25.02.2013

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25.02.2013
Nr. 9/2013 – Woche 25.02. bis 03.03.13
Israel fei ert Purimfest mit origi nel len Kostümen
Wenn junge Männer mit bemalten Gesichtern in einem Panzer aus Pappe über den Tel Aviver
Rothschild Boulevard rollen und es in der säkulare Mittelmeermetropole plötzlich von Rabbinern
und Muftis nur so wimmelt – dann, ja dann feiern die Israelis das jüdische Purimfest. Purim
erinnert an die Errettung des jüdischen Volkes vor dem Haman. Dieser höchste Regierungsbeamte
des persischen Königs wollte nämlich die gesamten Juden im Perserreich an einem Tag ermorden,
nachdem sich der Jude Mordechai geweigert hatte, vor ihm nieder zu knien.
Das jüdische Volk überlebte und feiert seither die Errettung durch Königin Ester. Neben den
Pflichten an dem Feiertag das Buch Ester zu lesen, sowie Spenden für die Armen zu geben, soll an
Purim vor allem gefeiert, gegessen und getrunken werden. Oder wie die jüdischen Gelehrten sagen:
„Jeder soll so viel Wein trinken, bis er nicht mehr unterscheiden kann zwischen ‚Verflucht sei
Haman‘ und ‚Gelobt sei Mordechai’“
Salutierend ziehen diese Kostüm-Soldaten im Papp-Panzer über den Tel Aviver Rothschild Boulevard (Bild Marta
Mozes).
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Auch an Purim geht es in Israel politisch zu – dieser Mann ist halb Ultra-Orthodoxer, halb Soldat (Bild Marta Mozes).
Ob dieser Hund glücklich mit seinem Kostüm war, ist nicht bekannt (Bild Stadtverwaltung Tel Aviv).
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Ein Schneckenmann mitten in Tel Aviv – das gibt es nur an Purim (Bild Stadtverwaltung Tel Aviv).
Weitere Informationen:
Fotoalbum der Stadtverwaltung Tel Aviv zu Purim
https://www.facebook.com/media/set/?set=a.578434012169772.146876.149159521763892&typ
e=3
Informationen über das Purimfest bei Wikipedia
http://de.wikipedia.org/wiki/Purim
So zialpoliti k i n Israel: „Wir brauchen ei n drastisches Programm zur Bekä mpfung von
Armut“
Israel ist vor allem als High-Tech und Start-up Nation bekannt. Doch die landesweiten Proteste
2011 haben gezeigt, dass in der Sozialpolitik einiges verbesserungswürdig ist. Der Vizedirektor für
Forschung am israelischen Sozialversicherungsinstitut Dr. Daniel Gottlieb ist Experte für soziale
Fragen des Landes. Seiner Meinung nach gibt es in Israel trotz der schwierigen
Sicherheitssituation Geld für soziale Belange – es geht nur an die falschen Stellen.
Wir haben mit ihm über die Probleme der Mittelschicht, die hohe Armutsquote und
Lösungsvorschläge gesprochen...
Das Interview führte Katharina Höftmann
Zwischenzeilen (ZZ): Zedek Chevrati, (deutsch: soziale Gerechtigkeit), war sicherlich das Wort des
Jahres 2011. Die landesweiten Proteste, die im Sommer 2011 am Rothschild Boulevard in Tel
Aviv begonnen hatten, liefen unter diesem Motto. Wie ungerecht geht es in Israel wirklich zu?
Daniel Gottlieb (Gottlieb): Es gab zu dieser Zeit weltweit einen Trend für solche
Demonstrationen, in Spanien, in England, in den USA – vor allem unter jüngeren Leuten gab es
eine Welle der Unzufriedenheit. Und auch in Israel haben nicht die Armen demonstriert, sondern
die Unzufriedenen. Es war eine Bewegung, die vor allem von den Schwierigkeiten der jungen
Israelis ausgelöst wurde. Denjenigen, die es ungerecht finden, dass bestimmte Gruppen, nämlich vor
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allem die Orthodoxen, keinen Armeedienst leisten. Wäre es wirklich um soziale Gerechtigkeit
gegangen, hätte die Arbeiterpartei viel stärker aus diesen Wahlen hervorgehen müssen.
ZZ: Es ging auch und vor allem darum, dass junge Familien in Israel nicht genug Geld verdienen um
die hohen Lebenserhaltungskosten tragen zu können.
Gottlieb: Absolut. Wir haben in Israel große soziale Probleme. Im OECD-Vergleich sind wir
führend bei der Kinderarmut, bei der Armut von Menschen im Arbeitsalter, bei der Armut der
älteren Leute sind wir etwas besser geworden, aber liegen immer noch fünf Prozentpunkte über
dem Durchschnitt. Aber auch die so genannte Mittelschicht im Land ist oftmals nicht weit von der
Armut entfernt. Davon sind vor allem junge Leute betroffen. Die Chancen einer jungen Familie,
sich eine Wohnung kaufen zu können, sind in den letzten Jahren von 50 auf rund 30 Prozent
gesunken.
ZZ: Was ist seit den Demonstrationen passiert?
Gottlieb: Gewisse Dinge. Die Kindergärten für drei bis fünfjährige sind jetzt kostenlos. Das ist gut.
ZZ: Bis die Kinder drei Jahre alt sind, kostet der Kindergarten aber immer noch sehr viel Geld. Und
dass, obwohl es nur drei Monate Elternzeit gibt. Manche Frauen arbeiten und dreiviertel ihres
Gehaltes geht für die Kinderkrippe drauf. Damit bestraft man doch diejenigen, die arbeiten gehen.
Gottlieb: Das stimmt und das ist absolut nicht zufriedenstellend und es bedingt ja auch, dass viele
junge Familien trotzdem sie arbeiten nicht weit von der Armutsgrenze entfernt sind. In Reaktion
auf die Demonstrationen haben wir für das Sozialversicherungsinstitut nur ein paar Monate später
einen Bericht herausgegeben, was man für diese Gruppe tun könnte. Wir haben Ideen entwickelt,
wie man kostengünstig Veränderungen herbeiführen und die Ungleichheit reduzieren könnte.
Leider wurde dieser Bericht nicht vom Trachtenberg Komitee berücksichtigt.
ZZ: Warum nicht?
Gottlieb: Politik wird in Israel in einem sehr kleinen Kreis gemacht. Die wichtigsten
Entscheidungen werden von wenigen Leuten getroffen, die der Regierung genehm sind. Die
Budgetgruppe im Finanzministerium ist so ein Zirkel.
„Die Einkommensverteilung in Israel ist eine der schlechtesten im OECD-Vergleich“
ZZ: Was sind Konzeptideen ihrer Forschungsgruppe, wie man die Mittelschicht entlasten könnte?
Gottlieb: Unter Benjamin Netanjahu wurde 2005/2006 eine große Einkommensreform umgesetzt.
Damals wurden die Steuern vor allem für sehr wohlhabende Bürger gesenkt. Wenn wir die
Einkommenssteuer von 2004 wieder einführen würden, kämen wir auf zusätzliche Einnahmen in
Höhe von 15 Milliarden Schekel (etwa 3 Milliarden Euro, 4 Milliarden CHF). Mit dem Geld
könnten wir eine Menge Programme finanzieren. Aber das ist natürlich ein bisschen naiv, denn das
wird nicht passieren.
ZZ: In Israel gibt es eine große, stabile Oberschicht. Sollte diese mehr zur Kasse gebeten werden?
Gottlieb: Ein weiterer Vorschlag, den wir gemacht haben, bezog sich genau darauf. Wir meinen,
dass man die Besteuerung von Zinseinnahmen erhöhen könnte. Diese Steuern sind mit 25 Prozent
Besteuerung aktuell deutlich niedriger veranschlagt, als die Besteuerung des Einkommens, die bis zu
48 Prozent betragen kann. Die Besteuerung von Zinseinnahmen betrifft zu mehr als 50 Prozent
Leute mit einem hohen bis sehr hohen Einkommen. Damit kommt diese günstige Besteuerung vor
allem reichen Leuten zu Gute. Mit einer Erhöhung könnten wir 9 Milliarden Schekel (ca. 1,8
Milliarden Euro, 2,2 Milliarden CHF) pro Jahr an Einnahmen für den Haushalt dazu gewinnen.
Eine andere Möglichkeit, wäre eine Vermögenssteuer einzuführen, wie es sie in der Schweiz, in
Frankreich und in Luxemburg gibt. Damit würden wir weitere 4 Milliarden Schekel generieren. Es
wäre ja genug Geld da. Aber aus all unseren Vorschlägen ist nichts geworden.
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ZZ: Aktuell verdienen 73 Prozent der israelischen Arbeitnehmer weniger als 8.000 Schekel (1600
Euro, 2000 CHF). 40 Prozent der Bürger weniger als umgerechnet 950 CHF (770 Euro). Letztere
bezahlen so gut wie keine Einkommensteuer. Was muss getan werden, damit sich diese Situation
verbessert?
Gottlieb: Die Einkommensverteilung unter israelischen Bürgern ist eine der schlechtesten in der
OECD. Neben der Steuerreform ist in der Vergangenheit noch etwas anderes, ganz entscheidendes
in Israel passiert: Seit ungefähr 1995 wurde die Zahl der Palästinenser, die in Israel arbeiteten aus
Sicherheitsgründen erheblich reduziert. Stattdessen wurden mehr als 300.000 Gastarbeiter, vor
allem von den Philippinnen, ins Land geholt. Diese Gastarbeiter sind zum Teil sehr qualifiziert,
aber man erlaubt ihnen nur im Niedriglohnsektor, wie in der Altenpflege, auf Baustellen, in der
Landwirtschaft usw., zu arbeiten. Die Gastarbeiter wurden ohne Grenzen ins Land geholt und haben
das Land förmlich überschwemmt. Viele weitere sind illegal gekommen. Während die Palästinenser
genau wussten, was ihre Arbeit wert war, müssen die Gastarbeiter zum Teil für Hungerlöhne
arbeiten. Arbeitsgesetze werden nicht durchgesetzt. Damit stellen sie eine erhebliche Konkurrenz
für Israelis dar, die eine geringe Ausbildung haben und ebenfalls ausschließlich in einfachen Berufen
arbeiten können. Die Gehälter für Arbeitnehmer mit niedrigem Ausbildungsniveau sind also
insgesamt stark gesunken.
ZZ: Und die große Zahl afrikanischer Flüchtlinge im Land macht sie Situation sicherlich nicht
besser...
Gottlieb: Genau. Diese verzweifelten Menschen arbeiten einfach für sehr wenig Geld und viele
Geschäftsleute nutzen das aus. Man könnte entsprechende Arbeitgeber zur Verantwortung ziehen,
aber das wird nicht gemacht. Und damit fallen viele Israelis aus dem Arbeitsmarkt. Seit 2003 steigt
die Zahl derjenigen Israelis, die soziale Unterstützung benötigen, immer mehr. Die Regierung sagt,
die sollen arbeiten gehen und kürzt die sozialen Leistungen. Und damit steigt natürlich die Armut.
„Auf dem hiesigen Arbeitsmarkt herrschen Verhältnisse wie im Wilden Westen“
ZZ: Nun sind dies Aspekte die Berufe mit sehr geringem Ausbildungsgrad betreffen. Aber insgesamt
ist doch das Lohnniveau im Land sehr niedrig. Und das auch für Leute, die Hochschulabschlüsse
haben. Dabei ist Israel ein Land mit einer starken Wirtschaft.
Gottlieb: Das kommt davon, dass auf dem hiesigen Arbeitsmarkt Verhältnisse wie im Wilden
Westen herrschen. Rund 14 Prozent der Arbeitnehmer verdienen weniger als Mindestlohn. Der
Mindestlohn liegt in Israel bei 4.300 Schekel (ca. 870 Euro, 1070 CHF) und er hat zwei Probleme:
Er wird nicht durchgesetzt und gleichzeitig werden alle Gehälter nach dem Mindestlohn bestimmt.
Dabei ist der Mindestlohn für Arbeitnehmer gedacht, die keine Ausbildung haben. Aber auch HighTech Firmen und selbst die Regierung orientieren sich am Mindestlohn.
ZZ: Israel ist ein äußerst heterogenes Land. Die Arbeitsbeteiligung ist vor allem unter den
Minderheiten problematisch. Nur 20 Prozent der arabischen Frauen und weniger als 40 Prozent
der ultraorthodoxen Männer arbeiten – welche Lösungsansätze gibt es für dieses Problem?
Gottlieb: Hier hat sich in den letzten Jahren viel getan, auch wenn sich dessen kaum jemand in
Israel bewusst ist. Die jungen, männlichen Ultraorthodoxen verzeichnen die stärkste Ansteigung
der Arbeitsquote. Sie waren bei 20 Prozent und sind mittlerweile bei 40 Prozent. Dasselbe gilt für
die Gruppe der arabischen Frauen. Das Problem ist nur weiterhin, dass in diesen Gruppen das
Einkommen sehr niedrig ist. Die Leute gehen arbeiten, aber sie kommen trotzdem nicht aus der
Armut heraus.
ZZ: Sie sprechen die hohe Armutsquote im Land an. Vor allem die Kinderarmut ist mit 35 Prozent
erschreckend hoch. Israel ist weltweit als Start-up Nation und High Tech Nation bekannt...
Gottlieb: Das ist Israel auch. Aber wir sind ein kleines Land mit großen Schocks. Ich erinnere
mich, wie wir bei der Bank of Israel 1990, als die UdSSR zerbrach, die Mitteilung bekamen, dass im
selben Jahr viele Einwanderer aus Russland kommen sollten. Also haben wir ein Programm für die
Integration von 40.000 Einwanderern vorbereitet. Kurze Zeit später kam der Gouverneur und
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sagte, sammelt die Programmhefte ein. Macht das Ganze für eine Million. Innerhalb von zwei, drei
Jahren ist die israelische Bevölkerung um 15 Prozent angestiegen.
ZZ: Aber die meisten russischen Einwanderer sind sofort arbeiten gegangen.
Gottlieb: Sie gingen arbeiten, ohne viel zu fragen oder klagen. Oftmals in sehr niedrigen
Positionen. Bei uns in der Bank of Israel gab es einen Fensterputzer aus Georgien – dort war er der
Vizedirektor der Zentralbank.
„2003 begann eine sehr aggressive Anti-Sozial-Politik“
ZZ: Wo liegen also die Ursachen für die hohe Armutsquote in Israel?
Gottlieb: 2003 begann unter dem Finanzminister Benjamin Netanjahu eine sehr aggressive AntiSozial-Politik. 2004 hat das Oberste Gericht nach Klagen von Bürgern entschieden, dass die
Budgetkürzungen in der Sozialversicherung nicht zu hoch waren. Und das war ein schwerer Schlag
für die soziale Situation im Land. Die Armutsquote, vor allem unter den sehr Armen, ist in den
zwei Jahren danach stark gestiegen und hat sich seitdem nicht mehr erholt.
ZZ: Was kann man tun, um die Armut zu bekämpfen?
Gottlieb: 1985 betrug die Inflation 500 Prozent. Die Regierung unter Premierminister Schimon
Peres war am Boden und wenn er die Bücher öffnete, sah er dass die Inflation seine gesamten
Einnahmen fraß. Also hat er gemeinsam mit uns, ich habe damals bereits bei der Bank of Israel
gearbeitet, ein Programm entwickelt, dass sehr schnell sehr erfolgreich war. Innerhalb von einem
halben Jahr konnten wir die Inflation auf 40 Prozent drücken. Dieses Programm habe ich jetzt in
meinem aktuellen Anti-Armutsprogramm wieder aufgenommen. Seit damals haben wir praktisch
keine Inflation mehr im Land gehabt. Ein ähnlich drastisches Programm müssen wir auch zur
Bekämpfung der Armut einführen.
ZZ: Was bedeutet das konkret?
Gottlieb: Israel gibt ein Sechstel von dem aus, was andere OECD Länder im Durchschnitt in aktive
Arbeitspolitikmaßnahmen investieren. Das muss sich ändern.
Israel im OECD-Vergleich
In den letzten fünfzehn Jahren ist in Israel die soziale Ungleichheit stark angestiegen. Obwohl die
Wirtschaft des Landes wächst, ist die Armutsquote Israels immer noch unter den schlechtesten
Ländern der OECD. Vor allem die israelisch-arabischen und die ultraorthodoxen Minderheiten sind
von Armut betroffen. Auch bzgl. der Zahl armer Familien liegt Israel im OECD Vergleich auf dem
vorletzten Platz vor Mexiko. Sie ist fast doppelt so hoch wie der OECD-Durchschnitt. 2010 gab
es 433.300 arme Familien im Land (dies entspricht 20 Prozent aller Familien). 50 Prozent von
ihnen gehörten zur arbeitenden Bevölkerung.
837.300 Kinder leiden in Israel unter Armut. Das entspricht einer Kinderarmutsrate von 35
Prozent aller Kinder in Israel, diese betrug im Vergleich dazu im Jahr 2000 noch 25 Prozent. Zwar
ist die Lebensqualität im kleinen Nahoststaat signifikant angestiegen, gleichzeitig liegt das ProKopf-Einkommen immer noch weit unter OECD-Durchschnitt. 36 Prozent der Haushalte im
Land haben große Probleme die monatlichen Ausgaben für Nahrungsmittel, Elektrizität und so
weiter, bereitzustellen.
Mehr als 60 Prozent der Israelis zwischen 15 und 64 sind erwerbstätig (OECD-Durchschnitt liegt
bei 66 Prozent). Israelische Arbeitnehmer sind jährlich im Durchschnitt 1.889 Stunden tätig
(OECD-Durchschnitt beträgt 1.749 Stunden/Jahr). Rund 80 Prozent der Erwachsenen (80 Prozent
der Männer und 84 Prozent der Frauen) zwischen 25 und 64 verfügen über einen Schulabschluss
(OECD-Durchschnitt beträgt 74 Prozent).
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„Es stimmt nicht, dass wir kein Geld wegen unserer schwierigen Sicherheitssituation haben“
ZZ: Es heißt immer, dass Israel aufgrund seiner schwierigen Sicherheitssituation kein Geld für
soziale Belange hat. Stimmt das?
Gottlieb: Nein. Das sagt man, aber wenn wir realisieren, dass allein 9 Milliarden Schekel an die
reichsten Schichten verloren gehen, weil man deren Zinsen nicht versteuert, dann begreift man das
Geld da ist. Wir haben weitere 5 Milliarden Schekel (ca. 1 Milliarde Euro, 1,25 Milliarden CHF),
die wir in Fördergelder für Kapitalanlagen stecken. Diese Gelder gehen an die reichsten Familien in
Israel, an Firmen wie TEVA, Amdocs, Strauss.
ZZ: Aber braucht man diese Firmen nicht auch? Sie schaffen ja viele Arbeitsplätze im Land.
Gottlieb: Das ist eine sehr gute Frage. Wenn wir die Wirksamkeit dieser Maßnahme analysieren
möchten, lässt man uns nicht. Ich sage nicht, dass man diese Fördergelder abschaffen sollte, aber
vielleicht kann man eine Milliarde weniger zahlen und dann schauen, ob das wirklich die
Unternehmen aus dem Land verscheucht. Aber zu sagen, wir haben kein Geld wegen der
Sicherheitsprobleme – damit bin ich nicht einverstanden.
ZZ: Benjamin Netanjahu hat im Nachgang zu den Wahlergebnissen mehr Sozialpolitik versprochen
– was kann man diesbezüglich von der neuen Regierung erwarten? Wird der Sozialstaat ein
Comeback feiern?
Gottlieb: Aus meiner Sicht ist das nicht sehr wahrscheinlich. Dabei muss dringend etwas passieren.
ZZ: Weil sonst die Lage irgendwann eskaliert?
Gottlieb: Die Demonstrationen waren ein erstes Anzeichen. Die Armut ist die Achillesferse der
israelischen Wirtschaft. Wir brauchen neben dem Wirtschaftsberater, der durch den Chef der Bank
of Israel gestellt wird, auch einen Sozialberater. Der aktuelle Armutsbericht wurde nicht einmal in
der Regierung diskutiert.
ZZ: Dr. Gottlieb, vielen Dank für das Gespräch.
Dr. Daniel Gottlieb wurde 1952 in Zürich geboren und hat an
der Universität in Zürich sowie an der London School of
Economics Wirtschaftswissenschaften studiert und an der
Hebräischen Universität promoviert. Von 1995 bis 2008
arbeitete Gottlieb als Senior Berater für die Gouverneure der
Bank of Israel, Jacob Frenkel, David Klein und Stanley
Fischer.
Daneben war er beim Internationalen Währungsfond in
Washington tätig.
Seit Anfang 2008 ist Daniel Gottlieb Vizedirektor für Forschung und Planung am
Sozialversicherungsinstitut in Israel. Daneben ist er als Dozent an der Hebräischen sowie der Ben
Gurion Universität beschäftigt.
Sein Forschungsinteresse gilt vor allem Wirtschaftsaspekten wie Armut, Arbeitsmarkt,
Gastarbeiter und Sozialpolitik.
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Weitere Informationen:
Artikel über Armutsquote in Israel (englisch), ynet, 05.02.12
http://www.ynetnews.com/articles/0,7340,L-4220785,00.html
Übersicht der OECD zu Israel (englisch)
http://www.oecdbetterlifeindex.org/countries/israel/
Hintergrundbericht über Armut in Israel (englisch), Brookdale Institute, April 2012
http://brookdale.jdc.org.il/_Uploads/dbsAttachedFiles/Facts-and-Figures-2012--Poverty-inIsrael.pdf
Webseite des Sozialversicherungsinstituts Israel (englisch, französisch)
http://www.btl.gov.il/
Profil von Dr. Daniel Gottlieb an der Ben Gurion Universität (englisch)
http://www.econ.bgu.ac.il/facultym/dangott/index.htm
Ihre Ansprechpartner
Redaktion: Katharina Höftmann; sie arbeitete im Auslandsbüro der dpa in Tel Aviv und für die WELT
ONLINE. Momentan arbeitet sie als freie Journalistin und Buchautorin. E-Mail: [email protected]
Projektverantwortlicher für den GIS-Vorstand: Jacques Korolnyk; E-Mail: [email protected]
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