Siegel - Historisches Lexikon der Schweiz

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Siegel - Historisches Lexikon der Schweiz
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19/12/2012 |
Siegel
S. dienen von alters her zum Verschliessen und zur Beglaubigung von
Urkunden und anderen Dokumenten, zum Gütebeweis, z.B. von Tuch,
und als Ausweis, z.B. zur Strassenzollbefreiung und für
Gerichtsvorladungen. Zur Typologisierung der S. unterscheidet die
Siegelkunde oder Sphragistik v.a. Stempel- und Siegelformen,
Materialien, Farben, Bildmotive, Grösse, Anbringungs- und
Verwendungsweisen.
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1 - Techniken und Materialien
Das S., lat. sigillum (Diminutiv von signum, Bild, Kennzeichen), ist der Abdruck eines härteren Siegelstempels
in einem weicheren Siegelstoff. Als Siegelstempel, auch Petschaft oder Typar genannt, dienen Roll-, Ring(anulus, oft mit Gemmenstein) und Stempelsiegel genannte Prägeformen, die v.a. aus Metall, Stein, Bein und
Gummi gefertigt sind. Als Siegelstoffe wurde Ton von der Antike bis in frühbyzantin. Zeit im Osten,
Bienenwachs v.a. von röm. Zeit an und mit Harz gefestigtes Wachs im Früh- und HochMA verwendet. Die
Metallsiegel aus Blei, Gold und selten aus Silber werden als Bullen bezeichnet. Bleibullen waren ab dem 1. Jh.
n.Chr. bekannt, insbesondere in der Papstkanzlei bis zu ihrer Ersetzung 1878 durch Farbstempel und in der
Herrscherkanzlei von Karl dem Grossen bis zu Ks. Heinrich IV. um 1100. Die Goldbullierung - ein Vorrecht der
Herrscher - ist in Byzanz ab Justinian im 6. Jh. v.Chr. bezeugt. Im Original erhaltene Goldbullen setzen im Hl.
Röm. Reich mit Ks. Heinrich II. um 1020 ein. In Frankreich sind solche unter Kg. Ludwig VII. aus dem 12. Jh.
nachgewiesen und je eine von Kg. Ludwig XII. und Franz I. blieb erhalten. Gemäss Konrad von Mure prägte die
Papstkanzlei zuweilen auch Goldbullen, wovon das älteste erhaltene Original von 1524 datiert und das letzte
unter Pius VII. (1800-23) hergestellt wurde. Aus Harz gefertigter Siegellack kam im 16. Jh. auf, Oblaten aus
Mehlteig fanden v.a. im 17. und 18. Jh. Verwendung, Papier ist seit der frühen Neuzeit ebenfalls gebräuchlich.
Vom späten 12. Jh. an waren die häufigsten Siegelformen rund, oval und insbesondere für Geistliche sowie
adlige weltl. Frauen und Ordensfrauen spitzoval, ab den letzten Jahren des 12. Jh. schildförmig. Die
Siegelgrösse wies vom FrühMA bis ins 14. Jh. eine zunehmende Tendenz auf, dann setzte eine Verkleinerung
ein. Farbige, v.a. rote Wachssiegel mehrten sich ab dem 12. Jh., wobei ausser bei den franz. Königsurkunden
keine festen Regeln für die Anwendung bestimmter Farben bestanden.
Die Befestigungsart variierte je nach Material und Epoche. Beim durchgedrückten S. wurde das Wachs durch
ein mittels eines Kreuzschnitts hergestelltes Loch auf das Pergament gedrückt. Das eingehängte S. entstand,
indem beide Enden eines auf der Rückseite der Urkunde eng anliegenden Pergamentstreifens durch kleine
Einschnitte nach vorn gezogen und unsichtbar in das Wachs eingebettet wurden. Das vorn aufgedrückte S.
wurde mit dem Gebrauch von Lack-, Oblaten- und Papiersiegeln hauptsächlich als Verschluss verwendet. Das
angehängte oder Hängesiegel wurde an Pergamentstreifen bzw. Seiden- oder Hanffäden freihängend am
unteren Urkundenrand samt Plica (Umbug) angebracht und zum Schutz in eine Wachsschüssel, eine Holzoder Metallkapsel gedrückt oder in ein Leinwandsäckchen eingenäht. Das abhängende S. wurde auf einem am
untern Urkundenrand bis zu drei Vierteln eingeschnittenen und umgefalteten Pergamentstreifen aufgedrückt.
S. können einseitig auf der Vorderseite (Avers) oder auch auf der Rückseite (Revers) bestempelt sein. Runde
Hängesiegel mit gleich grossem Avers und Revers werden Münzsiegel, deutlich kleinere S. auf dem Revers
Rücksiegel oder Gegensiegel (contrasigilla) genannt. Bullen sind in der Regel beidseitig geprägt.
Zu den Bildnissiegeln zählen die S. mit Porträt, stehender oder sitzender (Majestäts- und Thronsiegel)
Ganzfigur, aber auch die ab dem 12. und 13. Jh. häufiger vorkommenden Reitersiegel sowie die im 13. Jh.
verbreiteten Falkenjagdsiegel. Das Wappensiegel wurde ab Mitte des 12. Jh. oft als Gegensiegel benützt.
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Symbolsiegel enthalten ein für den Siegelführer charakterist. Kennzeichen, z.B. einen Turm und ein
Mauerstück in einem Stadtabbreviatursiegel. Schriftsiegel zeigen im Siegelfeld ausschliesslich eine Schrift.
Die Umschrift war später üblicherweise mit einer Begrenzungslinie vom Siegelbild abgetrennt. Sie nennt meist
den Siegelinhaber, ab dem 13. Jh. im Genitiv bei einleitendem S(ignum) bzw. S(igillum). Dabei fand bei der
Auszeichnungsart der Buchstaben Ende des 14. Jh. ein Übergang von der Majuskel zur Minuskel statt.
Autorin/Autor: Pascal Ladner
2 - Rechtliche Bedeutung des Siegels für Urkunden
Das S. war v.a. wegen seiner Bildhaftigkeit zunächst ein sekundäres Beglaubigungs- und Beweismittel neben
der Zeugennennung. Nicht zuletzt die gesteigerte Schriftlichkeit, die wachsende Bedeutung des röm.-kanon.
Rechts sowie die aufkommenden Wappen führten ab dem 12. Jh. zur allg. Ausbreitung des S.s. Dies erforderte
eine jurist. Festlegung seiner Beweiskraft. So prägte der 1159-81 amtierende Papst Alexander III. den Begriff
des Sigillum authenticum, das neben der Manus publica, dem Notariat, der Urkunde Beweiskraft verlieh. Die
Führung eines authent. S.s war zunächst auf höhere Prälaten beschränkt, wurde aber bald stark ausgeweitet
und mit der german.-rechtl. Anschauung von der Siegelführung in eigener oder in fremder Sache verbunden.
Für diese so entstandene Siegelurkunde konnte sowohl die Zeugenaufführung als auch die Chartularführung
(v.a. in der Westschweiz) aufgegeben werden.
Autorin/Autor: Pascal Ladner
3 - Verbreitung
Die Siegelpraxis gelangte vom Orient über die Griechen und Römer ins fränk. Reich. Von Karl dem Grossen an
wurden mit antiken Gemmen geprägte Wachssiegel sowie Bleibullen zu Beglaubigungsmitteln. Unter Ks. Otto
I. wurde um 965 das Siegelbild des Herrschers als Krieger mit Schild und Lanze abgelöst vom frontalen
Brustbild des Kaisers mit Krone, Kreuzzepter und Reichsapfel, dieses wiederum 996 unter Ks. Otto III. von der
Ganzfigur. Aus dem Thronsiegel entwickelte sich der Typus der späteren Herrschersiegel.
In Anlehnung an die Herrscherurkunden begann im 10. Jh. der Adel zunächst in Bayern mit der Besiegelung
von Urkunden. Ab 1140 besassen die Hzg. von Zähringen ein Standbildsiegel und ab 1169 ein Reitersiegel.
Das S. der Gf. von Lenzburg von 1159 blieb als ältestes weltl. S. im alemann. Raum der heutigen Schweiz
erhalten. Als weitere Siegelführer traten 1214 die Gf. von Neuenburg auf, 1221 die Gf. von Greyerz, 1223 die
Gf. von Kyburg, 1232 die Gf. von Habsburg sowie 1236 jene von Savoyen. Danach erfolgte eine allg.
Verbreitung bei Niederadel, Bürgern, Städten und Ständen. Das älteste erhaltene dt. Stadtsiegel datiert von
1149 von Köln. Bern besitzt eines von 1224, Zürich und Freiburg von 1225, Basel von 1225 und 1256, Uri von
1243, Avenches von 1270, Lausanne von 1282-84 und Chur von 1282.
Zu den geistl. Siegelführern gehörten an erster Stelle die Päpste. Ihre mit rotgelben Seidenfäden (cum serico)
bzw. mit Hanfschnur (cum canapis) befestigten Bleisiegel erhielten unter Papst Paschalis II. 1094-1118 die
endgültige Form mit Namens- und Apostelstempel. Daneben trat ab 1265 ein rotes Wachssiegel mit dem in
einem Boot stehenden, Fisch fangenden Petrus (anulus piscatoris). Wohl zu den ältesten erhaltenen
Bischofssiegeln aus Wachs gehört dasjenige Liuthards von Paderborn von 887.
Älteste Belege für die Siegelführung der Bischöfe samt den jeweiligen Domkapiteln und Offizialaten sind ab
dem 11. Jh. überliefert. Abgesehen vom literarisch bezeugten S. des 959/960-971 amtierenden St. Galler Abts
Purchart war der Gebrauch des S.s in den Klöstern ab dem 12. Jh. zunächst von den Benediktineräbten bzw. äbtissinnen und meist etwas später von den Konventen belegt. Das Generalkapitel der Zisterzienser
verordnete ab 1200, das Abtsiegel mit der Abtgestalt mit Stab bzw. mit dem nur von einer Hand umfassten
Stab darzustellen. Zisterzienserklöster führten ab Ende des 12. Jh. eigene S. Ebenso nachgewiesen sind sie für
die Klöster anderer Orden.
Älteste Belege der geistlichen Siegelführung
Bischof
Domkapitel
Offizialat
Basel
1010
1183
1252
Chur
1075
um 1100
1273
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Bischof
Domkapitel
Offizialat
Lausanne
1115
1180
1260
Genf
1131
1246
1225
Sitten
1184
1189
1271
Konstanz
1157
-
1256
Benediktinerabt
Konvent
1130
1249
Einsiedeln
Disentis
12. Jh.
1237
Engelberg
1164
1241
Erlach
1185
-
Fraumünster
1221
1316
Muri
1242
1312
Müstair
1253
1295
Zisterzienserabt
Konvent
Hautcrêt
1178
1340
Hauterive
1192
1348
St. Urban
1220
1340
Maigrauge
1326
um 1350
Quellen:Pascal Ladner
Autorin/Autor: Pascal Ladner
4 - Siegel in der Neuzeit
Nachdem sich die Siegelführung im SpätMA ausgeweitet hatte, veränderte sich die Rolle des S.s ab dem 16.
Jh. in Folge der zunehmenden Bedeutung der eigenhändigen Unterschrift als dem verbindl.
Beglaubigungsmittel, ohne dass das S. aber ganz verdrängt wurde. Zu dieser Entwicklung trugen die stärkere
Verbreitung der Schreibfähigkeit und die immer wichtigere Stellung des öffentl. Notariats bei. In der frühen
Neuzeit setzte deshalb bei der Beglaubigung von Rechtsschriften ein Rückgang des Siegelgebrauchs durch
Private ein. Herrscher, weltl. und geistl. Fürsten und Institutionen, Städte und Klöster führten neben der
zunehmend massgebenden Unterschrift weiterhin S. Die ursprünglich persönl. Siegelstempel der jeweiligen
Amtsträger wurden v.a. im Bereich der öffentl. Ämter, Behörden und Gerichte durch amtl. Typare ersetzt, die
über längere Zeit von mehreren Amtsnachfolgern geführt werden konnten. Das persönl. S., meist als
kleinformatiges, rundes Wappensiegel, seltener als Buchstaben- oder Initialensiegel ausgestaltet, wurde in
der Neuzeit mehrheitlich zum Verschliessen privater Briefschaften oder auch zur Eigentumskennzeichnung
von Waren benutzt.
Die Franz. Revolution und ihre Folgen mit tief greifendem strukturellen Wandel veränderte das Siegelwesen
auch in der Schweiz grundlegend. Die administrative Neugestaltung der Helvet. Republik liess eine grosse
Zahl neuer S. entstehen, da nahezu alle Ämter, Behörden und Distrikte eigene Dienstsiegel erhielten. Als
Siegelbilder diente v.a. die Figur Wilhelm Tells mit seinem Knaben, seltener das Liktorenbündel oder auch
eine sitzende Frauenfigur wie die Helvetia. Auch reine Schriftsiegel und frühe Farbstempel ersetzten das S.
Die Entwicklung der staatl. Dienstsiegel setzte sich auf eidg. Ebene mit dem Bundessiegel von 1815 fort, das
zum ersten Mal das weisse Kreuz auf rotem Grund als offizielles Schweizerwappen zeigte, umgeben vom
Kranz der Kantonswappen. Diese Darstellung wurde 1848 vom grossen S. des neuen Bundesstaats
übernommen.
Das 19. und 20. Jh. erlebte die Neuschöpfung einer Vielzahl von Dienstsiegeln der Verwaltungsstellen auf
allen polit. Stufen, die meistens als Schriftsiegel gestaltet waren, in der Bildgestaltung teilweise aber auch auf
traditionelle Vorbilder zurückgriffen. Der Gebrauch von Präge-, Farbdrucksiegeln und Farbstempeln setzte sich
allgemein durch. Zu Beginn des 21. Jh. sind das Siegeln bei der Beurkundung von amtl. Dokumenten wie
Urkunden und Ausweisen sowie das amtl. Verschliessen (Plombieren) von Behältnissen und Räumen mit Hilfe
von S.n praktisch nur noch im öffentl. Bereich üblich, wogegen im privaten Geschäftsverkehr die
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eigenhändige Unterschrift zur Beglaubigung in der Regel ausreicht.
Autorin/Autor: Matthias Senn
5 - Wissenschaftliche Betreuung der Siegel in der Schweiz
Die wissenschaftl. Betreuung der S. obliegt im Prinzip den Archiven. Originale Siegelstempel aus dem MA bis
in die Neuzeit werden in mehreren kulturhist. Museen aufbewahrt. Die Siegelsammlung des Schweiz.
Landesmuseums in Zürich umfasst ca. 80'000 Siegelabdrücke und Siegelkopien sowie rund 800
Siegelstempel. Mit Siegelkunde befasst sich auch die Schweiz. Heraldische Gesellschaft. Sphragistik wird an
den Universitäten neben der Urkundenlehre (Diplomatik) als Teil der Historischen Hilfswissenschaften gelehrt.
Autorin/Autor: Matthias Senn
Quellen und Literatur
Literatur
– E. Kittel, S., 1970
– R. Gandilhon, M. Pastoureau, Bibl. de la sigillographie française, 1982
– Vocabulaire international de la sigillographie, 1990
– LexMA 7, 1848-61
– Bibl. zur Sphragistik, hg. von E. Henning, G. Jochums, 1995
– A. Stieldorf, Siegelkunde, 2004
– Das S., hg. von G. Signori, 2007
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