„Wie Schafe, die keinen Hirten haben“ (Mk 6,34)
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„Wie Schafe, die keinen Hirten haben“ (Mk 6,34)
www.beitraege.erzabtei-beuron.de © Benedikt Schwank OSB „Wie Schafe, die keinen Hirten haben“ (Mk 6,34)* Liebe Schwestern und Brüder, viele von uns lieben den 23. Psalm: „Der Herr ist mein Hirte, nichts wird mir mangeln, er lässt mich lagern auf grünen Auen, er führt mich zum Ruheplatz am Wasser.“ Das sind Bilder, die wir gerne auf uns selbst beziehen. Tun wir das vielleicht nur deshalb, weil in diesem Text nichts von Schafen gesagt wird? Denn wie steht es mit dem letzten Vers des heutigen Evangeliums, in dem es von Jesus heißt: „Als er [ ... ] die vielen Menschen sah, hatte er Mitleid mit ihnen, denn sie waren wie Schafe, die keinen Hirten haben. Und er lehrte sie lange.“ Über diese lauschenden Schafe will ich heute zu Ihnen sprechen. Bringen wir auch sie mit uns heute hier in Beuron in Verbindung? Oder sind das nur andere, die in einem armen Land vor 2000 Jahren gelebt haben? Warum fühlen wir uns von diesen Worten nicht so persönlich angesprochen wie beim Psalm 23? Eine Ursache dafür ist ein großer Kulturbruch, auf den ich kurz eingehen will; denn er ist zum Verstehen der heiligen Schriften auch an anderen Stellen ganz wichtig. Wir wollen vielleicht – wie es in Ps 23 formuliert ist – den Zuspruch, dass es uns an nichts mangelt; aber wir wollen uns nicht sehen als schwaches, unselbständiges und dummes Herdentier. Deshalb ist es wichtig, dass wir uns klarmachen: Die Bibel hat ein ganz anderes Bild von Schafen als wir heute; sie haben dort einen ganz anderen Stellenwert als im heutigen Europa. Denn In der Bibel ist das Schaf wertvoll und gut, es ist geradezu das Symboltier für uns Menschen. So betet der Psalmist im wunderbaren 95. Psalm, den wir im Kloster morgens beten: „Kommt, lasst uns jubeln vor dem Herrn! ... Kommt lasst uns niederfallen, uns vor ihm verneigen, lasst uns niederknien vor dem Herrn, unserm Schöpfer! Denn er ist unser Gott, wir sind das Volk seiner Weide, die Herde von seiner Hand geführt“ (Ps 95,1-7). Und der hl. Benedikt ermahnt seine Mönche, sie sollten sich wie Schafe fühlen, wenn * Predigt in Beuron am 16. Sonntag im Lesejahr B (19. Juli 2009). 1 sie etwas erdulden müssen, und dabei sollen sie an den Psalmtext denken: „Um deinetwillen werden wir ... behandelt wie Schafe, die zum Schlachten bestimmt sind“ (Ps 44,23). Paulus zitiert denselben Vers, fügt aber im Hinblick auf diese Schafe noch hinzu: „Doch all das überwinden wir durch den, der uns geliebt hat“(Röm 8,37). Viele andere Stellen könnten uns zeigen, wie wertvoll in den Augen der heiligen Schriftsteller das Schaf ist. Wir können uns also biblische Texte nur dann wirklich zu eigen machen, wenn wir uns an diesen Unterschied zwischen europäischem und orientalischem Empfinden nicht nur ein bisschen erinnern, sondern ihn uns innerlich ganz zu eigen machen. – Übrigens: Unser Br. Alexius, der vor dem Klostereintritt Hirte war, sagte mir, er hätte die Schafe seiner Herde genau unterscheiden können. – Und ich selbst habe folgendes erlebt mit solchen, keineswegs „dummen“ Schafen: In den südlichen Randgebieten von Jerusalem zog eine Schafherde an den letzten Häusern vorbei. Ein Schaf hatte der Verlockung nicht widerstehen können und war in den grünen Vorgarten eines Hauses gegangen. Der Hirt, der weit vorausging, hatte es bemerkt. Er schickte aber keine Hunde – denn die hat der „königliche“ Hirte im antiken Orient gar nicht nötig –, sondern er rief das Schaf bei Namen, so wie wir unsere Hunde mit Namen rufen. Und zu meinem Erstaunen reagierte das Schaft darauf; es verließ sofort den schmackhaften, grünen Gartenrasen und kehrte zu seiner Herde zurück. Kehren wir nun zurück zu unserem Evangelientext, der ja von Schafen spricht, die aber keinen Hirten haben. Und da ist wichtig zu wissen: Die Bibel beschreibt Schafe zwar als sehr wertvoll und gut; aber: Ein Schaf, das sich verirrt, findet allein nicht zu einem neuen Weideplatz. Der Hirt ist es, der erkennt, wo in der Wüste ein Regen niedergegangen ist und daher in den nächsten Tagen frisches Grün aufsprießt. Ohne Hirt findet die Herde nicht dorthin. – Jesus war mit dem Boot über den See gefahren. Doch als er dort ankam, hatten sich schon wieder Menschen versammelt, die zu Fuß den großen Bogen des Landwegs zurückgelegt hatten. Warum diese Anstrengungen? Was erwarteten sie? Von einer wunderbaren Brotvermehrung ist jetzt noch gar nichts zu hören. Und trotzdem hungerten diese Schafe in irgendeiner Weise. . Und sie hatten Jesus gesucht, weil sie wussten: Alleine finden sie keine Nahrung, auch nicht – im übertragenen Sinne – „geistige Nahrung“ Jesus hat Mitleid mit ihnen; denn sie hatten keinen Hirten, der sie geistig nährte. Deshalb heißt es im Schusssatz des heutigen Evangeliums: „Und er lehrte sie lange.“ Und diese Schafe hören. 2 Sie hören zu. An anderer Stelle heißt es von solchen Schafen und von Jesus: Er „ist der Hirt der Schafe ... und die Schafe hören auf seine Stimme; er ruft die Schafe ... einzeln beim Namen und führt sie hinaus“ (Joh 10,3). Er führt sie auf eine neue, ganz andere Weide, um sie von ihrem Hunger zu befreien. Denn das ist sein Ziel: Dass die Schafe nicht schwach und hilflos bleiben, sondern wachsen und gesund werden an Leib und Seele; dass auch wir Menschen gesund werden, wenn wir wissen, wer unsere Nahrungsquelle ist. Wodurch geschieht das? – Von den Schafen unseres Evangeliums hieß es, sie hätten ihm lange zugehört. Liebe Schwestern und Brüder, weil dieses Hören und Sich-FührenLassen etwas so Wichtiges, aber auch etwas so Schwieriges ist, will ich nur darüber zum Schluss sprechen: Manche benützen die verschiedensten Meditationsbücher, andere fragen, was „man“ zur Zeit über etwa leibseelische Spiritualität denkt, oder was der Pfarrer sowieso in einem Fernsehgottesdienst sagte. Wir vergessen so leicht, dass wir auch heute noch auf Jesu eigene Stimme hören können. Zwar ist es nicht mehr der irdisch anwesende, der sichtbare und akustisch hörbare Jesus. Trotzdem können wir ihn hören. Auch heute noch spricht und lehrt der Geist Jesu. Dieser Paraklet vertritt geradezu nach Ostern den Auferstandenen (vgl. Joh 14,26). Aber wie machen wir es, dass wir ihn hören können? – Vor allem müssen wir – wenigstens kurz – ganz still werden. Wir müssen lernen, vor Gott still zu sein, schweigend aufmerksam zu werden für das, was er uns sagen will. Ganz tief in uns kann die Seele nämlich Gott begegnen.1 Außer der Stille kann dabei noch etwas anderes helfen: Wir machen uns klar, dass wir ganz arme Schafe und schwache Geschöpfe sind, „herumirrende Schafe“ in den Worten unseres heutigen Evangeliums. Wir sehen uns nicht gerne so, und doch gehört es auch zu unserer heutigen Erfahrung, die wir vielleicht in ein anderes Bild kleiden würden: In einem anscheinend unendlichen Universum gehören wir zu einer der unzähligen Galaxien. Wenn wir am Nachthimmel die Milchstraße sehen, so wissen wir: Unser Sonnensystem ist auch ein Punkt in dieser Milchstraße. Und um diese Sonnen ziehen viele Planeten ihre Bahnen. Und davon ist einer jener „Blaue Planet“, den wir unsere Erde nennen. Und auf dieser Erde bin ich unter Milliarden anderer ein Stäubchen, ein vergängliches, kurzlebiges Geschöpf, das aber sagen kann: „Herr, erbarme dich!“ Und es ist en 1 „Worauf es ankommt, ist, dass wir fähig werden, vor Gott still zu sein, ein schweigendes Aufmerksamsein in uns pflegen, in dem die Seele tief in sich Gott begegnet“ ( Basil Hume, Gott suchen. Einsiedeln 1979, S.44) 3 Geschenk, wenn dann irgendwann einmal jener Augenblick kommt, in dem wir der Größe Gottes tief in unserem eigenen Inneren gewärtig werden. Und dieses „Berührtwerden“ kann sich nirgends ereignen außer in uns selbst. Denn „Gott ist Geist“ (Joh 4,24). Nur geistig, in unserem Inneren, lehrt uns der Geist Jesu, der Hirt, der sich auch heute noch kümmert um seine Schafe, für die er alles gegeben hat, sogar sein Leben. Und dieses „Berührtwerden“ kann auch niemand für uns machen, weder ein Pfarrer oder „die Kirche“ noch wir selber. Wenn es geschieht, ist es Gott, der das in uns wirkt – aber: Wir können Jesus nicht drängen, er solle zu uns sprechen. Was wir tun können, ist nur, dass wir uns darauf besinnen, was für schwache, kurzlebige Geschöpfe wir sind. Vielleicht fällt uns in einer solchen stillen Minute auch ein, dass wir im Leben schon klar seine Stimme hörten, aber trotzdem egoistisch gehandelt haben. Und da bekennen wir in unserem Inneren: „Herr, sei mir Sünder gnädig!“ – Wenn wir so beginnen, wird es ein fruchtbares Beten werden. Denn Jesus suchte und sucht noch heute jene, die wissen, dass sie Kranke und Sünder sind. Mit anderen Worten: Wir müssen wie unsere Brüder und Schwestern vor 2000 Jahren in Galiläa am See ehrlich zugeben: Auch wir sind Schafe, die keinen Hirten haben, Schafe, die aber in Stille auf Jesu Stimme – tief in ihrem Inneren – hören wollen. Wenn wir uns so als seine Schafe wissen, gilt auch für uns das Prophetenwort: „Ich werde meine Schafe auf die Weide führen, ich werde sie ruhen lassen – Spruch Gottes, des Herrn. Die verloren gegangenen Tiere will ich suchen, die vertriebenen zurückbringen, die verletzten verbinden, die schwachen kräftigen,.... Ich will ihr Hirt sein und für sie sorgen wie es recht ist“ (Ez 34,15f). Wollen wir da nicht doch von Herzen gern seine kostbaren Schafe sein? – 4