BERT GRABSCH - Tour Magazin

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BERT GRABSCH - Tour Magazin
BERT GRABSCH
Durchblick: ZeitfahrWeltmeister Bert Grabsch
mit der Trophäe seines
Sieges von der WM in Varese
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TOUR 4 | 2009
Der stille
Champion
So schnell, wie er im vergangenen Herbst zum WM-Titel im Einzelzeitfahren gerast ist, so
schnell scheint Bert Grabsch wieder verschwunden zu sein. Ein Hausbesuch bei der Familie
des Weltmeisters am Bodensee
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ert Grabsch blickt gerne in die Ferne. Sein Lieblingsplatz, sagt er, ist die Couch. Von dort kann er
aus der breiten Fensterfront seines Wohnzimmers
im schweizerischen Kreuzlingen über den Bodensee in
seine alte Heimat Deutschland gucken. Wenn der muskulöse 1,78-Meter-Mann in Polohemd und Adiletten in
seiner Wohnung sitzt und mit ruhigem Tonfall über seinen
Beruf spricht, könnte man auf die Idee kommen, man
säße der lebenden Gemütlichkeit gegenüber. Ein Mann,
der tagsüber ins Büro geht und abends vor dem Fernseher
sitzt. Wenn man es nicht besser wüsste. Und wenn es nicht
für Bert Grabsch schlichtweg undenkbar wäre.
„Ich könnte mir nie vorstellen, von morgens bis
abends im Büro zu sitzen“, sagt der 33-Jährige mit der
strubbeligen Strähnchenfrisur. Er ist lieber draußen
und arbeitet hart auf dem Rad – so hart, dass er am
25. September 2008 mit kräftigen, gleichmäßigen Pedalumdrehungen ins Rampenlicht
trat und vorbei an allen KonkurȀǻǸ ǶǫǸǹǵǴ
renten zum Weltmeistertitel im
Einzelzeitfahren fuhr. Auf dem
Geboren: 19.6.1975 in Wittenberg (DDR)
Siegerpodest stand er im RegenGröße: 1,79 Meter; Gewicht: 78 Kilo
bogentrikot mit der Stoppuhr
Wohnort: Kreuzlingen (Schweiz)
auf der Brust und reckte im
Familienstand: verheiratet mit Susanne,
späten Sonnenlicht die Arme in
Tochter Lea-Muriel (5 Jahre)
den Himmel. Das Bild eines
Profi seit: 1997
Mannes, der gerade nach den
Teams: Agro Adler Brandenburg
Sternen greift.
(1997–1998), Cologne (1999–2000),
„Damit habe ich mein
Phonak (2001–2006), T-Mobile (2007),
Traumziel erreicht“, sagt Bert
High Road/Columbia (2008–2010)
Grabsch ein paar Monate später
Wichtige Erfolge: Hel van het Mergelland
am Wohnzimmertisch seines
2000; Etappensieg Burgos-Rundfahrt 2002;
Designerhauses im Kreuzlinger
Rund um die Hainleite 2005; Etappensieg
Ortsteil Steig. Er ist damit
(EZF) Vuelta, Deutscher Meister Zeitfahren
Nachfolger von Jan Ullrich, der
2007; Deutscher Meister und Weltmeister
bisher als einziger Deutscher
Zeitfahren, Etappensieg (EZF) und Gesamtwertung Sachsen-Tour, Etappensieger (EZF) den WM-Titel im Kampf gegen
die Uhr gewann. 1999 und 2001
Österreich-Rundfahrt 2008
ǐ Internet: www.bertgrabsch.de
war das. Grabsch ist überhaupt
erst der vierte deutsche Welt-
meister in der Profiklasse. Im Straßenrennen gewannen
nur Heinz Müller (1952) und Rudi Altig (1966) Gold.
Man könnte sagen, der Sohn eines Tiefbauers aus der
Lutherstadt Wittenberg, in der DDR aufgewachsen, hat
es geschafft. Ein Grundstück mit Seeblick am Schweizer
Bodenseeufer, einen Mercedes-Geländewagen in der
Garage, ein schickes, eigenes Haus, in dem er mit Frau
Susi und der fünfjährigen Tochter Lea-Muriel wohnt.
Arbeiter in einem Knochenjob
Und doch ist Bert Grabsch irgendwie unzufrieden. Vielleicht nachvollziehbar, wenn man sich in seine Situation
versetzt: Du wirst Weltmeister, und keiner guckt hin!
Zumal Grabsch alles andere ist als ein zweiter Jan Ullrich,
kein schlampiges Talent, das verkorkste Jahre mit einer
Stunde Fleißarbeit und dem Zeitfahr-Titel rettete. Bert
Grabsch, und da ist man wieder beim Blick in die Ferne,
hat sich zwölf Profijahre Schritt für Schritt, Pedaltritt für
Pedaltritt, zu seinem großen Ziel vorgearbeitet.
Auch wenn viele zweifeln mögen, weil der Radsport
nach all den Dopingskandalen nur noch wenig Vertrauen
genießt – Bert Grabschs Erfolg, der für viele überraschend
kam, ist das Ergebnis von harter und akribischer Arbeit
daran, allein gegen den Wind schneller Rad zu fahren als
alle anderen auf der Welt. Sein kräftiger Körperbau, die
muskulösen Arme, deuten auf einen Knochenjob. 78 Kilo
bei 1,78 Meter Größe – das sind ungewöhnliche Werte im
modernen Radsport, in dem viele Profis geradezu mitleiderregend dürr sind. Grabschs Manager, der Schweizer
Ex-Profi Rolf Huser, sagt über seinen Klienten: „Er ist ein
stiller Arbeiter.“ Einer, der seinem Team-ColumbiaKapitän George Hincapie die Windböen bei ParisRoubaix vom Leib hält oder sich bei der Tour de France
stundenlang vors Peloton spannt, um für seine Chefs das
Tempo zu kontrollieren. Aber das ist nur der eine Teil
von Bert Grabsch. Er weiß, wann seine Stunde schlägt.
„Wenn es über Tempo 50 geht und nicht viele Berge drin
sind, das kann ich gut“, sagt Grabsch. Und er wusste: Die
Weltmeisterschaftsstrecke 2008 um den Lago di Varese
war ihm auf den kräftigen Leib geschneidert.
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Seinen Weltmeister-Titel sieht er auch als Folge des
Neuanfangs im Radsport. „Ich denke, dass mein Erfolg
auch etwas mit den veränderten Bedingungen im Radsport zu tun hat“, sagte Grabsch nach dem WM-Erfolg
in Varese und erzählt davon, wie er vor wenigen Jahren
staunte, als ihn spanische Bergflöhe auf Flachstrecken
bei Gegenwind im Zeitfahren überholten. Aber der
Radsport-Arbeiter, der jetzt Weltmeister ist, würde sich
nie als Wortführer im Kampf gegen Doping hinstellen.
Die junge deutsche Rennfahrer-Garde, Kollegen wie
Linus Gerdemann, sind ihm fremd geblieben.
Mit Akribie und Strategie
Kritiker mögen Grabschs Sprung an die Spitze argwöhnisch kommentieren. Dabei sieht Grabsch seinen Aufstieg
zum Weltmeister als logisches Ende einer Entwicklung:
„Ich habe gewusst, dass ich stark bin – nur hat mir das
keiner zugetraut“, sagt der Weltmeister. Seit Jahren fühlt
er sich unterschätzt. Dabei hatte er schon 2007 eine
Zeitfahr-Etappe der Spanien-Rundfahrt gewonnen und
kurz vor der Tour de France bei der Deutschen ZeitfahrMeisterschaft Stefan Schumacher geschlagen. Für die
WM im gleichen Jahr in Stuttgart kann er auf unglückliche Umstände verweisen: Trotz guter Vorleistungen
durfte er nicht in der Gruppe der Besten starten, sondern
musste früh auf die noch regennasse Straße und verpasste
am Ende eine Medaille nur um 15 Sekunden. Ein Jahr
später passte alles. Der überragende Zeitfahrer der Gegenwart, Fabian Cancellara, hatte abgesagt, weil er sich
nach Tour de France und Olympiasieg müde fühlte.
Während bei anderen die Luft raus war, arbeitete
Grabsch mit Trainer Sebastian Weber gezielt am WMTriumph. Seine Fahrlinie in Kurven verbesserte er dank
Videostudium, die Beschleunigungsfähigkeit aus Kurven
und Kreisverkehren verbesserte er mit kurzen, harten
Intervallen, den Sattel schob er nach Tests auf der Bahn
und im Windkanal fürs Zeitfahren einen Zentimeter tiefer als am Straßenrad. Und mit Hilfe von GPS-Daten und
Streckenprofil entwickelte er eine spezielle Rennstrategie.
Das Ergebnis: Mit Tempo 50 raste er zum Titel, zu seinem
großen Ziel – aber die Wertschätzung fällt geringer aus
als bei seinen Vorgängern.
Für Radsportler wie Bert Grabsch ist es schwer nachvollziehbar, dass Fernsehkommentatoren euphorisch
jubeln, wenn deutsche Biathleten an mutmaßlich gedopten Russen vorbei zum Sieg laufen, aber abschalten,
wenn ein deutscher Radler nach Jahren den Durchbruch
schafft – auch weil einige Konkurrenten im dichten
Kontrollnetz des Radsports hängen geblieben sind.
Schließlich hat Grabsch sich einst als Jugendlicher bewusst für Radsport und gegen sein Talent als Kicker entschieden. „Radsport war damals populärer als Fußball“,
sagt er. Seine Idole: Amateur-Weltmeister Uwe Raab und
Olympiasieger Olaf Ludwig. Doch das ist eine Weile her.
„Der Radsport hat doch in Deutschland keine
Chance mehr“, sagt der Wahlschweizer mit Blick aus dem
Fenster hinüber in seine alte Heimat. Die Sponsoren sind
weg. Keinen einzigen Exklusivvertrag hat er für sich persönlich abschließen können. Zwar hat Team Columbia
seinen Vertrag nach dem Titelgewinn von einem
auf zwei Jahre verlängert und auch großzügiger dotiert.
Trotzdem: „Rein wirtschaftlich bin ich zum falschen
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»Rein wirtschaftlich bin ich
zum falschen Zeitpunkt Weltmeister geworden«
Zeitpunkt Weltmeister geworden“, sagt der zurückhaltende Radprofi. Sein Manager Huser rechnet vor,
dass sein Klient vor wenigen Jahren gut und gerne
100.000 Euro pro Jahr mehr hätte verdienen können.
Und es ist schon das zweite Mal, dass sich seine Arbeit
nicht auszahlt. Wenn man den leisen Frust von Bert
Grabsch verstehen will, muss man mit ihm in den Keller
seines Hauses steigen – die früheren Erfolge hängen im
Dunkeln. Im Hobbyraum ein Gelbes Trikot, die begehrteste Trophäe des Radsports. Überreicht von Floyd
Landis, der bei der Tour de France 2006 Paris als Erster
erreichte und zum Dank Teamkollegen wie Grabsch mit
einem seiner Leadertrikots bedachte. „Er hat nicht
gewonnen, aber ich habe es verdient. Es ist doch das
Entspannt: Grabsch mit dem Rad seiner Tochter Lea-Muriel
www.principia.dk
Zeugen einer langen
Profi-Laufbahn: Im
Keller hängen frühere
Teamräder
Einzige, was mir geblieben ist“, sagt Grabsch über die Arbeit
für seinen einstigen Kapitän Floyd Landis.
Kraft für die Operation Gold
Drei Wochen lang hatte er sich, damals noch im Trikot des
Schweizer Teams Phonak, während der Tour im Flachen
vors Peloton gespannt, um dem amerikanischen Anführer
Windschatten zu spenden. Dann wurde Landis nachträglich
als Dopingsünder entlarvt. Und damit waren auch die
Prämien des Tour-Veranstalters futsch, die der Sieger traditionell mit seinen Teamkollegen und Betreuern teilt. „Das
hat mich meinen Pool gekostet“, scherzt Grabsch. 70.000
Euro, schätzt er, sind ihm durch den Dopingfall durch die
Lappen gegangen. Man könnte nun entgegnen, dass Landis
die Tour wohl nicht gewonnen hätte, wenn er sich damals
in den Alpen nicht mit einer Überdosis Testosteron Beine
gemacht hätte. Dann wäre für die Teamkollegen auch nichts
abgefallen. Aber so kann das ein Rennfahrer nicht sehen, der
wochenlang selbstlos den Buckel krumm gemacht hat. Es
sollte die Krönung der Karriere eines loyalen Helfers sein,
der wegen seiner Tempohärte „in der Fläche“, wie Grabsch
selbst zu ebenen Strecken sagt, über Jahre einen Stammplatz
bei der Tour hatte. Er ist noch immer sauer auf Landis,
seinen einstigen Leader.
Bert Grabsch kommt aus einer Zeit, in der Radsportler
und Arbeiter Helden waren. Aber die fehlende Anerkennung
kann auch ein Motor sein. Wie im vergangenen Sommer, als
man ihn bei Team Columbia kurzfristig aus der Mannschaft
für die Tour strich und der Radprofi daraus die Kraft für die
Operation Gold zog. So wird er auch weiter unauffällig seine
Arbeit machen. Und fest zutreten, wenn seine Stunde schlägt:
Im Herbst will er wieder Weltmeister in Mendrisio werden,
2012 vielleicht Olympiasieger in London. Bert Grabsch
■
arbeitet weiter. Irgendwann wird es sich lohnen ...

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