Textilien denken mit

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Textilien denken mit
Innovationsbeispiele – Impulse 2011| 2012
Textilbasierte Sensorsysteme bringen mehr Sicherheit in den Alltag
Textilien denken mit
Flexibel: Elektronik für
Textilien muss sich an
das Trägermaterial anpassen. Biegsamkeit und
Robustheit sind gefragt.
Leiterbahnen müssen
beispielsweise auch der
Waschmaschine trotzen.
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Technische Textilien
Smarte Textilien verbinden Mikroelektronik
ren – er kann auch einfach nur Licht anschalten.
um clevere Kleidung, sondern auch um intel-
Toilette wollen, aber sich nicht orientieren kön-
mit flexiblen Stoffen. Dabei geht es nicht nur
ligente Anwendungen für Sicherheit, Gesundheit und Transport. In Zukunft könnten viele
Branchen von den textilen Multitalenten
profitieren.
D
er Fußboden funkt SOS: Intelligente
Sensoren, verborgen unter dem Tep-
pich, haben den Sturz einer Senio-
rin registriert. In Sekundenbruchteilen senden
sie einen Notruf zum Pflegepersonal.
Der denkende Fußboden ist bereits Realität und
soll in Pflegeheimen mehr Sicherheit bieten. Ent-
wickelt wurde das System namens SensFloor
von Future-Shape bei München. „Das Herzstück
bilden Sensormodule auf textiler Basis, die sich
unter Teppich-, Laminat- oder PVC-Boden auslegen lassen“, sagt Christl Lauterbach, Managing
Director bei Future-Shape. Diese Fläche wird
dann mit einer schwachen Spannungsquelle
verbunden: Etwa neun bis zwölf Volt genügen,
damit die Module ein schwaches, elektrisches
Feld erzeugen. „Die Sensoren arbeiten kapazitiv,
ähnlich dem Display eines Smartphones, und
messen zehnmal pro Sekunde die Feldstärke.
Betritt eine Person die Fläche, ändert sich das
Demenzkranken hilft das, wenn sie nachts zur
nen“, erklärt Lauterbach. Der fühlende Fußbo-
den ist bereits zertifiziert und auf dem Markt
erhältlich. Es gibt Musterzimmer in Bremen, und
seit 2012 testet auch ein Pflegeheim im Elsass die
Technologie.
„Leitfähige Materialien in Stoffe zu integrieren,
ist eine große Herausforderung bei der Entwicklung von smarten Textilien“, erklärt Sabine Gim-
pel, Bereichsleiterin Forschungsmanagement
und -marketing am Textilforschungsinstitut
Thüringen-Vogtland e. V. (TITV). Dort wird an
Technologien gearbeitet, die Elektronik und Textilien verschmelzen und innovative Produkte
für völlig neue Einsatzgebiete möglich machen.
Dies war auch das zentrale Thema des Forums
„Textil und Sensorik“ von Bayern Innovativ im
Oktober 2011.
Um Sensoren beispielsweise in Kleidung zu integrieren, müssen Mikrochips direkt auf stromlei-
tende Textilien aufgebracht und elektrisch verbunden werden. „Damit das gut funktioniert,
benötigt man einen Widerstand von 10 bis 20
Ohm pro Fadenmeter“, sagt Gimpel. Ausgangs-
punkt der Forschungsarbeiten waren kom-
Intelligenter Teppich:
Sensorflächen unter
dem Fußboden erzeugen ein schwaches
elektrisches Feld. Die
Elektronik kann so zum
Beispiel unterscheiden,
ob jemand auf dem Boden steht oder eventuell
gestürzt ist.
elektrische Feld“, erklärt Lauterbach. Der intelligente Fußboden leitet diese Information per
Funk an einen Empfänger weiter, beispielsweise
einen Computer oder eine Rufanlage. Eine ausgeklügelte Software wertet die Signale aus und
löst im Notfall sofort Alarm aus.
Vielseitig einsetzbar
Das „Herz“ des Sensorbodens ist ein zwei Millimeter dünner Vliesstoff, der mit einem zweiten
Vlies beschichtet ist. Dieses leitet Strom und ver-
sorgt einerseits die Elektronikmodule im Boden
mit Spannung, und bildet gleichzeitig pro Quadratmeter 32 Sensorflächen. Der Fußboden kann
so sogar unterscheiden, ob eine Person auf ihm
liegt oder steht: Mittels Mustererkennung detektiert das System eine gestürzte Person, denn das
ausgelöste Signal ist wesentlich intensiver, als
würde sie den Boden nur betreten. „Der Empfänger lässt sich zudem flexibel programmie-
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Innovationsbeispiele – Impulse 2011| 2012
Nachgefragt
merziell erhältliche Polyamidfasern mit einem
Silbermantel. „Mithilfe elektrochemischer Verfahren ließ sich das Material weiter metallisieren
und der gewünschte Widerstand erreichen“, so
die Textilingenieurin. Der am TITV entwickelte
Elitex®-Faden bildet eine textile Basis für smarte
Kleidung: Sensoren, Mikrochips und Elektroden
lassen sich damit optimal verbinden. Gleichzei-
tig ist der Stoff aus den Spezialfäden angenehm
zu tragen, waschbar und flexibel formbar.
Besonders der Medizinbereich ist ein großer
Treiber für textilbasierte Sensorik: „Textilien
sind die Schnittstelle zwischen Mensch und
Umwelt“, so Gimpel. In anschmiegsame Shirts
können unauffällige Pulsmesser integriert wer-
Welche Herausforderungen stellen sich
durch die Kombination von Textilien und
Elektronik?
Klassische Schaltkreise sind meist starre
Module. Durch die Verbindung mit Textilien
müssen sie flexibel werden. Zurzeit versucht
man, die Elektronik so weiterzuentwickeln,
dass sie sich bequem und zuverlässig in
Funktionstextilien einbetten lässt: Effiziente
Verbindungstechnik und höhere Zuverlässigkeit
der flexiblen Elektronik unter mechanischer
Belastung spielen eine große Rolle.
Welche Technologien sind für die Entwicklung von intelligenten Textilien relevant?
an den Füßen. Denn Diabetes führt häufig dazu,
Die Integration von informationsgewinnenden
und -verarbeitenden Bauelementen in Textilien
ist wichtig – aber auch die Signalübermittlung
an den Träger: durch Displays oder Haut- und
Nervenkontakte. Gerade in der Medizin sind
textile Strukturen, die sich anpassen und
„antworten“, ein großes Ziel. Man versucht
zum Beispiel künstliche, biologische Gewebe
herzustellen, die mit dem Körper oder der
Umwelt wechselwirken. Das kann zur Energieerzeugung, aber auch zur Verabreichung von
Medikamenten genutzt werden.
sen. Die Folgen: Durchblutungsstörungen, Ner-
Was begeistert Sie persönlich am meisten
an diesem Forschungsgebiet?
den. Sogar EKGs lassen sich über die Kleidung
aufnehmen, ohne dass Elektroden aufgeklebt
werden müssen. Das ersetzt zwar keinen Arztbesuch, aber Sportlern oder Reha-Patienten
erleichert das schlaue Shirt den Vitalcheck. Für
Diabetiker haben die TITV-Forscher beispielsBei Atmung Licht:
Die Designerin Synne
Frydenberg hat für ihr
sogenanntes „Pneuma
Dress“ ein Kleid mit
Sensorik ausgestattet.
Je nach Atmungsaktivität leuchten die LEDs in
der Designstudie heller
oder dunkler.
Prof. Dr. Karlheinz Bock
Fraunhofer-Einrichtung für Modulare Festkörper-Technologien
weise eine spezielle Sensor-Socke entwickelt: Sie
warnt Patienten vor gefährlichen Druckstellen
dass Druck- und Schmerzempfinden nachlasvenschäden und schlechte Wundheilung.
Damit textilintegrierte Mikrochips und Senso-
ren ihre Aufgaben erfüllen können, brauchen sie
Die Faszination von textiler Elektronik liegt in
der Nähe zum Körper. Die Technik ermöglicht
es, den Menschen unmittelbar und vielfältig zu
unterstützen. Wissenschaftler verschiedenster
Bereiche arbeiten zusammen, und Technologien lassen sich synergetisch nutzen. Es gibt
visionäre Konzepte – von der Entwicklung
von Kraftanzügen, die behinderte Menschen
unterstützen, bis zur Verstärkung menschlicher
Bewegungsleistungen für Extremsituationen.
Strom. Die mobile Energieversorgung ist deshalb ein wichtiger Themenkomplex – es wird
an Lösungen wie gedruckten Batterien oder der
Nutzung von Sonnenenergie gearbeitet. Ein vom
BMBF gefördertes Projekt hat das Ziel, eine Farbstoffsolarzelle im Fadenformat zu entwickeln.
Auch im Automobilbau sind intelligente Tex-
tilien gefragt: Das Material ist leicht und hilft
so, Treibstoff zu sparen. „Mit smarten Textilien
lassen sich zusätzliche Funktionen in Fahrzeuge
integrieren oder verbessern“, sagt Textilexpertin
Gimpel. Beispiel Sitzheizung: Heute sind Heiz-
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Technische
Impulse
2010 Textilien
Energie
www.textile-innovation.de
„Thinking outside the box“ wird für textile
Innovationen immer wichtiger. Gerade
auch für die Realisierung von Textilien mit sensorischen und elektrischen Funktionen. Ganz in diesem
Zeichen stand das erstmalige Kooperationsforum
„Textil und Sensorik“ in Regensburg, das sich als
Branchenhighlight entpuppte. 230 Experten aus der
Textil-, Sport-, Elektronik- und Automobilindustrie,
der Medizintechnik sowie aus der Wissenschaft wurden zusammengeführt.
Intelligente Textilien könnten in Zukunft eine der
wichtigsten Plattformen für das Mensch-MaschineInterface werden. Hierfür sind jedoch vielfältige Herausforderungen zu lösen, die eine interdisziplinäre Zusammenarbeit erfordern. Entwicklungspotenziale bestehen
entlang der gesamten textilen Kette, von der Polymerchemie über die Veredlung bis hin zu Verarbeitungstechniken und der Sensorik/Mikrotechnologie.
Ein weiteres Highlight war der Auftritt mit dem Gemeinschaftsstand Bayern Innovativ auf der „techtextil 2011“
– der führenden internationalen Fachmesse für technische Textilien und Vliesstoffe in Frankfurt/Main. Mit
zehn bayerischen Ausstellern, u. a. auch dem Verband
der Bayerischen Textil- und Bekleidungsindustrie e. V.
(VTB), war der Stand ein Anziehungspunkt für Hersteller
und Anwender technischer Textilien. Im Rahmen der
„techtextil“ baute das Netzwerk gezielt die
internationalen Aktivitäten aus, vor allem mit
der Region Québec: Ein besonderer Erfolg
war das mit dem EU-Kooperationsbüro der
Bayern Innovativ GmbH durchgeführte OneOn-One Technology Dating mit 40 Firmen
und Instituten aus Bayern, Québec, Sachsen,
Rhone-Alpes und der Lombardei.
Das Netzwerk Textile Innovation bietet mit seinen Aktivitäten eine ideale Plattform für den gezielten Zugang zu
Spezialisten der jeweiligen Anwenderbranchen, aber auch
der Querschnittstechnologien. Dabei erfolgt Netzwerkarbeit in enger Kooperation mit dem VTB.
Netzwerk Textile Innovation
Heute umfasst das Netzwerk über 900 Unternehmen
und 90 Institute aus 15 Ländern, u. a. aus den Bereichen
Faserherstellung: z. B. Cordenka, Kelheim Fibres, Lenzing,
SGL, Teijin, Trevira, TWD
Textilmaschinenbau: z. B. Dürkopp Adler, Groz-Beckert,
Karl Mayer, LIBA, Lindauer Dornier, Trumpf, TU Dresden
Textilchemie: z. B. BASF, CHT Bleitlich, Clariant, Kapp-Chemie, Rudolf Chemie, Wacker-Chemie
Textilherstellung: z. B. Ames Europe, DITF Denkendorf,
DuPont, Eschler Textil, eswegee, Freudenberg, Frohn
J. G. Knopfs Sohn, Kufner, Ofa Bamberg, RWTH Aachen,
Sandler, Schoeller, Sefar, STFI, Sympatex, Theodolf
Fritsche, TITV, Trans-Textil, W. L. Gore & Associates
Bekleidungsindustrie: z. B. Adidas, BOGNER, Falke, Loeffler, LOWA, Odlo, PUMA, UVEX, VAUDE, V. Fraas
Automobilindustrie: z. B. AUNDE, BMW, Dräxlmaier,
Faurecia, Johnson Controls, Lear, Novem, Parat Automotive,
Takata, TRW Automotive, Webasto
Online-Angebot: Über 190 Firmen und Institute mit Kompetenzprofilen, E-Letter an über 1.000 Adressaten in Europa
elemente durch Polster abgeschirmt vom Fahrer.
Mithilfe von cleveren Stoffen könnten sie als
Obermaterialien eingebaut werden, die wär-
mende Schicht rückt näher an den Fahrer, und
es geht weniger Energie verloren. Zudem eignen
sich Textilien als Basis für LEDs, zur Datenübertragung oder für innovative Interieurkonzepte.
Die Einsatzmöglichkeiten von textilbasierten
Sensoren wie im fühlenden Teppich sind viel-
fältig, weiß Lauterbach: „Unsere Entwicklung
eignet sich auch zur Einbruchsicherung oder
um Messebesucher zu zählen.“ Ob mitdenkende
Fußböden, fühlende Sportjacken oder wär-
mende Stoffe: Neue interdisziplinäre Ansätze,
wie das Verschmelzen von Textil und Elektronik
Textilien-Know-how
vernetzen: (v. l.) Klaus
Lindner und Sofie Mündel vom VTB zusammen
mit Christina Nassauer,
Susanne Reimann und
Dr. Matthias Konrad von
Bayern Innovativ am
Gemeinschaftsstand auf
der „techtextil 2011“ in
Frankfurt. Bild unten:
Kooperationsforum
„Textil und Sensorik“
2011 mit über 230
Teilnehmern.
machen die Textilindustrie zur Hightech-Branche – mit Potenzial für viele Industriezweige.
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