Sie tanzen wieder - Wir tanzen wieder
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Sie tanzen wieder - Wir tanzen wieder
12 REPORTAGE Mittwoch, 24. Februar 2016 Kölner Stadt-Anzeiger Eineinhalb Stunden wird ohne Pause getanzt. Anneliese Deppner und Hedi Rahbar sind begeisterte Stammgäste beim monatlichen Tanztermin in Bayenthal. Fotos: Michael Bause Die Musik weckt oft Erinnerungen an die große Liebe. Sie tanzen wieder Raus aus der Pflege und rein in die Welt, die etwas Glamour verspricht – Demenzkranke blühen auf im Scheinwerferlicht der Tanzschule W er ist denn heute die Dame meines Herzens für den Eröffnungswalzer?“, ruft Georg Stallnig in die Runde. Die betagte Dame mit den kräftigen grauen Locken lächelt verschmitzt, als der Tanzlehrer sie mit einer charmanten Verbeugung auffordert und ihr die Hand entgegenstreckt. Fast verlegen wirft sie den Kopf nach hinten. Und lässt sich bereitwillig in tippelnden Schritten auf die Tanzfläche führen: „Man müsste noch mal 20 sein“ klingt aus den Boxen. Die Tanzstunde in der ADTV-Tanzschule Stallnig Nierhaus in Bayenthal ist eröffnet. Stallnig nimmt die betagte Dame fest in den Arm. Intuitiv überlässt sie sich ihrem Mann für den Augenblick und dem Wiener Walzer. Mit Cola und Limo in Sektgläsern prosten sich rund um die Tanzfläche die Herrschaften zwischen 60 und 90 Jahren in dezentem Licht an den kleinen Cocktailtischen der Tanzschule eifrig zu. Einige knabbern aufgeregt Salzstangen. Endlich geht es wieder los mit der Reihe „Wir tanzen wieder“ – für Menschen mit Demenz und ihre Begleiter. „Bitte einen Auftaktapplaus meine Herrschaften“, ruft Stallnig nach dem Eröffnungswalzer ins Mikrofon. „Der Tanznachmittag ist eröffnet.“ Mit fast kindlicher Begeisterung springen die, die noch gut zu Fuß sind, in die Mitte des Raumes und nehmen den Rhythmus auf. Annemie Bart bringt ihren Rollator in Position. Bei „Night Fever“ hält es sie nicht mehr auf dem Sessel. Entschlossen wiegt sie die Gehhilfe im Takt und zieht im ChaCha-Cha routiniert Kreise über die Fläche. Man merkt ihr die langjährige Routine an und spürt gleichzeitig, dass sie sich mit der Musik aus der Gegenwart verabschiedet und in die Erinnerung eintaucht. „Der Rollator, das ist eigentlich mein Mann“, sagt Annemie Bart, plötzlich wie nebenbei. „Nächte haben wir durchgetanzt, nur wir beide. Und als er im Sterben lag, da musste ich ihm versprechen, dass ich weiter tanze. Auch ohne ihn.“ Seit fünf Jahren verpasst Annemie Bart keinen Termin. Rund 60 Menschen mit Demenz kommen einmal im Monat in die Tanzschule an der Bonner Straße, um bei „Wir tanzen wieder“ „so richtig mal abzurocken“, wie es Tanzlehrer Stallnig formuliert. „Und zwar nicht im ausgeräumten Speisesaal ihrer Betreuungseinrichtung, in dem noch der Duft der Erbsensuppe vom Nachmittag wabert und dann irgendwer eine CD mit Volksmusik einlegt, sondern draußen in der Normalität“– mit einem bunten Mix von Walzer serie •• • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • •• DIE ZUKUNFT DER PFLEGE (2) Warum Bewegung hilft •• • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • •• VON ALEXANDRA RINGENDAHL über Hip-Hop bis Rock’n’Roll. Den mag Annemie Bart übrigens besonders, „weil er sich mit Rollator besonders gut tanzen lässt“. Aus Altenpflegeeinrichtungen des gesamten Kölner Umlandes machen sie sich einmal im Monat auf den Weg. Nehmen in Bussen bisweilen über eine Stunde Fahrt durch den Berufsverkehr in Kauf. Raus aus der Pflege, wo man der Bedürftige ist, rein in eine Welt, die den Duft von Normalität, von früher und ein bisschen Glamour atmet. Wenn er dann endlich ange- zogen im Bus in Richtung Tanzschule sitzt, hat der ein oder andere bisweilen schon vergessen, wo er jetzt hinfährt. Aber wenn die Herrschaften am Eingang der Tanzschule von Stallnig einzeln abgeholt und galant an seinem Arm zu ihrem Platz geführt werden, wenn sich die Diskokugel dreht und die Sektgläser klingeln, spüren die Senioren an der Atmosphäre, dass etwas Besonders in der Luft liegt. Erst recht wenn am Ende eines jeden Tanzjahres der große Abschlussball in der Wolkenburg winkt: Unter Kronleuchtern und in Festtagsgarderobe – inklusive Anzug bei den Herren und beherztem Make-up bei den Damen. Was 2007 als Experiment des tanzbegeisterten Koordinators des Kölner Demenz-Servicezentrums Stefan Kleinstück begann, ist mittlerweile eine bundesweite Initiative der Alexianer Köln geworden, sozusagen ein rheinischer Exportschlager: In zehn weiteren Städten von Hamburg bis Bad Homburg gibt es inzwischen die Veranstaltung „Wir tanzen wieder“ für Menschen mit und ohne Demenz jeweils in Zusammenarbeit mit einer Tanzschule vor Ort. Kleinstück, der das Konzept „Wir tanzen wieder“ kreiert hat, schult gemeinsam mit Tanzlehrer Stallnig die Multiplikatoren. Die Idee dahinter: Die Menschen nicht vor einem Stück Kuchen abstellen und eine CD abspielen, sondern einen Rahmen schaffen, der sie animiert. „Wenn der Tanznachmittag eröffnet ist, passiert nämlich etwas. Selbst die, die erst noch passiv im Rollstuhl sitzen, fangen nach zwei Liedern an, mit den Füßen zu wippen.“ Das liegt wissenschaftlich betrachtet daran, dass Musik und die Bewegung zur Musik den Hirnfrontlappen aktiviert. 1,5 Millionen Demenzkranke leben in Deutschland. Die Krankheit zerstört Stück für Stück Teile ihres Gehirns. Jedes Jahr wächst die Zahl der Demenzkranken um 300 000 Menschen. Der populäre Fernseharzt Dr. Eckart von Hirschhausen hat sich vor kurzem im Selbstversuch mit dem Einfluss des Tanzens auf das Gehirn beschäftigt. Antrieb war für ihn die legendäre Einstein Aging Study, eine Langzeitstudie, die Menschen über Jahrzehnte begleitete: Ergebnis war, dass die Hobbys eines Menschen beeinflussen, wie schnell das Hirn abbaut. Während Sportarten wie Schwimmen das Risiko, an Demenz zu erkranken, um 29 Prozent verringerten, brachte das Tanzen eine Risikoreduktion von sensationellen 76 Prozent. Weil Tanzen viele Ebenen anspricht: Man bewegt sich und den Körper eines anderen, lernt neue Bewegungsmuster, fordert die beiden Hirnhälften. Außerdem machen der soziale Kontakt und die Musik nachweislich glücklich. Genau darum geht es Stefan Kleinstück: „Es geht hier nicht um Therapie, sondern um das Gefühl und Tanzen als wirksame Prophylaxe gegen Demenz Bundesweite Initiative Die medizinische Fakultät der amerikanischen Universität Stanford hat in einer Langzeitstudie über 21 Jahre herausgefunden, dass Tanzen das Risiko, an Demenz oder Alzheimer zu erkranken, um bis zu 76 Prozent senkt. Zum Vergleich: Fahrradfahren reduzierte das Risiko um null Prozent. Lesen immerhin um 35 Prozent. tration fördern. Beide Punkte erfüllt Tanzen: „Es stellt weitaus größere Anforderungen an das Gehirn als simple Fitnessübungen mit automatisierten Bewegungen“, erläutert Professor Notger Müller von der Uniklinik Magdeburg, die eine Studie dazu durchgeführt hat. Tanzen integriere kinästhetische, rationale, musische und emotionale Prozesse. Grund dafür ist die Komplexität des Tanzens. Monotone Bewegung reicht nicht, damit das Gehirn neue Nervenzellen produziert und seine Leistungsfähigkeit auch im Alter erhalten kann. Das Denkorgan braucht geistiges Training durch komplexe Aufgaben, die Aufmerksamkeit und Konzen- Mittels Gehirnscan konnten die Forscher in Vergleichsgruppen feststellen, wie sich das Tanzen auch auf zellulärer Ebene im Denkorgan niederschlug. Bei den Tänzern hatten sich die Regionen, die mit Aufmerksamkeit und Gedächtnis zusammenhängen, sogar vergrößert. (ari) „Wir tanzen wieder!“ ist eine bundesweite Initiative der Alexianer Köln, entwickelt von Stefan Kleinstück vom DemenzServicezentrum Region Köln und das südliche Rheinland. Die Initiative gibt es in Köln seit fast neun Jahren. Mit wachsendem Erfolg an bundesweit zehn Standorten. Inzwischen hat das Konzept auch einige Ausweitungen erfahren. So organisiert das Team von „Wir tanzen wieder“ auch Tanz-Flashmobs mit Senioren quer durch die Republik. Die neueste Initiative ist „Der Flur tanzt“, bei der auf den Gängen von Betreuungseinrichtungen spontan zum Tanz aufgespielt wird. (ari) www.wir-tanzen-wieder.de die Erinnerungen, die das Tanzen auslöst.“ Anneliese Deppner (84) in schicker Robe hat ihre Tanzpartnerin Hedi Rahbar (80) fest im Griff als sie ebenso ernsthaft wie routiniert im Tangoschritt übers Parkett wiegt. „Wir sind verlobt“, ruft sie im Vorbeitanzen lachend. Seit fünf Jahren gehören die beiden zu den Stammgästen. „Ich brauche die Musik. Und meine Freundin war mal Musiklehrerin, die kennt alle Texte.“ Die singt gerade inbrünstig „Mer schenke dä Ahl e paar Blöm- Rock’n’Roll lässt sich mit Rollator besonders gut tanzen Annemie Bart cher“, bis zur letzen Strophe textsicher. Selbst Menschen, die sich irgendwann nicht mehr an die Namen ihrer Angehörigen erinnern, singen die Lieder ihrer Jugend oft noch Zeile für Zeile mit. Es ist aber auch die Berührung, die guttut. „Meist werden die Menschen in Pflegestationen nur noch in der Pflegesituation, etwa beim Waschen berührt“, erläutert Kleinstück. Zum dritten Mal nähert er sich der zerbrechlichen Dame im Rollstuhl, streckt die Hand nach ihr aus. Zweimal hat sie die Offerte ignoriert. Jetzt lächelt sie. Mit geschultem Griff bringt Kleinstück die Hochbetagte in den Stand, man möchte intuitiv unterstützend zugreifen. Aber sie steht und lässt sich vorsichtig im Rhythmus übers Parkett wiegen. Zu „So ein Tag, so wunderschön wie heute“, bewegen sich ihre Lippen, während andere grölend um sie herum tänzeln. „Oft werden gerade die stark geschwächten Senioren in den Einrichtungen nicht gefordert, aus Sorge, sie zu überfordern. Dabei möchten sie sich manchmal noch mal spüren, selbst wenn es schmerzt.“ Da gibt es die Situationen, die Kleinstück tief berühren. „Wenn mir eine Dame beim Tanzen etwa offenbart, dass sie seit 30 Jahren, seit dem Tod ihres Mannes nicht mehr mit einem Mann getanzt hat.“ Oft sind es auch Erinnerungen an den ersten Tanz mit dem Geliebten, die in dieser Atmosphäre an die Oberfläche spülen. „Diese Generation hat sich ja häufig beim Tanztee kennengelernt.“ Auch heute kriegen Stallnig und Kleinstück sie wieder alle. Am Ende bleibt keiner sitzen. „Und jetzt steppen, alle“, ruft der Tanzlehrer begeistert ins Mikro. „Ihr seid doch nicht zum Spaß hier.“ „Ausgerechnet Banane“, schallt es aus den Boxen. „Das Schöne ist, dass sich die Senioren auf alles einlassen, auch auf Hip-Hop. Da ist kein Filter mehr vorgeschaltet, der sie ständig prüfen lässt, wie sie nach außen wirken“, erläutert Stallnig. Und das macht frei. Beim Finale der Tanzstunde mit „Du bess die Stadt“ lässt Annemie Bart zum ersten Mal ihren Rollator los, reiht sich ohne ihre Stütze mit unsicheren Schritten in den untergehakten Kreis ein. Wer nicht stehen kann, der wird hier stehend gemacht. Zumindest kurz für diesen letzten Tanz. Anneliese Deppner hat dem Tanzlehrer das Mikro entrissen und übernimmt stimmsicher das musikalische Regiment der Truppe „Frech wie Dreck, doch et Hätz es jot“, gröhlt sie. Ein besonders engagierter Tänzer durchschreitet mit rudernden Armen zu mehr Körpereinsatz animierend den Kreis. Eineinhalb Stunden haben die Senioren getanzt. Sind körperlich an ihre Grenzen gegangen bis Georg Stallnig ihnen in den Mantel hilft. Wenn auch der ein oder andere nach der Rückkehr nicht mehr berichten kann, wo er heute den Nachmittag verbracht hat. Das gute Gefühl, die innere Hochstimmung wirken nach. „Das hören wir immer wieder auch als Feedback aus den Betreuungseinrichtungen“, sagt Kleinstück. „Schön wor et!“, ruft der besonders engagiert tanzende Herr im Rausgehen. „Zu Hause spricht der den ganzen Tag nicht“, meint Kleinstück lächelnd. Wie ist Ihre Meinung? Welche Erfahrungen haben Sie mit dem Thema Pflege gemacht? Schreiben: Kölner Stadt-Anzeiger, 50590 Köln Faxen: 0221/224-25 24 Mailen: [email protected] (Bitte alle Schreiben, Mails, Faxe und Online-Zusendungen mit kompletter Anschrift)