Wandel und Erosion des Sozialstaats?

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Wandel und Erosion des Sozialstaats?
Berthold Vogel
Thesenpapier, Bremen am 7. Juni 2012
Wandel und Erosion des Sozialstaats?
In dem Band „Wohlstandskonflikte. Soziale Fragen, die aus der Mitte kommen“ werden
zwei Geschichten erzählt: Eine theoretisch-konzeptionelle Geschichte über die Funktionsmechanik des europäischen Wohlfahrtsstaates und eine sozialdiagnostische Geschichte über Klassenmobilität, Vorwärtskommen und Statusnervosität, kurzum: über
Aufstieg und Expansion, aber auch über die Abstiegssorgen der Mittelschichten.
In der ersten Geschichte wird der Wohlfahrtsstaat nicht nur als Integrations- und Ausgleichsprinzip moderner Gesellschaften beschrieben, sondern vor allem als Ort der Konflikte und der hegemonialen Problembestimmung. Die zentrale Funktionsmechanik des
Wohlfahrtsstaates besteht darin, in rechtlich geordneten Konflikten aus partikularen
Fragen universale Angelegenheiten zu machen. Das gilt für die Arbeitslosenversicherung
und die Hinterbliebenenrente, für außerbetriebliche Bildungsgänge und die Unterstützung Alleinerziehender, für die Pendlerpauschale und die Pflegeversicherung. Der Sozialstaat konstituiert „Vorzugslagen“ (Max Weber), aber auf diese Weise auch „Benachteiligungslagen“. Die Privilegierung der einen ist die Benachteiligung der anderen. Der positive Effekt dieses Transformations- und Konstitutionsprozesses (der seit dem
19.Jahrhundert bis heute ungebrochen anhält) ist die Etablierung eines sozialen Bewusstseins (Abram de Swaan), in dessen Zentrum die Akzeptanz von Interdependenz,
Sicherheit und Verbindlichkeit steht. Dieser Mechanismus steht in den aktuellen wohlfahrtsstaatlichen Neujustierungen und in der Veränderung der arbeitsgesellschaftlichen
Grundlagen des Wohlfahrtsstaates freilich in Frage. Die normative Kritik öffentlichen
Handelns und die Prekarisierung der Arbeitswelt sind hierbei treibende Kräfte.
Die zweite Geschichte schließt hier an. Sie berichtet von der formativen Kraft staatlicher
Politik und Rechtssetzung. Der Sozialstaat bzw. der Wohlfahrtsstaat prägt moderne Gesellschaften in ihrer Sozialstruktur und Mentalität. Der Sozialstaat hat klassenbildende
Effekte. Gesellschaften mit einer breitgefächerten, selbstbewussten und wohlhabenden
Mittelklasse sind Staatsprodukte. Nur dort, wo der Staat (bzw. in seiner Spezifikation:
die Kommunen) als Arbeitgeber, Rechtsrahmen und Sozialgestalter präsent ist, finden
sich die wirtschaftlichen und strukturellen Voraussetzungen für die Etablierung starker
Mittelschichten. Im Zentrum dieser Klasseneffekte stehen die öffentlichen Dienstleistungen der Daseinsvorsorge, der Rechtsgewährung, der sozialen Sicherheit, der Bildung
und Gesundheitspflege. Sie sind paradigmatische Orte des sozialen wie beruflichen Aufstiegs. Doch das ist Historie. Heute erzählen wir das Ende einer Aufsteigergeschichte,
wenn wir über den Wohlfahrtsstaat sprechen, denn ein wesentliches Merkmal seiner
Neujustierung ist der Entzug der Statussicherung in der Arbeitswelt, in der sozialen Sicherung, aber auch in der Gewährleistung öffentlicher Güter. Diese Statussicherung ist
aber vor allen Dingen für diejenigen relevant, die etwas zu verlieren haben. Die Furcht
vor dem Weniger dominiert daher insbesondere die Haltung und das Bewusstsein der
europäischen Mittelschichten. Wir analysieren in nahezu allen europäischen Gesellschaften die Verbreitung von Abstiegsangst und Statusnervosität. Die Kunst der sozialstaatlichen Politik von morgen wird weniger in der Verteilung von Mehr bzw. in der
Ausweitung von sozialen Handlungsspielräumen bestehen, sondern vielmehr in der
ausgleichenden Organisation des Weniger.
Entlang beider Geschichten lassen sich mit Blick auf die Diskussion zwei Fragen stellen:
1. Was heißt das nun für die Frage der Autonomie der Bürgerinnen und Bürger? Dient
der Wohlfahrtsstaat der konkreten Freiheitsverwirklichung einzelner Personen und
ihrer Lebensformen oder schafft er primär die gemeinschaftlichen Grundlagen zur
Wohlfahrtsverwirklichung? Woraus bezieht er seine Legitimität? Aus dem Autonomiegedanken? Oder aus einem subsidiären Vergemeinschaftungsgedanken, der Verteilungsfragen neu ordnet? Kann der Staat für die Autonomie und die freiheitliche Lebensgestaltung des Einzelnen überhaupt in die Pflicht genommen werden? Ist er dann nicht
gezwungen, Maßstäbe der Lebensführung zu entwickeln?
2. Was heißt das für die Funktionsweise des Wohlfahrtsstaates? Könnte es sein, dass der
Wunsch nach Autonomie, nach dem sozialstaatlichen Schutz eigenständiger und selbstbestimmter Lebensweisen die Ausdrucksform einer Gesellschaft der Individuen ist?
Provoziert der Wunsch nach Autonomie, nach Eigenständigkeit und freier Teilhabegestaltung - gegen die Intention seiner Protagonisten - die Erosion des Wohlfahrtsstaates?
Der Effekt wäre dann die Partikularisierung des Universalen und nicht mehr die
Universalisierung des Partikularen?!