Ein Weltmeister aus Kirchen

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Ein Weltmeister aus Kirchen
Ein Weltmeister aus Kirchen
KIRCHEN
Dr. Andreas Stühn holte mit der Fußball-Nationalmannschaft der Ärzte den Titel / Verbindung von Sport und Weiterbildung
auch verhindert, dass Unfallchirurgen und
Orthopäden aus aller Welt über Diagnose
und Therapie diskutieren. Für den Kirchener sind es aber immer interessante und
lehrreiche Erfahrungen, wie unterschiedlich die Ansätze sein können.
Mannschaftskapitän Vogel
lobt den „Zerstörer und
Dauerrenner“ als wichtige
Stütze des Teams.
thor � Wer Zimmer 5 der Kirchener
Gemeinschaftspraxis an der Bahnhofstraße betritt und zunächst nach links
schaut, wird nichts Auffälliges entdecken.
Der Muskelaufbau des menschlichen Körpers im XXL-Format an der Wand ist in Behandlungsräumen von Sportmedizinern so
normal wie ein Pony-Poster im Zimmer einer Siebenjährigen. Erst wenn der Blick
nach rechts wandert, wird die Szene
außergewöhnlich. Da hängt, adrett drapiert in einem Rahmen, ein grünes Trikot,
das so man so nur aus dem Fernsehen
kennt – wenn die deutsche Fußballnationalmannschaft aufläuft. Doch damit nicht
genug: Schmuckes Beiwerk ist eine Goldmedaille. Und wenn man jetzt noch den
Namen auf dem Trikot mit dem des
Schreibtischinhabers weiter unterhalb
vergleicht, dämmert ganz langsam die Erkenntnis: Hier sitzt mitten in Kirchen ein
echter Fußball-Weltmeister: Dr. Andreas
Stühn.
Seit dem 6. Juli kann sich der 44-jährige
Internist nicht nur das Stethoskop, sondern auch besagte Goldmedaille um den
Hals hängen. Da schlug die deutschen Fußballnationalmannschaft der Ärzte im Finale der diesjährigen Weltmeisterschaft in
Budapest das Team aus Tschechien im Elfmeterschießen mit 7:6 – der erste Titel für
die Mediziner aus Deutschland. Und auch
wenn der Kirchener nicht selbst zu den
Torschützen gehörte, als Defensiv-Stratege hatte er zuvor maßgeblichen Anteil
daran, dass die Mannschaft überhaupt erst
den Weg ins Finale schaffte und sogar drei
Spiele ohne Gegentor blieb. Eine Woche
lang hatten hier Ärzte von allen Kontinenten (Ausnahme: Afrika) den neuen Weltmeister ausgespielt. Und Stühn & Co.
machten den Mannen von Jogi Löw eindrucksvoll vor, wie man favorisierte Brasilianer, Spanier und Engländer in Schach
hält.
Seit seiner Jugend ist der Kirchener ein
leidenschaftlicher Kicker, groß geworden
und fußballerisch sozialisiert auf dem
Hardtkopf-Sportplatz. Während des Studiums in Mainz nahm er dann an Fachschaftsturnieren teil, und aus der Landeshauptstadt kommt auch Dr. Clemens Vogel, eine Art „Motor“ der Ärzte-Nationalmannschaft und Vorsitzender des gleichnamigen Vereins, der im Jahr 2000 gegründet wurde. Schließlich verbindet man mit
dem Kicken auch ein soziales Engagement.
1996 war erstmals eine Weltmeisterschaft in Verbindung mit einem Kongress
in Barcelona veranstaltet worden, initiiert
von Ferran Morell, Chefarzt der Pulmonologie am Klinikum Val d´Hebron. Zehn
Jahre lang blieb die katalonische Metropole fester Austragungsort, ab 2004 sorgte
die neue „World Medical Football Federation“ (die FIFA für Ärzte) für eine Rotation
bei der Ausrichtung.
Über Clemens Vogel war Stühn um den
Jahrtausendwechsel zum Team gestoßen –
offenbar hatte der Kirchener bei den Turnieren in Mainz nachhaltig Eindruck hinterlassen. Seit dieser Zeit gehört er zum
festen Gerüst der Mannschaft, und Kollege
Vogel, der auch Mannschaftskapitän ist,
beschreibt Stühn so: „Er entspricht in der
Vorgeschrieben ist bei einer Weltmeisterschaft, dass zu jeder Zeit jeweils zwei
Spieler auf dem Feld stehen müssen, die
älter als 35 bzw. 40 Jahre alt sind. Das muss
auch bei den fliegenden Wechseln bedacht
werden, will man sich als Trainer nicht einen ähnlichen Fauxpas erlauben wie einstmals Christoph Daum mit dem VfB Stuttgart, als bei einem Europapokal-Spiel die
Ausländerregel missachtet wurde. Medizinstudenten sind nicht erlaubt, man muss
schon eine Approbation vorlegen. Bei
Zweifeln gibt es eine Art theoretischen Doping-Test: Der „verdächtige“ Spieler muss
medizinische Fachfragen beantworten.
Laut Stühn hat sich gezeigt, dass eine gesunde Mischung aus jungen und erfahrenen Spielern den Erfolg bringt. Trainiert
wird die Auswahl übrigens von Zahnarzt
Dr. Hugo Faul, der bereits die A-Jugend
des 1. FC Nürnberg unter seinen Fittichen
hatte.
„Den Pokal gebe ich nicht mehr her“, scheint Dr. Andreas Stühn kurz nach der Siegerehrung zu denken.
Fotos: privat
Spielanlage einer fußballerischen Kombination aus Berti Vogts und Icke Häßler. Im
defensiven Mittelfeld als Dauerrenner und
Zerstörer genauso wichtig, quasi ein 6er,
wie im Spielaufbau nach vorne als Internist
differentialdiagnostisch intelligent und
noch immer, mit seinen fast 45 Jahren, auf
den ersten 15 Metern wieselflink und sehr
beweglich. Auch wenn er mittlerweile zu
den Älteren im Team zählt, ist er, bei immerhin 170 cm Körperlänge auf Fußballstollen, noch immer eine nicht wegzudenkende Größe in unserem Team.“ Anders
ausgedrückt heißt das: Den Kirchener
möchte man nicht unbedingt als Gegenspieler. Und ja, gibt er zu: Ihm sei schon
mal gesagt worden, dass er auf dem Platz
keine Gefangenen mache. Da ist es nur
konsequent, dass der Name Stühn auch auf
der Liste der Gelbsünder des Turnieres in
Budapest auftaucht.
Nun sollte man freilich nicht denken,
dass bei diesen Weltmeisterschaften die
Herren Ärzte für eine Woche die ethischen
Grundsätze ihres Berufsstandes vergessen, um den örtlichen Kollegen in den
Krankenhäusern möglichst viel Nachschub zu verschaffen. „Es ist immer eine
sehr freundschaftliche und familiäre
Atmosphäre“, berichtet Stühn, oft kenne
man sich schon seit vielen Jahren und
Unglaublich: Englische (!) Spieler lassen nach dem Schlusspfiff des Finales mit Stühn
einen deutschen Nationalspieler auf den Schultern hochleben.
freue sich, bestehende Kontakte zu pflegen oder neue zu knüpfen. Aber: „Wir spielen hier keinen Lari-Fari-Fußball“, stellt er
klar. „Da wird sich nichts geschenkt.“ Nach
wie vor ist der Fußball auch nur eine Seite
der Medaille, am Kongress-Charakter hat
sich seit den ersten Jahren in Barcelona
nichts geändert. Das bedeutet: An den Vormittagen gibt es zahlreiche Vortragsveranstaltungen zu medizinischen Themen,
nachmittags werden dann die Fußballschuhe geschnürt: „Das hat schon einen
hohen Fortbildungswert. Ich kann da immer viel mitnehmen.“ Auch an die mitgereisten Fans – in der Regel Familienangehörige – wird gedacht: Am spielfreien Tag
in der Woche wird immer ein größerer
Ausflug organisiert.
Von den Spielern selbst ist einiges an
Kondition gefordert. Für jede Mannschaft
stehen bei einer Weltmeisterschaft sechs
Spiele à 80 Minuten an. Ein großer Kader
ist daher unverzichtbar, auch weil laut
Stühn die Ausfallquote im Verlauf eines
Turniers doch beachtlich ist. Er selbst tritt
lieber in Kirchen und Betzdorf etwas kürzer, um dann bei der Nationalmannschaft
richtig Gas geben zu können. Für Verletzungen auf dem Feld bzw. die Erstbehandlung seien übrigens die Physiotherapeuten
zuständig, berichtet Stühn. Damit wird
Nachdem man im Vorjahr in Schweden
auf Platz 5 gekommen war, sei man mit
ähnlichen Zielsetzungen nach Ungarn gereist, erzählt Stühn. Das Viertelfinale solle
es auch diesmal sein. Bei der Teamvorstellung habe Kapitän Clemens Vogel betont:
„We are not here to win, just to gain friends“
(Wir sind nicht hier, um zu gewinnen, sondern um Freundschaften zu schließen). Oftmals habe man in der Vergangenheit zurückgesteckt und sich als faire Verlierer
erwiesen, sagte Stühn. Über die Vorrunde
(1:1 gegen gegen Tschechien; 3:1 gegen
Schweden, 4:4 gegen Südkorea) hatte man
sich für das Viertelfinale qualifiziert, wo
man mit typisch deutschen Tugenden
(Stühn: „Erstmal hinten dicht gemacht“) die
Brasilianer mit 1:0 bezwang. Im Halbfinale
ging es gegen den mehrfachen Titelträger
Spanien. Nachdem in der regulären Spielzeit und auch in der Verlängerung keine
Toren gefallen waren, entschieden schon
hier die Deutschen das Elfmeterschießen
mit 5:4 für sich. Im Finale gegen Tschechien
folgte dann die Krönung. „Mich hat besonders gefreut, dass uns alle den Titel gegönnt haben“, sagt Stühn, der nach dem
Schlusspfiff von englischen Spielern auf
Schultern über den Platz getragen wurde.
Nachdem in diesem Jahr erstmals
Mannschaften wie Russland an der Weltmeisterschaft teilgenommen hatten, soll
das Feld 2014 sogar auf 16 Teams erweitert
werden. Gespielt wird dann – parallel zur
„richtigen“ WM – in Brasilien, und zwar in
Natal. Auch Stühn möchte dann wieder die
Koffer packen, eventuell sogar als offizieller FIFA-Botschafter, denn der Weltverband will die Ärzte-Teams offiziell anerkennen und als Botschafter für Gesundheitsprävention einsetzen. Ganz klar: „Wir
sind dann die Gejagten.“
Bei allem Stolz auf das Erreichte will
der Kirchener Arzt die Kirche im Dorf lassen: „Ich kann das alles sportlich schon
sehr gut einschätzen“, sagt er mit Blick auf
das Niveau bei einer WM. So hört man zwischen den Zeilen heraus, dass zwei seiner
Söhne, die in der Jugend bei den Sportfr.
Siegen bzw. der SG Betzdorf spielen, manchem Orthopäden vermutlich Knoten in
die Beine spielen würden. Doch Goldmedaille bleibt Goldmedaille.
Thorsten Stahl
Das siegreiche Team der deutschen Ärzte. Mit 7:6 hatte man sich im Elfmeterschießen
gegen Tschechien durchgesetzt.