NATIONALFEIERTAG 1. AUGUST 2016 PARC DES BASTIONS

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NATIONALFEIERTAG 1. AUGUST 2016 PARC DES BASTIONS
 NATIONALFEIERTAG 1. AUGUST 2016
PARC DES BASTIONS
REDE DES GENFER STADTPRÄSIDENTEN GUILLAUME
BARAZZONE
Hinweis: Es gilt das gesprochene Wort.
Als Genfer Stadtpräsident heisse ich Sie, liebe Bürgerinnen und Bürger,
in diesem wunderbaren Parc des Bastions herzlich willkommen.
Vor allem freue ich mich über die Anwesenheit des Regierungsrats Herrn
Lukas Engelberger, der später das Wort ergreifen wird und den Kanton
Basel-Stadt und damit den Ehrengast dieser Feier vertritt. Ich danke ihm,
dass er unsere Einladung angenommen hat. (Auf Deutsch im Text)
Wie Sie wissen, bietet der Nationalfeiertag die Gelegenheit, Brücken zu
den anderen Schweizer Kantonen zu schlagen. Mit der Stadt Basel
haben wir mehrere Eigenschaften gemeinsam. Trotz eines kleinen
Staatsgebiets bestehen weitreichende Wirtschaftsbeziehungen zum
Ausland, ausserdem sind wir ein Grenzkanton mit grossen
Nachbarländern, und die Grösse ist mit unserer vergleichbar. Wären die
Genfer Deutschschweizer, wären sie sicherlich Basler.
Bleibt die Frage, was es heutzutage bedeutet, Schweizer zu sein. Die
Geschichte der Schweiz ist genauso wie unsere Stadt – vielfältig. Ich
denke dabei an die Mythologie, verkörpert durch die «Drei Eidgenossen»
der Rütliwiese und Wilhelm Tell. Diese Schweizer Helden, die unsere
Geschicke in die Hand nahmen, haben uns vom Joch des Unterdrückers
befreit. Der Pfeil Wilhelm Tells hat in symbolischer Weise unsere Ketten
gesprengt und uns den Weg in die Freiheit aufgezeigt. Den Anhängern
der mythologischen Definition zufolge schöpft die Schweiz ihre Kraft
insbesondere aus ihrem Freiheitsdrang und ihrer Fähigkeit, mit
ungleichen Kräfteverhältnissen fertig zu werden.
Doch dann gibt es auch die offizielle Geschichte, die mit der
Unterzeichnung des Bundesbriefs von 1291 ihren Anfang nimmt. Über
diesen Pakt schworen die Talschaften von Uri, Schwyz und Nidwalden,
sich gemeinsam gegen jeden externen Eindringling zu wehren, der sie
angreifen oder ihnen Schaden zufügen wollte. Die weitere Entwicklung
sollte von einem langen Prozess mit selbstbestimmten Bündnissen
gekennzeichnet sein.
Nach der Schlacht am Morgarten stiessen Luzern, Zürich, Glarus, Zug
und Bern zur Alten Eidgenossenschaft. «Die Willensnation» wurde
geboren. Nach dem Sonderbundskrieg zwischen katholischen und
protestantischen Kantonen wurde 1848 die erste Bundesverfassung
ausgerufen. Das war die Geburtsstunde unserer heutigen Institutionen.
Ein komplexes Rechtsgefüge wurde eingeführt, um den Minderheiten zu
ermöglichen, sich an der Führung des Landes zu beteiligen. Aufgaben
und Zuständigkeiten wurden geschickt zwischen Kantonen und
Eidgenossenschaft aufgeteilt. Die Geburtsstunde des Föderalismus.
Juristen würden sagen, dass die Schweizerische Eidgenossenschaft
gemäss ihrem Wahlspruch unus pro omnibus, omnes pro uno, d.h. einer
für alle, alle für einen, immer als Kollektiv auftritt. Dahinter verbirgt sich
die Idee einer gewollten und gewünschten Union, die einem
Schutzbedürfnis Rechnung trägt.
Ich möchte Ihnen heute eine mehr philosophisch geprägte Definition
unserer Identität darlegen. Schweizer zu sein bedeutet, bewusst oder
unbewusst einem System von Werten beizutreten, die von Chancy bis
Romanshorn und von Basel-Stadt bis Chiasso geteilt werden.
Von diesen Werten gibt es eine Vielzahl. Ich denke dabei an
Pragmatismus, Arbeit, Bescheidenheit – die Stolz nicht ausschliesst –,
ein Faible für Freiheit und Unabhängigkeit und viele mehr. Doch unser
wichtigster, dem Föderalismus innewohnender Wert ist Respekt.
Konkret meine ich damit die Achtung der anderen nationalen
Gemeinschaften und ihrer Sprachen, die Achtung von Minderheiten,
unseren Unterschieden sowie die Achtung anderer Religionen.
Diese Werte müssen uns als Richtschnur dienen, wenn wir durch das
aktuelle Geschehen vom Kurs abkommen und von Unverständnis
bedroht sind.
Die Konflikte im Nahen Osten und insbesondere in Syrien haben
Millionen von Flüchtlingen auf die Strasse getrieben. Männer, Frauen,
Kinder und Alte mussten ihre Heimat verlassen. Ich hatte vor Ausbruch
des Krieges die Möglichkeit, die Stadt Aleppo zu besuchen. Mit 3
Millionen Einwohnern war Aleppo damals eine fantastische und
aufblühende Stadt. Geblieben ist ein Ruinenfeld mit weniger als 1 Million
Einwohnern.
In dieser Hinsicht möchte ich eine Gruppe unbegleiteter minderjähriger
Zuwanderer begrüssen, die gerade in Genf angekommen sind und heute
Abend ihrem ersten Nationalfeiertag beiwohnen. Diese syrischen,
eritreischen oder afghanischen Minderjährigen im Alter von 15-18 Jahren
sind ohne ihre Eltern in die Schweiz gekommen, um vor Krieg oder
Diktatur zu fliehen. Die meisten von ihnen sind völlig mittellos, einsam
und sprechen (noch) nicht unsere Sprache. Hilfe erhalten diese
Jugendlichen, die ich dazu eingeladen habe, unseren Nationalfeiertag
und unsere Traditionen kennen zu lernen, vom Hospice Général,
während sie heute Abend von der Vereinigung AMIC betreut werden. Ich
möchte ihre Anwesenheit nutzen, um der Vereinigung AMIC meinen
Dank für ihre wertvolle Arbeit auszusprechen.
Im Zuge dieser entfesselten Welt, der Migrationsproblematik, der durch
den Krieg vertriebenen Flüchtlinge und der Terroranschläge in Städten in
unserer Nähe befällt so manchen von uns eine unaussprechliche und
undefinierbare Angst. Bestimmte Menschen haben Angst um ihre
Familien und ihre Angehörigen. Die Versuchung eines allgemeinen
Misstrauens ist gross.
Doch lassen wir uns nicht von unseren Gefühlen und unseren Ängsten
leiten! Wir müssen uns auf die Verteidigung unserer Werte
konzentrieren.
Wer Schweizer ist, kann verschiedene Hautfarben haben, verschiedene
Sprachen sprechen, verschiedene Religionen praktizieren, in der
Schweiz selbst oder wie die Vertreter der Fünften Schweiz im Ausland
leben. Doch eines geht dabei nicht verloren: Schweizerinnen und
Schweizer sind per se Menschen, die einander respektieren.
Wer Parolen und politische Initiativen unterstützt, die Muslime
stigmatisieren, die Rechte bestimmter sexueller Minderheiten verhöhnen,
Ausländer brandmarken oder Grenzgänger verunglimpfen, missachtet
unsere helvetischen Tugenden. All das ist nicht mit unserer Identität,
unserem grundlegenden Wesen vereinbar.
Doch die Achtung gegenseitiger Unterschiede heisst nicht, dass wir alles
tolerieren müssen. Ich persönlich bin beispielsweise davon überzeugt,
dass wir in puncto Laizität keine Zugeständnisse machen sollten.
Religion ist grundsätzlich Privatsache. Nach meiner Auffassung sollten
Vertreter des Staates, die mit der Öffentlichkeit in Kontakt sind, keine
auffälligen religiösen Symbole zur Schau stellen. Die öffentliche
Verwaltung und über sie der Staat darf keine Religion haben. Die Laizität
unserer Institutionen fungiert als Garant für Religionsfreiheit.
Als Genfer Stadtpräsident möchte ich ebenfalls hervorheben, dass die
Gewährung von Rechten mit Pflichten einhergeht. In unserer heutigen
Gesellschaft werden diese mehr und mehr infrage gestellt – und das für
alles und nichts. Doch zusammenzuleben heisst auch, Regeln zu
akzeptieren. Über diese Regeln anerkennen wir die Rechte und
Bedürfnisse jener, mit denen wir zusammenleben.
Es versteht sich von selbst, dass ich an diesem Nationalfeiertag im
Namen der Stadt Genf meine Solidarität mit unseren französischen und
deutschen Freunden zum Ausdruck bringen möchte, die in den letzten
Tagen von fürchterlichen Terroranschlägen heimgesucht wurden. Wir
stehen ihnen bei und teilen ihre Leiden und ihre Sorgen.
Die radikalisierten Einzeltäter, die in Frankreich, Deutschland, aber auch
in Belgien und den Vereinigten Staaten zugeschlagen haben, haben
nicht diesen Nationen den Krieg erklärt. Sie befinden sich im Krieg
gegen ein Gesellschaftsmodell – und zwar gegen unser
Gesellschaftsmodell. Diese Extremisten wollen unsere Lebensart,
unsere Toleranz und unsere Freiheit zerstören. Als Symbol für Offenheit,
Stadt des Friedens und Sitz zahlreicher internationaler Organisationen
verkörpert Genf die Werte unseres Landes und unserer Nachbarn.
Wir müssen diesen Extremisten gegenüber unnachgiebig auftreten, denn
sie haben es ausdrücklich auf unsere Identität abgesehen. Die Zeit der
Milde ist vorbei. Auch in der Schweiz. Wir müssen hart und streng zu
Werke gehen.
Entsprechend müssen wir den Behörden ein ausreichendes
Instrumentarium in die Hand geben, um Massnahmen für die
Überwachung und Informationsbeschaffung durchzuführen. In dieser
Hinsicht hatte unser Land bis dato einen grossen Nachholbedarf. Das
neue Bundesgesetz über den Nachrichtendienst, das ich im Nationalrat
unterstützt habe, wird ermöglichen, die Kommunikation verdächtiger
Personen zu überwachen. Natürlich heisst das nicht, alle Bürgerinnen
und Bürger unter Generalverdacht zu stellen. Hierzu hätte die Polizei
auch nicht die Mittel. Wir werden demnächst über dieses Thema
abstimmen, weil das Gesetz per Referendum bekämpft wurde. Ich hoffe,
dass die Bevölkerung dieses neue Gesetz über den Nachrichtendienst,
das unsere Sicherheit stärken wird, uneingeschränkt annehmen wird.
Als politischer Verantwortungsträger bin ich schockiert über das
jugendliche Alter dieser Terroristen. Häufig sind sie nicht einmal 20
Jahre alt. Genauso wie viele von Ihnen stelle ich mir Fragen. Warum nur
entscheidet man sich als junger Mensch dafür, sein Leben wegzuwerfen
und andere mit in den Tod zu reissen?
Auch wenn ich keine Antwort weiss, sehe ich eine Gefahr: Man könnte
sich nämlich im Gegner irren. Der Terrorismus hat seine Wurzeln nicht
im Islam, sondern im Nihilismus und der Hoffnungslosigkeit. Die
gewählten politischen Vertreter müssen nicht nur staatliche Politiken
verabschieden, sondern auch die Rahmenbedingungen schaffen, die der
gesamten Bevölkerung und insbesondere jungen Menschen solide
Zukunftsaussichten ermöglichen.
Für die 15- bis 24-Jährigen ist der Zugang zum Arbeitsmarkt heute viel
schwieriger als früher. Laut der Internationalen Arbeitsorganisation
haben derzeit weltweit 73.3 Millionen Jugendliche keine Arbeit. In
Spanien und in Griechenland liegt die Arbeitslosenquote über 50%. Auch
wenn die Schweiz wesentlich besser dasteht, bleibt Genf einer der
Kantone mit der höchsten Jugendarbeitslosigkeit. Wir müssen unsere
Bemühungen fortsetzen, um die ungebührliche Verschwendung der
Ressourcen zu vermeiden.
Auch auf nationaler Ebene müssen wir mehr für künftige Generationen
tun. Gewiss leiden wir unter einem starken Franken. Doch gerade
deswegen sollten wir von den günstigen Zinsen (der Bund kann sich auf
50 Jahre für 0% Zinsen Geld leihen) profitieren und massiv in die
Infrastrukturen und die Modernisierung des Landes investieren. Statten
wir doch beispielsweise alle Schweizer Haushalte mit
Glasfaseranschlüssen aus, bringen wir Genf und Zürich dank neuer
Investitionen in die Mobilität näher zusammen und investieren wir mehr
in Forschung und Innovation, die seit Jahren zu unserer Stärke
beitragen. Wir können an der Spitze des Abendlandes bleiben, aber nur,
wenn wir in unsere Zukunft investieren. Ohne die Unabhängigkeit der
Nationalbank oder das Prinzip der Schuldenbremse für den
Bundeshaushalt infrage zu stellen, könnte dieser «Grand emprunt» die
Form eines Zukunftsfonds mit Garantie durch die Eidgenossenschaft
annehmen. Die Debatte in dieser Hinsicht wird lang und schwierig sein,
dennoch verdient die Idee Beachtung und Diskussion.
Viel wichtiger noch ist, dass wir uns die Zeit nehmen, unsere Werte an
künftige Generationen weiterzugeben. Freiheit, Toleranz, Arbeit und
Bescheidenheit – diese Tugenden müssen unablässig wiederholt und
begründet werden. Auch wenn unsere Schulen ohne Frage hierzu
beitragen, ist die Familie ein noch wichtigerer Faktor. Gewiss hat sich
das Konzept der Familie weiterentwickelt und ist weitreichender
geworden. Doch die Rolle der Familie bleibt eine entscheidende, denn
sie muss die Weitergabe von Werten gewährleisten.
Bleibt die Frage, wie es um die Zukunft für die Schweiz und Genf bestellt
ist.
Die Aufhebung des Bankgeheimnisses, die unserem Finanzplatz einen
tief greifenden Wandel abverlangt, und die Stärke des Frankens stellen
unsere Export- und Tourismusbranche vor eine beträchtliche
Herausforderung.
Die Aufhebung des Bankgeheimnisses, die unserem Finanzplatz einen
tief greifenden Wandel abverlangt, und die Stärke des Frankens stellen
unsere Export- und Tourismusbranche vor eine beträchtliche
Herausforderung. Der technologische Fortschritt stellt unsere
Lebensweise auf den Kopf und wird unseren Arbeitsmarkt durch und
durch umwandeln. Und die Zerstörung unserer natürlichen Ressourcen
ist eine Tatsache. In dieser Hinsicht müssen wir global agieren. Doch
hierzu müssen wir auf lokaler Ebene hier in der Schweiz und in Genf mit
gutem Beispiel vorangehen.
Neben der Sicherheit für unsere Einwohner wird eine der grössten
Herausforderungen unseres Landes darin bestehen, die guten
Beziehungen mit der Europäischen Union aufrechtzuerhalten. Die
bilateralen Abkommen waren für die Schweiz von grossem Nutzen und
haben ihr Wohlstand beschert. Basel und Genf wissen dies nur allzu gut.
Wir können es uns nicht leisten, in einer Sackgasse zu verharren.
Müssten wir uns zwischen der strikten Anwendung der Volksinitiative der
SVP gegen Masseneinwanderung oder den bilateralen Abkommen
entscheiden, sollten wir – zum Wohle unseres Landes und seiner
Bevölkerung – ohne Zögern Letztere wählen. Der Aufbau vertraglicher
Beziehungen mit unseren Nachbarländern impliziert nicht den Verlust
von Freiheit. Im Gegenteil – er stärkt unsere Souveränität.
Ich bin der festen Überzeugung, dass uns dies gelingen wird. In diesen
Zeiten der Unsicherheit müssen wir Genfer und Schweizer uns jeden
Tag in allen Belangen auf unsere Werte und unsere Identität stützen.
Doch das darf nicht durch die Ablehnung des anderen erfolgen. Vielmehr
ist hierfür die Achtung unserer Identität und unserer Geschichte
erforderlich.
Die Waldstätten haben sich zusammengeschlossen, um gegen einen
stärkeren Gegner zu kämpfen. Hätten sie sich für Isolation und Rückzug
entschieden, wären wir heute sicherlich nicht hier, um den
Nationalfeiertag zu begehen.
Die Schweiz ist ein fantastisches Land, und ihre Einwohner haben im
Laufe der Geschichte immer wieder unter Beweis gestellt, sich gegen
widrige Geschicke behaupten zu können. Seien wir zuversichtlich und
besinnen wir uns auf unser Motto: «Einer für alle, alle für einen.»
Hoch lebe die Schweiz, der Kanton Basel-Stadt und die Stadt Genf!