Vertiefung
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Einleitung in das Neue Testament Vertiefung Einleitung in das Neue Testament Vertiefung Sommersemester 2013 1 Einleitung in das Neue Testament Vertiefung Übersicht I. §1 §2 II. §3 §4 §5 §6 III. §7 §8 §9 Die Voraussetzung: Das Wirken des Jesus von Nazareth Zur Geschichte des Problems des „Historischen Jesus“ Die Quellen der Rückfrage Stationen urchristlicher Geschichte Personen und Funktionen in der Urgemeinde Hebräer und Hellenisten Christliche Gemeinden außerhalb Jerusalems Die weitere Entwicklung bis zur Jahrhundertwende IV. §10 §11 Die synoptische Frage Ältere Lösungsversuche Alternativ-Modelle zur Zwei-Quellen-Theorie V. §12 §13 §14 Das Johannes-Evangelium Die Eigenart des JohEv Einleitungsfragen Zur Theologie des JohEv Die Briefe des Paulus Zum Problem der Pseudepigraphie Der Galaterbrief Der Römerbrief 2 Einleitung in das Neue Testament Vertiefung Phasen der Jesusforschung Die Anfänge • Hermann Samuel Reimarus unterscheid erstmals grundsätzlich zwischen der Lehre Jesu und derjenigen der Apostel. Jesus habe in Übereinstimmung mit den religiösen Überzeugungend es Judentums Moral und das Kommen eines messianisch-politischen Reiches verkündet (sein Werk wurde 1774-78 von G.E. Lessing anonym herausgegeben) • In seinem zweibändigen Werk „Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet“ (1835/36) griff David Friedrich Strauß die Differenz zwischen Jesus und Urchristentum auf. Der Christusglaube ist für ihn letztlich zurückzuführen auf Ideen, die die Vernunft vom Verhältnis des Menschen zu Gott hat. Liberale Leben-Jesu-Forschung (19. Jh.) Der Versuch, ein Leben Jesu zu schreiben, führte zur Gestaltung des Jesus-Bildes nach dem je eigenen Persönlichkeitsideal des Forschers. Die Lücken, die die Quellen ließen, wurden aktualisiert entsprechend den Moralvorstellungen des 19. Jh. Die „Neue Frage“ nach dem historischen Jesus suchte nach dem historischen Jesus unter Berücksichtigung des Charakters der Quellen: man unternahm nicht mehr den Versuch, ein Leben Jesu im Sinne einer Biographie zu schreiben, sondern strebte eine Rekonstruktion der wesentlichen Elemente des Wirkens Jesu an. Durch den Glauben der Gemeinde hindurch kann man zum Jesus der Geschichte vorstoßen. 3 Einleitung in das Neue Testament Vertiefung Die „dritte Runde“ der Rückfrage („third quest“) (1) Loslösung der Jesusforschung von theologischen Fragen: Es geht nicht mehr darum, das Bekenntnis zu Jesus Christus beim geschichtlichen Jesus zu begründen. (2) Einbeziehung sozialgeschichtlicher und Öffnung für interdisziplinäre Fragen. (3) Einordnung Jesu in das Judentum. (4) Erweiterung und Verfeinerung der Quellenbasis mit der Berücksichtigung auch nicht-kanonischer Quellen. (5) Abschied vom Differenzkriterium als methodischer Grundlage der Rückfrage. Zur Kritik an der Etablierung der „dritten Runde“ • Nicht alles, was als Neuheit angepriesen wird, ist grundlegend neu (Einordnung Jesu ins Judentum; Kriterien). • Verfeinerungen der Methode (in der Aufnahme sozialgeschichtlicher Fragen) begründen keine neue Forschungsphase. • In der Quellenfrage ist kein Konsens zu entdecken, der die neuen Arbeiten zu einer eigenen Phase bündeln könnte. • Die Behauptung, losgelöst von theologischen Fragen nun historische Jesusforschung im eigentlichen Sinn zu betreiben, nährt den Verdacht, dass das Etikett „third quest“ die eigene Position bestärken soll. • Die „dritte Runde“ lässt sich forschungsgeschichtlich nicht klar abgrenzen. 4 Einleitung in das Neue Testament Vertiefung Fazit: Sicher hat die Jesusforschung in den letzten zwei bis drei Jahrzehnten wichtige neue Impulse erhalten; die grundlegenden Einsichten der „neuen Frage“ sind aber nach wie vor gültig. Eine neue Phase wäre erreicht, wenn sich das Konzept des „erinnerten Jesus“ durchsetzen sollte: Der Jesus der Geschichte ist nicht hinter den Quellen zu suchen, vergangene Wirklichkeit lässt sich nicht wiederherstellen. Zugänglich ist Jesus nur in den Erzählungen der Evangelien, die als Geschichtskonstruktionen ernst zu nehmen sind. Sie sind als Wirkungen der Ereignisse zu begreifen, auf die sie sich beziehen (Jens Schröter, James Dunn). Das Neue läge in der Einschätzung, dass die Suche nach ursprünglichen Schichten der Jesusüberlieferung aufzugeben ist. Problem: Eine kontrollierte Methode, wie unter dieser Voraussetzung ein Bild vom historischen Jesus zu gewinnen ist, zeichnet sich derzeit noch nicht ab. Die Zukunft dieses Konzepts ist offen. 5 Einleitung in das Neue Testament Vertiefung Nichtchristliche Quellen zur historischen Rückfrage Tacitus, Annales XV,44 Der Name des Christentums „stammt von Christus, der unter Tiberius vom Prokurator Pontius Pilatus hingerichtet worden war“. Sueton, Claudius 25 Sueton berichtet von der Vertreibung der Juden aus Rom unter Kaiser Claudius (das sog. „Claudiusedikt“) und führt als Begründung an, die Juden hätten „auf Antrieb eines Chrestos fortdauernd Unruhe gestiftet“. Rabbinische Texte Entstanden im Rahmen der Auseinandersetzung mit dem Christentum, verwerten die Äußerungen über Jesus keine zusätzlichen Quellen. Mara bar Sarapion Der Brief des Syrers Mara bar Sarapion wird bisweilen in die 70er Jahre des 1. Jh. datiert. „Was hatten die Juden von der Hinrichtung ihres weisen Königs, da ihnen von jener Zeit an das Reich weggenommen war?“ Wahrscheinlich hat Mara seine Kenntnisse über Jesus aus dem syrischen Christentum, denn er bezeugt eine Abhängigkeit von der innerchristlichen Perspektive. 6 Einleitung in das Neue Testament Vertiefung Flavius Josephus, Antiquitates XVIII 63f/3,3 Um diese Zeit lebte Jesus, ein weiser Mensch, wenn man ihn denn überhaupt einen Menschen nennen darf. Er vollbrachte nämlich ganz erstaunliche Taten und war Lehrer aller Menschen, die mit Freuden die Wahrheit aufnahmen. So zog er viele Juden und auch viele Heiden an sich. Er war der Messias. Und obwohl ihn Pilatus auf Betreiben der Vornehmsten unseres Volkes zum Kreuzestod verurteilte, wurden doch seine früheren Anhänger ihm nicht untreu. Denn er erschien ihnen am dritten Tage wieder lebend, wie gottgesandte Propheten dies und tausend andere wunderbare Dinge von ihm vorherverkündigt hatten. Und noch bis auf den heutigen Tag besteht das Volk der Christen, die sich nach ihm nennen, fort. 7 Einleitung in das Neue Testament Vertiefung Flavius Josephus, Antiquitates XVIII 63f/3,3 – ursprüngliche Form Um diese Zeit lebte Jesus, ein weiser Mensch, Er vollbrachte nämlich ganz erstaunliche Taten und war Lehrer aller Menschen, die mit Freuden die Wahrheit aufnahmen. So zog er viele Juden und auch viele Heiden an sich. Und obwohl ihn Pilatus auf Betreiben der Vornehmsten unseres Volkes zum Kreuzestod verurteilte, wurden doch seine früheren Anhänger ihm nicht untreu. Und noch bis auf den heutigen Tag besteht das Volk der Christen, die sich nach ihm nennen, fort. → Außerdem findet sich eine kurze Notiz in Ant. XX 200/9,1: Der Hohepriester Hannas II. ließ Jakobus, „den Bruder Jesu, des sogenannten Christus“ hinrichten. Josephus bietet keine nähere Erläuterung zu Jesus. Dies wäre schwer erklärlich, wenn er an dieser Stelle zum ersten Mal von Jesus sprechen würde – ein Argument für die Ursprünglichkeit der Passage in Buch XVIII. 8 Einleitung in das Neue Testament Vertiefung Christliche Quellen zur historischen Rückfrage I – Neues Testament Synoptische Evangelien Sie sind die wichtigste Quelle für die Rückfrage nach Jesus. Zu beachten ist die gegenseitige literarische Abhängigkeit, so dass folgende Bereiche vorrangig historisch auswertbar sind: →Mk, Logienquelle Q, Sondergut von Mt und Lk. Johannes-Evangelium Es ist noch stärker als die ersten drei Evangelien von theologischer und christologischer Reflexion geprägt. Dennoch kann das JohEv in Einzelfragen zu den äußeren Daten des Lebens und Wirkens Jesu Quellenwert besitzen. Neues Testament außerhalb der Evangelien Jesusüberlieferung außerhalb der Evangelien wird im NT nur an drei Stellen angeführt (Apg 20,35; 1Thess 4,15; 1Kor 7,10). Auch für den Fall, dass es sich um echte Jesusworte handeln sollte, wird unser Wissen über Jesus dadurch nicht wesentlich erweitert. 9 Einleitung in das Neue Testament Vertiefung Christliche Quellen zur historischen Rückfrage II – Außerkanonisches Agrapha Unter „Agrapha“ versteht man einzelne Jesusworte, die nicht im NT überliefert und vor allem bei den Kirchenvätern zu finden sind. Für sie gilt dieselbe Einschätzung wie für die ntl Jesusüberlieferung außerhalb der Evangelien. Nichtkanonische Evangelien Manche Jesusforscher schreiben diesen Evangelien oder den Traditionen, die sie verarbeiten, Quellenwert für die historische Rückfrage zu. Sieht man von Extrempositionen ab (z.B. J.D. Crossan), beschränkt sich die Diskussion fast ausschließlich auf das Thomas-Evangelium. Es kann aber schon aufgrund des begrenzten Materials in der historischen Rückfrage nicht wirklich mit den synoptischen Evangelien konkurrieren. In ihm sind 114 Sprüche zusammengestellt, die einfach durch „Und Jesus sprach“ aneinandergereiht sind – ohne erzählerischen Rahmen. Das Werk ist wahrscheinlich in einer ersten Form im 2. Jh. entstanden und hat erkennbar eine Entstehungsgeschichte durchlaufen. Es könnte durchaus einzelne alte Sprüche aufbewahrt haben. Neben Material, das in der Nähe zur synoptischen Tradition steht, gibt es auch Sprüche, die dieser fremd sind und eher gnostischen Charakter tragen. 10 Einleitung in das Neue Testament Vertiefung Personen und Funktionen in der Urgemeinde Petrus und die „Zwölf“ • Sie hatten leitende Funktion, die sich nicht näher bestimmen lässt • Die Zwölf repräsentieren das Gottesvolk, das endzeitlich wiederhergestellt werden sollte. • In der Apg verliert sich die Spur der „Zwölf“. Die besondere Bedeutung dieses Kreises hat wahrscheinlich nicht allzu lang bestanden; sie war zu sehr an eine Symbolik gebunden, die nur im jüdischen Rahmen verständlich war. Die Apostel • Nur für Lukas sind die Apostel mit den Zwölf identisch; ursprünglich ist der Begriff weiter verstanden worden (vgl. 1Kor 15,3-5; Gal 1,19). • „Apostel“ bedeutet „Gesandter“: Aufgabe der Apostel ist die missionarische Verkündigung. 11 Einleitung in das Neue Testament Vertiefung Einzelpersonen • Johannes, Sohn des Zebedäus: in den Anfangsteilen der Apg spielt er eine große Rolle (Apg 3,1ff; 4,13ff; s.a. Gal 2,9). Seine Spur verliert sich wie die des Zwölferkreises. • Jakobus, Bruder des Herrn: nach der Apg hatte er eine führende Stellung auf dem Apostelkonzil; Paulus nennt ihn als eine der drei Säulen der Gemeinde (Gal 2,9); „Leute des Jakobus“ stiften in Antiochia Unruhe (Gal 2,12); in den frühen sechziger Jahren wurde Jakobus hingerichtet. • Josef Barnabas: In Apg 4,36f ist Personaltradition zu ihm überliefert; er war Abgesandter Jerusalems in Antiochien (Apg 11,22), unternahm mit Paulus eine Missionsreise von Antiochien aus (Apg 13f), war Abgesandter Antiochiens beim Apostelkonzil (Apg 15,2; Gal 2,1); später kam es zum Zerwürfnis mit Paulus (Gal 2,11-14; anders in Apg 15,36-39). 12 Einleitung in das Neue Testament Vertiefung Hebräer und Hellenisten Hebräer Der Ausdruck bezieht sich auf aramäisch sprechende Judenchristen aus Palästina. Hellenisten Der Begriff bezeichnet in diesem Fall griechisch sprechende Judenchristen, die ursprünglich aus der Diaspora stammten. (1) Apg 6 bezeugt einen Konflikt zwischen beiden Gruppen, Grund: Missstände bei der Witwenversorgung. Diese Angabe bedeutet wohl eine Verschiebung des Konflikts, denn: zwei der sieben Diakone, die angeblich für den Tischdienst bestellt werden, treten in der Folge als Verkünder auf (Stephanus, Philippus). (2) Außerdem zeigen die beiden Missionare ein bestimmtes Profil: • Stephanus gerät in einen tödlichen Konflikt mit der jüdischen Obrigkeit (Apg 6,8ff). • Nach Apg 11,20 ging die Heidenmission von jenen Diaspora-Judenchristen aus, die im Zuge der Verfolgung nach der Hinrichtung des Stephanus aus Jerusalem geflohen waren. • Philippus missioniert in Samaria, verlässt so die Grenzen des Judentums (als Heiden galten die Samaritaner aber nicht). 13 Einleitung in das Neue Testament Vertiefung Die Hellenisten zogen aus der Christusbotschaft Konsequenzen, die für fromme Juden problematisch sein konnten. Diese Konsequenzen haben wohl, ansetzend am Bekenntnis zum Sühnetod Jesu, den Tempelkult und damit auch die Tora relativiert. Wie weit die Hellenisten in diesem Punkt gingen, lässt sich kaum noch rekonstruieren; doch offensichtlich wurde eine kritische Marke überschritten. (3) Dann dürfte der Konflikt mit den „Hebräern“ eher um eine theologische Frage gegangen sein: toratreue Judenchristen nahmen an den Positionen der „Hellenisten“ Anstoß. Es musste noch darum gerungen werden, welche Konsequenzen aus dem Bekenntnis zu Tod und Auferweckung Jesu zu ziehen waren. 14 Einleitung in das Neue Testament Vertiefung Christliche Gemeinden außerhalb Jerusalems • Aus Apg 9 und Gal 1,17 lässt sich schließen, dass es in Damaskus eine Christengemeinde gegeben haben muss. > • Über die Ursprünge der Gemeinde von Rom wissen wir nichts. Sie muss in den 40er Jahren schon bestanden haben (das Claudius-Edikt bezieht sich wohl auf einen Streit in der jüdischen Gemeinde um die Christusverkündigung). Paulus jedenfalls hat sie nicht gegründet. > • Am bedeutendsten war neben der Urgemeinde von Jerusalem die Gemeinde von Antiochien in Syrien. > - Von ihr ging nach Apg 11,20 die Heidenmission aus. - Die „erste Missionsreise“ des Paulus mit Barnabas erfolgt im Auftrag dieser Gemeinde (Apg 13f). - Sie sendet Barnabas und Paulus zum Apostelkonzil. Das Ergebnis wird nach Apg 15,22-30 der antiochenischen Gemeinde in einem Brief mitgeteilt. - Der wirkungsvollste Missionar des Urchristentums, Paulus, wurde in der Gemeinde von Antiochien geprägt. 15 Einleitung in das Neue Testament Vertiefung Ausbreitung Im Einflussbereich paulinischer Mission • Briefe aus späterer Zeit an Gemeinden, die Paulus gegründet hat: – 1. Clemensbrief: aus Rom nach Korinth – Polykarp von Smyrna schreibt an die Gemeinde von Philippi. – Der 1. Petrusbrief wendet sich u.a. an Christen in Galatien. Es wird z.T. ausdrücklich erwähnt, dass schon Paulus an die Adressaten geschrieben hat. Die Kontinuität zur Frühzeit wird also bewusst wahrgenommen. • Briefe an Gemeinden im paulinischen Missionsgebiet, zu denen eine Gründung durch Paulus nicht bezeugt ist: – Kolosserbrief – Briefe des Ignatius von Antiochien sowie die Sendschreiben der Offenbarung des Johannes an Gemeinden in Kleinasien (Ephesus, Philadelphia, Smyrna – diese drei sowohl in Ign als auch in Offb –, Magnesia, Tralles, Pergamon, Thyatira, Sardes, Laodizea). – Die Pastoralbriefe (1/2Tim, Tit) bezeugen die Verbindung mit Ephesus, außerdem christliche Gemeinden auf Kreta. – Der 1. Petrusbrief ist an Christen in verschiedenen Provinzen Kleinasiens gerichtet (Pontus, Kappadokien, Asia, Bithynien; dazu auch Galatien, s.o.). 16 Einleitung in das Neue Testament Vertiefung Antiochien Ob um die Jahrhundertwende die Gemeinde von Antiochien durch die Briefe ihres Bischofs Ignatius bezeugt ist, hängt von der Authentizität der sieben Briefe ab, die unter seinem Namen überliefert sind. Dies ist umstritten. Es gibt gute Gründe für die Annahme, dass diese Briefe erst aus der Mitte oder der zweiten Hälfte des 2. Jh.s stammen. Auch in diesem Fall wäre freilich zu folgern, dass die antiochenische Gemeinde in Kleinasien bekannt gewesen sein muss. Rom Der 1. Clemensbrief (s.o.) ist Ende der 90er Jahre in Rom geschrieben. Zwar will der Brief Missstände in der Gemeinde von Korinth beheben; dennoch ist kein Anspruch auf eine Vorrangstellung unter den christlichen Gemeinden zu erkennen. 17 Einleitung in das Neue Testament Vertiefung Zur Entwicklung der Gemeindestrukturen Paulus bezeugt in 1Kor 12 ein charismatisches Gemeindemodell: alle bringen ihre Gabe zum Aufbau der Gemeinde ein. Es gibt zwar auch das Charisma des Leitens (1Kor 12,28; s.a. 1Thess 5,12); doch ist damit noch keine feste Ämterstruktur verbunden, auch keine herausgehobene Position gegenüber der Gemeinde. Die Pastoralbriefe stellen dagegen den Amtsträger als Leiter der Gemeinde in den Vordergrund. Genannt werden drei Ämter: Episkopos (Bischof), Presbyter (Älteste), Diakone. Wahrscheinlich favorisiert der Verfasser den einen Episkopos als Leiter der Gemeinde. • Die Gemeinde wird geordnet nach dem Modell des antiken Hauses: An der Spitze steht der Gemeindeleiter, der wie ein guter Hausvater für die Seinen sorgt. Er hat allein das Sagen, die anderen müssen sich ihm unterordnen. Der Gemeinde kommt also nur noch eine passive Rolle zu. • Durch dieses patriarchale Modell werden vor allem Frauen aus leitenden Funktionen zurückgedrängt. Am deutlichsten wird dies in der Argumentation aus Schöpfung und Sündenfall (1Tim 2,11-15), aber auch in den Ausführungen zum Witwenamt (1Tim 5,3-16) und in der Charakterisierung der Frauenrolle in Tit 2,3-5. 18 Einleitung in das Neue Testament Vertiefung Die Gemeindeordnung der Pastoralbriefe erklärt sich vor allem aus zwei Motiven heraus: • Es geht um die Absetzung von gnostischen Vorstellungen über die Rolle der Frauen in der Gemeinde. Die Past propagieren eine Rolle, die den Vorstellungen der bekämpften Gegner unmittelbar widerspricht (s. 1Tim 4,3). • Der Anpassungsdruck im Blick auf die hellenistische Umwelt hat zur Übernahme der gesellschaftlich sanktionierten Rollenmuster geführt: Es wird unterschieden zwischen „drinnen“ und „draußen“ (Tit 2,8); man will ungestört leben in einer Welt, die von den Mächten „draußen“ bestimmt wird (1Tim 2,2); das Augenmerk ist sehr stark auf das Urteil von außen gerichtet (1Tim 3,7; 5,14; 6,1Tit 2,5). Presbyter Außerhalb der Pastoralbriefe begegnen Amtsträger im Neuen Testament nur als Presbyter, und zwar im 1Petr, dem Jak und der Apg, außerdem auch im 2/3Joh, in der Selbstbezeichnung des Absenders (Paulus kennt die Begriffe Diakon [Röm 16,1] und vielleicht auch Episkopos [Phil 1,1] – jedoch nicht als Amtsbezeichnung im eigentlichen Sinn). • 1Petr 5,1-4 enthält eine Mahnung an Presbyter im Bildfeld von Hirte und Herde. Genaueres über Aufgaben und Kompetenzen der Presbyter erfahren wir nicht. Über die Angabe „pastorale Leitungsfunktion“ kommt man kaum hinaus. 19 Einleitung in das Neue Testament Vertiefung • Jak 5,14 nennt Presbyter im Zusammenhang der Krankensalbung. Sie erscheinen als Gremium; über ihre Kompetenzen wird nichts deutlich. • Die Apostelgeschichte erwähnt am häufigsten Presbyter. Dabei dürfte der Autor die Gegebenheiten seiner Zeit in die Darstellung der Urgemeinde und der paulinischen Mission rückdatieren. Gemeindestruktur im Umbruch: die Didache Diese Gemeindeordnung aus Syrien (gewöhnlich um 100 datiert) zeigt, dass sich die Strukturen im Umbruch befinden. • Es wird die Gemeinde als ganze angesprochen, eine Hierarchie ist nicht erkennbar. • Es gibt aber Funktionsträger, und die Art, wie von ihnen gesprochen wird, zeigt die Umbruchssituation. – „Apostel und Propheten“ kommen von außen in die Gemeinde, halten sich dort kurz auf und ziehen dann weiter. Sie werden nicht von der Gemeinde bestimmt. Es handelt sich um charismatische Funktionen, die nicht einfach reproduzierbar sind. So können sich Propheten auch in der Gemeinde niederlassen und werden dann von der Gemeinde unterhalten. Doch heißt es hierzu: „Wenn ihr keine Propheten habt, gebt den Armen“ (Did 13,4). – „Bischöfe und Diakone“ werden dagegen von der Gemeinde gewählt. Sie leisten auch den Dienst von Propheten und Lehrern (15,1). 20 Einleitung in das Neue Testament Vertiefung Merkmale pseudepigraphischer Paulus-Briefe Unter Pseudepigraphie versteht man die fälschliche Zuschreibung eines literarischen Werkes an eine bestimmte Person, der gewöhnlich besondere Autorität zukommt. Folgende Merkmale können auf solche Abfassungsverhältnisse deuten: → Geänderte geschichtliche Situation Beispiel Pastoralbriefe: • Gemeindeordnung: Ämterordnung in den Past; charismatische Struktur bei Paulus. • Gegnerische Positionen: Eine judenchristlich bestimmte Frühform der Gnosis passt nicht in die Zeit des Paulus. • Biographische Angaben zu Paulus scheinen z.T. unvereinbar mit den bekannten Lebensdaten. → Unterschiede in der Theologie Beispiel Kolosserbrief: • Die Christologie wird in kosmischer Bedeutung entfaltet (2,9f). • In der Ekklesiologie zeigt sich eine andere Ausrichtung der Leib-Christi-Vorstellung mit der Bezeichnung Christi als Haupt. • Eschatologie: Die Hoffnung richtet sich räumlich nach oben, nicht zeitlich in die Zukunft; die Glaubenden sind durch die Taufe mit Christus gestorben und auferweckt (anders: Röm 6,4f). 20 Einleitung in das Neue Testament Vertiefung → Unterschiede in Sprache und Stil Beispiel Epheserbrief; Pastoralbriefe: • Begriffe, die in den unumstritten echten Paulusbriefen nicht erscheinen, prägen die Theologie des Eph (z.B. geistlicher Segen, Nachlass der Übertretungen, der Vater der Herrlichkeit). • Begriffe erhalten einen anderen Sinn als in den unumstritten echten Paulusbriefen (etwa „Glaube“ in den Pastoralbriefen). • Der Stil der Auseinandersetzung mit Gegnern ist in den Pastoralbriefen anders (scharfe Abgrenzung, nicht inhaltliche Argumentation). 21 Einleitung in das Neue Testament Vertiefung Bewertung der Pseudepigraphie I – Hintergründe Warum entstanden pseudepigraphische Briefe? Die ntl Pseudepigraphen sind entstanden in einer „Epoche des Umbruchs und der Neuorientierung“ (U. Schnelle): die Gründungsgeneration war gestorben, feste Strukturen waren noch nicht entwickelt; neue Fragen kamen auf, die von den überkommenen Traditionen her nicht zu beantworten waren (Loslösung vom Judentum, Parusieverzögerung, Verfolgungen, Streit um die Lehre). In dieser Situation der Autoritätskrise waren nur die Größen der Anfangszeit unumstritten. Im Hintergrund steht ein Verständnis von Wahrheit, nach dem Wahrheit mit Alter verbunden ist. Die Vergangenheit wird begriffen als „normative Vergangenheit“ (N. Brox). Im frühen Christentum kommen als Ursprungsgrößen nur die Apostel in Frage. So soll die Pseudepigraphie das gegenwärtig als wahr Erkannte, um dessen Relevanz zu sichern, als Wahrheit des Ursprungs erscheinen lassen. Im Blick auf das Corpus Paulinum könnten zwei Faktoren das Aufkommen der Pseudepigraphie begünstigt haben: (1) Der brieftheoretische Grundgedanke, dass der räumlich getrennte Partner durch den Brief anwesend ist, musste nur auf die zeitliche Dimension übertragen werden. (2) Dass Mitarbeiter des Paulus als Mitabsender seiner Briefe fungierten, konnte die Idee bestärken, in seinem Namen Briefe zu schreiben. 23 Einleitung in das Neue Testament Vertiefung Bewertung der Pseudepigraphie II – moralische Dimension Zur moralischen Rechtfertigung der Pseudepigraphie • Die Fälschung war in der Antike als literarisches Mittel verbreitet, aber keineswegs problemlos akzeptiert. • In der Alten Kirche wurde über die Rechtfertigung von Pseudepigraphie nicht debattiert. Weder pseudepigraph schreibende Autoren noch sonst jemand hatte ein Interesse an einer solchen Diskussion. • Nur in einem Fall gibt ein altkirchlicher Autor unmittelbar über seine Motive zur Verwendung eines falschen Namens Auskunft: Salvian von Marseille (5. Jh.). - Pseudepigraphe Abfassung streitet er ab: Es sei ihm nicht darum gegangen, sein unter dem Namen „Timotheus“ geschriebenes Werk dem Paulusschüler zuzuschreiben; vielmehr habe er darauf angespielt, die Bücher zur Ehre Gottes geschrieben zu haben (time = Ehre; theos = Gott). - Das entscheidende Motiv für die Verwendung des falschen Namens ist die literarische Wirkung: Ein unbekannter Autor wird nicht gelesen. - Salvian stellt sich als „Skrupulant der Wahrhaftigkeit“ dar (N. Brox) – möglicherweise auch, weil er unter Rechtfertigungsdruck stand. Immerhin gibt er einen Ansatzpunkt für das Urteil, ein im Geist eines anderen geschriebenes Werk könne diesem zugeschrieben werden (ausdrücklich sagt er das aber nicht). 24 Einleitung in das Neue Testament Vertiefung • Es gab in der patristischen Tradition die (umstrittene) Überzeugung, Lüge und Täuschung könne gerechtfertigt sein, wenn dies zum Heil der Getäuschten dient (ansetzend an der „Medizinerlüge“ Platons und an biblischen Beispielen). Dieser Gedanke ist auf die Pseudepigraphie nicht ausdrücklich angewendet worden. Doch könnte er den Schlüssel für die Frage liefern, wie ein pseudepigraph schreibender Autor, der täuschen wollte, sein Unternehmen rechtfertigen konnte (N. Brox). 25 Einleitung in das Neue Testament Vertiefung Galaterbrief I – Historische Verortung Verfasser, Zeit und Ort der Abfassung • Die Abfassung durch Paulus ist unbestritten. • Der Gal dürfte nach dem 1Kor geschrieben sein: Er nennt die Kollektenvereinbarung auf dem Apostelkonzil (2,10), im Brief selbst ist aber nicht die Rede von der Kollekte; sie dürfte also abgeschlossen sein. Nach 1Kor 16,1 scheint dies noch nicht der Fall zu sein. Wie groß die Zeitspanne zwischen beiden Briefen ist, lässt sich nicht mehr näher bestimmen. In Frage kommen die Jahre 54-55/56; in jedem Fall ist der Gal vor dem Röm entstanden. • Der Ort ergibt sich aus der Abfassungszeit. Wer den Brief näher an den 1Kor rückt, nimmt Ephesus an; denkbar ist auch Makedonien oder eine Station auf der Reise von Ephesus nach Makedonien. Adressat(en) • Der Brief richtet sich an die „Gemeinden der Galatia“. Die Deutung des Ausdrucks ist strittig: – Die Landschafts- oder nordgalatische These bezieht den Begriff „Galatien“ nur auf einen Teil der Provinz, die im Norden gelegene Landschaft Galatien. – Die Provinz- oder südgalatische These deutet auf die römische Provinz Galatien, die auch die Landschaften Pisidien, Lykaonien und Isaurien einschließt. > 26 Einleitung in das Neue Testament Vertiefung Das Argument, Bewohner der Provinz hätten sich kaum von der Bezeichnung „Galater“ angesprochen gefühlt, lässt sich wohl nicht aufrechterhalten: Auch für die Bevölkerung im Norden der Provinz ist kein überwiegend keltisch bestimmter Anteil nachzuweisen (P. Pilhofer). Für die südgalatische These wird angeführt, dass für diesen Raum in Apg 13f Gemeindegründungen belegt sind. Aber: – Sollte Paulus in der Zeit seiner selbständigen Mission der entscheidende Ansprechpartner für Gemeinden aus seiner antiochenischen Zeit sein? – Warum erwähnt Paulus beim Rückblick in 1,21 nicht ausdrücklich die Gründung der Adressatengemeinden, die in diese Zeit gefallen sein müsste, wenn die südgalatische These zutrifft? So bleibt eine Entscheidung schwierig. Aufgrund der zuletzt genannten Einwände könnte sich ein leichtes Plus für die nordgalatische These ergeben. • Die galatischen Gemeinden waren heidenchristlich, wie sich aus dem Grundproblem ergibt, das Paulus im Gal behandelt. • Wann die Gemeinden gegründet wurden, ist nicht sicher zu entscheiden: entweder noch vor der Europa-Mission (s. Apg 16,6) oder auf der „dritten Missionsreise“ von Ephesus aus (s. Apg 18,23). 27 Einleitung in das Neue Testament Vertiefung Anlass und Zweck • Paulus hat von dem Wirken judenchristlicher Missionare gehört: Sie verlangen von den Galatern die Verpflichtung auf die Tora. Außerdem wurde wohl die Autorität des Paulus als Apostel in Zweifel gezogen. • Paulus antwortet mit dem biographischen Rückblick in Gal 1f und theologischer Argumentation v.a. in Gal 3f. Die Gegner • Die Gegner sind von außen in die Gemeinde gekommen und haben mit ihrer Verkündigung Erfolg gehabt: – Die Galater sind verwirrt (1,7; 5,10). – Sie wurden verhext (3,1) und aufgewiegelt (5,12). > • Es handelt sich um christliche Missionare, denn sie verkünden „ein anderes Evangelium“(1,6). • Ihre Botschaft ist auf die Tora bezogen: – Paulus fragt in seiner Gegenargumentation, ob die Galater den Geist etwa aus Werken des Gesetzes empfangen hätten (3,2). – Er kennzeichnet ihre jetzige Position dadurch, dass sie „unter dem Gesetz sein wollen“ (4,21) und durch das Gesetz gerechtfertigt werden wollen (5,4). – Die Gegner haben von den Galatern die Beschneidung verlangt (5,2; 6,12f). 28 Einleitung in das Neue Testament Vertiefung Alle Beobachtungen zusammengenommen weisen also auf judenchristliche Missionare. Sie akzeptieren das gesetzesfreie Evangelium des Paulus nicht, sondern verlangen auch von den Heidenchristen die Übernahme der Tora-Verpflichtung. • Wahrscheinlich haben die Gegner auch die Autorität des Paulus als Apostel angezweifelt. Deshalb bietet Paulus in Gal 1f Ausschnitte aus seiner Biographie und betont seine Berufung durch Gott und seine Unabhängigkeit von menschlichen Autoritäten. Aus dieser Darstellung lässt sich folgern: Paulus wurde von den Gegnern als untergeordneter Missionar gekennzeichnet, der keine göttliche Legitimation besitze und sich mit den maßgeblichen Autoritäten nicht messen könne. • Das Verhältnis der Gegner zu Jerusalem lässt sich nicht bestimmen. 29 Einleitung in das Neue Testament Vertiefung Galaterbrief II: Inhalt und Aufbau Briefanfang 1,1-10 1,1-5 Präskript 1,6-10 Briefanlass (Proömium als Tadel über die Abwendung vom Evangelium) Briefkorpus 1,11-6,10 Autobiographischer Rückblick: 1,11-2,14 1,11-24 Berufung zum Apostel und erstes missionarisches Wirken 2,1-10 Das „Apostelkonzil“ 2,11-14 Der „antiochenische Zwischenfall“ Das gesetzesfreie Evangelium: 2,15-5,12 2,15-21 Die These: Niemand wird gerechtfertigt aus Gesetzeswerken 3,1-5 Hinweis auf die Geisterfahrung 3,6-18 Erster Hinweis auf die Schrift: Abraham 3,19-4,11 Freiheit vom Gesetz und Warnung vor Rückfall in den Götzendienst 4,12-20 Erinnerung an das Verhältnis des Paulus zu den Adressaten 4,21-31 Zweiter Hinweis auf die Schrift: Hagar und Sara 5,1-12 Aufruf zur Wahrung der Freiheit Der Wandel im Geist (Mahnungen): 5,13-6,10 5,13-15 Gegenseitige Liebe 5,16-26 Wandel im Geist gegen Wandel im Fleisch 6,1-10 Einzelmahnungen Briefschluss 6,11 6,12-15 6,16-18 6,11-18 Eigenhändigkeitsvermerk Abschließende Absetzung von den Gegnern Postskript: Friedenswunsch, Mahnung, Gnadenwunsch 30 Einleitung in das Neue Testament Vertiefung Galaterbrief III – „Gerechtigkeit“ als biblischer Begriff „Gerechtigkeit“ ist ein Verhältnisbegriff: das Verhalten oder der Zustand, der einem gegebenen Gemeinschaftsverhältnis entspricht – in der biblischen Tradition zumeist bezogen auf das Verhältnis Gott-Israel. Gottes Gerechtigkeit bezeichnet • seine Heilstaten für Israel, für sein Volk oder einzelne Fromme (z.B. Ps 40,10f; 89,17; 145,6f). Gerecht ist Gott, weil er rettend eingreift, nicht weil er belohnt und bestraft; • seinen Zustand der Zugewendetheit zu seinem Volk. Gott wird angerufen „in seiner Gerechtigkeit“ (z.B. Ps 5,9; 31,2). Sie ist die Instanz, an die sich der in Not geratene Beter wendet; sie verbürgt Gottes rettendes Eingreifen – anrufbar sogar als Gnadeninstanz (Ps 143,1f). Menschliche Gerechtigkeit bezeichnet • das Tun der Weisung Gottes, das Erfüllen der Gebote (z.B. Ps 15,2-5; Jer 33,15; Ez 18,5-9; Spr passim); • den Zustand, der aus solchem Tun erwächst: in den Psalmen kann die Rede sein von „meiner Gerechtigkeit“, wenn sich der Beter ausgezeichnet hat durch „Gerechtigkeitstun“, ohne einzelne Taten zu nennen (Ps 7,9; 18,21; auch 37,6; 112,9); • nicht Fehlerlosigkeit. Der Gerechte ist nicht perfekt; er kann auch scheitern an den Geboten Gottes – wenn er sein Leben nur weiter an Gott ausrichtet (vgl. z.B. PsSal 13,5f; vgl. auch 69,6.29ff; Ps 31,11.19). 31 Einleitung in das Neue Testament Vertiefung Galaterbrief IV – Zur Rechtfertigungstheologie im Gal Der Mensch wird nicht gerechtfertigt aus Werken des Gesetzes, sondern durch Glauben an Jesus Christus (2,16). Also: Dem Verhältnis zu Gott kann der Mensch nicht entsprechen, indem er die Vorschriften des Gesetzes einhält, sondern nur dadurch, dass er das Handeln Gottes in Jesus Christus zu seinem Heil annimmt. Grundthese: Wesentlicher Ansatzpunkt dieser Aussage ist • nicht eine Analyse des Menschen oder des Gesetzes, • sondern der Glaube an Christus: Käme Gerechtigkeit aus dem Gesetz, wäre Christus umsonst gestorben (2,21). Begründung dieser Aussage über • die Geisterfahrung der Galater (3,1-5) • das Zeugnis der Schrift über Abraham und das Gesetz (3,6-14) (1) Die Schrift bezeugt in Abraham, dass Gerechtigkeit aus Glauben kommt und die Heiden als Glaubende Nachkommen Abrahams sind und gesegnet und gerechtfertigt werden von Gott. Gewonnen wird dieses Zeugnis durch eine Kombination von Schriftworten (Gen 15,6; 12,3/18,8), die mit entscheidenden interpretativen Einleitungen versehen werden. > 32 Einleitung in das Neue Testament Vertiefung (2) Die Schrift bezeugt außerdem den Zusammenhang von Gesetz und Fluch (Zitat Dtn 27,26 in Gal 3,10) und die Tatsache, dass durch das Gesetz niemand gerechtfertigt wird (Zitate von Hab 2,4 und Lev 18,5 in Gal 3,11f). > (3) Durch Christus ist diese Existenz unter dem Fluch des Gesetzes beendet; der Segen Abrahams konnte zu den Heiden kommen, der Geist empfangen werden durch Glauben (3,13f). > Folgefrage nach der Funktion des Gesetzes (3,19): Im Gal begegnen nur negative Aussagen über das Gesetz (3,21.23.24f). Das Gesetz wurde „hinzugefügt um der Übertretungen willen“: – um Übertretungen hervorzurufen – oder um aufgrund der Übertretungen zu verdammen. Es übt eine versklavende Herrschaft aus, die den Menschen festhält in der Sünde, ohne aus dieser Situation befreien zu können. Denn Gott wollte die Menschen durch Christus retten. 33 Einleitung in das Neue Testament Vertiefung Römerbrief I – Historische Verortung Verfasser, Zeit und Ort der Abfassung • Die Abfassung durch Paulus ist unbestritten. • Hinweise auf Korinth als Abfassungsort: – Übereinstimmung zwischen der Situation in Röm 15 und Apg 19f. – Phoebe, Diakonin der Gemeinde von Kenchreae (Vorhafen Korinths), war wohl Briefüberbringerin. – Paulus befindet sich im Haus des Gaius (Röm 16,23; vgl. 1Kor 1,14). – Er richtet einen Gruß des „Stadtkämmerers“ Erastos aus (16,23). Ein hoher Beamter dieses Namens ist in Korinth inschriftlich bezeugt. • Wenn der Röm vor der Kollektenreise nach Jerusalem in Korinth geschrieben ist, gehört er in den Winter des Jahres 55/56 oder 56/57 oder in das jeweils nachfolgende Frühjahr. > Anlass und Zweck • Bei der Bestimmung von Anlass und Zweck sind verschiedene Besonderheiten des Röm zu berücksichtigen: Paulus kennt die Gemeinde nicht; er schreibt einen weithin grundsätzlichtheologischen Brief; er deutet sein baldiges Kommen an. Der Röm ist nicht nach dem üblichen Modell der Paulusbriefe zu verstehen als pastorales Sendschreiben, mit dem Paulus auf konkrete Gemeindeverhältnisse reagiert hätte. 34 Einleitung in das Neue Testament Vertiefung • Röm 15,23f: Paulus bereitet mit dem Brief seine Ankunft bei den Christen Roms vor, in der Hoffnung hier einen Stützpunkt für seinen missionarischen Vorstoß nach Spanien zu finden. Die Verbindung mit dem Besuchswunsch in 1,11.13 bestätigt dieses Anliegen. • Dieser praktische Zweck kann durchaus die inhaltlichen Besonderheiten des Röm erklären. Angesichts der zurückliegenden Konflikte kann Paulus nicht davon ausgehen, dass sein gesetzesfreies Evangelium fraglos anerkannt ist. Will er die römische Gemeinde als Stützpunkt gewinnen, hat er Grund, seine Verkündigung grundsätzlich darzulegen. • Möglicherweise bereitet sich Paulus mit den Überlegungen im Röm zugleich auf die Kollektenreise nach Jerusalem vor. Er fürchtet nämlich, dort auf Schwierigkeiten zu stoßen (Röm 15,31). > Die Adressaten: die Christengemeinden von Rom • Die Anfänge des Christentums in Rom liegen im Dunkeln. Es gibt keine Zeugnisse über den Ursprung des christlichen Glaubens in der Adressatengemeinde. • Das Claudius-Edikt reagierte auf Streit zwischen Juden und Judenchristen in Rom. Die Ausweisung der judenchristlichen Wortführer in diesem Streit führte zu einer Schwächung des judenchristlichen Elements in Rom (s.a. Apg 18,2). 35 Einleitung in das Neue Testament Vertiefung • Paulus spricht die Adressaten mehrheitlich als Heidenchristen an (11,13; s.a. 1,5.13). Judenchristen sind zwar auch in Rom, wie die Grußliste zeigt; sie waren aber eine Minderheit. • Die Christen in Rom waren wohl in verschiedenen Hausgemeinden organisiert. Es gibt keine Hinweise auf eine gemeinsame Gemeindeversammlung. Die Briefadresse gebraucht den Begriff „Gemeinde“ nicht. • Zur sozialen Schichtung lässt sich sagen: Die Mehrheit der Christen besaß wohl nicht das römische Bürgerrecht (darauf weist die Kreuzigungsstrafe bei der Verfolgung unter Nero). 13 von 24 Namen aus der Grußliste in Kap. 16 lassen sich schichtenspezifisch auswerten. Zwei Drittel deuten auf unfreie Abstammung (Sklave oder Freigelassener). Auch die Formulierungen in 16,10.11 weisen auf Sklaven, die einem bestimmten Haus zugehören. • Zum Verhältnis Frauen-Männer: Unter den 26 zur Gemeinde gehörenden Personen, die in Röm 16,3-16 genannt sind, finden sich 9 Frauen und 17 Männer (16,7 heißt es recht sicher Junia, nicht Junias). Gemeindebezogene oder missionarische Tätigkeiten werden sechs Frauen bescheinigt (Mitarbeiterin, Apostolin, „sich abmühen“). Zu fünf Männern macht Paulus entsprechende Angaben. • Nach Kap. 14 hat es unter den Christen Roms einen Konflikt gegeben. Es geht um erlaubte Speisen und Einhaltung von bestimmten Tagen. Der genaue Hintergrund lässt sich nicht mehr rekonstruieren, weil Paulus sehr offen formuliert. Vielleicht hatte er keine genaueren Informationen. Dass jüdische Traditionen eine Rolle gespielt haben, ist denkbar (14,14.20: „rein“/„unrein“), aber nicht sicher. > 36 Einleitung in das Neue Testament Vertiefung Römerbrief II: Inhalt und Aufbau Briefanfang 1,1-7 1,8-15 1,1-15 Präskript Proömium Briefkorpus 1,16-15,13 1. Lehrhafter Teil: 1,16-11,36 Das Thema: Das Evangelium für Juden u. Heiden: 1,16f Die Menschen unter dem Zorn Gottes: 1,18-3,20 1,18-32 Die Heiden unter dem Zorn Gottes 2,1-29 Die Juden unter dem Zorn Gottes 3,1-8 Zwischenfragen 3,9-20 Die Menschheit unter der Sünde Die Gerechtigkeit aus Glauben: 3,21-4,25 3,21-31 Grundlegung der Glaubensgerechtigkeit 4,1-25 Abraham als Vater der Glaubenden Das Leben der Gerechtfertigten: 5,1-8,39 5,1-11 Die Heilszuversicht der Glaubenden 5,12-21 Die Adam-Christus-Typologie 6,1-7,6 Freiheit von Sünde und Gesetz 7,7-25 Sünde und Gesetz 8,1-17 Unter der Herrschaft des Geistes 8,18-39 Hoffnung auf künftige Vollendung Das Evangelium und das Heil Israels: 9,1-11,36 9,1-5 Die Vorzüge Israels 9,6-29 Treue Gottes, Erbarmen und Verstockung 9,30-10,4 Israel und die Glaubensgerechtigkeit 10,5-21 Die Botschaft des Evangeliums, Israels Ungehorsam 11,1-10 Der Rest Israels 11,11-15 Der Sinn von Israels Ungehorsam 11,16-24 Das Ölbaumgleichnis 11,25-36 Die Rettung Israels 2. Mahnender Teil: 12,1-15,13 12,1-8 Die verschiedenen Gnadengaben 12,9-21 Die Liebe als Maßstab: Mahnungen 13,1-7 Das Verhältnis zu staatlichen Obrigkeit 13,8-10 Die Nächstenliebe als Erfüllung des Gesetzes 13,11-14 Mahnung angesichts der nahen Vollendung 14,1-15,13 Schwache und Starke in der Gemeinde Briefschluss 15,14-16,27 15,14-33 Epilog: Reisepläne (Rom und Jerusalem), fürbittender Segenswunsch 16,1-27 Postskript: Empfehlung für Phoebe, Grüße (Warnung vor Irrlehrern; Lobpreis Gottes) > 37 Einleitung in das Neue Testament Vertiefung Zum Gedankengang von Röm 1-4 1,16f Thema: Das Evangelium – Kraft Gottes zur Rettung von Juden und Heiden; Gerechtigkeit Gottes aus Glauben. 1,18a Offenbarung des Zornes Gottes 1,18b-32 Der Ungehorsam der Heiden 3,9 Zielsatz: alle, Juden und Heiden, stehen unter der Macht der Sünde. 2,1-3,20 Der Ungehorsam der Juden 3,21-31 Offenbarung der Gerechtigkeit Gottes: ohne Gesetz, aus Glauben. Ausgangspunkt und Mitte des Gedankengangs 4,1-25 Bestätigung der Glaubensgerechtigkeit aus der Schrift: Abraham 38 Einleitung in das Neue Testament Vertiefung Übersicht zu Röm 9-11 (1) Das Problem: Scheitert das erwählte Volk in seiner Gottesbeziehung? Erweist sich Gott als treu? (9,1-5) (2) Antwort als Minimalziel: Vorstellung von Israels Rest. Gott erweist seine Treue in jedem Fall dadurch, dass er einen Rest aus Israel rettet (9,6-29; 11,1-10). (3) Israels Ungehorsam: begründet im Festhalten am Gesetz; prinzipiell war Gerechtigkeit aus Glauben Israel zugänglich (9,3010,21). (4) Der verborgene Sinn von Israels Ungehorsam: Rettung kam zu den Heiden. (5) Die endzeitliche Rettung ganz Israels: nicht durch Glaube, aber doch vermittelt durch Christus. 39 Einleitung in das Neue Testament Vertiefung Ältere Lösungen des synoptischen Problems Urevangeliums-Hypothese Die synoptischen Evangelien sind entstanden auf der Grundlage eines aramäischen Urevangeliums, das ins Griechische übersetzt und mehrere Male bearbeitet wurde. Problem: Bezug auf eine hypothetische Größe; die Behauptung mehrerer Bearbeitungen ist willkürlich; die Unterschiede zwischen den Evangelien in Inhalt und Aufbau werden nicht erklärt. Ertrag: Den Evangelien ist ein längerer Traditionsprozess auch literarischer Art vorausgegangen. Fragmenten-Hypothese Die synoptischen Evangelien gehen zurück auf eine Sammlung von Einzelaufzeichnungen (zu Wundern, Worten Jesu, zur Passion); sie sind das Endstadium dieses Sammlungsvorgangs. Problem: Die Übereinstimmungen zwischen den Synoptikern werden nicht wirklich erklärt, wenn man sich auf eine Vielzahl von Texten bezieht. Ertrag: In den Evangelien ist Traditionsgut verschiedener Herkunft verarbeitet. 40 Einleitung in das Neue Testament Vertiefung Traditions-Hypothese Den synoptischen Evangelien ging ein mündlich überliefertes Urevangelium voraus, ursprünglich aramäisch, dann ins Griechische übersetzt und in zwei verschiedene schriftliche Formen gebracht. Problem: Die Übereinstimmungen zwischen den Synoptikern werden nicht wirklich erklärt, vor allem nicht die Übereinstimmungen in der Reihenfolge des Stoffs. Ertrag: Den Evangelien ging eine längere Phase mündlicher Überlieferung voraus. Benutzungs-Hypothese Die synoptischen Evangelien sind untereinander direkt literarisch abhängig. Augustinus: Mk benutzt Mt, Lk benutzt Mt und Mk. J.J. Griesbach: Lk benutzt Mt, Mk benutzt Mt und Lk. Problem: Mk kann im Blick auf Stoffumfang und sprachliche Gestalt kein Auszug aus einem der längeren Evangelien sein (erst recht nicht aus beiden). Ertrag: Die Übereinstimmungen sind durch Benutzung zu erklären. 41 Einleitung in das Neue Testament Vertiefung Alternativmodelle zur Zwei-Quellen-Theorie Unter Voraussetzung der Mk-Priorität • Deutero-Markus: Mt und Lk sind abhängig von einem überarbeiteten und stark erweiterten MkEv. • Mt benutzt das MkEv, Lk benutzt das Mk- und das MtEv • Lk benutzt das MkEv, Mt benutzt das Mk- und das LkEv Neo-Griesbach-Hypothese (Two Gospels Hypothesis) Lk benutzt das MtEv, Mk benutzt das Mt- und das LkEv 42 42 Einleitung in das Neue Testament Vertiefung Deutero-Markus Mt und Lk sind abhängig von einem überarbeiteten und stark erweiterten MkEv. Vorteile: • Erklärung des Stoffes der Doppeltradition • Erklärung der minor agreements Problem: • Welcher Plan steht hinter der Überarbeitung des MkEv? • Deutero-Mk ist nicht weniger hypothetisch als Q. • Warum ist Deutero-Mk aus der handschriftl. Überlieferung verschwunden, obwohl er doch dem Mt- und LkEv viel ähnlicher gewesen sein müsste, also der Tendenz nach Harmonisierung entgegenkam? 43 43 Einleitung in das Neue Testament Vertiefung Mk – Mt – Lk Mt benutzt Mk, Lk benutzt Mt und Mk. Vorteile: • Keine hypothetische Größe wird vorausgesetzt. • Erklärung der minor agreements Probleme: • Warum gibt es außer den minor agreements keine Spuren der Verwendung des MtEv bei der Bearbeitung des Mk-Stoffes? • Ist ein überzeugender Plan bei der Zerschlagung der mt Redekomplexe zu erkennen? • Warum ist der Einfluss des MtEv in Kindheitsgeschichten und Ostertraditionen so gering? 44 44 Einleitung in das Neue Testament Vertiefung Mk – Lk – Mt Lk benutzt Mk, Mt benutzt Lk und Mk. Vorteile: • Keine hypothetische Größe wird vorausgesetzt. • Erklärung der minor agreements Probleme: • Warum gibt es außer den minor agreements keine Spuren der Verwendung des LkEv bei der Bearbeitung des Mk-Stoffes? • Warum hat Mt so viel Stoff von Lk ausgelassen, während er Mk fast umfassend verarbeitet? • Warum ist der Einfluss des LkEv in Kindheitsgeschichten und Ostertraditionen so gering? 45 45 Einleitung in das Neue Testament Vertiefung Mt – Lk – Mk Lk benutzt Mt, Mk benutzt Mt und Lk. Vorteile: • Keine hypothetische Größe wird vorausgesetzt. • Einzelne Textstellen könnten als Verbindung von Mt und Lk erklärt werden. Probleme • Warum sollte Mk so viel Stoff nicht übernommen haben (Doppeltradition Mt/Lk, Sondergut)? • Warum sollte er seine Vorlagen sprachlich verschlechtert haben? • Die minor agreements sind ein noch größeres Problem als für die ZweiQuellen-Theorie. > 46 46 Einleitung in das Neue Testament Vertiefung Das Johannesevangelium I – Vergleich mit den synoptischen Evangelien Gemeinsamkeiten • Joh betreibt, wie die Synoptiker, Christusverkündigung als Erzählen der Geschichte Jesu. Näherhin zeigt sich eine Übereinstimmung in der Struktur: vom Auftreten Johannes des Täufers über das Wirken in Galiläa und Judäa/Jerusalem bis zur Passion. • Inhaltliche Gemeinsamkeiten: – gemeinsame Worte (z.B. Jes 40,3 in Joh 1,23; Joh 2,19/Mk 14,58) – vergleichbare Erzählungen (Tempelreinigung, Heilung des Sohnes eines königlichen Beamten, Speisung der Fünftausend, Seewandel Jesu, Salbung in Bethanien, Einzug in Jerusalem, Passionsgeschichte). – ähnliche Erzählmotive (Bekenntnis des Petrus Joh 6,68: vgl. Mk 8,29; Erscheinung vor Maria von Magdala: vgl. Mt 28,8-10 u.a.m.). 47 Einleitung in das Neue Testament Vertiefung Unterschiede • Topographische und chronologische Struktur: – Im JohEv wirkt Jesus in Jerusalem und Galiläa (Schwerpunkt eher Jerusalem). – Die Dauer des Wirkens Jesu beträgt nach dem JohEv mindestens zwei Jahre (drei Pascha-Feste sind erwähnt). – Der Todestag Jesu ist nach Joh der Rüsttag zum Pascha. • Nur wenige Wundererzählungen sind vergleichbar (Speisung der 5000; Seewandel; Heilung des Sohnes eines königlichen Beamten). – Vier Geschichten haben keine Entsprechung bei den Synoptikern (Hochzeit zu Kana 2,1-11; Heilung eines Gelähmten am Teich Bethesda 5,1-9; Heilung eines Blindgeborenen 9,1-7; Auferweckung des Lazarus, 11,1-45). – Das JohEv kennt keine Exorzismen und Aussätzigenheilungen. • Der Redestoff ist bei Joh in Form großer Offenbarungsreden und Dialoge gestaltet, nicht mehr in relativ knappen aneinandergereihten Logien. • Der Inhalt der Botschaft Jesu wird im JohEv konsequent christologisch gefasst. Jesus verkündet nicht das Reich Gottes, sondern sich selbst. > Joh hat wahrscheinlich eines oder mehrere der synoptischen Evangelien gekannt, er hat sie aber nicht als Quelle benutzt. Eine literarische Abhängigkeit im eigentlichen Sinn besteht nicht. 48 Einleitung in das Neue Testament Vertiefung Das Johannesevangelium II – Aufbau Prolog: Der Logos-Hymnus (1,1-18) 1. Hauptteil: 1,19-51 2,1-3,36 2,1-22 2,23-3,21 3,22-36 4,1-6,71 4,1-42 4,43-54 6,1-71 5,1-7,24 5,1-47; 7,15-24 7,1-11,54 7,1-14.25-8,59 9,1-41 10,1-21 10,22-42 11,1-45 11,46-54 Die Offenbarung des Sohnes vor der Welt (1,19-12,50) Das Zeugnis des Täufers und die ersten Jünger Der Beginn des Wirkens Jesu in Galiläa und Jerusalem Hochzeit von Kana, Tempelreinigung Nikodemus Noch einmal: Zeugnis des Johannes Rückkehr nach Galiläa (ohne Kap. 5) Jesus in Samaria In Galiläa: Heilung des Sohnes des „Königlichen“ Speisung der 5000, Seewandel, Brotrede; Abfall von Jüngern Wirken und Botschaft in Jerusalem (ohne Kap. 6; 7,1-14) Heilung eines Gelähmten und Offenbarungsrede Aufenthalt in Galiläa und Rückkehr nach Jerusalem Auseinandersetzungen beim Laubhüttenfest Heilung des Blindgeborenen Rede vom guten Hirten Konflikt mit „den Juden“ Auferweckung des Lazarus Der Todesbeschluss gegen Jesus 49 Einleitung in das Neue Testament Vertiefung 11,55-12,50 11,55-12,11 12,12-19 12,20-36 12,37-50 Rückzug und Rückkehr nach Jerusalem Suche nach Jesus in Jerusalem; Salbung in Bethanien Einzug in Jerusalem Die „Hellenenrede“ Abschließende Kommentare 2. Hauptteil: 13,1-17,26 13,1-30 13,31-14,31 15,1-16,33 17,1-26 18,1-20,31 18,1-19,42 20,1-29 20,30f Die Offenbarung des Sohness vor den Seinen (13,1-20,31) Das letzte Mahl mit den Jüngern Fußwaschung und Ansage des Verrates Abschiedsrede I Abschiedsrede II Das Gebet Jesu für die Seinen Passion und Ostern Die Passion Jesu Die Erscheinungen des Auferstandenen Ursprünglicher Buchschluss Nachtrag: Erscheinung in Galiläa; Buchschluss (21,1-25) 50 Einleitung in das Neue Testament Vertiefung Das Johannesevangelium III – Verfasser • Die altkirchliche Tradition hält Johannes, den Bruder des Jakobus, zugleich der „Jünger, den Jesus liebte“, für den Verfasser des JohEv. • Diese Tradition lässt sich am Werk selbst nicht erweisen: – Dass der „Lieblingsjünger“ das Evangelium geschrieben hat, wird erst im Nachtragskapitel gesagt (21,24), nicht im ursprünglichen Text. – Dieser Jünger wird im JohEv nicht identifiziert. Die Gleichsetzung mit dem Zebedaiden Johannes beruht auf einer harmonisierenden Kombination mit Angaben aus den synoptischen Evangelien. • Gegen diese Tradition spricht auch der Vergleich mit den Synoptikern. Wenn aus diesen die Botschaft Jesu zu rekonstruieren ist, kann man den anderen Inhalt und die andere Sprache der Predigt des johanneischen Jesus nicht auf einen Augenzeugen der Geschichte Jesu zurückführen. 51 Einleitung in das Neue Testament Vertiefung Das Johannesevangelium IV – Adressaten • Die Sonderstellung der joh Literatur lässt sich am besten mit der Annahme erklären, dass das JohEv und die drei Joh-Briefe aus einem relativ selbstständigen Gemeindeverband stammen. • Ursprünglich kommen diese Gemeinden aus dem Judenchristentum. Die früher bestehende Verbindung zur Synagoge wurde durch den Ausschluss gekappt (Joh 9,22; 12,42; 16,2). Zu Täufergruppen scheint eine Rivalität bestanden zu haben. • Hinter 6,60-66; 8,31ff könnte ein kritisches Ereignis aus der joh Gemeindegeschichte stehen: das Abwandern von Gemeindemitgliedern, vielleicht nach dem Synagogenbann. • Aus den Joh-Briefen lässt sich das Wirken von Gegnern erschließen. Deren genauere Rekonstruktion ist strittig; es wird auch grundsätzlich Kritik an solchen Versuchen geübt. Überwiegend aber rechnet man wohl mit einem konkreten Konflikt und sieht diesen in einer gnostisierenden Interpretation der joh Christologie begründet (zur Gnosis s.u.). 52 Einleitung in das Neue Testament Vertiefung Das Johannesevangelium V – Einheitlichkeit Hinweise auf nachträgliche Bearbeitung • Kap. 21 erweist sich recht deutlich als Nachtrag: Die Formulierung in 20,30f kann nicht anders denn als Schluss des Evangeliums gedacht gewesen sein; das erneute Einsetzen mit Erscheinungstradition wirkt deplatziert. Die Aussage in 21,24 stammt nicht vom Autor des Werkes. • Als späterer Zusatz können auch die Kapp. 15-17 gewertet werden. 18,1 schließt nämlich unmittelbar an 14,31 an, dagegen befremdet die Fortsetzung der Abschiedsrede nach 14,31 („steht auf, lasst uns von hier fortgehen“) in 15,1 („Ich bin der wahre Weinstock“). Einwand: der Redaktor hätte durch die Einfügung vor 14,30 „alle Schwierigkeiten umgehen können“ (U. Schnelle). Aber: Der Redaktor wollte die Abschiedsreden mit dem Gebet Jesu beschließen und vom vorgegebenen Textbestand nicht wegnehmen. Wäre der Text von Anfang an auf das Gebet Jesu ausgerichtet gewesen, dann hätte 14,30f anders gelautet. • Als weitere Einschübe werden diskutiert: 3,31-36; 5,28f; 6,51b-58; 10,1-18 u.a. • Die Redaktion dürfte im Rahmen der joh Gemeinde erfolgt und nicht als Korrektur des Evangeliums verstanden worden sein. 53 Einleitung in das Neue Testament Vertiefung Die Reihenfolge von Kap. 5-7 • Mehrere Beobachtungen legen den Schluss nahe, dass die überlieferte Reihenfolge der Kapp. 5-7 nicht ursprünglich ist: > – Die Aussage von Joh 6,1 passt schlecht als Fortsetzung von 5,47. – Kap. 7 folgt besser auf Kap. 5 als auf Kap. 6. – Innerhalb von Kap. 7 sind VV.15-24 besser vor 7,1-14 zu lesen. Kap. 4 folgt Kap. 6, dann Kap. 5 und 7,15-24.1-14.25ff. • Die Blattvertauschungshypothese rechnet mit einem Versehen beim Originalkodex (daher in allen Handschriften die schlecht passende Reihenfolge) und hat dies durch die durchschnittliche Buchstabenmenge auf einem Papyrusblatt zu begründen versucht. Eine bessere Erklärung des Befundes ist nicht in Sicht. 7,53-8,11 (Jesus und die Ehebrecherin) ist in den besten Handschriften nicht bezeugt, also aus textkritischen Gründen unsicher. Meist gilt die Geschichte als sekundär, doch wird auch ihre Ursprünglichkeit vertreten: die nachgiebige Haltung zum Ehebruch sei später anstößig gewesen und habe zur Tilgung geführt. 54 Einleitung in das Neue Testament Vertiefung Das Johannesevangelium VI – Religionsgeschichtlicher Hintergrund Die Eigenart des JohEv in Sprache und Theologie provoziert die Frage nach besonderen religionsgeschichtlichen Einflüssen. Judentum • Vertrautheit mit jüdischen Verhältnissen zeigt Joh in der Kenntnis der jüdischen Feste, der Ortskenntnis in Jerusalem, der Bezugnahme auf pharisäisch-rabbinische Tradition (Sabbat; Messiaserwartung; Synagogenbann) und weisheitliche Überlieferung (1,1-18). • Strittig ist die Frage, ob der joh Dualismus auf die jüdische Apokalyptik im Allgemeinen oder Qumran im Besonderen zurückzuführen ist. Zu beiden Größen gibt es neben Übereinstimmungen auch Unterschiede. – Das JohEv betont, anders als die Apokalyptik, dass das Heil im Glauben an Jesus Christus bereits in der Gegenwart zugänglich ist. – In Qumran steht der Dualismus nicht in Zusammenhang mit der Messiaserwartung, sondern dem rechten Verständnis der Tora. Das JohEv ist judenchristlich geprägt, doch bleibt fraglich, ob seine Besonderheit allein aus dieser Prägung erklärt werden kann. 55 Einleitung in das Neue Testament Vertiefung Gnosis • Mit „Gnosis“ (= Erkenntnis) wird eine religiöse Strömung bezeichnet, deren charakteristisches Merkmal Erlösung durch Erkenntnis ist. Der Mensch muss (durch Offenbarung) erkennen, dass er ein aus der oberen Lichtwelt gefallener Lichtfunke ist, gefangen in der materiellen Welt, bestimmt zur Rückkehr in die Lichtwelt. • Das JohEv ist in einigen Punkten mit dem Denken der Gnosis vergleichbar (v.a. der individuellen Ausrichtung der Erlösung), dennoch bleiben Unterschiede: – Der Dualismus der Gnosis ist ohne Einschränkung durchgeführt; das JohEv sieht die Schöpfung nicht negativ. – Die Menschheit Jesu und die Bedeutung seines geschichtlichen Wirkens, auch der Wundertaten, wird von Joh nicht in Zweifel gezogen. • Für den inneren Zusammenhang mit der Gnosis spricht die Rezeption des JohEv bei Gnostikern. Dagegen lässt sich nicht die Tatsache anführen, dass literarische Zeugnisse der Gnosis erst aus dem 2. Jh. stammen. Das JohEv ist im Milieu einer beginnenden Gnosis entstanden. Es übernimmt manche Denkstrukturen, aber nicht das ganze „System“. 56 Einleitung in das Neue Testament Vertiefung Das Johannesevangelium VII – Theologie: Der Gesandte Der Motivkreis von senden, kommen, zurückkehren • Jesus wird im JohEv wesentlich dadurch bestimmt, dass er der vom Vater gesandte Sohn ist (z.B. 13,3; 16,5.28). Er ist also nicht als Gestalt dieser Welt zu sehen. Die Bedeutung dieses Motivkreises zeigt sich – in der Häufigkeit der entsprechenden Aussagen, – in der Tatsache, dass die Sendung Gegenstand des Glaubens sein kann (z.B. 11,42; 17,8; s.a. das negative „Gegenstück“ 8,14), – darin, dass Gott durch die Sendung Jesu bestimmt wird (5,24.30 u.ö.). • Die Sendung des Sohnes ist Ausdruck der Liebe Gottes zur Welt; die Welt soll gerettet, nicht gerichtet werden (3,16f). • In der Sendung des Sohnes ereignet sich das endzeitliche Gericht, in der Stellung zu Jesus entscheidet sich Heil und Unheil (3,18). > 57 Einleitung in das Neue Testament Vertiefung Die Ich-bin-Worte • Nur im JohEv wird die Bedeutung Jesu ausgedrückt durch Ich-bin-Worte, die um ein Bild erweitert sind: Brot des Lebens (6,35); Licht der Welt (8,12); Tür (10,9); guter Hirt (10,11); Auferstehung und Leben (11,25f); Weg, Wahrheit und Leben (14,6); (wahrer) Weinstock (15,1.5). • Die Bilder und Begriffe sind durchweg als Heilsbegriffe geprägt. • Die Ich-bin-Worte bringen zum Ausdruck, dass Jesus in seiner Person das Heil ist. Geber und Gabe des Heils sind identisch (deshalb hat Jesus im JohEv nichts anderes zu verkünden als sich selbst). Christologische Titel • Der wichtigste Titel ist das absolut gebrauchte der Sohn. Er steht in Korrespondenz zur Rede vom „Vater“ oder „meinem Vater“. • Die Sohn-Christologie wird zum einen im Blick auf die Sendung zur Welt entfaltet (s.o.), zum andern im Blick auf das Verhältnis Jesu zu Gott. Dabei steht der Gedanke der Einheit von Vater und Sohn im Vordergrund. Die Einheit zeigt sich als – Einheit des Wirkens (z.B. 5,19.30; s.a. 8,29.38.40; 12,50); – Einheit des „Seins“ (z.B. 10,30), nicht gedacht als innertrinitarische Spekulation. Es geht um die Eröffnung des Wegs zu Gott (14,9). So sind die Glaubenden in die Einheit einbezogen (14,20) – doch bleibt dies geöffnet auf die Welt und ihre Rettung hin (17,21.23). 58 Einleitung in das Neue Testament Vertiefung Das Johannesevangelium VIII – Theologie: Weg und Wirken des Gesandten Die Zeichen • Im JohEv begegnet die Rede von Zeichen nicht nur im negativen Horizont der Zeichenforderung (vgl. Mk 8,11-13). Der Begriff ist positiv besetzt und bezeichnet die Wundertaten Jesu, die in einzelnen Geschichten erzählt oder summarisch erwähnt werden (z.B. 2,23; 6,2). • Joh bevorzugt den Begriff „Zeichen“, weil er so den Verweis-Charakter des Geschehens deutlich machen kann: Die Wundertaten verweisen auf Jesus selbst. Deshalb ist die angemessene Reaktion der Glaube an Jesus. • Der symbolische Sinn der Wunder kann durch Jesusworte eigens geklärt werden (Brotrede; 9,5; 11,25f). • Als Teil der Geschichte Jesu sind die Zeichen Vergangenheit, gebunden an die „Fleischwerdung des Logos“. Insofern aber in den Zeichen die Bedeutung Jesu grundsätzlich aufscheint, ist die Dimension des Vergangenen auch überstiegen und eine Botschaft entfaltet, die in die Gegenwart der Glaubenden reicht. 59 Einleitung in das Neue Testament Vertiefung Die Passion Jesu • Der Beginn der Passionsgeschichte ist nicht eindeutig zu bestimmen. In einem weiteren Sinn kann man an 13,1 denken (letztes Mahl), in einem engeren Sinn an 18,1 (Verhaftung Jesu). • Joh beschreibt die Passion als Siegeszug, als den von Jesus selbst bestimmten Hingang zum Vater. Die gegen Jesus antretenden Mächte haben keine wirkliche Gewalt über ihn. Dieses Verständnis von Jesu Leiden wird – vorbereitet durch entsprechende Hinweise im Evangelium (7,30.44; 8,20; 10,18); – ausdrücklich gesagt im Verhör vor Pilatus (19,11); – inszeniert in den einzelnen Abschnitten. Beispiele: die Gefangennahme geschieht auf die Initiative Jesu hin; im Verhör vor Pilatus bleibt Jesus souverän, während der Gerichtsherr ängstlich ist, schwankt und schließlich auf Druck der Ankläger hin das Urteil fällt; Jesus scheint den Zeitpunkt seines Todes selbst zu bestimmen. 60 Einleitung in das Neue Testament Vertiefung Das Johannesevangelium IX – Theologie: Glauben und Leben Die Bedeutung des Glaubens • Das Thema des Glaubens spielt bei Joh eine viel größere Rolle als in den übrigen Evangelien (98 Belege; 34 bei allen Synoptikern zusammen). • Inhaltlich ist der Glaube christologisch bestimmt. Im Glauben wird Jesu Anspruch anerkannt, endgültiger Offenbarer Gottes und Heilbringer zu sein („an Jesus glauben“). Das Moment des Vertrauens ist nicht betont. • Der Glaube ist außerdem soteriologisch bestimmt. Im Glauben ist die Rettung des Menschen begründet, der Glaube führt zum Leben (z.B. 3,14f; 5,24; 11,25; 20,31). Dieser Grundzug des Glaubens ergibt sich aus der Einheit von Geber und Gabe des Heils, die für Joh kennzeichnend ist. Indem sich der Glaube auf Jesus richtet, hat er das Leben. 61 Einleitung in das Neue Testament Vertiefung Johanneische Eschatologie • Eine apokalyptische Endzeitrede wie Mk 13parr fehlt im JohEv. Ansatzpunkte für solche Vorstellungen (wie 5,28f oder 14,2f) könnten Zusatz sein oder werden im JohEv in einen neuen Verständnis-Rahmen gestellt. • Die Eschatologie des JohEv ist individuell ausgerichtet. Im Zusammenhang mit dem Aufruf zum Glauben, der an Einzelne ergeht, ist vom Lebensgewinn die Rede (z.B. 11,25: mit Blick auf den je eigenen Tod). • Die Eschatologie des JohEv ist präsentisch ausgerichtet. Im Glauben gewinnt man das Leben: Wer glaubt, hat das ewige Leben (5,24). Eine futurische Dimension des Heils folgt zwar aus der individuellen Lebensspanne bis zum Tod. Der Akzent liegt aber ganz darauf, dass man im Glauben jetzt das Leben gewinnt, um im Tod nicht zu vergehen. • Angesichts dieser starken Akzente sind die Bezüge auf die „Auferweckung am letzten Tag“ rätselhaft (in Joh 6; 12,48). Alle Notizen stehen am Ende von Sätzen, zumindest einige sind schlecht in den Zusammenhang eingebunden – so kann man an sekundäre Zusätze denken. Ginge es darum, jetzt im Glauben das Leben haben, um am letzten Tag auferweckt zu werden, stellt sich die Frage, was der Lebensgewinn in der Gegenwart bedeuten soll. • Durch den Paraklet (der Herbeigerufene, auch: der Beistand im Gericht, Fürsprecher, Tröster), den heiligen Geist, wird die Welt bleibend mit der Jesus-Offenbarung konfrontiert. Der Aufruf zum Glauben bleibt durch das Zeugnis der Jünger über das Wirken des irdischen Jesus hinaus erhalten. 62