Vorwort

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Vorwort
bernd henningsen
Vorwort
In der deutschen Politik und Wissenschaft ist das neue ›europäische‹ Binnenmeer
– die Ostsee – eine (weitgehend) übersehene Region, die Ausnahmen bestätigen die
Regel. Spätestens seit Björn Engholms ›Neue Hanse‹-Projekt vom Ende der achtziger Jahre des vorigen Jahrhunderts hätten wir es wissen können: Die Ostseeregion
hat wirtschaftliche, politische und kulturelle Potentiale – ihre Bedeutung in der Geschichte gar nicht bedacht –, die einer ernsthaften Auseinandersetzung würdig wären. Im deutschsprachigen Raum sucht man diese zumeist vergebens.
Mit der Implosion des sowjetischen Imperiums und dem Fall der Berliner
Mauer >elen auch die politischen und militärischen Barrieren in der Region, die
sinnigerweise im Staatssozialismus als »Meer des Friedens« apostrophiert wurde;
die deutsche Wiedervereinigung machte auch eine ›Wiedervereinigung‹ der Anrainerstaaten möglich – in dem 1991 vom dänischen und vom deutschen Außenminister U=e Elleman-Jensen und Hans Dietrich Genscher (wiederum auf der Grundlage von in Engholms Thinktank erarbeiteten Grundlagen) gegründeten »Ostseerat«
(Council of Baltic States). Die 1990er Jahre brachten dann einen Aufmerksamkeitsboom sondergleichen – Konferenzen, Programme, ngos, >nnisch-europäische Strategien (Nördliche Dimension Europas), us-amerikanische politische Konzepte (Northern European Initiative), der Handelsaustausch stieg exorbitant, die Infrastruktur
wurde wesentlich optimiert (Öresundbrücke, neue Fährverbindungen), nicht zuletzt
auch wurde der wissenschaftliche Austausch verstärkt, in Schweden eine OstseeStiftung gegründet, Science Parks etabliert.
Bei all diesen Initiativen hat man den Eindruck, und es wird auch vielfach von
in- und ausländischen Beobachtern so artikuliert, dass sie ohne eine deutsche Bewachung statt>nden, in Deutschland wird die Zukunftsregion Ostsee als eine Chimäre
betrachtet, nach wie vor schaut, bildlich gesprochen, Berlin nach Süden und Westen
(und manchmal nach Osten), aber selten nach Norden – eine Diagnose, die übrigens auch für unseren neuen eu-Nachbarn Polen gilt.
Wissenschaft kann Desiderate abarbeiten, sie würde sich überheben, wenn sie
verbindlich der Politik die Zukunftswege zeigen wollte. So wird mit diesem Band
eine neue Buchreihe begonnen, welche helfen soll, die niedrige deutsche Aufmerksamkeit abzubauen. Unter Beteiligung internationaler Regionalforscher werden wir
in den kommenden Jahren mit dieser Reihe die politische, wirtschaftliche, gesellschaftliche und kulturelle Bedeutung der Ostseeregion ausleuchten. Da wir auf eine
internationale Autoren- und Leserschaft setzen, werden wir die Beiträge und Bände
in der deutschen und/oder in der englischen Sprache verö=entlichen. Englisch ist
Wissenschaftssprache, Deutsch aber durchaus Verkehrssprache in der Region. Die
Reihe versteht sich dezidiert auch als Forum für Nachwuchswissenschaftlerinnen
und -wissenschaftler. So sollen neben Sammelbänden wie diesem auch Monographien, die neue Forschung über die Region leisten, ihren Platz in der Reihe >nden.
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Der nun vorliegende erste Band versammelt Beiträge einer internationalen Winter
School, die 2003 in Greifswald stattgefunden hat. Das Thema wurde von jungen
Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern entwickelt: Es ging um eine bewusst
kontrafaktische Annäherung an eigene Forschungsthemen, um die Suche nach den
Brüchen, nach den (Untergangs-) Ängsten. Die Konferenz und auch der vorliegende Band zeigen, dass unter der Metapher des Untergangs neue Blickwinkel auf
schon bekannte Themen möglich sind und dass sie manchem Forschungsthema
gar zu einer methodischen Anregung verholfen haben. Dass der Untergang nicht
für die Zukunft der Region gelten sollte, sei hiermit als Ho=nung an das Ende der
Überlegungen gestellt.
bernd henningsen
Berlin, im Juni 2004
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