten merken kann, auch sie versuchen ruhelos, diese zwei unverbindlichen Enden zu verbinden. Als ich in Rom lebte, sagte mir ein Freund, ein Maler und ein Mystiker : Zwischen dem Künstler und der Welt existiert die gleiche Spalte wie zwischen der Ewigkeit und der Welt. Der erste Antagonismus ist nur ein 35 Symbol des zweiten.“ Lesen als Reisen in der postapokalyptischen Realität „Auch wenn das Buch auf den ersten Blick kein Reiseplan ist, enthält es dennoch eine Reise.“ Michel Butor („Reise und Schreiben“) Lesen ist eine Reise. Nachdem wir ein Buch gelesen haben, empfinden wir ein ähnliches Gefühl, wie wenn wir aus einem Zug aussteigen. Es ist auch eindeutig, dass ein wichtiger Teil des „Kennenlernens“ durch das Lesen verwirklicht wird. In der ex-jugoslawischen postapokalyptischen Realität ist nicht nur das „Selbstschreiben“ schwieriger geworden, sondern es ist auch unmöglich, die Erfahrung des Anderen zu „lesen“. Junge Schriftsteller aus Mostar sind den Lesern in Sarajewo und Banja Luka kaum bekannt, und genauso ist es auch umgekehrt. Ideologische Infrastrukturen blockieren sogar „das Kennenlernen durch Lesen“, das Formieren von kulturellen Beziehungen wird systematisch blockiert. Es gibt keinen Zweifel, dass das traumatische Erlebnis bei Schriftstellern unterschiedlich ist, je nachdem, ob sie in die postapokalyptische Realität in Banja Luka, Mostar oder Sarajewo „hineingewachsen“ sind. Eine wichtige Methode, dieses Erlebnis kennenzulernen, ist durch „Lesen als Reise“. Ich habe schon die Krise der Literatur erwähnt, d. h., dass es Literatur im eigentlichen Sinne kaum noch gibt. Dies gilt nicht für Schriftsteller der älteren und mittleren Generation, die ihre Perspektive auf die Realität schon in dem früheren System begründet haben oder für Schriftsteller, die sich an die Vorkriegszeit gut erinnern können. Die Krise der Literatur bezieht sich auf die jüngere Generation der Schriftsteller, d. h. diejenigen, die in die postapokalyptische Realität „hineingewachsen“ sind. Das ist eine Generation, für die der Krieg nicht mehr das Hauptthema sein sollte, sondern die Nachkriegszeit oder die postapokalyptische Realität. Solch eine Generation von Schriftstellern gibt es momentan gar nicht und die Gründe sind ziemlich klar. Diese jungen Schriftsteller haben eine beschränkte Möglichkeit, diejenigen kennenzulernen, die auf der anderen Seite der imaginären Grenze leben (und dieses Kennenlernen kann nicht durch die ideologische Darstellung in den Medien geschehen). In den vorangehenden Abschnitten habe ich schon besprochen, wieso wahre Literatur an Grenzen gegründet werden muss, d. h. wieso in ihr verschiedene Perspektiven auf die Realität, also verschiedene Erfahrungen, enthalten sein müssen. Da es in Bildungssystemen und anderen Systemen, die für die Gestaltung des Bewusstseins verantwortlich sind, solche Mechanismen nicht gibt, die ein solches Kennenlernen ermöglichen (diese Systeme sind sogar verantwortlich für die ideologische Indoktrination der jungen Leute), sind die Schriftsteller der jüngsten Generation gezwungen, alleine diese Mikrokosmen zu erreichen und dadurch andere kennenzulernen und /////////////////////////////////////////////////////////////////////////////////////////////////// 35 Übersetzung Natasha Nuhanović, zu finden im Buch „Wege, Gesichter, Landschaften“. 43 eine neue, gemeinsame Realität zu erschaffen. Das bedeutendste Unternehmen in Ex-Jugoslawien war die Zeitschrift „Sarajewoer Hefte“, mit regelmäßigen Ausgaben, die der jüngsten Schriftstellergeneration gewidmet waren (da durch bekamen alle die Möglichkeit, sich ge genseitig zu „lesen“, sich zu vergleichen, und somit auch eine neue Realität zu erschaffen, einfach dadurch, dass sie wussten, was die anderen machen). Es gibt immer noch einige Versuche, eine literarische Szene auf ex-jugoslawischer Ebene zu erschaffen (hier ist es notwendig, das poetische Projekt „Bundolo Offline“ zu erwähnen, zuerst von serbischen alternativen Dichtern in Bewegung gesetzt, bevor es sich anschließend bis nach Bosnien und Herzegowina und Kroatien verbreitete). Das Interessanteste an all diesen Versuchen ist die Abwesenheit von Hierarchien literarischer Werte, das Schreiben mit wenig Grundlage einer literarischen Tradition und auch die Anzahl der jungen Schriftsteller – in dem Sinne, dass viele junge Schriftsteller versuchen, sich mit mehr oder weniger Kontinuität in einer literarischen Form zu verwirklichen. Dies sagt uns, dass es immer noch keine literarische Szene gibt, die von der jüngsten Schriftstellergeneration gegründet ist und dass es immer noch keine optimale Form des literarischen Ausdrucks gibt, die die Transitionsrealität umfasst. Es ist auch wichtig zu betonen, dass alle diese Versuche außerhalb der ethnonationalistischen kulturellen Infrastrukturen entstehen. Um über diese ethnonationalistischen Kerker hinaus zu sehen, muss man einen gemeinsamen kulturellen Raum erbauen, wie auf ex-jugoslawischer Ebene, so auch im Rahmen des heutigen Bosnien und Herzegowina. In diesem Fall fällt ein großer Ballast auf die jüngste Generation der Schriftsteller, denn sie hat keine Möglichkeit, die „Zeit zu vergleichen“. Etwas ältere Schriftsteller wie Mehmed Begić, Marko Tomaš, Damir Šabotić und Tanja Stupar-Trifunović haben die Möglichkeit, die Vorkriegszeit, Kriegszeit und Nachkriegszeit zu vergleichen und somit ihre 44 Erfahrungen und die Literatur, die sie schreiben, auf Grenzen zu konstituieren, in diesem Falle auf zeitlichen Rissen. Im Gegensatz dazu sind die Schriftsteller der jüngsten Generation direkt in die schmalen und homogenen ethnonationalistischen Horizonte hineingewachsen. Sie haben den Auftrag, diese sozialen Bedingungen zu überwinden und eine neue geistige Realität zu erschaffen. Und dies ist nur möglich durch Lesen als Reise und Reise als Lesen. In dem vorangehenden Kapitel war die Rede davon, wie stark der Krieg die sozialen Masken beeinflusst hat. Es war auch davon die Rede, dass einige dieser sozialen Masken in der Kriegszeit einen realen Grund hatten zu existieren und mit der Zeit die Bedeutung verlieren. Nur diejenigen Generationen, die aktiv die ex-jugoslawische Apokalypse erlebt haben, können sich in Bezug zu dieser positionieren. Wenn wir uns bewusst sind, dass seitdem fast zwei Jahrzehnte vergangen sind, dass jetzt diejenigen volljährig sind, die sich gar nicht an den Krieg erinnern, dann müssen wir auch Folgendes betonen – Kriegsgeschichten sollten nicht für die jüngere Generation relevant sein, d. h. sie sollten sich nicht abhängig von diesen Geschichten positionieren. Ugo Vlaisavljević hat in dem Buch „Rat kao najveći kulturni dogad–aj“ („Krieg als das größte kulturelle Ereignis“) über die heliotropische und geotropische Phase der Ideologie geschrieben, in dem Sinne, dass Kommunismus in der ersten Phase heliotropische Merkmale hatte (d. h. einem heraufsteigen den Pfad glich im Sinne des kommunistischen Internationalismus) und dass dies jedoch eine Illusion war und der Pfad des kommunistischen Internationalismus geotropisch war (er beruhte auf Folklore) und Ethnonationalismus daher lediglich die letzte geotropische Phase des Kommunismus ist. Aufgrund dessen könnte man behaupten, dass alle Ideologien (mehr oder weniger) geotropisch sind, dass sie auf Folklore basieren, und dass ein wahrer heliotropischer Pfad im Geistigen zu finden ist, in der Kunst oder Philosophie – von hier erreicht die Gesellschaft wenigstens etwas von diesem heliotropischen „Licht“. Doch es ist auch nicht falsch zu behaupten, dass Kultur immer nach einer Utopie strebt und dass Realität etwas ganz anderes ist. Den Film „Opfer“ von Tarkowski könnte man auf eine ähnliche Weise interpretieren. In der letzten Szene liegt ein Junge unter einem gerade erst gepflanzten Baum, der sich am Strand befindet (der Junge hat diesen Baum schon eine lange Zeit gewässert). Der Junge sagt etwa das Folgende : „Am Anfang war das Wort. Wieso, Vater ?“ Daraufhin steigt die Kamera (mit Musik von Johann Sebastian Bach unterlegt) den Stamm entlang, nur um am Ende nackte Zweige zu entdecken und im Hintergrund das Meer. Eine Interpretation dieser Szene könnte so aussehen : Das, was der Junge ausspricht, ist eine Anspielung auf das Neue Testament – AM ANFANG WAR DAS WORT. Der Baum ist eine Repräsentation von allem, was sich aus diesem Wort entwickelt hat, die gesamte Kultur des Menschen, während das Meer im Hintergrund das Universum oder die Ewigkeit darstellt. Also ist das Bild des nackten Baumes das Bild der Menschheit mit dem Hintergrund als das Universum. Der Junge stellt seinem Vater eine Frage genau so, wie der Mensch sie Gott stellt. Dies hat Ähnlichkeit zu Andrić’ Aussage, dass Kunst ein Bauen von Brücken zwischen dieser und einer anderen Welt darstellt. Schlussfolgerung Am Ende ist wichtig, noch einige Schlussfolge rungen zum Thema „Literatur, Trauma, Grenze“ zu ziehen, sowie auch damit verbundene Themen zu erwähnen. Zuerst habe ich versucht, die Bedeutung der Sprache als etwas, in das jeder einzelne hineinwächst und etwas, was Realität formiert, zu betonen und zwar in dem Sinne, dass Sprache uns ein Gefühl von Angehörigkeit gibt, im Gegensatz zu vielen Formen des ideologischen Verständnisses von Heimat und dem häufigen Missbrauch, der dadurch entsteht. Eine ganz natürliche Fortsetzung dieser Problematisierung der Sprache kann man in der Beziehung zwischen der Erfahrung des Menschen (im weiteren Sinne) auf der einen Seite und auf der anderen Seite der Literatur als einer Form des menschlichen Erfahrens sehen. Die Hauptschlussfolgerung ist, dass Literatur keinen Wert hat, wenn sie nur für sich selbst existiert, d. h. wenn sie keinen direkten Einfluss auf das Leben der Menschen hat (wie es in der Prosa von Dževad Karahasan heißt – „Der Zweck der Kunst ist, uns die Kunst des Lebens beizubringen“). In unserer Zeit wird die Literatur sehr oft missbraucht (vor allem durch Ideologien oder Kapitalismus), und so kann sie ihren wahren Zweck nicht realisieren und wird zu einem Produkt oder einfach einer Höhle. All dies ist eine Einführung in die Beziehung zwischen Literatur und dem traumatischen Erleben in der postapokalyptischen Realität, in der wir leben. Traumatisches Erleben ist eine der fundamentalen Formen der menschlichen Erfahrung und ist auch sehr wichtig für die Literatur und das Sozialleben. Der Hauptunterschied zwischen diesen zwei Wegen, die traumatische Erfahrung zu behandeln, ist, dass Ideologien das traumatische Erleben missbrauchen, indem sie den traumatischen Zustand erneuern, während Literatur das Erleben öffnet und dem anderen darlegt, wodurch das Trauma zerbricht. Es ist ebenfalls wichtig, den Gegensatz zwischen der ideologischen und künstlerischen Betrachtungsweise der imaginären Grenzen zu erkennen. Für die Kunst sind die imaginären Grenzen eine Art von Fundament, eine Brücke, während diese Grenzen für die Ideologie eine Wand darstellen. Ich habe auch besprochen, wie die sozialen Masken, die auf Lügen gegründet sind, entstehen, alle diese Figuren, die in politischen, religiösen und medialen Machtzentren produziert werden (in unserer Gesellschaft geschieht das in der Form des grotesken ethnonationalistischen Theaters) – und diese Sozialmasken sind auf historischen und kollektiven Geschichten 45 gegründet, während Literatur die menschliche Erfahrung von falschen Schichten befreit und die individuelle Erfahrung betont. Im Falle der bosnisch-herzegowinischen Literatur besteht das Problem einer kleinstädtischen Mentalität, Literatur wird marginalisiert, was der Grund dafür ist, dass sie mit Platons Höhle verglichen werden kann. Die letzten zwei Kapitel bieten Lösungen, d. h. Wege, wie wir diese kleinstädtische Mentalität überwinden können sowie den ethnonationalistischen Blick auf die Welt und das Versklaven durch die traumatische Erfahrung. Wir können das alles überwinden, indem wir Reisen als Lesen und Lesen als Reise durch die postapokalyptische Realität betrachten. So ist es möglich, eine neue Realität zu bauen, die weitaus besser ist als die jetzige. In diesem Sinne war auch die Rede von der Verantwortung der jüngsten Generation, die in Sarajewo, Mostar, Banja Luka und anderen Städten an ihren Texten arbeitet. Es war die Rede von Problemen, die es – noch – unmöglich machen, eine neue künstlerische Form zu begründen, die unsere Transitionsrealität vollständig umfassen kann. // Aus dem Bosnisch-Kroatisch-Serbischen übersetzt von Natasha Nuhanović. 46 Über Poesie und Erinnerung /////////////////////////////////////////////////// Tanja Stupar-Trifunović Sibylla hat mich gebeten, etwas zum Thema „Poesie und Erinnerungen“ zu schreiben. Fast hätte ich gesagt : „Nema problema ! – Kein Problem !“, aber ich erinnerte mich, wie wir im letzten Sommer lachten, als sie mir ihre Beobachtung mitteilte, dass, wenn bei uns die Leute „Kein Problem“ sagen, eigentlich vom Gegenteil die Rede ist. On Poetry and Memories In her statement, the poet and journalist Tanja Stupar-Trifunović reflects the relationship bet ween poetry and memories from the perspective of a writer living in Bosnia and Herzegovina. The memory topic is a difficult one, as memories have been changed and influenced by the experience of war; and also by the suffering and the stories of other people. What makes the topic even more difficult is the fact that memories are never complete nor measurable. However, when it comes to writing her poems, the fact that her own memories resemble other people’s is important and productive. At a time when reliable interpretations of the latest history barely exist, Stupar-Trifunović claims that poetry delivers the “truest” history we have. Poems can sometimes even replace the homes which so many people have lost during the war (but this again is only a half-truth). Und wirklich entfalten sich – während ich versuche irgendetwas aufzuschreiben – vor meinen Augen all die Probleme, die mit diesem Thema verbunden sind. Soll ich über meine eigenen Erinnerungen schreiben oder über Erinnerungen als solche oder über gemeinsame Erinnerungen ? Welcher Zusammenhang besteht zwischen der Poesie und der Erinnerung, wieviele Erinnerungen enden in Strophen verpackt ? Wurden unsere Erinnerungen politisch beeinflusst, vernichtet, entstellt, wurde ihnen im vergangenen Krieg die Naivität geraubt ? Hat jede Generation, die einen Krieg überlebt hat, das Gefühl, die Welt sei böse und trügerisch und der Krieg habe ihre Erinnerungen verstümmelt ? Möchte ich überhaupt den Krieg lebendig halten oder über ihn hinwegsehen ? In meinen Gedichten jedenfalls – und das ist der Grund für meine Teilnahme an diesem Projekt über Erinnerungen – spreche ich einerseits über persönliche Erinnerung und andererseits gleichen und verflechten sich diese mit Geschichten über andere Flüchtlinge, über Gefallene, über Gewalt, über Zeugen, über uns alle und über die Welt, in der wir in einem Moment nicht gelebt haben, sondern der wir gegenüber standen … Und schließlich über das verlorene Haus, als Gespensterhaus, welches das Wiederauffinden verweigert. Denn das Heim wurde zum umherirrenden Nomadenlager, etwas Provisorisches, 47 etwas, was den Geist der Sicherheit und der Wärme verloren hat. In Gesprächen mit vie len Leuten, die aus ihren Häusern geflohen sind, habe ich bemerkt, dass sie das Gefühl für ihr Heim verloren haben, sie flattern umher wie Schmetterlinge primärer menschlicher Gegenstandslosigkeit. Und wo befindet sich da die Poesie? Vielleicht ist sie anstelle des Heimes da? Das klingt ein bisschen romantisch und pathetisch, wenn ich die Poesie in das Haus packe und mich in die Poesie. Es klingt dichterisch, aber nicht wahrhaftig. Das kann nur die Hälfte der Wahrheit sein. Es ist schön, manchmal ein Dichter zu sein. Aber wenn es schön ist, ist es nicht wahrhaftig, denn dann schauspielert man, sammelt den Applaus, spielt für das Publikum, fischt im Trüben … Wenn man schon mittendrin ist, kann man nicht darüber sprechen. Nicht jeder ist immer Dichter und manchmal sind alle Dichter. Im Grunde ist nur die Erinnerung an den Dichter möglich. Wenn wir schreiben, erinnern wir uns, mal ein Dichter gewesen zu sein. Oder besser gesagt, wir erinnern uns an tiefe und lebendige Erfahrung, daran, dass wir wie durch ein Wunder in sie eingetaucht sind und nun interpretieren wir diese Erfahrung anhand der Erinnerung. Wir verfrachten sie aus dem Inneren nach außen. Solche, die dies veranstalten, nennt man Dichter und das, was sie aufschreiben, nennt man Poesie. Deshalb ist das Thema „Poesie und Erinnerung“ gar nicht schlecht gewählt, denn diese beiden Begriffe sagen alles. Die Poesie ist die unendliche Erinnerung an den Funken des Lebens und dieser Lebensfunke vereint in sich alle menschlichen Erfahrungen und Vorstellungen. Die Poesie ist die wahrste Geschichte, die wir besitzen. Ein sensibles EKG der ganzen Menschheit. 48 Sibylla hat mich gebeten, etwas zum Thema „Poesie und Erinnerungen“ zu schreiben. Und das tue ich, auch wenn ich mir nicht sicher bin, ob man diesem Thema präzise Konturen verlei hen kann. Denn es unterliegt den Wirrungen und Spaltungen von Erinnerungen und der Un möglichkeit, alle Assoziationen zu erfassen, die die Erinnerung hervorrufen kann. Dieser Text ist auch nur ein kleiner Teil davon. // Aus dem Bosnisch-Kroatisch-Serbischen übersetzt von Elvira Omerika und Sibylla Hausmann. Das Haus Ich ging um das Haus zu sehen Im Krieg verwenden Dichter oft das Motiv des Hauses schrieb eine Kritikerin Das Haus ist groß und weiß die Sonne dringt ins Glas die Hitze brennt ich stehe vor dem Haus und weine Im Krieg war ich keine Dichterin sondern ein Kind das sein Haus verlor mir war überhaupt nicht traurig zumute zuerst freute mich die Veränderung eine andere Stadt andere Menschen die Verzweiflung der Eltern wunderte mich es gebe auch Häuser außer diesem Haus glaubte ich Ich redete Unsinn Erinnerungen werden von Häusern gehalten wie eine Kirsche von ihrem Stiel sie werden reif und man spuckt ihren harten Kern aus und isst das Schmackhafte Häuser sind nur trübe Moraste dunkle Flure Geister in der Flasche der wahre Ort der Seele ist die Kreuzung an der immerzu der Wind neuer Anfänge bläst Das ist ihr Haus sagt mein Mann zu unbekannten Leuten sie wundern sich und zucken mit den Schultern Mit den Jahren dachte ich immer mehr an das Haus Es erschien mir im Traum seine Flure seine Türen seine Fenster Es dauerte lange bis ich begriff dass ich wegen des Hauses unglücklich bin und dass ich nicht weiterleben kann ohne hinzugehen und mich neben ihm auszuweinen Hier hat sie mal gelebt sie will es nur sehen alles in Ordnung sie will nur das Haus sehen Ich betrachte das Haus Ein blonder Junge rennt an mir vorbei es ist mein Bruder es ist nicht mein Bruder mein Bruder ist jetzt ein Mann und lebt in einer anderen Stadt Das Haus ist ein Labyrinth ich darf es nicht betreten das leere Innere könnte mich ver schlingen ich betrachte es nur von außen es umarmt mich und stößt mich weg das ist mein Haus Wie alle Erinnerungen in ein paar Minuten Platz haben das Überspringen des Zauns der Gully neben der Wand die Garage der Brunnen der Pflaumenbaum ist kleiner geworden sage ich unter Tränen alles ist kleiner geworden ich bin ohne das Haus mit den weißen Wänden aufgewachsen Nie mehr möchte ich ein Haus haben wir kaufen eine Wohnung // Aus dem Bosnisch-Kroatisch-Serbischen übersetzt von Alida Bremer. 49 Biografien // Mladen Bundalo, geboren 1986 in Prijedor, BiH, lebt und arbeitet als Künstler in Brünn und Prijedor. Seit 2007 zahlreiche Ausstellungen und Preise – 2010 Finalist des Nachwuchspreises Zvono; 2011 Teilnehmer der Biennale du Film Exposé in Montreuil, Frankreich. 2010 nahm er am Projekt Invent | tura teil. // Igor Bošnjak, geboren 1981 in Sarajewo, BiH, lebt und arbeitet als Künstler, Kurator und Dozent in Trebinje, BiH. Sein umfangreiches Werk wurde in zahlreichen Ausstellungen gezeigt, wie in der SoloShow „Balcanication“, Sarajewo (2010) und mit Preisen ausgezeichnet, etwa als Finalist des Nachwuchspreises Zvono, 2010. Im gleichen Jahr nahm er am Projekt Invent | tura teil. // Wiebke Elzel, geboren 1977 in Hannover, lebt und arbeitet als Künstlerin in Berlin und Leipzig. Wichtige Auszeichnungen erhielt sie vom DAAD und der Kulturstiftung des Freistaates Sachsen (2009). 2010 realisierte sie die Solo-Show „For the Birds“ in Essen und beteiligte sich an der Show „The Disasters of Peace“ in Berlin. Im Oktober 2010 nahm sie am Residenzprojekt „Intrada, Modes of Speech“ in Banja Luka, BiH, teil. // Sibylla Hausmann, geboren 1979 in Wolfsburg, lebt als Autorin und Kulturmanagerin in Mostar, BiH. Als Stipendiatin der Robert Bosch Stiftung am Jungen Theater Mostar, führt sie seit 2009 landesweit zahlreiche Projekte, v. a. in den Bereichen Literatur und Theater durch. Als Autorin veröffentlichte sie Gedichte sowie literaturwissenschaftliche Beiträge in Zeitschriften und Anthologien sowie im Internet (www.liebeella.blogspot.com). Zusammen mit Karin Rolle konzipierte und leitete sie 2010 Invent | tura. 54 // Margret Hoppe, geboren 1981 in Greiz, lebt und arbeitet als Künstlerin in Leipzig. Ihr umfassendes Werk wurde mit zahlreichen Preisen, internationalen Ausstellungen und Residenzaufenthalten geehrt, wie dem Marion Emer Preis (2009), Gruppen-Shows in den Goethe-Instituten in Washington D. C. (2010) und Paris (2011), sowie dem Residenzaufenthalt an der Cité Internationale des Arts Paris (2010). Im März 2010 stellte sie in der Solo-Show „(After) Images of the City“ in Banja Luka aus. // Radenko Milak, geboren 1980 in Travnik, BiH, lebt und arbeitet als Künstler, Dozent und Leiter des Kunstvereins Protok, Zentrum für visuelle Kommunikation sowie der Biennale SpaPort in Banja Luka, BiH. Er erhielt zahlreiche Preise und beteiligte sich an internationalen Ausstellungen, zuletzt „Krieg . Kunst . Krise, Zeitgenössische Kunst in Bosnien und Herzegowina“ in Wien (2011). 2010 war er Teilnehmer des Projektes Invent | tura. // Borjana Mrd–a, geboren 1982 in Banja Luka, BiH, lebt und arbeitet als Künstlerin und Dozentin in Banja Luka, BiH. 2009 war sie Finalistin des Nachwuchspreises Zvono. 2010 beteiligte sie sich an der Show „ #5 Neunundneunzig“ in Berlin, 2011 an „Not So Distant Memory“ in New York. Im Oktober 2010 nahm sie am Residenzprojekt „Intrada, Modes of Speech“ in Banja Luka teil. // Jana Müller, geboren 1977 in Halle / Saale, lebt und arbeitet als Künstlerin in Berlin und Leipzig. Preise und Auszeichnungen erhielt sie vom DAAD für Produktionen in der Türkei (2007) und Italien (2009), der Kulturstiftung des Freistaates Sachsen (2009) und der Kunststiftung Sachsen-Anhalt (2009). Wichtige Ausstellungen sind „Süße Agonie“ in Essen (2009) und „The Disasters of Peace“ in Berlin 2010. Im Oktober 2010 nahm sie am Residenzprojekt „Intrada, Modes of Speech“ in Banja Luka teil. // Marko Raguž, geboren 1986 in Sarajewo, BiH, lebt ebendort als Autor, Literaturkritiker und Student der Vergleichenden Literaturwissenschaften. Seine Essays und Kritiken veröffentlichte er in Zeitschriften in Bosnien und Herzegowina und international. 2010 beteiligte er sich mit seinem Essay „Literatur, Trauma, Grenze“ (in diesem Band) am interdisziplinären Invent | turaProjekt. // Karin Gudrun Rolle, geboren 1981 in Zschopau. Studium der Kultur wissenschaften in Leipzig, Davis (USA) und Prag. Als Stipendiatin der Robert Bosch Stif tung am Zentrum für visuelle Kommunikation Protok, Banja Luka leitete sie zahlreiche Projekte in Mittel- und Südosteuropa. Publika tionen u. a. für die Zeitschrift Umělec (Berlin / Prag / London) und den Hörfunk (MDR, Figaro und Radio Prag). Zusammen mit Sibylla Hausmann konzipierte und leitete sie 2010 das Projekt Invent | tura. // Hana Stojić, geboren 1982 in Sarajewo, BiH, lebt heute als Übersetzerin und Kulturmittlerin wieder in ihrer Heimatstadt, nach Exilaufenthalt in Wien. Als Koordinatorin des südosteuro päischen Regionalbüros von „traduki“ setzt sie sich seit 2008 für die Förderung von Autoren aus Bosnien und den Nachbarländern sowie deren Übersetzung ins Deutsche ein. Sie übersetzte u. a. Elfriede Jelineks Roman „Die Liebhaberinnen“ und Saša Stanišićs „Wie der Soldat das Grammofon repariert“. Für ihre Arbeit erhielt sie mehrere Preise. // Tanja Stupar-Trifunović, geboren 1977 in Zadar, Kroatien, lebt und arbeitet als Journalistin und Dichterin in Banja Luka, BiH. Sie veröffentlichte seit 1999 mehrere mit Preisen ausgezeichnete Gedichtbände. Durch Übersetzungen in zahlreiche Sprachen international bekannt, trat sie 2010 auf dem „internationalen literatur festival berlin“ auf. Im Juni 2010 las und diskutierte sie zusammen mit Jan Wagner in Mostar. // Marko Tomaš, geboren 1978 in Ljubljana, Slowenien, lebt als Dichter, Journalist und Manager des alternativen Kulturzentrums OKC Abrašević in Mostar, BiH. Er veröffentlichte bisher fünf eigenständige Gedichtbände. Mit seinen poetischen Texten über die „Die vergessene Stadt“ Mostar beteiligte er sich am Invent | tura-Projekt. // Rebecca Wilton, geboren 1979 in Berlin, lebt und arbeitet als Künstlerin in Berlin und Leipzig. Sie erhielt zahlreiche Preise und Förderungen, wie das Stipendium der Bundesregierung für das Deutsche Studienzentrum in Venedig, Italien (2008) und Förderungen der Kulturstiftung des Freistaates Sachsen (2009). 2010 realisierte sie die Solo-Show „Queen of the Meadow“ im GoetheInstitut in Helsinki, 2011 die Gruppenausstellung „Recent Photography from Leipzig“ in New York. 2010 war sie Teilnehmerin des Projektes Invent | tura. // Jan Wagner, geboren 1971 in Hamburg, lebt und arbeitet als Dichter und Übersetzer in Berlin. Seit 2001 veröffentlichte Wagner vier eigenständige Gedichtbände, die viel beachtet und mit zahlreichen Preisen bedacht wurden. 2010 trat Wagner auf zwei bilingualen Leseabenden in Sarajewo und Mostar (BiH) auf. 55 Imprint Impressum This publication appears on the occasion of the project „Invent | tura – Mapping Territories and Histories“ Banja Luka – Mostar, April 1 – June 30, 2010 Die Publikation erscheint zum Anlass des Projekts „Invent | tura – Mapping Territories and Histories“ Banja Luka – Mostar, 1. April – 30. Juni 2010 // Project management Sibylla Hausmann, Karin Rolle // Konzept und Leitung Sibylla Hausmann, Karin Rolle // Contact sibylla.hausmann @ kulturmanager.net karin.rolle @ kulturmanager.net // Kontakt sibylla.hausmann @ kulturmanager.net karin.rolle @ kulturmanager.net // Panel April 22, 2010, Banja Luka Panelists : Sead Ðulić, Herbordt /Mohren, Danijela Majstorović, Radenko Milak, Rebecca Wilton // Konferenz 22. April 2010, Banja Luka Referenten : Sead Ðulić, Herbordt /Mohren, Danijela Majstorović, Radenko Milak, Rebecca Wilton // Exhibition, Readings May 24 – June 24, 2010, Banja Luka – Mostar Igor Bošnjak, Mladen Bundalo, Marko Raguž, Marko Tomaš // Ausstellung, Lesungen 24. Mai – 24. Juni 2010, Banja Luka – Mostar Igor Bošnjak, Mladen Bundalo, Marko Raguž, Marko Tomaš // Further artists and authors Wiebke Elzel, Margret Hoppe, Borjana Mrd–a, Jana Müller, Hana Stojić, Tanja Stupar-Trifunović, Jan Wagner // Weitere Künstler und Schriftsteller Wiebke Elzel, Margret Hoppe, Borjana Mrd–a, Jana Müller, Hana Stojić, Tanja Stupar-Trifunović, Jan Wagner // For the support of the project we would like to thank Robert Bosch Stiftung, Heinrich Böll Stiftung in Bosnia and Herzegovina, Goethe-Institut Bosnia and Herzegovina, Protok – Center for Visual Communication in Banja Luka, Mostar Youth Theatre, City of Banja Luka // Für die Unterstützung des Projekts danken wir Robert Bosch Stiftung, Heinrich Böll Stiftung in Bosnien und Herzegowina, Goethe-Institut Bosnien und Herzegowina, Protok – Zentrum für visuelle Kommunikation, Banja Luka, Junges Theater Mostar, Stadt Banja Luka Editors Design Cover Herausgeber Gestaltung Cover Sibylla Hausmann, Karin Rolle Anika Friedemann After a drawing by Borjana Mrd–a from the series «Cut out the moments», 2009 (See p. 10 & 17) Translations Alida Bremer, Sibylla Hausmann, Natasha Nuhanović, Elvira Omerika, Hana Stojić Proofreading Sibylla Hausmann, Karin Rolle (German), Jelena Bajić (English) Printed by Druckerei Friedrich Pöge, Leipzig Circulation 300 copies Übersetzung ISBN : 978-3-00-034380-3 ISBN : 978-3-00-034380-3 © 2011 The artists and authors. © 2011 Die KünstlerInnen und AutorInnen. Gefördert von : Korrektur Druck Auflage Sibylla Hausmann, Karin Rolle Anika Friedemann Nach einer Zeichnung von Borjana Mrd–a aus der Serie «Cut out the moments», 2009 (Siehe S. 10 & 17) Alida Bremer, Sibylla Hausmann, Natasha Nuhanović, Elvira Omerika, Hana Stojić Sibylla Hausmann, Karin Rolle (Deutsch), Jelena Bajić (Englisch) Druckerei Friedrich Pöge, Leipzig 300 Stück