KON - Destruktion dekonstruiert

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KON - Destruktion dekonstruiert
KON - Destruktion dekonstruiert
Analyse ästhetischer und narrativer Gestaltungsfelder
der Dekonstruktion im Bewegtbild
Martin J. Pernsteiner
D I P L O M A R B E I T
eingereicht am Fachhochschul-Masterstudiengang
DIGITALE MEDIEN in Hagenberg | September 2009
© Copyright 2009 Martin J. Pernsteiner
Alle Rechte vorbehalten
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E rklärung
|
Erklärung
Hiermit erkläre ich an Eides statt, dass ich die vorliegende Arbeit selbständig und ohne fremde
Hilfe verfasst, andere als die angegebenen Quellen und Hilfsmittel nicht benutzt und die aus
anderen Quellen entnommenen Stellen als solche gekennzeichnet habe.
Hagenberg, am 21. September 2009
Martin J. Pernsteiner
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I nhaltsverzeichnis
| Erklärung.
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| Vorwort. .
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III
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| Kurzfassung .
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| Abstract .
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VIII
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1 E inleitung
1.1 Einführung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1.2 Fragestellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3 Motivation und Aufbau der Arbeit. . . . . . . . . . . . . .
2 D ekonstruk tion - E ntstehung
und
Wandel
2.1 Einführung. . . . . . .
2.2 Entstehung . . . . . . .
2.2.1 Jacques Derrida . . . .
2.2.2 Dekonstruktion nach Derrida .
2.2.3 Kritik. . . . . . .
2.3 Dekonstruktion im Wandel . . .
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3 Ä sthetisches K onzept : D ekonstruk tion
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im
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exemplarischer
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B ewegtbild
3.1 Einführung. . . . . . . . . . .
3.2 Modalitäten der Dekonstruktion im Bewegtbild .
3.2.1 Gezielte Desorientierung . . . . .
3.2.2 Nichtlineare Narration. . . . . .
3.2.3 Verfremdungseffekt. . . . . . .
3.3 Rezeptionsvoraussetzungen . . . . . .
4 A nalyse
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B eispiele
4.1 Einführung zur analytischen Betrachtung. . 4.2 Film - Alone. Life Wastes Andy Hardy . . . 4.2.1 Einführung. . . . . . . . 4.2.2 Inhaltsbeschreibung. . . . . .
4.2.3 Sequenzdarstellung. . . . . .
4.2.4 Form und Funktion der Dekonstruktion.
4.2.5 Zusammenfassung. . . . . . . . . .
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I nhaltsverzeichnis
4.3 Animationsbeispiele. . . . . . . . . . . . . . . . .
4.3.1 Absolut Dissection . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.1.1 Einführung und Inhalt . . . . . . . . . . . . . 4.3.1.2 Form und Funktion der Dekonstruktion . . . . . . . . .
4.3.2 KON - Destruktion dekonstruiert (Diplomprojekt). . . . . . . .
4.3.2.1 Einführung und Inhalt . . . . . . . . . . . . . 4.3.2.2 Form und Funktion der Dekonstruktion . . . . . . . . .
4.3.3 Zusammenfassung. . . . . . . . . . . . . . . . 5 KON - D estruk tion
dekonstruiert
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(D iplomprojek t)
5.1 Preproduction. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1.1 Grundlegende Konzeption. . . . . . . . . . . . . . 5.1.2 Research- & Moodboard . . . . . . . . . . . . . . .
5.1.3 Animatic . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
5.2 Production. . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
5.2.1 Blastcode Zerstörungssimulation . . . . . . . . . . . .
5.2.1.1 Deformationsgeometrien erstellen . . . . . . . . . .
5.2.1.2 Trümmergeometrie erzeugen. . . . . . . . . . .
5.2.1.3 Sollbruchstellen definieren . . . . . . . . . . . .
5.2.1.4 Explosives hinzufügen. . . . . . . . . . . . . 5.2.1.5 Slab/Sweep erzeugen . . . . . . . . . . . . .
5.2.1.6 Kollisionsberechnung. . . . . . . . . . . . .
5.2.1.7 Caching. . . . . . . . . . . . . . . . .
5.2.2 Herausforderungen . . . . . . . . . . . . . . . .
5.3 Postproduction. . . . . . . . . . . . . . . . . . .
5.3.1 Visuelle Nachbearbeitung . . . . . . . . . . . . . .
5.3.2 Sound Design. . . . . . . . . . . . . . . . .
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6 R esumée
6.1 Diplomprojekt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 68
6.2 Schlussbetrachtung. . . . . . . . . . . . . . . . . . 69
| Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71
| Film- & Animationsverzeichnis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 74
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Vor wor t
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Vo r w o r t
Die vorliegende Masterarbeit ist auch ein Ergebnis davon, dass viele Menschen mein Vorhaben unterstützt haben und gute Ideen sowie wertvolle Kommentare parat hielten. Zunächst
möchte ich die Betreuerin dieser Arbeit, Mag. a Sabine Retschitzegger, lobenswert erwähnen.
Sie hat mich bei der vorliegenden Arbeit sowie auch bei dem in Kapitel 5 beschriebenen Vorprojekt wesentlich durch ihre Anregungen und ihr konstruktives Feedback unterstützt.
Dank auch an Mag. Jürgen Hagler, Mag. Roland Keil und an die Studentinnen und Studenten,
die meine Vorträge und Zwischenpräsentationen zu meiner Masterarbeit hörten und mit Kritik
und Anregungen darauf reagierten. Weiterer Dank gilt Herrn MMag. Dr. Johann Mayr, der mir
den Beginn meiner Recherchen vereinfachte, indem er mit Literaturtipps und Herangehensweisen an die Literatur des Dekonstruktivismus und Jacques Derridas behilflich war.
Bezüglich der praktischen Umsetzung des Vorprojektes möchte ich mich bei Diplom Digital
Artist Johannes Gerl bedanken, der mir bei so manchem Problem mit dem Plugin „Blastcode“
behilflich war und weiters tolle Tipps zum Rendering in Autodesk Maya gab.
Last but not least ein großes Dankeschön an meine Familie und meine Freunde für die mentale
Unterstützung und Motivation.
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K urzfassung
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Kurzfassung
Dekonstruktion bzw. dekonstruktivistische Tendenzen sind allgegenwärtig. Die Definition des
Begriffes ist vielschichtig. Er steht einerseits für einen Ansatz im Bereich der systematischen
Philosophie, jedoch auch für eine Praxis der Werkinterpretation in der bildenden Kunst, der
Musik und der Architektur. Es gilt, bekannte mentale Konstruktionen aufzubrechen, sie genauer
unter die Lupe zu nehmen, um Festgefahrenes zu hinterfragen und somit zu neuen Bedeutungsebenen zu gelangen.
Die vorliegende Arbeit befasst sich mit der Frage, inwiefern Dekonstruktion im Bewegtbild, im
Speziellen Film und Animation, vorhanden und bewusst wahrnehmbar ist. Dazu wird zunächst
auf den Begriff Dekonstruktion näher eingegangen sowie auf seinen Schöpfer Jacques Derrida. Es erfolgt eine Analyse exemplarischer Werke aus dem Bewegtbild. Der Fokus wird mit
einem Experimentalfilmwerk vom österreichischen Filmemacher Martin Arnold zunächst auf
dekonstruktivistische Tendenzen im Film gerichtet, da Animation wesentlich von diesem beeinflusst wird. Da Dekonstruktion im Film vorwiegend auf narrativer Ebene stattfindet, werden anschließend auch ihre Möglichkeiten und Rahmenbedingungen im Bereich der (abstrakten) Animation erörtert. Anhand des Vorprojektes zu dieser Masterarbeit, einer 3D-Animation, welche
sich der Dekonstruktion einer Destruktion verschreibt, werden die wesentlichen Thesen dieser
Arbeit praktisch dargestellt und untermauert.
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A bstract
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Abstract
Deconstructive tendencies are omnipresent with quite complex connotations. It characterizes
an approach in methodical philosophy. In contrast, it also represents a practice of interpretation for works and creations of fine arts, music and architecture. It is about re-evaluating known
structures and mental constructs, analyzing them to overhaul antiquated structures and approaching new semantic levels.
This paper addresses the question: to what extent is deconstruction associated with and noticeable in the moving picture, particularly film and animation. In order to achieve this goal the
term deconstruction is described in detail and a synopsis of its creator, the French philosopher
Jacques Derrida, is given. As a result of animation being significantly influenced by film the
analysis initially focuses on an experimental film by Austrian filmmaker Martin Arnold. In order
to prove that deconstruction does not require obligatory narration, its possibilities in (abstract)
animation are discussed. Based on the preliminary 3D animation project, which was created
within the scope of this thesis and deals with the deconstruction of a destruction, the substantial assumptions of this paper will be illustrated and confirmed.
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1E
inleitung
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E inleitung
1.1
Einführung
„The cinema of Hollywood is a cinema of exclusion, reduction, and denial, a cinema of repression. In consequence we should not only consider what is shown, but also that which
is not shown. There is always something behind that which is being represented, which
was not represented. And it is exactly that that is most interesting to consider.“ [L1, S. 1]
Der Filmemacher und Dozent Martin Arnold bringt mit diesem Statement zum Ausdruck,
dass es für einen interessierten Rezipienten spannend sein kann, verborgene Sinnpotentiale
und Bedeutungsebenen im Film auszumachen. Dass gerade die Tatsache, dass hinter dem,
was dargestellt wird, sich auch immer etwas versteckt, das nicht gezeigt wird, es spannend
macht, sich damit zu beschäftigen. Und genau hier knüpft der Gedanke der Dekonstruktion von
Jacques Derrida an – eben auch jenes in Betracht zu ziehen, was nicht vordergründig gezeigt
wird. Eingefahrene Ansichten und Konstruktionen aufzubrechen, neu zusammenzusetzen und
erneut zu überdenken.
Der Begriff „Bewegtbild“ wird in der vorliegenden Arbeit zur Bezeichnung von Werken aus den
Bereichen Film und Animation verwendet. Verfahren, welche sich dem Bereich der bewegten
Bilder zuordnen lassen, wie beispielsweise das Daumenkino, das Phenakistiskop, das Zoetrop
sowie das Praxinoskop, finden dabei keine Berücksichtigung.
Zum Verfassen der vorliegenden Arbeit war es nötig, in verschiedenen Fachbereichen und Gebieten zu recherchieren. Um sich der Thematik der Dekonstruktion zu nähern, war es zunächst
wichtig, sich mit Begriffen wie (Post-)Strukturalismus, Semiotik und ähnlichen Themen zu beschäftigen. Eng damit verbunden natürlich auch die Recherche über wichtige Vertreter bestimmter Literatur- und Philosophiebegriffe. Im Zuge meiner Recherchen stellte sich die Bibliothek
der Kunstuniversität Linz als wahre Fundgrube für Bücher im Bereich Literatur und Philosophie
heraus. Zu meiner Überraschung gab es bereits eine Fülle von Literatur, welche sich mit der
Frage nach dem Wesen der Dekonstruktion beschäftigt – trotz beträchtlichem Umfang mancher Arbeiten kommt keine zu einem eindeutigen Ergebnis.
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E inleitung
Zusätzlich zum Wissen über Dekonstruktion und ihrem Umfeld war es weiters essentiell, die
Grundlagen der Filmanalyse zu erarbeiten und sich anschließend näher in die gesamte Thematik einzulesen. Last but not least – die Recherche nach Bewegtbildmaterial aus dem beinahe
unendlich groß erscheinenden Pool von Werken aus dem Film- und Animationsbereich.
1.2
Fra g e s te l l u n g
Die zentrale Fragestellung meiner Masterarbeit liegt darin, inwiefern sich Dekonstruktivismus,
der ursprünglich von seinem Begründer Jacques Derrida als Ansatz der systematischen Philosophie geschaffen wurde, auch auf Bewegtbildwerke übertragen lässt. Des weiteren soll darüber
Aufschluss gegeben werden, auf welche Weise Dekonstruktion im Bewegtbild erfolgen kann
und welche Voraussetzungen gegeben sein müssen, damit sie für den Rezipienten überhaupt
erst wahrnehmbar sowie dechiffrierbar ist.
Anhand der Analyse verschiedener Bewegtbildwerke aus dem Film- und Animationsbereich
ergeben sich weitere, individuelle Fragestellungen, auf welche im Rahmen einer hermeneutischen Analyse genau eingegangen wird. Vor allem wird dabei die Funktion der dekonstruktivistischen Darstellungen einer näheren Betrachtung unterzogen und diskutiert.
1.3
Motivation
und
Aufbau
der
A r b ei t
Die erste bewusste Berührung mit Dekonstruktion im Bewegtbild verschaffte mir Herr Mag.
Kurt Pirklbauer in seinem Kurs Experimentalvideo. Beim Vorlesungsabschnitt „Österreichischer
Avantgardefilm nach 1970“ wurde ich auf die Found Footage Filmwerke von Martin Arnold aufmerksam. Seine im Zusammenhang mit dem im Jahre 1998 veröffentlichten Werk „Alone. Life
Wastes Andy Hardy“ getätigten Aussagen fanden mein reges Interesse und waren für mich der
Anstoß, mich näher mit dieser Thematik zu befassen. Sie sensibilisierten mich dahingehend,
Filmwerke genauer zu betrachten und verborgene Sinnpotentiale und Bedeutungsebenen in
Bewegtbildwerken zu hinterfragen.
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In Folge entstand auch diese Arbeit, welche sich im Wesentlichen in fünf Teile gliedert:
»» Dekonstruktion
»» Ästhetisches Konzept der Dekonstruktion im Bewegtbild
»» Analyse exemplarischer Beispiele
»» KON - Destruktion dekonstruiert (Diplomprojekt)
»» Resumée
Im Kapitel „Dekonstruktion - Entstehung und Wandel” wird ein kurzer Überblick zur Strömung
des Poststrukturalismus gegeben. Es folgt eine Einführung zum Thema Dekonstruktion und
zum Denken seines Schöpfers, dem Philosophen Jacques Derrida. Dabei wird zunächst auf
die ursprüngliche Bedeutung des Begriffes eingegangen sowie auch der Wandel besprochen,
welchem der Begriff seit seiner Schöpfung ausgesetzt ist. Weiters wird Derridas in diesem
Zusammenhang wichtige Theorie der Différance erörtert. In Anbetracht der Komplexität des
Begriffes vermag das Kapitel nicht die vollständige Bedeutung wiederzugeben, es enthält jedoch die Quintessenz, welche zum Verständnis der Inhalte dieser Arbeit beitragen soll.
Das Kapitel „Ästhetisches Konzept: Dekonstruktion im Bewegtbild” beschäftigt sich mit konkreten
Methoden und Darstellungsformen der Dekonstruktion in Film und Animation. Es erfolgt eine
Kategorisierung der Weisen, auf welche das Bewegtbild dekonstruiert werden kann. Darüber
hinaus ist nachzulesen, welche Voraussetzungen gegeben sein müssen, um Dekonstruktion im
Bewegtbild überhaupt erst zu ermöglichen.
Im Kapitel „Analyse exemplarischer Beispiele” werden ausgewählte Werke aus dem Bewegtbild einer näheren, hermeneutischen Betrachtung unterzogen. Zunächst wird der Fokus auf
Dekonstruktion im Film gerichtet, da Animation wesentlich von diesem beeinflusst wird. Dazu
wird der Found Footage Experimentalfilm „Alone. Life Wastes Andy Hardy“ von Martin Arnold
analysiert und aufgezeigt, auf welche Weise Dekonstruktion in diesem Werk zum Einsatz
kommt. Die Dekonstruktion lässt sich im Film vorwiegend auf der narrativen Ebene festmachen,
daher werden anschließend auch ihre Möglichkeiten und Rahmenbedingungen im Bereich der
(abstrakten) Animation erörtert.
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Im anschließenden Kapitel „KON - Destruktion dekonstruiert (Diplomprojekt)” werden anhand
des Vorprojektes zu dieser Masterarbeit, einer 3D-Animation, welche sich der Dekonstruktion
einer Destruktion verschreibt, die wesentlichen Thesen dieser Arbeit praktisch dargestellt und
untermauert. Die Konzeption dieses 3D-Animationsprojektes wurde maßgeblich von den für
diese Masterarbeit durchgeführten Recherchen beeinflusst – die aus der thematischen Auseinandersetzung mit dem Feld der Dekonstruktion gewonnenen Erkenntnisse dienten somit als
wesentliche Inspirationsquelle für das Projekt. In diesem Kapitel soll ein Überblick über die
grundlegenden Gedanken des Konzeptes gegeben werden sowie eine Erläuterung der darin
vorkommenden dekonstruktivistischen Darstellungen erfolgen.
Das Kapitel „Resumée” bildet den Abschluss der Arbeit. Zunächst wird das Vorprojekt zu dieser
Masterarbeit noch einmal kritisch reflektiert. Weiters hält es einen Einblick parat, welche Tendenzen es bezüglich Dekonstruktion im Bewegtbild derzeit gibt.
Anmerkung: In dieser Arbeit wurde auf eine doppelte Anführung von geschlechtsspezifischen
Ausdrücken verzichtet, um eine bessere Lesbarkeit zu gewährleisten. Alle personenbezogenen
Bezeichnungen sind demnach geschlechtsneutral zu verstehen.
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2D
ekonstruktion
- E ntstehung
und
Wandel
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D ekonstruktion - E ntstehung
2.1
und
Wandel
Einführung
Zunächst sei erwähnt, dass dieses Kapitel nur eine Einführung zum Thema Dekonstruktion und
zum Denken Jacques Derridas darstellen soll. Die Intention ist also nicht, hohen philosophischen
Ansprüchen gerecht zu werden, sondern ein Grundverständnis zu vermitteln, um die weiteren
Inhalte dieser Arbeit sowie das Wesen meines Diplomprojektes besser nachvollziehen zu können. Diejenigen, die sich noch genauer mit der Thematik vertraut machen möchten, seien auf
die im Literaturverzeichnis dieser Arbeit angegebenen Werke zu Dekonstruktion und Jacques
Derrida verwiesen. Die Derrida'sche Dekonstruktion würde sich ohne eine vorherige Abhandlung des Begriffes Poststrukturalismus nur unzureichend definieren lassen. Dieser wiederum
nicht, ohne gleichzeitig das Wesen des Strukturalismus zu behandeln. Deshalb sei zunächst
auf diese beiden Strömungen eingegangen, um später die Ausgangssituation Derridas und das
Wesen der Dekonstruktion besser vermitteln zu können.
Der Poststrukturalismus, auch Neostrukturalismus genannt, entstand zum größten Teil im
Frankreich der späten 60er bis 80er Jahre. Dieser Umstand verhilft dem Begriff auch zur weiteren Bezeichnung „französische Schule“. Irrtümlicherweise wird der Begriff oft synonym mit
Postmoderne verwendet, es ist hierbei jedoch klar zu differenzieren 1. Zu den bekanntesten Ver1 Grundsätzlich kann der Poststrukturalismus als Bestandteil der Postmoderne verstanden
werden. Diese Behauptung ist jedoch mit Vorsicht zu genießen, da einige dem Poststrukturalismus zugerechneten Theoretiker dem Begriff kritisch gegenüberstehen. Die Diskussion, was
alles der Postmoderne zuzurechnen ist sowie über den Zeitpunkt ihrer Entstehung gibt es bereits seit Anfang der 1980er Jahre. Die Moderne, welche als Vorfahr des postmodernen Denkens
gilt, wird etwa mit dem mittleren bis späten 20. Jahrhundert befristet. Demnach schließt die
Postmoderne, welche den Zustand der abendländischen Gesellschaft, Kultur und Kunst „nach“
der Moderne darstellt, an diese Zeit an. Alexandru Preda zufolge soll postmodernes Denken
nicht als bloße Zeitdiagnose verstanden werden, sondern als Denkbewegung, die sich gegen
Grundannahmen der Moderne wendet und Alternativen aufzeigt (L32, S. 118). Umberto Eco
versucht über dies hinaus den Zusammenhang mit der Moderne zu lösen und die Postmoderne
als allgemeines künstlerisches Streben zu propagieren, welches in jeder historischen Epoche
auftreten kann [L11, S. 77]
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und
Wandel
tretern der poststrukturalistischen Strömung zählen Philosophen wie Gilles Deleuze, Jacques
Derrida, Michel Foucault, Luce Irigaray, J. F. Lyotard, ebenso Literaturkritiker wie Roland Barthes, Soziologen wie Jean Baudrillard und Psychoanalytiker wie Jacques Lacan. Der Poststrukturalismus stellt keine einheitliche Schule dar, sondern steht für eine bestimmte philosophische Haltung in der Geistes- und Sozialwissenschaftlichen Forschung mit dem Bestreben, den
ebenfalls in Frankreich entstandenen und dort einflussreichen Strukturalismus zu überwinden.
Die poststrukturalistische Strömung, ob nun aus dem Bereich der Philosophie, Soziologie oder
der Psychoanalyse, legt ihr Hauptaugenmerk vor allem auf die Beeinflussung verschiedener
Wissenschaften durch Linguistik 2 und Semiotik 3. Auch wenn sich die Ansichten innerhalb ihrer
Vertreter teilweise stark unterscheiden, so greifen doch alle auf die Zeichentheorie zurück.
Um die Intention der poststrukturalistischen Bewegung besser verstehen zu können, sei ergänzend auch auf das Wesen des Strukturalismus eingegangen. Wie der Name bereits verrät, ging
dieser dem Poststrukturalismus voraus. Strukturalismus ist ein Sammelbegriff für interdisziplinäre Methoden und Forschungsprogramme, die Strukturen und Beziehungsgefüge untersuchen, wobei die Sprache das primäre Paradigma strukturalistischer Forschung darstellt (L31,
S. 342). Als Begründer des Strukturalismus gilt der Schweizer Sprachwissenschaftler Ferdinand
de Saussure. In seinem Werk „Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft“ (Cours de linguistique générale) schafft er die Grundlage für seine neue Methode. Er schafft die Unterscheidung zwischen Signifikat („signifié“ - Bezeichnetes, Zeicheninhalt) und Signifikant („signifiant“
- Bezeichnendes, Bezeichnung, äußere Zeichenform). Die Zuordnung dieser beiden Aspekte zueinander ist „willkürlich“ (frz. arbitraire4). Dabei wird zwischen der Sprache als System (langue)
2 Sprachwissenschaft
3 Theorie vom Wesen, Entstehung und Gebrauch von Zeichen
4 Arbitrarität (von französisch: „arbitrarité“ - „Beliebigkeit“, „Willkürlichkeit“) bezeichnet in der
Sprachwissenschaft nach F. de Saussure eine grundlegende Eigenschaft von sprachlichen Zeichen. Nämlich, dass die Beziehung zwischen dem Bezeichnenden (Signifikant, Lautbild) und
dem Bezeichneten (Sigifikat) nicht naturgegeben, sondern sprachspezifisch verschieden ist
und auf Konvention einer Sprachgemeinschaft beruht. De Saussure legt damit jedes rezipierte
Ausdrucksmittel als willkürlich fest, da es auf einer Kollektivgewohnheit beruht und belegt dies
damit, dass dasselbe Objekt der Realität von Sprache zu Sprache verschieden benannt wird.
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und der gesprochenen Sprache (parole) unterschieden. Geltung und Wert des einen ergeben
sich nur aus dem gleichzeitigen Vorhandensein des anderen (L35, S. 136). Strukturalistisches
Denken baut auf dem Fakt auf, dass Zeichen stets nur auf die Tiefe eines Sinnes verweisen (L2, S.
14). Dem strukturalistischen Denken nach werden Zeichen nicht isoliert betrachtet, sondern innerhalb eines Gesamtzusammenhanges, da sie so erst individuierbar und betrachtbar sind und
als seiend in Frage kommen [L18, S. 178]. Daraus geht hervor, dass sich die Bedeutung eines
Zeichens nur durch Gegenüberstellung mit anderen Zeichen und der Analyse der Beziehungen zueinander ergibt. Somit hat ein Wort für sich allein gesehen keine Bedeutung, sondern
gewinnt diese erst durch gegensätzliche Beziehungen zu anderen Elementen der Sprache. Anschaulich werden diese gegensätzlichen Beziehungen im Falle binärer Gegensätze wie gut/
böse, weiblich/männlich 5 oder Gott/Teufel. Hierbei gewinnt ein Begriff der Gegenüberstellung
seine Bedeutung erst durch die Differenz zum jeweils anderen Begriff. Ohne den einen würde
auch der andere nicht existieren. Demzufolge bestimmt eine Bedeutungsveränderung eines
Begriffes auch die Aussage seines binären Gegenübers neu. Folgende Feststellungen treffen
das Wesen des strukturalistischen Denkens sehr genau [L23, S. 262]:
„In gewisser Hinsicht ist die Sprache transparent. So wie der richtige Gebrauch der Vernunft zu Wissen führt, das Wirkliches repräsentiert, so ist die Sprache nichts als das Medium, in dem und durch das die Repräsentation erscheint. Es gibt eine Entsprechung
zwischen ‚Wort‘ und ‚Ding‘ (wie zwischen einer wahren Aussage und dem Wirklichen). Gegenstände werden nicht sprachlich (oder sozial) konstruiert, sie werden dem Bewusstsein
durch Benennung und richtigen Gebrauch der Sprache nur präsent gemacht.“
Genau hier schreitet die Kritik der Poststrukturalisten ein und erhebt Einspruch gegen diese
totalisierenden Tendenzen. Sie kritisieren den Logozentrismus6, bei dem, wie im o.a. Zitat angeführt ist, davon ausgegangen wird, dass Sprache die Realität abbildet. Die poststrukturalistische Strömung hingegen geht davon aus, dass Zeichen keine feste, inhärente Bedeutung
haben. Eine Trennung von Signifikant und Signifikat literarischer Zeichen, also das Wesen der
5 Die Anordnung dieser geschlechtsspezifischen Begriffe stellt keinerlei Wertung dar.
6 Unter dem Begriff Logozentrismus werden im poststrukturalistischen Denken konstruierte
Bedeutungen oder auch ideologische Auflagen verstanden, welche auf binären Gegenteilspaaren sowie auf Gegenwart externer Größen wie Gott, Wahrheit, Ursprung, u.a. beruhen.
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Strömung des Strukturalismus, wird aufgegeben. Sprache spiegelt die Realität nicht wider oder
bringt diese zum Ausdruck, sondern konstituiert eine soziale Wirklichkeit erst. Unterschiedliche Sprachgemeinschaften kategorisieren die Welt auf ungleiche Weise sowie gewichten ihre
Bedeutung in unterschiedlichem Maße. Es ist nicht möglich, diese vielschichtigen Bedeutungen auf einen allgemeinen, universellen Begriff zurückzuführen. Ein einfaches Beispiel hierfür
ist die Bedeutung von Männlichkeit und Weiblichkeit – sie unterscheidet sich nicht nur von
Sprachgemeinschaft zu Sprachgemeinschaft, sondern auch von Kultur zu Kultur. Der Poststrukturalismus erlebt seinen Höhepunkt in den 1980er Jahren.
2.2
Entstehung
Der französische Philosoph Jacques Derrida gehört zu den wichtigsten Denkern, die den Poststrukturalismus vorangetrieben haben. Er ist der Schöpfer der poststrukturalistischen Praxis
und Wortneubildung „Dekonstruktion“. Da seine Biografie näher darüber Aufschluss gibt, wie
und aus welcher Intention heraus seine „Praxis der Dekonstruktion“ entstanden ist, sei im folgenden Abschnitt kurz darauf eingegangen:
2.2.1
Jacques Derrida7
Der Philosoph Jacques Derrida wird am 15. Juli 1930 in El-Biar, einem Vorort von Algier in Algerien, als Kind einer jüdischen Familie geboren. Eine Zeit, zu der Algerien eine französische
Kolonie war. Rassistische Ausschreitungen gegen die jüdische Bevölkerung stehen an der Tagesordnung. Der junge Derrida interessiert sich bereits während seiner Zeit am Gymnasium für
Philosophen wie Nietzsche, Rousseau und Jean-Paul Sartre. 1949 zieht er nach Paris, um sich für
die Zulassungsprüfung der berühmten „École Normale Supérieure“ vorzubereiten. Er scheitert,
schafft die Aufnahmeprüfung jedoch beim zweiten Versuch im Jahre 1952. Er besucht Vorlesungen von Louis Althusser und Michel Foucault und freundet sich mit Pierre Bourdieu an. 1956
gewinnt er ein Stipendium für einen Studienaufenthalt an der Harvard University. In diesem
7 Die biografischen Angaben über Derrida stammen großteils von der Zeittafel aus dem Buch
„Jacques Derrida zur Einführung“ von Heinz Kimmerle, Junius Verlag, Hamburg, 2008, S. 219
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und
Wandel
Abschnitt seines Schaffens gelingt es ihm, die Idee für eine spezifische Philosophie zu entwickeln - die Dekonstruktion. In den Jahren 1960-64 ist er wissenschaftlicher Assistent an der
Sorbonne in Paris. Im Zeitraum von 1962 bis 1979, also für 17 Jahre, lehnt er Fotografien von
sich ab, welche für die Veröffentlichung bestimmt sein sollten. Er will damit verhindern, dass
sein Gesicht Teil der Bedeutungsforschung seiner Arbeit wird. Von 1965-84 unterrichtet er als
Professor für Geschichte der Philosophie an der École Normale Supérieure in Paris. Im Jahr 1966
hält Derrida die Vorlesung „Die Struktur, das Zeichen und das Spiel im Diskurs der Wissenschaft
vom Menschen“ an der John Hopkins Universität in den USA. Er sorgt mit seiner dekonstruktivistischen Ansicht gegen den vorherrschenden Strukturalismus für Aufsehen und erhält so
erstmals internationale Würdigung seiner Arbeit.
Die Tatsache, dass keinem Text ein eindeutiger Sinn zugewiesen werden kann, hält Derrida
nicht davon ab, zahlreiche literarische Werke zu veröffentlichen. Er meint dazu sogar, dass kein
eindeutiger Sinn nicht bedeutet, es gäbe gar keinen Sinn. Denker und Schreiber sollten deshalb ihre Intentionen so klar und deutlich formulieren, wie es in ihrer Macht stünde. Derrida
veröffentlicht mehr als 70 Bücher sowie unzählige Artikel. Der Durchbruch gelingt Derrida im
Jahr 1967, als er beinahe zeitgleich drei wichtige Schriften veröffentlicht: De la grammatologie
(Les Éditions de Minuit, dt. Grammatologie 1974), La Voix et le phénomène (Presses Universitaires de France, dt. Die Stimme und das Phänomen 1979) sowie L'écriture et la différence
(Seuil, dt. Die Schrift und die Differenz 1972). Bei seinen Vorträgen in den USA schließt er Bekanntschaft mit Paul de Man und Jacques Lacan. Ab 1983 bekleidet er das Amt des Direktors
des Collège International de Philosophie und ist Professor für Philosophie an der École des
Hautes Études an Sciences Sociales. Weiters ist er Gastprofessor an der Cornell University in
Ithaka/New York, später auch an anderen Universitäten in den USA. 1986 beginnt Derrida seine
Lehrtätigkeit im Bereich der Geisteswissenschaften an der University of California in Irvine. Die
späteren Werke Derridas befassen sich zunehmend mit moralischen sowie politischen Themen.
Hierbei spielen vor allem Religion und Kapitalismus eine wichtige Rolle. Im Jahr 2001 wird Derrida in Frankfurt am Main der Theodor-W.-Adorno-Preis verliehen.
Im Jahr 2002 wird Jacques Derrida mit der Diagnose Bauchspeicheldrüsenkrebs konfrontiert.
Er stirbt am 8. Oktober 2004 in Paris.
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D ekonstruktion - E ntstehung
2.2.2
Dekonstruktion
nach
und
Wandel
Derrida
Jacques Derrida hat mit seiner Praxis1 der Dekonstruktion etwas geschaffen, das über die Grenzen der Philosophie und Linguistik hinaus auch Einzug im Bereich der Architektur, der Kunst,
der Politik, des Films und noch weiteren Bereichen fand. Die Dekonstruktion entzieht sich
ihrem Schöpfer zufolge streng genommen jeglicher Definition, da diese der Grundidee selbst
widersprechen würde. Dennoch soll in diesem Abschnitt versucht werden, eine Annäherung an
den Begriff zu erläutern. Dekonstruktion steht einerseits für einen Ansatz der systematischen
Philosophie, andererseits jedoch auch für eine Praxis der Werkinterpretation, mit der sich Werke
der bildenden Kunst, der Musik und der Architektur beschreiben lassen. Sie stellt eine
Strategie dar, „Texte“ 2 auf eine bestimmte Weise zu lesen und verborgene, unbewusste Bedeutungsebenen aufzudecken. Sie will aufspüren, was einem Text an Unbewusstheit zugrunde
liegt und was der blinde Fleck im Auge des Autors nicht sehen kann (L29, S. 38). Sie kann, wenn
richtig eingesetzt, eine Vielzahl von Perspektiven in Texten hervorbringen. Diese stehen oft in
Konflikt miteinander, was durch die Dekonstruktion jedoch überhaupt erst sichtbar wird. Dabei
geht sie über die hermeneutische Interpretation hinaus. Derridas Philosophie ist eine „Philosophie der Differenz“ [L25, S. 21] – eine Strömung, zu dessen Vertretern auch Michel Foucault,
Gilles Deleuze, Jean-François Lyotard, Julia Kristeva und Luce Irigaray zählen. Jacques Derrida
hat mit der Dekonstruktion eine Neubewertung der Begriffe Sprache, Bedeutung, Identität und
moralische Werte hervorgerufen.
Die Derrida'sche Dekonstruktion lehnt sich an die Schriften von Martin Heidegger an, welcher
in seinen Werken von einer „Destruktion“ der abendländischen Tradition der Metaphysik spricht
1 Derrida hat sich dagegen ausgesprochen, die Dekonstruktion als „Methode“ zu bezeichnen
(L33, S. 11f.): „Was ich Dekonstruktion nenne, kann natürlich Regeln, Verfahren oder Techniken
eröffnen, aber im Grunde genommen ist sie keine Methode und auch keine wissenschaftliche Kritik, weil eine Methode eine Technik des Befragens oder der Lektüre ist, die ohne Rücksicht auf die
idiomatischen Züge des Gegenstandes in anderen Zusammenhängen wiederholbar sein soll.“ Der
Begriff Dekonstruktion bezeichnet demnach vielmehr ein Lesen, das beweglich ist und sich
den jeweiligen Kontexten anpasst. Sie bietet daher eine Alternative zu allgemein gültigen
Methoden, welche einen totalisierenden Zugriff darstellen. (L17, S. 26).
2 Auf die Derrida'sche Auffassung von Text wird in diesem Kapitel noch genau eingegangen.
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D ekonstruktion - E ntstehung
und
Wandel
und davon, dass Konstruktion und Destruktion methodisch miteinander verbunden seien (L20,
S. 22). Die Grundprinzipien, auf denen alle Texte basieren, sind laut Derrida metaphysischer
Natur. Obwohl er den Begriff Metaphysik oft in seinen Schriften erwähnt und sich darauf
bezieht, sieht er jedoch davon ab, den Begriff zu definieren, was zweifellos der Dekonstruktion widersprechen würde. Dekonstruktion darf nicht als Negation von „Konstruktion“ (miss)
verstanden werden, sondern ist, wie bei Heidegger bereits erwähnt, ein Verbund von Konstruktion und De-struktion.
Es gilt grundsätzlich, die Aussage von Texten zu überprüfen. Neben dem Behaupteten auch das
Nicht-Erwähnte, das Negierte auszumachen, zu verstärken und herauszuarbeiten. Dieser Umstand macht die Dekonstruktion kontextabhängig – sie unterscheidet sich von Text zu Text und
ist deshalb nie auf gleiche Weise anwendbar. Derrida machte nur selten Aussagen über Dekonstruktion, welche über das Gebiet der Philosophie hinausgingen. Er wollte, dass seine „Praxis
der Dekonstruktion“ nicht als eine bestimmende, fixierende und generalisierende Handlung
(miss)verstanden wird (L17, S. 26). Um dekonstruieren zu können, muss man Derrida zufolge
von einem verallgemeinerten Textbegriff ausgehen (L33, S. 11f.).
„Die Dekonstruktion setzt die Umwandlung selbst des Begriffes des Textes und der Schrift
voraus. (...) Ich nenne eine Institution ebenso wie eine politische Situation, einen Körper
oder einen Tanz >Text<, was offenbar zu vielen Missverständnissen geführt hat, weil man
mich beschuldigte, die ganze Welt in ein Buch zu stecken. Das ist offensichtlich absurd.“
Seine äußerst umstrittene Aussage zur Praxis der Dekonstruktion: „Ein Text-Äußeres gibt es
nicht“ (L9, S 274), ergänzt Derrida durch folgende Stellungnahme (L17, S. 20f.):
„Das, was ich Text nenne, ist alles, ist praktisch alles. Es ist alles, das heißt, es gibt einen Text, sobald es eine Spur gibt, eine differentielle Verweisung von einer Spur auf die
andere. Und diese Verweise bleiben nie stehen. Es gibt keine Grenzen der differentiellen
Verweisung einer Spur auf die andere. Eine Spur ist weder eine Anwesenheit noch eine
Abwesenheit. (…) Folglich setzt dieser neue Begriff des Textes voraus, dass man in keinem
Moment etwas außerhalb des Bereichs der differentiellen Verweisung finden kann, das
ein Wirkliches, eine Anwesenheit oder eine Abwesenheit wäre. (…) Ich habe geglaubt,
dass es notwendig wäre, diese Erweiterung, diese strategische Verallgemeinerung des Be-
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D ekonstruktion - E ntstehung
und
Wandel
griffs des Textes durchzuführen, um der Dekonstruktion ihre Möglichkeit zu geben, der
Text beschränkt sich folglich nicht auf das Geschriebene, auf das, was man Schrift nennt,
im Gegensatz zur Rede. Die Rede ist ein Text, die Geste ist ein Text, die Realität ist ein Text
in diesem neuen Sinne.“
Dem zufolge sind wir in sämtlichen Situationen unseres Lebens an das Medium der Sprache
gebunden, welches ein höchst unzuverlässiges Medium darstellt. Da, wie vorher bereits festgestellt, das Verhältnis von Signifikant und Signifikat ein arbiträres ist, ist unsere gesamte Umwelt
ein durch Sprache aufgebautes Konstrukt, welches folglich mit Hilfe einer genauen Analyse
einer Dekonstruktion unterzogen werden kann (L37, S. 41). Alles als Text zu betrachten, ist Derrida zufolge die elementare Maßnahme, welche diese Analyse und somit die Dekonstruktion
überhaupt erst anwendbar macht. Die Interpretation eines Textes kann auf vielfältige Weise
erfolgen und keine Interpretation kann den Anspruch erheben, die vollständige Bedeutung
wiederzugeben, da sprachliche Ausdrücke keine eindeutige Bedeutung haben und diese
nicht optimal vermittelt werden können. Jede Konkretisierung bei der Interpretation stellt
gleichzeitig auch eine Verdeckung dar. Derrida fasst die Schrift nicht mehr als Zeichen auf, das
eine bestimmte Sache repräsentiert, sondern als Spur, die auf etwas verweist, das nicht statisch
präsent ist, sondern weiter verweist innerhalb eines Gefüges von Verweisungen (L25, S. 43). Ein
Satz lässt sich nicht sinnvoll interpretieren, indem ein Wort nach dem anderen gelesen wird.
Jedes Wort muss die Spur der vorangegangenen in sich tragen und sich gleichzeitig für die
Spuren der nachfolgenden Worte offen halten. Die Betrachtung der Zeichen muss in ihrer
Anhängigkeit zueinander erfolgen. In diesem Zusammenhang nicht unwesentlich ist die
„Dissemination“. Dieser Begriff, den Derrida von Mallarmé übernommen hat, steht für die
semantische Streuung des Zeichens, also die Vielfältigkeit der Bedeutung (L24, S. 48).
Einen im Zusammenhang mit der Dekonstruktion wesentlichen Begriff, stellt die „Différance“
dar. Sie ist für Derrida in jeden Text eingeschrieben und letztlich das, was die Dekonstruktion
erzeugt und worauf sie verweist (L24, S. 32). Der aufmerksame Leser, welcher der französischen
Sprache mächtig ist, stellt sofort fest, dass Derrida Différance mit „a“ anstelle von Différence
mit „e“ schreibt. Die Veränderung in der Schreibung kann in der Aussprache nicht vernommen
werden. Es ist also ein stummer, verschwiegener, rein grafischer Unterschied, der jedoch auf
die Unmöglichkeit einer eindeutigen Differenzierung von Bedeutungen anspielt. Derrida will
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D ekonstruktion - E ntstehung
und
Wandel
damit verdeutlichen, dass die Schrift eine phonetisch nicht fassbare Eigenart besitzt. In diesem
Zusammenhang ist es weiters interessant, die Doppeldeutigkeit des Wortes „différer“ (aufschieben, verzeitlichen und nicht identisch sein, anderssein) zu beachten, welche in „Différence“
nicht mitgedacht wird (L25, S. 83). Die Différance soll diese Mehrdeutigkeit wieder aufdecken.
2.2.3
Kritik
Derridas Praxis der Dekonstruktion stieß nicht selten auf Widerstand, da seine Denkweise wissenschaftliche Normen und manchmal auch den gesunden Menschenverstand in starkem
Maße herausfordert. In den USA wurde nach dem Aufkommen der Derrida'schen Dekonstruktion diese hauptsächlich im Zusammenhang mit Literaturwissenschaft rezipiert und diskutiert.
Dies förderte die falsche Annahme in der amerikanischen Öffentlichkeit, dass Dekonstruktion
eine rein literaturwissenschaftliche Methode sei (L17, S. 18). Obwohl grundlegende Theorien
ständig einer kritischen Auseinandersetzung im Bereich der Philosophie unterliegen, fiel die
negative Kritik renommierter Philosophen und Sprachwissenschaftler an der Arbeit Derridas
ungewöhnlich hart aus. Im Jahre 1992 hat der Vorschlag der Universität von Cambridge, Derrida den Ehrendoktortitel zu verleihen, für einen schriftlichen Protest von achtzehn Professoren
der Fakultät gesorgt. In dieser Petition wird zum Ausdruck gebracht, dass Derridas Texte nicht
das geforderte Maß an Klarheit und Strenge erreichten, sondern aus Tricks und Taschenspielereien komponiert seien und darin eher dadaistischen Experimenten nahestünden (L38, S. 1ff ).
In Folge wurde Derrida der Titel nicht sofort, sondern erst nach einer universitätsinternen Abstimmung verliehen.
Abgesehen von dieser Petition um seinen Ehrendoktortitel wurde von Philosophiekollegen
die Kritik laut, Derrida wäre nicht rational und ein nihilistischer Gegner „ernsthaften“ philosophischen Denkens. Diese Vorwürfe beruhen großteils darauf, dass Derrida sich weigerte,
die Dekonstruktion als eine Methode aufzufassen. Es ist anzunehmen, dass nicht selten auch
den Übersetzungen der Texte Derridas aus dem Französischen eine gewisse Schuldigkeit zugesprochen werden kann, seine Ideen nicht vollständig in seinem Sinne transportiert zu haben.
Trotz aller Kritik steht es außer Debatte, dass Derridas Ideen starken Einfluss auf die Philosophie
und eine Unzahl anderer Bereiche hatten und noch immer haben.
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D ekonstruktion - E ntstehung
2.3
Dekonstruktion
im
und
Wandel
Wa n d e l
Der Dekonstruktivismus erschloss sich für das breite Publikum, fern von seinen Anfängen in
den Bereichen Philosophie und Literatur, als Stilrichtung der Architektur – allerdings nicht ohne
Missverständnisse. In der klassischen Architektur geht es um die reine Form. Eine Form, die Instabilität und Unordnung ausschließen soll (L40, S. 10). Bauten werden als Ensemble einfacher
geometrischer Körper wie Kubus, Zylinder, Kugel, Pyramide, Kegel u.a. geplant und errichtet,
wobei das Gesamtwerk einem kompositorischen Regelwerk unterliegt, um Konflikte unter den
Formen zu verhindern. Alles, was sich diesen Regeln entzieht, scheint als eine Bedrohung von
Harmonie, Einheit und Stabilität. Die Möglichkeit, diese reine Form zu stören, zu verunreinigen
und durcheinanderzubringen, stellt eine Form der Dekonstruktion dar.
Schnell wurde dazu übergegangen, alles in der Architektur als dekonstruktivistisch zu bezeichnen, was schräg war oder ein wenig aus der Rolle fiel. Der Architekt und Autor Mark Wigley stellt
die Behauptung auf, dass außer der Namensgleichheit und einer eher oberflächlichen Ähnlichkeit der Praxis keine wirkliche Verbindung zwischen der Dekonstruktion in der Philo-sophie
und Literaturwissenschaft und dem Dekonstruktivismus in der Architektur besteht (L39, S. 42).
Dekonstruktivistische Bauwerke sind demnach keine Anwendung dekonstruktivistischer Theorie, sondern gehen vielmehr aus der architektonischen Tradition selbst hervor. Ihre dekonstruktiven Eigenschaften sind zufälliger Natur. Wigley zufolge wird Dekonstruktion häufig mit
dem Zerlegen von Gebäuden missverstanden (siehe Abb. 2.1).
A bbildung 2.1: li: SITE Products, Inc. Best Products Ausstellungsraum, 1977 Quelle: (Scan von L40, S. 10)
re: Gordon Matta-Clark, Splitting: Four Corners, 1974 Quelle: http://www.wikipedia.de
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D ekonstruktion - E ntstehung
und
Wandel
Die Frage wurde laut, was denn das Wesen dekonstruktivistischer Architektur eigentlich genau
ausmacht und an welche Bedingungen sie geknüpft ist.
„Dekonstruktivistische Architektur ist kein neuer Stil. (...) Sie stellt keine neue Bewegung
dar; sie ist kein Glaubensbekenntnis. Sie besitzt keine ‚drei Regeln‘ der Erfüllung. Sie ist
nicht einmal ‚sieben Architekten‘.“ (L40, S. 7)
Diese negierenden Feststellungen hält der US-amerikanische Architekt und Architekturkritiker
Philip Johnson über die viel diskutierte Dekonstruktion in der Architektur parat. Mit letzterem
Statement spricht er offensichtlich auf die sieben Architekten bzw. Architekturbüros an, welche
spätestens seit der von ihm und Mark Wigley im Jahr 1988 inszenierten Ausstellung „Deconstructivist Architecture“ im Museum of Modern Art in New York stets in einem Atemzug mit
dekonstruktivistischer Architektur genannt werden – nämlich Frank Gehry, Daniel Libeskind,
Rem Koolhaas, Peter Eisenman, Zaha Hadid, Coop Himmelb(l)au und Bernard Tschumi. Johnson
führt die Inspiration der neuen Formen dekonstruktivistischer Architektur auf den russischen
Konstruktivismus der Zehner- und Zwanziger-Jahre des 19. Jahrhunderts zurück, bei dem es
die russische Avantgarde erstmals wagte, die klassischen Regeln der Komposition zu brechen.
Wladimir Tatlin und die Brüder Wesnin stellten neue Konzepte auf, welche die bis dahin vertraute Architektur auf den Kopf stellten. In der finalen Planungsphase kehrten sie jedoch immer
wieder auf stabile Formen zurück. Genau hier setzt die dekonstruktivistische Architekturbewegung an. Wigley machte dazu passend folgende Aussage (L40, S. 17):
„Die Formen sind durchsetzt von der charakteristischen schiefen Geometrie, sie sind verzerrt. Auf diese Weise wird die traditionelle Eigenschaft des architektonischen Gegenstandes radikal gestört. Diese Störung resultiert nicht aus äußerer Gewaltanwendung.
Sie ist kein Zerbrechen oder Zerschneiden, kein Zertrümmern oder Zerstückeln. Eine Form
auf eine dieser Weisen von außen her zu stören bedeutet nicht, diese Form zu bedrohen,
sondern nur, sie zu beschädigen.“
Struktur und Form werden in der dekonstruktivistischen Architektur gleichzeitig einer Destruktion sowie einer erneuten Konstruktion unterzogen. Die Strukturen werden aufgesplittet,
Instabilität wird aufgespürt und sichtbar gemacht. Dekonstruktivistische Bauten haben die
Gemeinsamkeit, dass sie provozieren, Fragen stellen, verwirren sollen (L30, S. 70). Unter den
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D ekonstruktion - E ntstehung
und
Wandel
o.a. Architekten, welche sich eingehend mit der Dekonstruktion befassten, profilierten sich
besonders Bernard Tschumi und Daniel Libeskind. Beide sind in Europa aufgewachsen und erhielten dort ihre anfängliche Ausbildung, wandten sich dann jedoch den USA zu. Sie gehörten
zu den ersten, welche sich über das theoretische Niveau der Dekonstruktion in Form von Papierprojekten hinauswagten und mit bedeutenden Bauten wie beispielsweise dem jüdischen
Museum in Berlin (Libeskind) oder dem Parc de la Vilette in Paris (Tschumi) beauftragt wurden.
Im Text „Am Nullpunkt der Verrücktheit - Jetzt die Architektur“, den Derrida dem Architekten
Tschumi anlässlich dessen Projektes der „Verrücktheiten“ (folies) im Parc de la Vilette widmet,
erkennt Derrida Parallelen zwischen dieser architektonischen Arbeit und der Dekonstruktion
im Sinne der Philosophie (L7, S. 218):
„Gewöhnlich und herkömmlich soll jede Architektur sinnhaft sein, das heißt, sie soll Sinn
und Bedeutung repräsentieren. Sie folgt genau der Struktur des metaphysischen Denkens,
sofern sie einem sinngemäßen Zweck unterstellt wird und dabei Innen und Außen klar
unterscheidet.“
Auch wenn die Ursprünge der Dekonstruktion in den beiden Bereichen Architektur und Philosophie verschieden sind, sind diese Parallelen durchaus legitim, da nach Derridas erweitertem
Textbegriff auch dieses architektonische Werk als „Text“ gesehen und somit erfolgreich einer
Dekonstruktion unterzogen werden kann. Jacques Derrida sagt über den Architekten Peter
Eisenman, dass bei seiner Architektur die Normen von der Funktionalität befreit werden. Die
Nützlichkeit des Wohnraums stehe dabei nicht im Vordergrund (L30, S. 85). Selbstverständlich
sollen die Objekte von Eisenman bewohnbar sein, jedoch sind es nicht die Normen der Bewohnbarkeit und Nützlichkeit, die seine Projekte bestimmen. Der Architektur soll wieder ihr
spezifischer Raum zurückgegeben werden – ein Raum, der keinen Normen unterworfen ist, wie
es beispielsweise bei religiös oder politisch motivierten Bauten der Fall ist. Es geht darum, den
Raum von allen Zweckgebundenheiten zu befreien.
Architekturkritiker waren durch die Dekonstruktion in der Architektur vor die neue Anforderung
gestellt, bei ihrer Beurteilung von Gebäuden die Theorie einzubeziehen, anstatt sich lediglich
auf die rein konstruktive Logik und materielle Kräfte zu beschränken (L30, S. 65). Die neuen Formen der Gebäude ließen sich nun eher philosophischen Überlegungen zuordnen.
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und
Wandel
Das Phänomen der Dekonstruktion gibt es neben den Bereichen Philosophie und Architektur
auch in weiteren Bereichen, wie beispielsweise Malerei und Skulptur. Abgesehen davon, dass
diese künstlerischen Werke nach der „Praxis“ der Dekonstruktion interpretiert werden können,
bestehen in einigen Arbeiten deutliche optische Parallelen mit jenen der dekonstruktivistischen
Architektur (L30, S. 8).
Beispiele hierfür sind die sich schneidenden Kegel und Pfeiler des US-amerikanischen Malers,
Künstlers und Objektbildhausers Frank Stella (Abb. 2.2) sowie die zerschnittenen und verzogenen Volumen der Tassen des US-amerikanischen Künstlers Ken Price (Abb. 2.3). Wie am Entstehungsdatum der Arbeiten unschwer zu erkennen ist, entstanden die künstlerischen Arbeiten
von Price noch vor dem Boom der Dekonstruktion in der Architektur.
A bbildung 2.2:Arbeiten von Frank Stella mit deutlichen Parallelen zur Dekonstruktion in der Architektur
Il Palazzo della Scimmie, 1987 (a), Il Dimmezzaton, 1987 (b), Il Drago e la Cavallina fatata, 1986 (c), Quelle: artnet.com
A bbildung 2.3:Arbeiten von Ken Price mit deutlichen Parallelen zur Dekonstruktion in der Architektur
3 Part Cup, 1973 (a), Geometric Cup, 1972 (b), Geometric Cup with outriding parts, 1974 (c), Quelle: kenprice.com
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3Ä
sthetisches
K onzept : D ekonstruktion
im
B ewegtbild
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Ä sthetisches K onzept : D ekonstruktion
3.1
im
B ewegtbild
Einführung
Wie es beispielsweise beim Begriff der Dekonstruktion in der Architektur der Fall ist, lässt sich
auch der Ursprung seines Namenspendants im Bewegtbild nicht allgemein gültig bei der
Derrida'schen „Praxis der Dekonstruktion“ determinieren. Züge der Dekonstruktion gab es im
Bewegtbild, hierbei speziell im Film, nämlich schon lange Zeit bevor Derrida den Begriff im
Bereich der Philosophie und Literatur etabliert hat. Wenngleich sich ihre Abstammung nicht auf
ihn zurückführen lässt, so verdankt sie Derridas Praxis dennoch ihren Namen und die Dekonstruktion ist auf Werke des Bewegtbildes ebenso anwendbar, weil sie von einem erweiterten
Textbegriff ausgeht und somit auch bewegte Bilder als Text auffasst.
In diesem Kapitel werden konkrete Methoden und Darstellungsformen der Dekonstruktion im
Bewegtbild anhand von Filmbeispielen des postmodernen Kinos erläutert und einer Kategorisierung unterzogen. Besonderes Augenmerk postmoderner Filmwerke, welche sich in den
1980er Jahren etablierten, liegt auf der unkonventionellen Erzählstruktur, die entgegen der
Darstellungskonventionen des klassischen Hollywoodkinos vorgeht. Gewohnte und damit eingefahrene Konstruktionen und Konstellationen der Darsteller, ihre Verhaltensweisen und die
lineare Erzählweise klassischer Werke werden dekonstruiert und in Form einer Collage rearrangiert (L21, S. 6). Klassische Filmwerke weisen demnach alleinig durch ihre Montage, also dem
Rearrangement einzelner filmischer Einheiten durch den Filmschnitt, bereits dekonstruktivistische Züge auf – mit Ausnahme von Plansequenzen, welche ohne Schnitt auskommen.
Das postmoderne Kino schafft die Voraussetzung, den Zuseher in einer doppelten Praxis der
Rezeption miteinzubeziehen: zum einen als Zuseher, der als medienkompetenter Rezipient sein
interdisziplinäres Wissen erproben und für die Rekonstruktion der Filmgeschehnisse zu Rate
ziehen kann und/oder aber auch als jemanden, der ganz unmittelbar „naiv“ unterhalten werden
will (L16, S. 70). Der deutsche Filmkritiker Georg Seeßlen beschreibt das Wesen der Dekonstruktion im postmodernen Kino als Auflösung der drei wesentlichen Grundzüge filmischer Erzählung, nämlich den Raum, die Zeit und die Personen (L16, S. 111). Weiters werden im Folgenden
die in diesem Zusammenhang wichtigen Rezeptionsbedingungen behandelt, also welche Voraussetzungen gegeben sein müssen, um Dekonstruktion im Bewegtbild für den Betrachter
überhaupt erst erkennbar sowie dechiffrierbar zu machen.
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Ä sthetisches K onzept : D ekonstruktion
3.2
Modalitäten
3.2.1
G e z ie l t e D e s o r ie n t ie r u n g
der
Dekonstruktion
im
im
B ewegtbild
Bewegtbild
Es mag zunächst etwas merkwürdig anmuten, die Thematik der mentalen Desorientierung in
der Nerven- und Hirnforschung mit dem Stilmittel der Desorientierung in der Medienrezeption
in Zusammenhang zu bringen. Bei genauer Betrachtung lässt sich hierbei jedoch eine enorme
Ähnlichkeit feststellen (L27, S. 34):
„Die mentale Orientierung ist eine kognitive Fähigkeit, die die Bewusstheit eines Subjekts in den drei Dimensionen Zeit, Raum und Identität eines Bezugssystems beinhaltet.
Informationen der Wahrnehmung bauen eine Bewusstheit zur Orientierung auf und aktualisieren sie. Gelernte Konstanten der Orientierung werden als Teil des Weltwissens im
Gedächtnis gespeichert. Auf sie wird bei der Imagination, der Planung und der raumzeitlichen Schlussfolgerung zurückgegriffen. Orientierung entsteht als eine Leistung des Subjekts. Sie ist eine Erkenntnis, die das Subjekt aktiv handelnd im Umgang mit der Umwelt
gewinnt und die auch nur in diesem Zusammenhang ihre Funktion hat.“
Sobald also das Bezugssystem der drei Dimensionen Zeit, Raum und Identität nicht mehr
durch die Realität, sondern durch die filmische Realität verkörpert wird, ergibt dies die Basis
des Stilmittels der Desorientierung im Bewegtbild. Der Rezipient ist im Normalfall bestrebt,
sich die im realen Leben „erlernte“ Orientierung für die Entschlüsselung des Bewegtbildes zu
Nutze zu machen. Er trachtet danach, sämtliche Zusammenhänge zu strukturieren und die Puzzlestücke zu einem plausiblen Ganzen zusammenzusetzen. Im Umfeld der Desorientierung im
Bewegtbild ist vor allem der Begriff „mindfuck“ 1 von Interesse. Dieses Prädikat wird dann einem
Film zugeschrieben, wenn der Autor bei seinem Werk die Intention hegt, beim Rezipienten eine
bestimmte Auffassung hervorzurufen, welche später in einem einzigen Moment, meist gegen
Ende eines Filmwerkes, eine dramatische Wendung erfährt (L14, S. 1). Sogenannte mindfuckFilme weichen großteils durch folgende Charakteristika von den klassischen Erzählfilmen ab:
1 Das Idiom „mindfuck“ hat sich außerhalb von Berichten und Kritiken von Film- und FernsehFans im Internet (noch) nicht etabliert, was vermutlich auf seinen anstößigen Ausdruck zurückzuführen ist. Der US-amerikanische Filmwissenschaftler und Drehbuchautor Jonathan Eig greift
den Begriff in seinem Aufsatz „hollywood structures of identity“ (L14, S. 1ff.) erstmals auf.
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B ewegtbild
Der Protagonist selbst wird an einem Wendepunkt des Films in Bezug auf dessen, was Realität ist, völlig desorientiert. Er verheimlicht dem Publikum, welches die Hintergrundgeschichte
seiner wahren Identität ebenfalls nicht kennt, also nichts, sondern wird selbst vor den Kopf
gestoßen (L19, S. 1). Der Rezipient konstruiert somit ein „falsches“ Modell der Handlung und
sein Konstrukt, in welches er die für die Rekonstruktion des Filmes erforderlichen Zusammenhänge überführt, wird an seiner Basis erschüttert. Ein hierfür bekanntes Beispiel ist M. Night
Shyamalans „The Sixth Sense“ (Abb. 3.2a), bei dem der Protagonist Dr. Malcom Crowe (gespielt
von Bruce Willis), wie auch das Publikum in der Schlussszene desorientiert werden. Der Psychologe Dr. Crowe war bereits zu Beginn von einem ehemaligen Patienten erschossen worden und
somit selbst ein Toter, was dem ganzen Film am Ende eine dramatische Wendung gibt.
(a)
(b)
(c)
(d)
A bbildung 3.4: Eine selektierte Auswahl sogenannter „Mindfuck-Movies“: The Sixth Sense,
Buena Vista Pictures, 1999 (a), Fight Club, 20th Century Fox, 1999 (b), Memento, IFC Films , 2000
(c), Mulholland Drive, Universal Pictures, 2001 (d) Quelle: http://www.imdb.de
Bei diesem Filmbeispiel wird für den Rezipienten am Ende des Filmes Klarheit geschaffen. Es
gibt jedoch auch Filmwerke, die sich dem mindfuck verschreiben und das Ende absichtlich
mehrdeutig ausgelegt werden kann. Wie zum Beispiel bei den Werken des US-amerikanischen
Regisseurs David Lynch, in denen das Stilmittel der Desorientierung häufig zum Einsatz kommt.
Besonderes Augenmerk legt Lynch hierbei auf die Orientierung bezüglich Identität seiner
Charaktere. Indem er das diesbezüglich rezipierte mentale Konstrukt des Zusehers, das sich
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langsam im Verlauf seiner Filme aufbaut, immer wieder stört, oder durch neue Gegebenheiten
einer teilweisen Auflösung unterzieht, ruft er Desorientierung hervor. So ändern sich im Laufe
seines Werkes „Mulholland Drive - Straße der Finsternis“ (Abb. 3.2d) die Identitäten der beiden
Protagonistinnen sowie weiterer Personen. Der Rezipient kann die ihm zur Verfügung stehenden Informationen dadurch nicht mehr in ein für ihn logisches Konstrukt überführen, bzw. das
Konstrukt bricht in sich zusammen, was seine Interpretationsfähigkeit in Frage stellt und ein
Gefühl der Unsicherheit hinterlässt.
Viele Filme, welche sich dem mindfuck zuordnen lassen, haben gemeinsam, dass sich einige
Sequenzen als Traum oder Halluzination herausstellen, oder der Protagonist gar Opfer einer
schweren Schizophrenie ist. Des Öfteren sind in solchen Filmen wichtige Anhaltspunkte des
Regisseurs versteckt, welche eine korrekte Interpretation der „mindfuck“-Handlung zulassen
würden. Häufig werden jedoch diese vom Rezipienten bei erstmaliger Betrachtung nicht bemerkt oder als zu unwichtig eingestuft, um in ihr mentales Konstrukt zur Rekonstruktion der
Filmhandlung mitaufgenommen zu werden. Bleiben derartig versteckte Hinweise eines Regisseurs unbemerkt, so ist dies eigentlich ein Qualitätsmerkmal für ein durchgeklügeltes Filmkonzept. Des Weiteren bedienen sich derartige Filme oft auch der Desinformation, wodurch
eine bewusste Irreführung inszeniert wird. Dabei werden die Rezipienten absichtlich mit vielen,
für die Nachvollziehung der Handlung entbehrlichen Informationen, „überinformiert“, was jedoch die zur Rekonstruktion der Geschichte wichtigen Informationen verdeckt.
Die bisher angeführten Beispiele zu Desorientierungen im Bewegtbild stellen (meist) einen
Bruch der Erwartungshaltung des Zusehers dar und haben die Gemeinsamkeit, dass sie den
drei Dimensionen Zeit, Raum und Identität zugeordnet werden können. Fern dieser drei Dimensionen, jedoch trotzdem in gewissem Maße einer Desorientierung zuzuordnen, ist der Bruch
der Erwartungshaltung des Rezipienten in Zusammenhang mit kausalen 2 Ereignissen. Der
Rezipient schreibt dabei, aufgrund seiner Erfahrung aus dem alltäglichen Leben, bestimmten
Situationen ein gewisses Ursache-Wirkungs-Verhältnis zu. Ein Beispiel für ein solch kausales
Ereignis ist das Zerbrechen von Glas in Scherben, wenn es mit entsprechender Wucht auf einen
Festkörper aufschlägt. Hätte der Bruch von Glas eine andere Wirkung, beispielsweise verän2 Kausalität (lat. causa „Ursache“) bezeichnet die Beziehung zwischen Ursache und Wirkung,
betrifft also die Abfolge aufeinander bezogener Ereignisse/Zustände.
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im
B ewegtbild
derte sich die Materialität der Bruchstücke von Glas zu Wasser, würde dies den realen Erfahrungen des Rezipienten widersprechen und seine Erwartungshaltung brechen.
Abseits dieser Überlegungen lässt sich auch der im Filmbereich generell vermiedene, da als
Fehler betrachtete Achsensprung, einer Desorientierung zuordnen. Dieser Begriff stellt einen
Filmschnitt dar, bei dem die Handlungsachse (eine gedachte Linie zwischen zwei oder mehr
Akteuren, bei Interviewszenen die Blickachse) übersprungen wird. Wird zwischen dem grünen
und dem roten 180-Grad-Bogen der Kameraposition gewechselt (Abb. 3.3a), so verändert sich
Position und Blickrichtung der Akteure relativ zum Zuschauer, was für diesen häufig eine Desorientierung zur Folge hat. Bewusst eingesetzt, stellt er ein Stilmittel dar, das für Konfusion
des Rezipienten sorgen kann, oder/und aber auch einen Kippmoment symbolisiert. In diesem
Zusammenhang des bewussten Einsatzes wird der US-amerikanische Regisseur, Produzent und
Drehbuchautor Stanley Kubrick oft genannt (Abb. 3.3b, c). Der Achsensprung verfolgt somit
desorientierende Motive, die sich der filmischen Dekonstruktion zuordnen lassen.
(a)
(b)
(c)
A bbildung 3.5:Grafik bzgl. Achsensprung-Problematik (a), Quelle: http://de.wikipedia.org,
Achsensprung in Kubricks „The Shining“, Warner Bros., 1979 (b,c) Quelle: http://www.imdb.de
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Ä sthetisches K onzept : D ekonstruktion
3.2.2
im
B ewegtbild
Nichtlineare Narration
Die Narration (Erzählweise) ist dafür verantwortlich, welche Hinweise und Informationen der
Rezipient an welchem Punkt des Filmes zur Verfügung gestellt bekommt. In diesem Zusammenhang erfreut sich die nichtlineare Erzählweise bei Drehbuchautoren und Filmemachern,
jedoch auch bei Filmrezipienten durchwegs großer Beliebtheit und ist heute populärer denn je.
Wenngleich sie sich anfangs eher im postmodernen Kino etablierte, wurde ihr Potential auch
außerhalb dieser Strömung erkannt und somit kurze Zeit später auch in den für den Mainstream1 bestimmten und durch konventionalisierte Zuschauererwartungen geprägten Hollywoodproduktionen erfolgreich für ein breites Publikum adaptiert.
Der charakteristische Aufbau populärer Geschichten (nicht nur auf den Filmbereich bezogen) soll eine möglichst einfache Rekonstruierbarkeit des (Film-)Geschehens ermöglichen.
Darum hat sich im Laufe der Zeit eine vom amerikanischen Filmtheoretiker David Bordwell
als „kanonisch” 2 (L13, S. 26) bezeichnete Geschichtenform herausgebildet, an welche sich die
Struktur klassischer Geschichten anlehnt. Dieser charakteristische Aufbau setzt sich zusammen
aus dem Schema Exposition - Konflikt - Auflösung und verkörpert laut dem deutschen Literaturund Medienwissenschaftler Jens Eder das allgemeinste Strukturmerkmal der populären Dramaturgie (L13, S. 36). Praktisch gesehen bedeutet dies, dass nach einer kurzen Vorstellung von Zeit
und Raum des Filmgeschehens sowie Vorstellung des/der Protagonisten (Exposition), diese/r
mit mindestens einer problematischen Herausforderung konfrontiert wird, welche es zu lösen
gilt (Konflikt), was im Finale – oftmals unter Einsatz einer besonderen List und überzeugter
Kampfbereitschaft – dann auch erfolgreich gelingt (Auflösung) (L19, S. 4).
Der Betrachter eines Filmes ist im Normalfall bestrebt, aus den ihm zur Verfügung stehenden Informationen eine lückenlose mentale Topografie 3 zu erstellen. Im überwiegenden Anteil heute
1 Mainstream (engl. „Hauptstrom“) bezeichnet den kulturellen Geschmack einer großen Mehrheit.
2 in der Art und Weise eines Kanons; als Richtlinie dienend; verbindlich geltende Lehre
3 Topografie (von griechisch tópos - „Ort“ und grafeïn - „zeichnen, beschreiben“) bezeichnet im
Bereich der Medienanalyse das mentale Konstrukt des Betrachters, in dem er rezipierte Informationen der Filmhandlung bzgl. Zeit, Raum, Personen u.ä. kausal-chronologisch ordnet. Diese
mentale „Filmlandkarte“ wird später zur Rekonstruktion des Filmes herangezogen.
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Ä sthetisches K onzept : D ekonstruktion
im
B ewegtbild
verfügbarer Filme wird eine klassisch-lineare Erzählweise eingesetzt, d.h. die Geschehnisse
erfolgen chronologisch geordnet, was es dem Rezipienten oft leicht macht, ein mentales Konstrukt zur Nachvollziehbarkeit der Handlung aufzubauen. Jedoch gibt es auch etwas schwieriger zu rekonstruierende Werke, welche auf eine nichtlineare Erzählweise aufbauen und somit
meist eine höhere Medienkompetenz zur Erstellung der vorher genannten Topografie sowie
zur Dechiffrierung ihrer Handlung abverlangen. Jedoch auch im Falle dieser zeitlichen NonLinearität, wenn sich also Ereignisse etwa in Form von Flashbacks (Rückblenden) oder Antizipationen (Vorwegnahme von Ereignissen) vor ihm ausbreiten, nimmt der Rezipient gewöhnlicherweise eine vollständige Chronologie der Geschehnisse wahr (L36, S. 226). Eine weitere Form
dieser nichtlinearen Erzählung tritt beispielsweise dann auf, wenn ein und dasselbe Geschehen
aus den Blickwinkeln verschiedener Personen, die es erlebt haben, dargestellt wird bzw. wenn
mehrere Handlungsstränge parallel nebeneinander ablaufen, im Film jedoch nur sequentiell
gezeigt werden.
Das wohl bekannteste Beispiel im Bereich Mainstream-Kinofilm, mit der Charakteristik einer
nichtlinearen Erzählweise, ist das im Jahr 2000 von Christopher Nolan geschaffene Filmwerk
Memento. Der Protagonist Leonard Teddy (gespielt von Guy Pearce) ist seit einem traumatischen Ereignis, bei dem seine Frau vergewaltigt und erschossen sowie er von einem Einbrecher
niedergeschlagen wird, unfähig, neue Informationen in seinem Kurzzeitgedächtnis zu behalten.
Um das nach diesem tragischen Ereignis Erlebte nicht zu vergessen, macht er ständig PolaroidFotos, notiert alles Erlebte peinlich genau auf Kärtchen und lässt sich auch einige Tätowierungen stechen, um nichts Wichtiges zu vergessen.
Das markante und gleichermaßen Geniale an diesem Film sind die beiden Handlungsstränge, welche in Parallelmontage geschnitten und durch ihre Farbgebung leicht voneinander zu
unterscheiden sind. Ein Erzählstrang wird in Farbe dargestellt und erzählt die Geschichte des
Protagonisten etappenweise vom Ende bis zum Anfang, läuft also rückwärts, jedoch trotzdem
linear ab (Abb. 3.4a, c). Der zweite Erzählstrang, der in Parallelmontage immer wieder zwischengeschaltet wird, hat eine Schwarz-Weiß-Optik und läuft chronologisch korrekt ab (Abb. 3.4b,
d). Der Rezipient ist also ständig einer Filmhandlung ausgesetzt, deren Vorgeschichte er nicht
kennt. Dies erschwert es für diesen ungemein, die Ereignisse in ein logisches, mentales Kon-
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Ä sthetisches K onzept : D ekonstruktion
im
B ewegtbild
strukt zu überführen, welches dabei helfen soll, den Film zu entschlüsseln. Das Kausalitätsprinzip wurde umgekehrt. Die nichtlineare Charakteristik der Erzählweise ergibt sich dabei nicht
aus der reversiven Darstellung eines Erzählstranges, sondern aus der Parallelmontage zweier
chronologisch entgegenlaufender Erzählstränge, wobei der chronologisch richtig verlaufende
Erzählstrang zusätzlich noch kurze Rückblenden beinhaltet.
(a)
(b)
(c)
(d)
A bbildung 3.6:Auswahl verschiedener Ausschnitte aus dem Film „Memento“, IFC Films , 2000.
Die farbigen Szenen werden im Film in chronologisch richtiger Reihenfolge dargestellt (a, c).
Die Schwarz-Weiß-Szenen laufen chronologisch verkehrt ab (b, d). Quelle: http://www.imdb.de
Die zeitlich geschlossene Struktur wird demnach in ihre Einzelteile zerlegt und collagenartig
zu einem neuen Ganzen zusammengesetzt. Das traditionelle Kino, welches nach Aufklärung
und linear-kausaler Erzählweise strebt sowie die konventionalisierten Zuschauererwartungen,
welche von diesem hervorgehen, werden somit einer Dekonstruktion unterzogen.
Ebenfalls für einen dekonstruktivistischen Umgang mit der Erzählweise in seinen Filmen bekannt ist David Lynch. Er hebt laut Seeßlen die Linearität der Zeit auf eine Weise auf, die ihre
vollständige Rekonstruktion nicht mehr möglich macht (L27, S. 226). Der Rezipient muss bei der
Betrachtung solcher Filme in Kauf nehmen, dass er keine vollständige mentale Topologie des
Filmgeschehens herstellen kann.
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3.2.3
im
B ewegtbild
V e r f r em d u n g s e f f e k t
Der Begriff Verfremdungseffekt (V-Effekt) wurde in den 1930er Jahren durch den deutschen
Dramatiker und Lyriker Bertolt Brecht (gebürtig Eugen Berthold Friedrich Brecht) geprägt. Er
bezeichnet ein Verfahren der dramaturgischen Praxis, welches Brecht im Rahmen seiner Theorie des epischen Theaters entwickelte. Er legte besonderes Augenmerk darauf, ein analytisches
Theater zu schaffen, welches das Publikum zum distanzierten Nachdenken und Hinterfragen
anregt, sowie ermöglicht, eine kritische Distanz zum Dargestellten einnehmen zu können. Um
dies zu erreichen, verfremdete und desillusionierte er das Spiel absichtlich, um es eindeutig
als Schauspiel zu identifizieren und es somit für den Zuschauer von der Realität eindeutig abzugrenzen. Der Zuseher soll davon abgehalten werden, sich vollständig in die theatrale Realität, welche auf der Bühne vorherrscht, zu versetzen. Weiters soll er sich nicht mit den Rollen
der Darsteller identifizieren, im Besonderen keine mitleidende Einfühlung zu den Darstellern
aufbauen. Brecht selbst formuliert seine Definition des Verfremdungseffektes mit folgenden
Worten (L5, S. 301):
„Einen Vorgang oder einen Charakter verfremden, heißt zunächst einfach, dem Vorgang
oder dem Charakter das Selbstverständliche, Einleuchtende zu nehmen und über ihn
Staunen und Neugier zu erzeugen.“
Das Wesen des Verfremdungseffektes liegt demnach also darin, dem Rezipienten allgemein
Anerkanntes oder alltäglich Gewordenes in einem neuen, ungewohnten Zusammenhang erscheinen zu lassen, um so eine bewusste Reflexion über das Dargestellte auszulösen. Nur so
mündet es in einem tieferen Verständnis eines eigentlich längst bekannten Sachverhaltes (L5,
S. 301). Der deutsche Literaturwissenschaftler und Leiter der Arbeitsstelle Bertolt Brecht an
der Universität Karlsruhe, Jan Knopf, stellt fest, dass der Verfremdungeffekt die Bedingungen
für Produktion und Rezeption der Kunst nennt, damit sie in bestimmter Weise auf Wirklichkeit
aufmerksam macht (L26, S. 94).
Mittel der Verfremdung im epischen Theater sind beispielsweise Inhaltsangaben vor der Szene
(von einem Schauspieler gesprochen oder auf Tafel bzw. durch Projektion eingeblendet),
Songs, Umbauten auf offener Bühne, eine karge Bühnenausstattung oder etwa der sparsame
Gebrauch von Kulissen (L6, S. 1).
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im
B ewegtbild
Beispiel für eine Verfremdung im Kunstbereich der Malerei wäre ein gemaltes Portrait von
einem König, welches diesen mit seiner prunkvollsten Kleidung in einem Kuhstall abgebildet
zeigt. Das Bekannte erscheint somit für den Rezipienten in einem neuen, ungewöhnlichen
Zusammenhang.
In einem aktuellen Werk von David Lynch, dem Film Inland Empire (2006), setzt dieser auch bewusst das Stilmittel des Verfremdungseffektes ein. Nachdem die Protagonistin Susan „Sue“ Blue
(gespielt von Laura Dern, welche im Film parallel auch die Rolle der Nikki Grace verkörpert) auf
offener Straße von einer Unbekannten im Rotlicht-Milieu mit einem Schraubenzieher niedergestochen wird (Abb. 3.5a), startet eine mehrminütige Sterbenssequenz, in welcher der Rezipient
empathisch Anteil an ihrem Tode nimmt (Abb. 3.5b, c). Er wird jedoch plötzlich desillusioniert,
als die Kamera zurückzoomt, eine Filmkamera zu sehen ist und das ganze als Filmset entlarvt,
in der wieder Nikki Grace die Hauptrolle verkörpert (Abb. 3.5d). Lynch „verfremdet“ die Szene
somit absichtlich, um es als fiktives, inszeniertes Schauspiel gegenüber dem wirklichen Leben
erkennbar zu machen. Das Sterben stellt also nur eine trügerische Situation einer Filmszene, in
(a)
(b)
(c)
(d)
A bbildung 3.7: Ausgewählte Screenshots von David Lynchs surrealistischem Film „Inland Empire“, Universal Pictures, 2006. Der Tod von Sue Blue (Laura Dern) wird inszeniert (a, b, c). Die
plötzlich auftauchende Kamera macht den Zuschauer darauf aufmerksam, dass alles lediglich
eine Illusion darstellte (d). Quelle: http://www.imdb.de
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einer Filmszene, in einem Film, in der Realität des Rezipienten dar. Der Brecht’schen Theorie des
Verfremdungseffektes zufolge kann der Rezipient auf diese Weise eine kritische Distanz zum
Dargestellten einnehmen. Er wird auf das artifizielle Konstrukt aufmerksam, welches der Film
verkörpert. Zu Lynchs Werk Inland Empire ist anzumerken, dass der gesamte Film ein Wechselspiel zwischen filmischer Realität und der Darstellung einer Filmproduktion als filmische
Realität darstellt. Das o.a. Beispiel ist also nur eine von mehreren gleichartigen Szenen, deren
Handlung durch verfremdende Elemente geprägt ist.
In diesem Kapitel werden auffallend oft die Werke von David Lynch mit der Dekonstruktion in
Zusammenhang gebracht. Der Verdacht drängt sich auf, dass Lynch sich in seinen Werken ausschließlich den dekonstruktivistischen Stilmitteln verschrieben hat. Bei genauerer Betrachtung
wird jedoch klar, dass Dekonstruktion zwar eines, aber nicht das einzige Stilmittel ist, welches
in seinen Filmen zum Einsatz kommt. Inhalt und Ästhetik seiner Werke sind nämlich vor allem
geprägt von surrealistischen Tendenzen – und diese sind nur bedingt dekonstruktivistischer
Natur.
3.3
Rezeptionsvoraussetzungen
Die bewusste Wahrnehmung von Dekonstruktion im Bewegtbild setzt zumeist (Fach-)Wissen
beim Rezipienten voraus. Es liegt also nahe, dass erwachsene und gebildete Menschen Dekonstruktion i.d.R. eher bewusster wahrnehmen können, als dies z.B. bei Kindern der Fall ist.
David Bordwell geht davon aus, dass die Wahrnehmung durch drei Einflussfaktoren wesentlich
bestimmt wird: Zunächst durch die Zusammenhänge innerhalb des Films als formales System,
weiters durch die Erfahrungen des Rezipienten aus dem alltäglichen Leben sowie seine Erfahrungen aus dem Bereich der Medien- und Kunstrezeption (L4, S. 43f.).
Werden beispielsweise im Bewegtbild die Eigenschaften eines bestimmten Materials verfremdet – angenommen das Material Glas zerbricht nicht in einzelne Splitter, sondern verflüssigt
sich beim Bruch – ist dies für einen Rezipienten mit entsprechender Erfahrung aus dem alltäglichen Leben durchaus als Dekonstruktion identifizierbar. Für ein (Klein-)Kind, welches diesen
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B ewegtbild
Erfahrungsprozess noch nicht durchlaufen hat, es somit die Auswirkungen eines Glasbruches
noch nicht kennt, würde diese Erfahrung nicht als Dekonstruktion wahrnehmbar sein, da es aufgrund mangelnder Erfahrung auf keinen realen Vergleichswert zurückgreifen kann. Ein zugegeben recht triviales Beispiel, jedoch können die Voraussetzungen zur Rezeption von Dekonstruktion auch wesentlich komplexer ausfallen. Beispielsweise in dem in Kapitel 4 besprochenen
Werk „Alone. Life Wastes Andy Hardy“ von Martin Arnold, bei dem u.a. fundiertes Wissen über
den Ödipuskomplex von Sigmund Freud erforderlich ist, um bestimmte Dekonstruktionen im
Filmwerk auszumachen.
Die Rezeption wird weiters stark geprägt von kulturellen Unterschieden. Umberto Eco verweist
darauf, dass das gleiche semantische System in einigen Kulturen subtiler analysiert wird, als
dies bei anderen der Fall ist (L12, S. 100):
„Im Fall von ‚Verbrechen‘ könnte man finden, dass die korrespondierende kulturelle Einheit in anderen Kulturen einen größeren oder geringeren Bedeutungsumfang hat.“
Es spielt also eine wesentliche Rolle, welche Wissensbestände, aber auch kulturelle Prägungen
der Rezipient zur Decodierung von Dekonstruktion an das Bewegtbildwerk heranträgt.
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4 A
nalyse exemplarischer
B eispiele
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A nalyse
4.1
Einführung
zur analytischen
exemplarischer
B eispiele
Betrachtung
Die Auswahl der Bewegtbildwerke aus dem Film- und Animationsbereich, welche in diesem
Kapitel der Analyse unterzogen werden, erfolgte im Hinblick auf ihre Eignung, dass sich an
ihnen die wesentlichen Züge der Dekonstruktion erklären lassen. Als Analyseverfahren kommt die hermeneutische Interpretation zur Anwendung. Laut dem deutschen Medienwissenschaftler Knut Hickethier geht diese von der Mehrdeutigkeit filmischer und televisueller Werke
aus und versucht, diese Mehrdeutigkeit erkennbar zu machen – also zusätzlich vorhandene
Bedeutungsebenen und Sinnpotentiale aufzudecken (L22, S. 32). Dies lässt sich mit der Grundidee der Dekonstruktion gut vereinbaren, da auch diese eine allgemein gültige Wahrheit und
singuläre Bedeutung ablehnt und aufspüren will, was einem Text1 an Unbewusstheit zugrunde
liegt und was der blinde Fleck im Auge des Autors nicht sehen kann (L29, S. 38).
Zunächst wird der Fokus auf Dekonstruktion im Film gerichtet, da Animation wesentlich von
diesem beeinflusst wird. Dazu wird der Experimentalfilm „Alone. Life Wastes Andy Hardy“ vom
österreichischen Avantgarde-Filmemacher Martin Arnold näher beleuchtet und aufgezeigt, auf
welche Weise Dekonstruktion in seinem Werk zum Einsatz kommt und wie sich diese auf die
Rezeption des Filmes, im Speziellen auf die Narration auswirkt.
Dekonstruktion findet im Film vorwiegend auf narrativer Ebene statt, daher werden anschließend
auch ihre Möglichkeiten und Rahmenbedingungen im Bereich der (abstrakten) Animation erörtert. Diese ist zum Teil bewusst ohne Narration aufgebaut, wobei in diesem Fall das Augenmerk dann meist vermehrt auf die Spektakularität der Bilder und Bildkomposition gerichtet ist.
Dazu wird der Werbespot „Absolut Dissection“, der eine Kooperation der New Yorker Agenturen
TBWA/Chiat/Day, Psyop und Massmarket darstellt, genauer unter die Lupe genommen. Da diese
Animation auch eine maßgebende Inspirationsquelle für das mit dieser Arbeit eng verknüpfte
Diplomprojekt war, soll auf den Inspirationsaspekt dieser Animation im Entstehungsprozess des
Diplomprojektes näher eingegangen werden. Im dritten Teil der hermeneutischen Analyse wird
dann die Animation „KON - Destruktion dekonstruiert“ näher beleuchtet und somit werden die
in Kapitel 3 aufgestellten Thesen untermauert.
1 In diesem Zusammenhang gilt wiederum der erweiterte Textbegriff (somit ist auch Film Text)
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A nalyse
exemplarischer
4.2
Fi l m - A l o n e . L i fe Wa s t e s A n d y H a r d y
4.2.1
Einführung
B eispiele
Der österreichische Filmemacher Martin Arnold hat mit seinen drei Werken „pièce touchée“
(1989), „passage à l’acte“ (1993) und „Alone. Life Wastes Andy Hardy“ (1998) eine Trilogie von
Experimentalfilmwerken geschaffen, welche zur Gänze aus found footage 1 entstanden sind. Für
das aktuellste dieser drei Werke „Alone. Life Wastes Andy Hardy“ bedient er sich an der 16-teiligen
englischsprachigen Filmreihe „Andy Hardy“, welche von den Metro-Goldwyn-Mayer Studios
(MGM) in den Jahren 1937 bis 1958 produziert wurde. Konkret nimmt er sein Material, welches
nur aus wenigen Sekunden besteht, großteils von der Episode „Andy Hardy meets Debutante“
aus dem Jahre 1940. Seine Ausschnitte zeigen die vier Charaktere Andy Hardy (Mickey Rooney),
seinen Vater James K. Hardy (Lewis Stone), Andys Mutter (Fay Holden) und Andys Freundin
Betsy Booth (Judy Garland). Das Musikstück, welches im Film von Letzterer dargeboten wird
und auf welches sich Arnold im Titel seines Werkes bezieht, heißt „Alone“.
Das selektierte found footage, welches Filmausschnitte von nur wenigen Sekunden darstellt,
unterzieht Arnold sodann einer intensiven Bearbeitung. Er bläht die kurzen Ausschnitte zu
mehrminütigen Szenen mit einer Dauer von insgesamt 15 Minuten auf, indem er das Videomaterial zunächst erheblich verlangsamt – manchmal hält Arnold sogar sekundenlang auf
einem Einzelbild inne – sowie ständig vor- und zurückspult. Dadurch, dass Arnold die Szenen
nicht einfach wiederholt, sondern die Repetition mit einem Rücklauf der Einzelbilder verbunden ist, vermeidet er Sprünge und erreicht eine gewisse Kontinuität. Darüber hinaus produziert
er auf diese Weise neuartige Bewegungen der Schauspieler, welche im Originalmaterial definitiv anders stattgefunden haben. Analog verfährt er bei seiner Bearbeitung mit dem Ton und
so erfährt die visuelle Rhythmik seines Werkes auch aurale Unterstützung. Zugegeben, es ist
etwas ungewöhnlich, noch vor der Inhaltsangabe eines zu analysierenden Filmes die Rahmenbedingungen seiner Realisierung zu besprechen. Dies erfolgt jedoch in diesem Falle bewusst.
1 Found footage (übersetzt etwa „gefundenes Filmmaterial“) bezeichnet u.a. ein spezielles
Subgenre des Experimental- (oder Avantgarde-) Kinos, bei dem vorgefundenes Filmmaterial
in neue Produktionen integriert wird. Ein found-footage-Film ist also ganz oder teilweise aus
fremdem Filmmaterial aufgebaut.
M ar ti n J. Per nstei ner | D ekonstrukti on i m B ewegtbi ld | 35
A nalyse
4.2.2
exemplarischer
B eispiele
I n h a l t s b e s c h r ei b u n g
Im Allgemeinen geht einer Filmanalyse immer eine kurze Zusammenfassung der Handlung des
näher zu beleuchtenden Filmes voraus. Dies ist im Falle von „Alone. Life Wastes Andy Hardy“
nicht ganz trivial und könnte in etwa so ausfallen: Der junge Mann Andy küsst seine Mutter
freundschaftlich in den Nacken. Sie sagt „Andy?“, er erwidert „Yes, Mom?“. Er bekommt eine
Ohrfeige von seinem Vater, begleitet von einem „Shut up!“. Es folgt eine musikalische Darbietung von Betsy, die das Lied „Alone“ singt. Andy verabschiedet sich von seiner Mutter. Sie fragt
„Where are you going, son?“, er erwidert „You know where I’m going“. Andy besucht Betsy. Sie
macht ihm das Kompliment „You are beautiful“. Die beiden küssen sich. Ende.
Zugegeben, eine solche Betrachtungsweise ist gewiss mit einer ziemlichen Naivität verbunden.
Sie beschränkt sich lediglich auf eine denotative 1 Aussage der kurzen, unzusammenhängenden
Filmausschnitte, welche Arnold aus dem 88-minütigen Originalfilmwerk ausgewählt hat. Bei
der Entstehung von Bedeutung ist laut dem deutschen Medienwissenschaftler Knut Hickethier
neben dieser Denotation (also dem Offensichtlichen, wie mit o.a. Inhaltsangabe verdeutlicht
werden soll), auch die Konnotation 2 maßgebend (L22, S. 118). Diese Konnotationen werden
in Arnolds Werk durch die Ebene der Montage, also dem Filmschnitt, verstärkt. Durch diese
Montage gelingt es ihm auch, die sonst eher unzusammenhängenden (jedoch sehr bewusst
ausgewählten) Found-footage-Fragmente sinnhaft zu verbinden und dadurch eine Narration aufzubauen. Diese Verbindung, welche Arnold schafft und somit zwischen den einzelnen
Ausschnitten einen Zusammenhang herstellt, wird als das Prinzip der Kohärenz (L22, S. 119)
bezeichnet. Und genau diese Kohärenz ist es, die das Wesen dieses Experimentalfilmes ausmacht und welche in der o.a. Inhaltsangabe nicht berücksichigt wurde. Denn erst durch die
Zusammengehörigkeit der Szenen bekommt das Gezeigte eine völlig neue Bedeutung und
die naiv wiedergegebene Inhaltsangabe wird obsolet. Deshalb nun ein zweiter Versuch, den
1 Denotation (von lat. „denotare“ - „bezeichnen“) stellt die Hauptbedeutung, also den neutralen, inhaltlichen Kern eines Wortes (in diesem Fall einer Filmhandlung) dar.
2 Konnotation (vom lat. Präfix con-, „mit-“, „zusammen-“, und notatio, „Anmerkung“) bezeichnet eine emotionale, stilistische oder wertende Nebenbedeutung eines Wortes – also bewusst,
oder unbewusst Assoziiertes. Konnotationen sind neben diversen kulturellen Abhängigkeiten
auch wesentlich von der Lebenserfahrung des Rezipienten geprägt.
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A nalyse
exemplarischer
B eispiele
Inhalt zu beschreiben, jedoch nun unter Rücksichtnahme auf die Konnotationen des Filmes.
Ich möchte betonen, dass es sich bei der nachstehenden Interpretation um meine subjektive
Einschätzung handelt und dass jede Konkretisierung meinerseits gleichzeitig auch eine Verdeckung darstellt. Sie kann, muss sich jedoch nicht mit den Intentionen des Autors Martin Arnold sowie mit Einschätzungen anderer Rezipienten decken. Auf der Suche nach irgendeiner
Struktur in Arnolds Film „Alone. Life Wastes Andy Hardy“ bin ich auf die psychoanalytische
These des Ödipuskomplexes von Sigmund Freund gestoßen. Ich möchte deshalb als Leitmotiv
des Kurzfilmes den Begriff "ödipales3 Drama" bestimmen, da Arnold meiner Einschätzung nach
stark an der These Sigmund Freuds festhält. Meiner Meinung nach kommt hierbei das psychologische Wissen aus Arnolds Psychologiestudium zum Tragen.
SZENE 1
Arnolds Film entbehrt einer sonst zu Beginn üblichen Exposition, welche die Figuren vorstellt
und den Rezipienten an die Geschichte heranführt. Der Zuschauer wird sofort ins Geschehen
hineingezogen. Die erste Einstellung zeigt Andy (Mickey Rooney) und seine Mutter (Fay Holden) in der Küche (Abb. 4.1). Andy gibt seiner Mutter einen Kuss in den Nacken. Mit Hilfe der
ständigen Repetition, genauer gesagt dem kontinuierlichen Vor- und Zurückspulen, gelingt es
Arnold hier, Bewegungen darzustellen, die im Originalfilm so niemals stattgefunden haben.
Der gewöhnliche Kuss auf den Nacken wird so zu einer ausgedehnten, sexuellen Handlung
zwischen Mutter und Sohn, welche beide sichtlich zu genießen scheinen. Dass es sich hierbei
um Mutter und Sohn handelt, erfährt der Rezipient durch den anschließenden, spärlichen
Dialog „Andy?“ und „Yes, Mom“ (Abb. 4.2). Das ödipale Drama nimmt seinen Lauf.
SZENE 2
Im Anschluss an diese inzestuöse Handlung von Andy und seiner Mutter zeigt Arnold die nächste Einstellung (Abb. 4.3). Andys Vater (Lewis Stone) verpasst Andy eine gewaltige Ohrfeige, als
Bestrafung für seine blutschändliche Tat, gepaart mit einem lauten „Shut up!“. Im übertragenen
3 Ödipuskomplex: Laut einer psychoanalytischen These von Sigmund Freud durchlebt jedes
männliche Kind im Entwicklungsstadium eine „ödipale Phase“, in der es die eigene Mutter begehrt und mit dem Vater rivalisiert. Es handelt sich hierbei um einen Ödipuskonflikt. Tritt dieses
Verhalten beim Erwachsenen immer noch auf, spricht Freud vom Ödipuskomplex.
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A nalyse
exemplarischer
B eispiele
Sinne nach Freud, stellt diese Handlung eine Kastration dar. Im Unterschied zu den meisten
anderen Szenen wird diese Ohrfeige in Echtzeit abgespielt. Arnold versucht also nicht, diese
Gewalthandlung mit einer Verlangsamung der Bilder zu entschärfen – im Gegenteil: Durch die
mehrmalige Wiederholung der Ohrfeige erzeugt er einen regelrechten Gewaltakt, den der Vater
an seinem Sohn verübt. Mit den einfachen Worten „Alright … Dad“ gibt Andy anschließend
kleinlaut bekannt, dass er sich der Autorität seines Vaters unterordnet und das Verlangen nach
seiner eigenen Mutter einstellt (Abb. 4.4). Andy hat somit den ödipalen Komplex überstanden.
Es kommt zu einer schnellen Schnittfolge zweier Einstellungen, wobei Andy in einer mit geschlossenen Augen zu sehen ist und in der anderen die schöne Betsy das Lied „Alone“ singt.
Es scheint, als würde Andy von Betsy träumen. Hier möchte ich ebenfalls an die These Freuds
anknüpfen und interpretiere dies als ein Identifizieren mit dem Vater. Andy möchte es seinem
Vater gleichtun und ebenfalls eine Frau an seiner Seite haben. Er sieht ihn somit als Vorbild und
überträgt das Verlangen nach seiner eigenen Mutter auf eine andere Frau.
SZENE 3
Die Schnitte münden zur schönen Betsy Booth (Judy Garland), welche ein Lied singt mit dem
Text: „Alone on a night that was meant for love. There must be someone waiting who feels the
way I do“ (Abb. 4.5). Wobei Arnold besonders den drei Worten „Allein“, „Liebe“ und „Warten“
Beachtung schenkt und Betsys Gesang an diesen Stellen häufig wiederholt. Betsy reagiert
somit indirekt auf Andy, der allein ist, sich nach Liebe sehnt, jedoch auf sein Objekt der Begierde
warten muss. Durch die rasche Schnittfolge zweier Einstellungen – eine zeigt Andys Mutter, die
andere Betsy – gelingt es Arnold, eine neue räumliche Konstellation der Schauspieler herzustellen (Abb. 4.6). In diesem konkreten Fall erzeugt er damit einen Konflikt zwischen zwei
Personen, welche sich in verschiedenen Aufnahmen befinden. Betsy und Andys Mutter liefern
sich bildübergreifend einen wilden Dialog aus Gesten und kauderwelschartigen Sprechlauten.
SZENE 4
Der rasche Bildwechsel zwischen Andys Mutter und Betsy verstummt und es ist nur noch die
Mutter zu sehen (Abb. 4.7). Diese gestikuliert verzweifelt mit ihren Händen. Sie ist eifersüchtig,
da sich die schöne Betsy in die Mutter-Sohn-Beziehung drängt. Andy kommt ins Bild (Abb. 4.8).
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exemplarischer
B eispiele
Er kniet vor seiner Mutter nieder, um sich mit einem schüchternen Blick von ihr zu verabschieden und dann zu Betsy zu gehen. In jenem Moment, in dem Andy aufsteht und zur Tür hinaus
will, fragt seine Mutter: „Where are you going, son?“ und Andy erwidert: „You know where I’m
going“ (Abb. 4.9). Er verlässt den Raum und im weiteren Sinn somit seine Mutter.
SZENE 5
Die nächste Einstellung zeigt wiederum Betsy, welche singt: „Alone, with a heart meant for you“
(Abb. 4.10, 4.11). Sie singt voller Inbrunst und Verlangen. Durch das ständige Vor- und Zurückspulen ihrer Bewegungen sieht es für einen Augenblick lang so aus, als würde sie sich vor lauter Herzschmerz ein imaginäres Messer in die Brust stoßen. Doch ihre Erlösung naht, denn im
nächsten Moment kündigt sich Andy aus dem Off mit: „Get ready, Betsy, here I come“ an. Diese
Ankündigung ist in Anlehnung an Freud zugleich seine Tür zur Sexualität eines Erwachsenen.
Andy betritt elegant gekleidet und mit Hut und Stock den Raum (Abb. 4.12). Seine zaghaften
Vor- und Rückbewegungen stellen seinen Kampf zwischen den beiden Frauen in seinem Leben
dar. Er entscheidet sich jedoch für den Schritt nach vorn und fragt selbstsicher: „Ain’t I something?“, worauf Betsy ein lautes „Andy, you are beautiful“ hervorbringt (Abb. 4.13). In der Folge
kommt es zu einer dicht übereinander geschichteten Bildattacke, bei der es durch Arnolds
Montage so aussieht, als würde sich die Mutter zwischen die beiden drängen (Abb. 4.14).
SZENE 6
Die schnellen Schnitte zwischen den beiden Einstellungen münden in die Einstellung, welche
die Mutter mit verzweifeltem Gesichtsausdruck zeigt (4.15). Sie hat den Kampf um ihren Sohn
verloren und ist nun nicht mehr die wichtigste Frau in seinem Leben.
SZENE 7
In der finalen Szene kommt es, ganz nach Hollywood-Manier, zu einem Filmkuss (4.16). Dieser
bahnt sich mit einer etwas vorsichtigen Annäherung an. Jedoch artet dieser Kuss in Arnolds
schneller Repetition rasch zum mechanisch-lieblosen Vorgang aus. In weiterer Folge erzeugt
Arnold sogar eine Umkehrung der ursprünglichen Intention. Anstatt lieblichem Lachen nach
dem Kuss, kommt es zwischen den beiden zum Eklat – ein kläffender Dialog entsteht. Schwarzblende. Arnold schafft dadurch ein offenes Ende.
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A nalyse
4.2.3
exemplarischer
B eispiele
Sequenzdarstellung
Quelle: Martin Arnold - The Cineseizure (DVD)
sixpackfilm, 1998
A bbildung 4.1: Filmzeit 0:06
Vorstellung des Ödipuskomplexes
Liebesakt mit der Mutter, lustvolle Gesichter
A bbildung 4.2: Filmzeit 2:05
Identifikation der Personen
Mutter: „Andy?“, Andy: „Yes, Mom?“
A bbildung 4.3: Filmzeit 2:44
Bestrafung der Blutschande
regelrechter Ohrfeigenhagel des Vaters
Vater: „Shut up!“
A bbildung 4.4: Filmzeit 2:54
Andy zeigt Reue
Andy: „Alright... Dad“
Er ordnet sich der Autorität seines Vaters unter
A bbildung 4.5: Filmzeit 3:48
Sehnsucht
Betsy singt "Alone, on a night that was meant for love.
There must be someone waiting who feels the way I do"
Betsy macht Anspielung bzgl. Fellatio
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A nalyse
exemplarischer
B eispiele
A bbildung 4.6: Filmzeit 6:41
Streit
Betsies Anspielung bzgl. Fellatio mündet
in ein Anfauchen der Mutter - es kommt zum Streit
sehr schnelle Zwischenschnitte, die den Anschein
erwecken, als würden die beiden streiten
A bbildung 4.7: Filmzeit 7:01
Verzweiflung
Mutter ringt mit sich, bangt um ihren Sohn
A bbildung 4.8: Filmzeit 7:12
Abschied
Andy verabschiedet sich und
kehrt seiner Mutter den Rücken zu
Mutter: „Where are you going, son?“
A bbildung 4.9: Filmzeit 7:51
Abschied
Andy: „You know where I’m going“
Andy geht zur Tür hinaus
A bbildung 4.10: Filmzeit 8:12
Sehnsucht
sirenenartiges und dann schwermütiges „Alone“
Betsy leidet, es scheint als würde sie
sich ein Messer in die Brust rammen
A bbildung 4.11: Filmzeit 10:02
Sehnsucht
Betsy singt voller Leidenschaft und Erwartung „Alone“
Andy aus dem Off: „Get ready Betsy, here I come!“
Betsy stöhnt lieblich
M ar ti n J. Per nstei ner | D ekonstrukti on i m B ewegtbi ld | 41
A nalyse
exemplarischer
B eispiele
A bbildung 4.12: Filmzeit 10:45
Die neue Frau
Andy kommt zaghaft zur Tür herein – ist quasi hin- und
hergerissen zwischen seiner Mutter und Betsy
Andy macht eine Anspielung bzgl. Masturbation
A bbildung 4.13: Filmzeit 12:18
Die neue Frau
Andy präsentiert sein Outfit, dreht sich
einmal im Kreis und sagt „Ain’t I someting?“
Betsy mit voller Begeisterung: „Andy, you are beautiful“
A bbildung 4.14: Filmzeit 12:32
Kampf
sehr schnelle Zwischenschnitte erwecken den Anschein,
als würde sich die Mutter zwischen die beiden drängen
A bbildung 4.15: Filmzeit 12:38
Verlust
Die Mutter ist verzweifelt
Sie hat den Kampf um Andy verloren
A bbildung 4.16: Filmzeit 12:45
Happy End!?
Liebesglück, gegenseitiges Anhimmeln, heftige Küsse;
mündet in gegenseitiges, roboterhaftes Anfletschen
A bbildung 4.17: Filmzeit 14:20
(offenes) Ende
Credits
M ar ti n J. Per nstei ner | D ekonstrukti on i m B ewegtbi ld | 42
A nalyse
4.2.4
Fo r m
und
Fu n k t i o n
der
exemplarischer
B eispiele
Dekonstruktion
Die auf den ersten Blick bestimmt offensichtlichste Form der Dekonstruktion in Martin Arnolds
Experimentalfilm „Alone. Life Wastes Andy Hardy“, ist jene der „De-struktion“ des Originalfilmstreifens in seine Einzelbilder sowie die anschließende „Kon-struktion“ eines neuen Filmstreifens mit eben diesen Fragmenten. Die Tatsache, dass Arnold dabei eine bestimmte Absicht
verfolgt und die Destruktion selbst vorgenommen hat, grenzt diese Dekonstruktion deutlich
von einer einfachen Rekonstruktion ab. Zu den im dritten Kapitel dieser Arbeit besprochenen
Modalitäten der Dekonstruktion im Bewegtbild machen sich, meines Erachtens, folgende Parallelen bemerkbar:
Durch die bewusste Selektion der Szenen und die Beschränkung auf nur wenige Sekunden lange
Found-footage-Schnipsel bricht Arnold die geschlossene narrative Struktur des Originalfilmes
in Elemente auf und erzeugt durch seine Montage eine völlig andere Narration. Diese verfolgt
keinen typischen Aufbau (Exposition - Konflikt - Auflösung), sondern stellt im Wesentlichen die
chronologische Abfolge der Stationen der von Freud formulierten These des Ödipuskomplexes
dar. Hauptmotiv der Arnold'schen Narration bildet demnach das Beziehungsdreieck Sohn Mutter - Freundin, wobei auch die Rolle des Vaters im Film eine wesentliche ist. Die ödipale
Thematik rückt dadurch in den Mittelpunkt und nicht mehr die von vorne bis hinten durchgeplante Narration des Originalfilmes. Die ursprüngliche Zusammengehörigkeit von Ursache
und Wirkung wird somit aufgehoben. Es lassen sich hierbei also gleich drei dekonstruktivistische Tendenzen auf einmal feststellen: Zunächst die nichtlineare Charakteristik der Narration.
Weiters der Bruch mit den hollywoodtypischen Konventionen bzgl. Aufbau des Filmes, welche
über Jahre hin „konstruiert“ wurden, sowie die zeitliche Dekonstruktion, da Arnold durch seine
Montage auch in die Chronologie des Originalwerkes eingreift. Er setzt sich gezielt mit dem
Medium Film, speziell mit der konstruierten Repräsentation von Realität in Hollywoodfilmen,
auseinander und regt den Rezipienten an, diese zu hinterfragen. Arnold zeigt die Gemachtheit
des Filmes auf und verwehrt dem Betrachter somit den Eindruck von „echtem“ Geschehen, was
sich an die Brecht'sche Theorie des Verfremdungseffektes anlehnt. Von einem etwas allgemeineren Standpunkt aus kann diesbezüglich durch die Einzelbildmontage von Arnold auch festgestellt werden, dass es sich beim Medium Film nur um eine Verkettung von einzelnen Bildern
handelt – die filmische Illusion von Bewegung wird also sichtbar gemacht, was auch einer Ver-
M ar ti n J. Per nstei ner | D ekonstrukti on i m B ewegtbi ld | 43
A nalyse
exemplarischer
B eispiele
fremdung entspricht. Durch die Dekonstruktion gelingt es Arnold, versteckte Botschaften von
Sex und Gewalt nach außen zu kehren und dem medienkompetenten Rezipienten die Arbeit
der kritischen Reflexion zu übertragen. Die primäre Intention, auf welche Arnold bei seinem
Experimentalfilm „Alone. Life Wastes Andy Hardy“ abzielte, war es, die stabile Ordnung des
Hollywoodkinos in Frage zu stellen und den Rezipienten dahingehend zu sensibilisieren, die
Filme bewusster zu konsumieren (L1, S. 1):
„The cinema of Hollywood is a cinema of exclusion, reduction, and denial, a cinema of repression. In consequence we should not only consider what is shown, but also that which
is not shown. There is always something behind that which is being represented, which
was not represented. And it is exactly that that is most interesting to consider.“
Meiner Meinung nach gelingt ihm gerade dies, also hinter dem Gezeigten auch die verborgene
Botschaft, das Nicht-Gesagte sowie Nicht-Gezeigte, hervorzubringen, sehr gut. Er zeigt hier
einen bewussten Einsatz der Derrida'schen Praxis der Dekonstruktion und ich sehe hier auch
deutliche Parallelen mit dem von Derrida in diesem Zusammenhang geprägten Begriff der
Différance. Die Folge und somit die Funktion der Dekonstruktion in Arnolds Werk ist, dass er die
Möglichkeit für den Rezipienten bereithält, eine kritische Haltung gegenüber den Codes des
klassischen Hollywoodkinos einzunehmen.
4.2.5
Z u s a mme n f a s s u n g
Die Fragestellung bei der Analyse des Experimentalfilmes „Alone. Life Wastes Andy Hardy“ war,
ob und auf welche Weise Dekonstruktion zum Einsatz kommt und inwiefern sie sich auf die
Rezeption des Filmes, im Speziellen auf die Narration auswirkt. Dabei wurden die im dritten
Kapitel vorgestellten Modalitäten der Dekonstruktion im Bewegtbild zur Analyse herangezogen. Also ob die Handlung einer Desorientierung im Sinne eines mindfuck-Films zugeordnet
werden kann, ob die Narration auf eine nicht-lineare Weise erfolgt bzw. ob eine Verfremdung
als Mittel der Dekonstruktion eingesetzt wird.
Bei der Analyse wurde verdeutlicht, dass einige seiner Eingriffe in das ursprünglich idyllische
Familienleben der Hollywoodproduktion „Andy Hardy“ eindeutig dekonstruktivistischer Natur
M ar ti n J. Per nstei ner | D ekonstrukti on i m B ewegtbi ld | 44
A nalyse
exemplarischer
B eispiele
sind und somit in Zusammenhang mit der von Derrida geprägten Praxis der Dekonstruktion
stehen. Die entscheidende Gemeinsamkeit liegt darin, das Bestehende genauestens zu hinterfragen, es in seine Einzelteile zu zerlegen (in Arnolds Fall eine materielle De-struktion des Filmmaterials) und wieder sinnhaft zusammenzusetzen (hierbei die materielle Kon-struktion eines
neuen Filmstreifens), um damit verborgene Sinnpotentiale und neue Bedeutungsebenen im
Text bzw. hierbei im Film zum Vorschein zu bringen.
Ein weiterer Berührungspunkt zwischen Derridas Praxis und Arnolds Auseinandersetzung mit
der Hollywoodproduktion ist dahingehend gegeben, dass es bei beiden gilt, die Aussage zu
überprüfen – neben dem Behaupteten auch das Nicht-Erwähnte, das Negierte auszumachen,
zu verstärken und herauszuarbeiten. Arnolds Werk bringt eine Vielzahl von Perspektiven hervor. Mit diesen Erkenntnissen soll die These dieser Arbeit gestützt werden – dass also die
Derrida'sche Dekonstruktion im Medium Film vorhanden sein bzw. erfolgreich angewendet
werden kann, wenngleich die Anwendung in einer etwas abgewandelten Art und Weise
geschehen muss.
Einige Dekonstruktionen gelangen erst gar nicht ins Bewusstsein der Rezipienten, da sie, um
deren Aufmerksamkeit zu erlangen, zu subtil sind. Es steht außer Frage, dass die Rezeption der
in Arnolds Experimentalfilm vorkommenden dekonstruktivistischen Tendenzen voll und ganz
der subjektiven Wahrnehmung des Rezipienten unterliegen, da es hierbei um ein Sinnverstehen geht. Die Darstellungen können somit unterschiedlich gedeutet werden, woraus jedoch
keine Beliebigkeit der Interpretation entsteht. Die erstmalige Betrachtung des Filmes lässt vermutlich noch kein „Lesen“ aller dekonstruktivistischen Darstellungen zu, doch auch bei öfterem
Ansehen bleiben vermutlich einige von ihnen untransparent. Je nach medialer Kompetenz und
den persönlichen Rezeptionsvoraussetzungen.
Durch Arnolds dramatischen Eingriff in die Hollywoodproduktion „Andy Hardy“ fällt es wohl
schwer, die von ihm dekonstruierten Szenen des Originalwerks jemals wieder auf eine Weise zu
sehen, als würde man „Alone. Life Wastes Andy Hardy“ nicht kennen. Jedoch vielleicht erlaubt
er gerade durch diese dekonstruktivistische Auseinandersetzung mit den Einzelbildern, den
Film, zumindest ausschnittsweise, „wirklich“ zu sehen.
M ar ti n J. Per nstei ner | D ekonstrukti on i m B ewegtbi ld | 45
A nalyse
4.3
exemplarischer
B eispiele
A n im a t i o n s b ei s p ie l e
Aufgrund der in Kapitel drei erarbeiteten Erkenntnisse über die Modalitäten der Dekonstruktion
im Bewegtbild sowie der diesem Abschnitt vorausgehenden Analyse eines Filmwerkes kann
davon ausgegangen werden, dass analog zum Film, auch in einer Animation mit narrativem
Inhalt dekonstruktivistische Tendenzen festgemacht werden können. Mit diesem Wissen sollen
in diesem Abschnitt zwei nicht-narrative, abstrakte Animationen zur Analyse herangezogen
werden, um anhand dieser zu klären, ob und in welchem Ausmaß Dekonstruktion in diesem
Genre vorkommen kann.
4.3.1
Absolut Dissection
4.3.1.1
Einführung
und
Inhalt
Der Werbespot Absolut Dissection (Abb. 4.17) wurde von dem schwedischen Wodkahersteller
ABSOLUT in Auftrag gegeben und ist durch eine Kooperation der drei New Yorker Agenturen
TBWA/Chiat/Day, Psyop und Massmarket im Jahr 2008 entstanden. Der 45 Sekunden lange Spot
baut auf eine Print-Werbekampagne der Agentur TBWA/Chiat/Day auf, bei der ein Cocktailglas
explodiert, um seinen flüssigen Inhalt (schwedischen Absolut Wodka) zu enthüllen. Von dieser
Inspiration ausgehend, wurde der Werbespot dann unter der Regie der Agentur Psyop gemeinsam
mit der Special-Effects-Agentur MassMarket realisiert.
Im Verlauf des Werbespots ist zu sehen, wie eine Glasflasche des Spirituosenherstellers Absolut wie von Zauberhand kontinuierlich in kleine, kachelförmige Fragmente geteilt wird. Diese
Glasstücke bewegen sich dann in Form einer kontrollierten, langsam ablaufenden Explosion
vom flüssigen Flascheninhalt weg, welcher klar und schimmernd in seiner ursprünglichen Position verharrt. Nach kurzem Innehalten der Glasstücke begeben sich diese langsam in ihre
Ursprungsposition zurück und formen sich wieder zu einer makellosen Wodkaflasche. Um ein
Maximum an Realismus bei der Darstellung zu erreichen, stammen in etwa 80 Prozent der
dargestellten Flüssigkeit von Slow-Motion-Aufnahmen eines zerplatzenden Wasserballons, der
ursprünglich eine ähnliche Form wie die der Flasche aufwies. Die restliche Flüssigkeit sowie die
Flasche selbst sind dann digital am Computer entstanden.
M ar ti n J. Per nstei ner | D ekonstrukti on i m B ewegtbi ld | 46
A nalyse
exemplarischer
B eispiele
A bbildung 4.18:
Stills v. Absolut Dissection Werbespot,
Agenturen TBWA/Chiat/Day, Psyop und Massmarket, 2008,
Quelle: http://www.florianwitzel.com
M ar ti n J. Per nstei ner | D ekonstrukti on i m B ewegtbi ld | 47
A nalyse
4.3.1.2
Fo r m
und
Fu n k t i o n
der
exemplarischer
B eispiele
Dekonstruktion
Da der Spot offensichtlich ohne tiefgründige Narration auskommt, hatte ich zunächst versucht,
Interpretationen für einen tieferen Sinn des Dargestellten zu finden, bzw. gar eine verborgene
Narration aufzudecken, um somit eventuell eine Dekonstruktion ausfindig zu machen.
Nachdem ich jedoch auch von seiten der Produzenten dieses Werbespots gelesen hatte, dass
schlichtweg keine Narration vorhanden ist, sondern der Spot lediglich die animierte Fortsetzung eines Werbesujets aus dem Druck darstellt, fühlte ich mich in meiner ersten Einschätzung bestätigt – der Werbespot entstand rein aus der Intention, spektakuläre Bilder mit
einer ansprechenden Ästhetik zu kreieren.
Bevor ich mich mit der Thematik der Dekonstruktion näher beschäftigt hatte, hielt ich den
Bruch und das anschließende Zusammensetzen der Glaskacheln für eine dekonstruktivistische
Darstellung. Jetzt, nach intensiver Recherche und Auseinandersetzung mit dem Thema, gebrauche ich diesen Begriff mit größerer Sorgfalt. Die Zerstörung der Glasflasche sowie der Vorgang der anschließenden “Heilung” sind per se noch kein dekonstruktivistischer Akt. Es stellt
vielmehr eine Destruktion mit anschließender Rekonstruktion dar. Jedoch der Umstand, dass
die Glasflasche in sehr geometrische Kacheln ohne irgendwelche unregelmäßige Splitter zerspringt, kann dem Stilmittel der Brecht’schen Verfremdung zugeordnet werden. Dadurch wird
offensichtlich auf das Artifizielle und Unnatürliche dieser Situation hingewiesen und dies stellt
eine Botschaft für den Betrachter dar, dass es sich beim Gezeigten um ein nicht reales Geschehen handelt.
Die eben erwähnte Verfremdung sowie die Lichtbrechung beim Blick durch Glas sind jedoch
bereits die einzigen dekonstruktivistischen Tendenzen, welche in diesem Werbespot thematisiert werden. Und genau dieser Umstand ließ mich nach weiteren Möglichkeiten suchen, wie
eine derartige Animation noch näher mit der Thematik der Dekonstruktion in Verbindung
gebracht werden könnte. Ich hielt also nach dekonstruktivistischen Stilmitteln Ausschau, um
eine Animation zu schaffen, welche sich der Dekonstruktion einer Destruktion widmet. Deshalb
soll im folgenden Abschnitt näher auf meine Animation “KON - Destruktion dekonstruiert”
eingegangen werden, welche das Vorprojekt zu dieser Diplomarbeit darstellt.
M ar ti n J. Per nstei ner | D ekonstrukti on i m B ewegtbi ld | 48
A nalyse
4.3.2
KON - D e s t r u k t i o n
4.3.2.1
Einführung
und
d e k o n s t r u ie r t
exemplarischer
B eispiele
(D i p l o m p r o je k t )
Inhalt1
Der vorhin beschriebene Werbespot “Absolut Dissection” stellt eine große, wenn nicht die
wesentlichste Inspiration für mein Diplomprojekt dar. Auf der FMX, der Fachmesse für Animation,
Effekte, Spiele und digitale Medien in Stuttgart, hatte ich im Mai 2008 die Möglichkeit, den
erst kurz vor diesem Zeitpunkt fertiggestellten Werbespot zu sehen sowie bei einer Präsentation der Special-Effects-Agentur MassMarket mehr über die technischen Hintergründe und Anforderungen zu erfahren. Zunächst war ich von der visuellen Ästhetik und von der technischen
Perfektion der Umsetzung angetan. Weiters von der Puristik des Dargestellten – der Werbespot beinhaltet lediglich eine Glasflasche mit Flüssigkeit und das Schauspiel findet gänzlich in
einem schwarzen, leeren Raum statt.
Mein Diplomprojekt “Kon - Destruktion dekonstruiert” (Abb. 4.18) verzichtet ebenso wie das
Referenzprojekt “Absolut Dissection” auf eine narrative Ebene. Das Augenmerk wird voll und
ganz auf die Realisierung dekonstruktivistischer Darstellungen sowie Ästhetik und Spektakularität der Bilder gerichtet. Die Szene besteht aus einem schwarzen, undefinierten Raum mit einer
Bodenfläche sowie dem primären Objekt der Animation – einer hohlen Glaskugel. Letztere
zerfällt explosionsartig in unzählige Glasscherben. Die Animation beginnt jedoch zunächst mit
der Darstellung der Glasscherben am Boden und läuft anschließend rückwärts in sehr langsamer Bewegung ab. Somit bewegen sich die Splitter am Boden entgegen der Gravitation wieder
nach oben und beginnen langsam aber stetig, ein Objekt zu formen. Durch zahlreiche Schnitte,
extreme Close-Ups und Kamerafahrten durch die Splitter wird dieser Vorgang jedoch enorm
verzögert, um die Spannung für den Betrachter aufrecht zu erhalten, welcher Gegenstand sich
denn hier nach seiner Zerstörung wieder zusammensetzt. An dem Punkt, an dem die Glaskugel
als solche erkennbar ist und sich beinahe wieder vollständig zusammengesetzt hat, sind starke
Schwingungen der Kugel zu erkennen, begleitet von einem hohen Ton. Die Kugel zerplatzt,
jedoch diesmal als Seifenblase.
1 Eine genaue Beschreibung der praktischen Arbeit an diesem Projekt, mit Informationen über
die Projektphasen Preproduction, Production und Postproduction, erfolgt im fünften Kapitel
der vorliegenden Arbeit.
M ar ti n J. Per nstei ner | D ekonstrukti on i m B ewegtbi ld | 49
A nalyse
exemplarischer
B eispiele
A bbildung 4.19:
repräsentative Stills v. Diplomprojekt
KON - Destruktion dekonstruiert, Martin J. Pernsteiner, 2009
M ar ti n J. Per nstei ner | D ekonstrukti on i m B ewegtbi ld | 50
A nalyse
4.3.2.2 F o r m u n d
Fu n k t i o n
der
exemplarischer
B eispiele
Dekonstruktion
Zunächst ist die Darstellung der Ereignisse nicht-linear kausal, da in der Animation zu Beginn die
Glasscherben zu sehen sind, welche sich langsam wieder zu einem Ganzen zusammensetzen
und somit die Wirkung der Ursache vorweggenommen wird. Eine rückwärts-laufende Abspielweise kann zwar grundsätzlich auch linear sein, jedoch kommt es im Verlauf der Animation
zu Darstellungen, welche dasselbe Auswirkungsstadium der Explosion der Glaskugel
aus verschiedenen Blickwinkeln zeigen. Auf diese Weise der zeitlichen Parallelität einzelner
Darstellungen wird die Kontinuität des Geschehens, die Chronologie aufgebrochen. Die
logische lineare Abfolge der Zeit ist somit nicht mehr gegeben. Die langsame Abspielgeschwindigkeit (Slow Motion bzw. SloMo), welche von einer vergleichbaren, realen Explosion um ein
Vielfaches abweicht, soll vor allem die Spektakularität der Bilder unterstreichen und kann als
zeitliche Verfremdung betrachtet werden.
Auch das Material Glas wurde in der Animation nicht zufällig gewählt. Es birgt nämlich optische
Eigenschaften, welche der Dekonstruktion zugerechnet werden können. Schon allein der Blick
durch Glas ermöglicht je nach Wölbung und Beschaffenheit eine veränderte Darstellung des
Betrachteten, hervorgerufen durch die Lichtbrechung. Dies ist wiederum eine verfremdende
Eigenschaft. Des weiteren besitzt Glas unter bestimmten Voraussetzungen die Charakteristik,
Licht durch Brechung in seine Spektralfarben aufzufächern. Es kommt hierbei also zu einem
Aufbruch der Konstruktion von Licht. Ein weiterer optischer Effekt im Zusammenhang mit Licht
wird durch den eingesetzten RGB-Color-Split erreicht. Dabei wird ein Bild in die drei Farbkanäle
Rot, Grün und Blau aufgesplittet und somit die additive Farbkonstruktion, mit Hilfe derer Bilder
am Computer dargestellt werden, aufgebrochen. Der schwarze Hintergrund wurde zum einen
aus ästhetischen Aspekten gewählt, da er die Aufmerksamkeit auf die Objekte im Vordergrund
richtet, des weiteren aus dekonstruktivistischen Überlegungen. Dadurch, dass es im Hintergrund keine optischen Anhaltspunkte für den Betrachter gibt, fällt es wesentlich leichter, durch
Kamerafahrten und außergewöhnliche Perspektiven beim Rezipienten räumliche Desorientierung auszulösen.
Neben der nicht-linearen Darstellung, der Umkehrung der Kausalität durch die reversive Wiedergabe sowie dem Aufbruch bekannter Konstruktionen wie Licht oder dem RGB-Farbraum,
M ar ti n J. Per nstei ner | D ekonstrukti on i m B ewegtbi ld | 51
A nalyse
exemplarischer
B eispiele
soll in der Animation “KON - Destruktion dekonstruiert” Dekonstruktion vorwiegend durch den
Bruch der Erwartungshaltung des Betrachters hervorgerufen werden. Zum einen mag es für
den Rezipienten befremdend sein, dass ein Glassplitter, der am Boden aufschlägt, nicht in weitere,
kleinere Splitter zerfällt oder einfach zum Liegen kommt, sondern beim Aufschlag quasi multipliziert wird. Des weiteren kommt es gegen Ende der Animation zu einer Transformation der
Materialität, bei welcher der gläserne Festkörper plötzlich eine flüssige Konsistenz aufweist.
Genau in dem Moment also, an dem der Rezipient sich an der Gewissheit erfreut, die Ursache
für den Glasbruch zu kennen – nämlich den anhaltenden, hohen Ton, der das Glas in Schwingung
versetzt – wird er durch die Transformation des Glases zu Flüssigkeit desillusioniert.
4.3.3
Z u s a mme n f a s s u n g
Die Fragestellung bei der Analyse der beiden abstrakten Animationen „Absolut Dissection” und
„KON - Destruktion dekonstruiert” war, ob und auf welche Weise Dekonstruktion zum Einsatz
kommt und inwiefern sie ohne Narration überhaupt möglich ist. Dabei wurden die im dritten Kapitel vorgestellten Modalitäten der Dekonstruktion im Bewegtbild zur Analyse herangezogen. Also ob die Darstellung einer Desorientierung im Sinne eines Mindfucks zugeordnet
werden kann, ob sie auf nicht-lineare Weise erfolgt bzw. ob eine Verfremdung als Mittel der
Dekonstruktion eingesetzt wird.
Die Analyse der beiden abstrakten Animationen, jedoch auch die Erkenntnisse aus der Konzeption des Diplomprojektes haben ergeben, dass dekonstruktivistische Tendenzen bei nichtnarrativem Bewegtbild ebensogut eingesetzt werden können. Wenngleich narrative Inhalte
wesentlich mehr Möglichkeiten bieten, diese zu dekonstruieren.
An dieser Stelle sei kurz erwähnt, dass sich mein Diplomprojekt deutlich von seiner Referenz
„Absolut Dissection” abgrenzt, auch wenn einige gestalterische Elemente übernommen wurden. Der Werbespot stellt ein kommerzielles Projekt dar, welches ein Sujet aus dem Printbereich
aufgriff und in eine Animation umwandelte, während mein Projekt sich, in Anlehnung an einige
gestalterische Elemente und der grundlegenden Ästhetik, damit beschäftigt, dekonstruktivistische Tendenzen in der Darstellung zu thematisieren.
M ar ti n J. Per nstei ner | D ekonstrukti on i m B ewegtbi ld | 52
5KON - D
estruktion dekonstruier t
(D iplomprojekt )
M ar ti n J. Per nstei ner | D ekonstrukti on i m B ewegtbi ld | 53
KON - D estruktion
5.1
Preproduc tion
5.1.1
Grundlegende Konzeption
dekonstruier t
(D iplomprojekt )
Die Diplomarbeit und das dazugehörige 3D-Animationsprojekt KON - Destruktion dekonstruiert
beeinflussen sich insofern gegenseitig, indem bereits im Vorfeld der Projektkonzeption viel Zeit
für die Recherche des Diplomarbeitsthemas aufgewendet wurde. Auf Basis dieser Recherchen
erfolgte anschließend die Konzeption – es flossen also viele Ideen der „Forschung“ in das Projekt mit ein bzw. ergaben sich erst durch diese.
Die Grundidee für das Projekt ging unter anderem aus meiner Beobachtung hervor, dass die
beiden Begriffe Destruktion bzw. Dekonstruktion im Volksmund oft synonym verwendet, bzw.
nicht ordentlich voneinander abgegrenzt werden. Dieser Umstand brachte mich auf den Gedanken, in Form einer 3D-Animation näher auf diese Thematik einzugehen. Der Titel „KON“
ergibt sich aus der Buchstabendifferenz der beiden Wörter „Destruktion“ und „Dekonstruktion“.
Die Arbeit visualisiert primär die Destruktion eines Objektes – erst bei genauerer Beschäftigung
mit der Thematik offenbart sich für den versierten Betrachter die Dekonstruktion. Es wird also,
wie im Titel des Projektes bereits offenbart wird, eine Destruktion dekonstruiert.
Eine prägnante, textuelle Beschreibung des Diplomprojektes in Stichworten lautet wie folgt:
»» fotorealistische 3D-Animation (Dauer 45 Sek.)
»» undefinierter schwarzer Raum (mit Ausnahme einer Bodenfläche)
»» Destruktion einer hohlen Glaskugel
»» reversive Bewegungen in Slow Motion (SLOMO)
»» diverse dekonstruktivistische Darstellungen
Neben der Beschäftigung mit der Dekonstruktion bestand mein Anliegen darin, eine ansprechende Bildästhetik zu schaffen. Einerseits versuchte ich dieses Vorhaben durch Bildkomposition
und Betrachtungswinkel der virtuellen Kamera zu verwirklichen, andererseits mittels reversiver
Bewegungen in Slow Motion. Meiner Meinung nach sind gerade Bewegtbilder, welche in der
Realität nicht in dieser Form wahrnehmbar sind, für den Zuschauer besonders interessant und
spannend zu verfolgen.
M ar ti n J. Per nstei ner | D ekonstrukti on i m B ewegtbi ld | 54
KON - D estruktion
5.1.2
dekonstruier t
(D iplomprojekt )
Research- & Moodboard
Für die Erstellung des Storyboards sowie Animatics wurde zunächst genau analysiert, wie Zerstörungen, insbesondere von Glasobjekten, ablaufen und in einem Research- bzw. Moodboard
(engl. mood - „Stimmung“, board - „Tafel“) gesammelt (Abb. 5.1). Da ich später eine möglichst
realitätsgetreue Simulation mit einer 3D-Visualisierungssoftware generieren wollte, war es unabdingbar, hier genaue Recherchen durchzuführen. Weiters wurden auch Bilder gesammelt,
welche die Stimmung wiedergeben, die im Diplomprojekt angestrebt wurde. Insgesamt ergab
sich so eine Collage aus 720 Fotos, welche aus Einzelbildern (Stills) von Highspeedkameraaufnahmen sowie Stimmungsbildern (Moods) besteht. Das Moodboard war in der frühen Konzeptionsphase mein wichtigstes Inspirations- und Präsentationsmittel.
A bbildung 5.1: Researchboard: zwei Bildsequenzen vergrößert dargestellt, Quelle: www.flickr.de
Wie bei den einzelnen Moods (Abb. 5.2) gut zu erkennen ist, ließ ich mich vor allem von sehr
reduzierten, klaren Bildern inspirieren. Vorwiegend weisen sämtliche Inspirationsquellen einen
undefinierten schwarzen Raum auf, der als unaufdringlicher Hintergrund fungiert und dadurch
den Fokus stärker auf das Objekt im Vordergrund richtet. Im weiteren lässt dieser neutrale
Hintergrund eine stärkere Gestaltungsfreiheit beim Spiel mit Licht zu.
A bbildung 5.2:Drei repräsentative Stills aus dem Moodboard, Quelle: Psyop, www.flickr.de
M ar ti n J. Per nstei ner | D ekonstrukti on i m B ewegtbi ld | 55
KON - D estruktion
5.1.3
dekonstruier t
(D iplomprojekt )
A n im a t i c
Nachdem die erste Konzeptionsphase abgeschlossen war, fertigte ich mit Hilfe der im Internet
recherchierten Stimmungsbilder und Einzelbildern von Videos ein bewegtes Storyboard
(Animatic) an. Dabei wurden die so zusammengetragenen Einzelbilder mit Hilfe einer Videoschnitt- und Animationssoftware zu einer kurzen Videosequenz zusammengefügt, um das
Timing der einzelnen Szenen und Einstellungen zu überprüfen. Aus diesem bewegten
Storyboard resultierte eine ungefähre Länge von etwa 45 Sekunden, um meine beabsichtigte
Botschaft für den Rezipienten zu verdeutlichen. Weiters diente dieses Animatic in Folge auch
als Diskussionsgrundlage und half wesentlich dabei, meine vorher lediglich auf dem Papier
festgeschriebenen Ideen vor Professoren und Studienkollegen zu visualisieren und zu verdeutlichen. Auch der Look des späteren Videoprojektes und die von mir beabsichtigte ästhetische
Grundstimmung ließen sich auf diese Weise gut darstellen.
A bbildung 5.3:Repräsentative Stills vom animierten Storyboard, Quelle: http://www.flickr.de
M ar ti n J. Per nstei ner | D ekonstrukti on i m B ewegtbi ld | 56
KON - D estruktion
5.2
dekonstruier t
(D iplomprojekt )
Produc tion
Die Produktion des Diplomprojektes geschah fast ausschließlich mit der 3D-Visualisierungsund Animationssoftware Autodesk Maya. Dabei wiederum stellte das Plugin Blastcode1 mein
wichtigstes Werkzeug dar, welches die Möglichkeit bietet, destruktive Ereignisse zu visualisieren.
Das Plugin simuliert Reaktionen von Festkörpern infolge von Kräften wie beispielsweise
Explosionen, Druckwellen oder Erdbeben. Es bietet präzise Einstellungsmöglichkeiten in
nahezu jeder gestalterischen Hinsicht und somit die Möglichkeit, eine Vielzahl von Szenarien
darzustellen. Da diese Destruktionsvisualisierung den größten Arbeitsaufwand beim Diplomprojekt darstellte, sei im nächsten Abschnitt näher auf die Realisierung der Destruktionssimulation
sowie auf die allgemeine Funktionsweise des Plugins eingegangen.
5.2.1
B l a s t c o d e Z e r s t ö r u n g s s im u l a t i o n
Die wichtigsten Arbeitsschritte bei der Benutzung des Plugins Blastcode gliedern sich im Grunde
in fünf wesentliche Bereiche der Zerstörungssimulation, Kollisionsberechnung sowie Caching.
Wobei der erste Punkt, die Zerstörungssimulation, den größten Arbeitsaufwand darstellt und
somit auch der zeitintensivste Schritt ist.
Prinzipiell sind für die Zerstörungssimulation eines Objektes mit Blastcode folgende drei Arten
von Geometrie vorgesehen, wobei die letzte, also die sekundäre Trümmergeometrie in Form
von „Glue Objects“ optional ist:
»» das Schadensobjekt, welches aus dem Modell vor der Schadenseinwirkung
besteht und dem, was nach der Einwirkung davon übrig ist (Damage Mesh)
»» die Trümmergeometrie, welche während der Zerstörung in
fragmentierter Form weggefegt wird (Debris Mesh)
»» sekundäre Trümmergeometrie, welche zusätzlich an ein zu zerstörendes Objekt
geheftet wird. Diese Geometrien fragmentieren nicht, reagieren aber mit dem
Zerstörungsereignis (Glue Object Geometry)
1 Blastcode, Inc | www.blastcode.com
M ar ti n J. Per nstei ner | D ekonstrukti on i m B ewegtbi ld | 57
KON - D estruktion
5.2.1.1
D e f o r m a t i o n s g e o me t r ie n
dekonstruier t
(D iplomprojekt )
erstellen
Als Grundlage einer Zerstörungssimulation dienen Nurbs-Geometrien, sogenannte Kontrollflächen. Diese fungieren als Deformationsgitter und sind für gewöhnlich im finalen Rendering
nicht zu sehen. Jedes zu zerstörende Objekt hat somit mindestens zwei dieser Kontrollflächen –
die Ausgangs-Kontrollfläche (source control surface, SCS) sowie eine Ziel-Kontrollfläche (target
control surface, TCS). Die SCS stellt das anfängliche Modell vor der Schadenseinwirkung dar.
Die TCS ist eine Kopie des Ursprungs, inklusive der Deformation. Für gewöhnlich sind mehrere
dieser TCSs mit dem zu zerstörenden Objekt verbunden – diese werden dazu benutzt, um die
Informationen über Deformierung, Druckwelle, Trümmergeometrie sowie sekundäre Trümmergeometrien zu übertragen (Abb. 5.4).
A bbildung 5.4: Ursprungs- und Ziel-Kontrollfläche in verschiedenen Stadien
5.2.1.2
T r ü mme r g e o me t r ie
erzeugen
Es bestehen drei verschiedene Arten von Trümmergeometrien, die je nach Anforderungen und
gewünschten Eigenschaften der Destruktionssimulation eingesetzt werden können:
»» Mit Hilfe der Nurbs-Kontrollfläche ein zerbrechliches
Mesh erzeugen, also ein polygonal unterteiltes Objekt (Slab)
»» Zerbrechliche Krümmungen entlang einer Nurbs-Kurve erzeugen (Sweep)
»» Objekte jeglicher Geometrie an die Oberfläche einer Nurbs
Kontrollfläche haften (Glue Objects)
M ar ti n J. Per nstei ner | D ekonstrukti on i m B ewegtbi ld | 58
KON - D estruktion
SLABS
dekonstruier t
(D iplomprojekt )
Slabs sind eine direkte Umwandlung von Nurbs-Flächen in Meshes und haben fol-
gende Eigenschaften: Harte Slabs lassen sich nicht biegen und brechen wie Ziegel, Keramik
oder Glas. Weiche Slabs lassen sich biegen, verformen sich ähnlich wie Metall oder Plastik und
zerreißen. In meinem Projekt kamen für die Zerstörungssimulation der Glaskugel deshalb harte
Slabs als Trümmergeometrie zum Einsatz.
A bbildung 5.5: Trümmergeometrie mit „harten“ Slabs in Autodesk Maya
SWEEPS
Mit Hilfe von Sweeps kann man in Maya mit dem Blastcode Plugin zusätzlich integ-
rierte, extrudierte Geometrien zertrümmern. Sweeps werden über erstellte Profile entlang von
Kurven generiert, die auf der Kontrollgeometrie verlaufen. Sie haben die Eigenschaft, dass sie
sich biegen lassen, ideal also bei Destruktionen von Rohren, Schläuchen oder Gittern.
A bbildung 5.6: Trümmergeometrie mit Sweeps in Autodesk Maya
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KON - D estruktion
GLUE OBJECTS
dekonstruier t
(D iplomprojekt )
Glue Objects können bei Zerstörungssimulationen ebenfalls eine wichtige
Rolle spielen. Sie können eine Nurbs- oder Mesh-Geometrie besitzen und werden zusätzlich an
eine Explosion geheftet. Beispielsweise wenn sich an einer Mauer Regale befinden, welche aus
Polygonen erzeugt wurden. Mit Mayas Shatter-Effekt werden diese Polygone in Bruchstücke
zerlegt und als Glue Objects in die Simulation eingebunden. Als Folge explodieren dann die
Regalteile mit den Bruchstücken des Slabs. Dieses Slab ist jedoch optional – so kann ein zu
zerstörendes Objekt auch vollkommen aus Glue Objects bestehen.
5.2.1.3
Sollbruchstellen
d e f i n ie r e n
Die Art der Unterteilung der Trümmergeometrie lässt sich entweder nach dem Zufallsprinzip
über Random Crack Patterns (vom Computer nach einem bestimmten Verfahren generiert), oder
aber auch über selbstgemalte Strukturbilder aus einem
Bildbearbeitungsprogramm steuern. Letztere, sogenannte
Custom Crack Patterns, werden als Fracture File zu der zu
zerstörenden Geometrie hinzugefügt und ermöglichen
somit vollste Kontrolle über die Sollbruchstellen des zu
zerstörenden Objekts. Um die Sollbruchstellen der im Projekt verwendeten Glaskugel zu definieren, fertigte ich im
Bildbearbeitungsprogramm Adobe Photoshop die nebenstehende Schwarz-Weiß-Grafik an (Abb. 5.4).
5.2.1.4
Explosives
A bbildung 5.7: Fracture File
hinzufügen
Als nächsten Schritt lassen sich virtuelle, destruktive Kräfte – sogenannte Explosives – erstellen,
um ein Objekt zu zerstören. Hierbei ist definierbar, welches Explosive auf welche Kontrollfläche
Einfluss nimmt, wann die Detonation erfolgen soll und wie die Druckwelle aussieht. Dazu lassen
sich unter anderem die Attribute Blast Shape, Magnitude, Velocity und Area of Impact einstellen. Bei meiner Zerstörungssimulation wurde das Explosive genau in der Mitte der Glaskugel
positioniert und die Explosionskraft homogen in alle Richtungen simuliert.
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KON - D estruktion
5.2.1.5
S l a b /S w ee p
dekonstruier t
(D iplomprojekt )
erzeugen
Ausgehend von der Kontrollfläche des zu zerstörenden Objekts wird ein Slab bzw. Sweep erzeugt. Dieses ist im finalen Rendering zu sehen, weshalb es mit einem entsprechenden Shader
zu versehen ist. Das Slab bzw. Sweep wird nach Vorgaben zerlegt (Fracture Map, vgl. 5.2.1.3)
und reagiert auf die verformte Kontrollfläche. Je nach den gewählten Parametern lösen sich
Bruchstücke von der Kontrollgeometrie ab und bilden die Trümmer der Explosion. Die Basis
der Zerstörungssimulation ist somit geschaffen und das Feintuning der Simulation kann über
entsprechende Parameter vorgenommen werden.
5.2.1.6
Kollisionsberechnung
Die Berechnung der Kollision kann von Blastcode auf zwei verschiedene Arten durchgeführt
werden. Entweder über eine partikelbasierenden, oder über eine Rigid Body Simulation. Bei
einer Zerstörungssimulation kann jedes beliebige Kraftfeld in Maya zur Anwendung kommen
und auf die Szene einwirken. Beispielsweise kann mit einem einfachen Gravitationsfeld erreicht
werden, dass die Bruchstücke zu Boden fallen.
Bei der partikelbasierenden Simulation sind die Trümmergeometrien an Partikel geheftet, die
wiederum mit einem Untergrund oder umgebenden Objekten kollidieren. Da dabei die exakte
Geometrie der Bruchstücke nicht berücksichtigt wird, ist diese Berechnung nicht sehr genau,
jedoch relativ schnell durchzuführen.
Im Gegensatz zur partikelbasierenden Simulation werden bei Rigid Bodies die Geometrien der
Bruchstücke berücksichtigt und sie kollidieren miteinander sowie mit definierten Geometrien
aus der Umgebungsszene, wodurch jedoch auch eine längere Berechnungsdauer resultiert.
5.2.1.7
Caching
Eine Zerstörungssimulation kann zu jeder Zeit auf die Festplatte aufgezeichnet, sprich gecached werden. Nachdem der Cache geschrieben wurde, lässt sich die Simulation aus der Datei
auslesen, was eine Reihe von Vorteilen bringt. Zunächst wird die Datengröße der Szene er-
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KON - D estruktion
dekonstruier t
(D iplomprojekt )
heblich reduziert, da die Simulationsengine des Plugins eliminiert wird. Weiters lässt sich die
Simulation in Echtzeit abspielen, da sie bereits beim Vorgang des Cachen vollständig berechnet wurde. Somit kann auch in der Timeline der 3D-Visualisierungssoftware vor- und zurückgespult werden. Während des Abspielens lässt sich auch Motion Blur berechnen, um die Szene
realistischer wirken zu lassen. Last but not least können Simulationen auch auf anderen, nicht
für das Plugin lizenzierten Rechnern wiedergegeben werden – mit Hilfe eines entsprechenden
Wiedergabeprogramms.
5.2.2
Herausforderungen
Die ersten Schritte mit dem Blastcode-Plugin gestalteten sich eher schwierig, da das Interface
nicht sonderlich intuitiv ist und auch auf einschlägigen Internetseiten nicht viele praktische
Anleitungen (Tutorials) zu finden sind. Dies begrenzte meine Lernunterlagen auf die rund
100-seitige englische Dokumentation, welche größtenteils sehr technisch beschrieben ist sowie
auf das Blastcode User-Forum. In diesem Forum las ich oft, dass andere Benutzer des Plugins
exakt die gleichen Probleme hatten wie ich, nur leider waren viele Forenbeiträge bereits nach
dem ersten Posting versiegt. Offenbar machte sich niemand die Mühe, seine Erfahrungen mit
anderen zu teilen. Deshalb war ich bei den meisten meiner Probleme mit dem Blastcode-Plugin
auf mich selbst, also auf die Trial-and-Error-Methode, angewiesen. Folgende Probleme schildern
die größten Zeitfresser während meiner Arbeit mit dem Plugin:
Problem: Sekundärbruchstücke kollidieren nicht mit dem Boden
Um den Grad an Realismus zu erhöhen, generiert das Plugin zusätzlich zur Trümmergeometrie des zu brechenden Objektes noch Sekundärbruchstücke (secondary debris). Diese stammen nicht von der Geometrie des Bruchobjektes selbst, sondern werden zusätzlich erzeugt.
Während der Arbeit an meinem Projekt ergab sich das Problem, dass zwar die Primärtrümmer
mit der Bodenfläche (einem Rigid-Body-Objekt) kollidierten, die Sekundärbruchstücke diese
jedoch ungehindert passierten. Nach längerer Suche in der Blastcode-Referenz wurde mir klar,
dass das Plugin die Sekundärbruchstücke als Partikel behandelt, auch dann, wenn die Primärtrümmer durch Rigid-Bodies repräsentiert werden. Dies geschieht aus Performancegründen,
da es wesentlich rechenintensiver wäre, auch die Sekundärbruchstücke als Rigid-Bodies zu
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KON - D estruktion
dekonstruier t
(D iplomprojekt )
behandeln und somit die genaue Geometrie bei Kollisionen zu berücksichtigen. Deshalb war
es in meinem Fall von Nöten, für die Bodenfläche nicht nur eine Kollision mit Rigid-Bodies einzurichten (Primärtrümmer), sondern auch eine eigene Kollision für Partikel-Objekte
(Sekundärbruchstücke).
Problem: Trümmerobjekte kollidieren nicht ordnungsgemäß untereinander
In Storyboard und Animatic meines Projektes waren mehrere extreme Close-Ups vorgesehen. Jedoch fiel mir bei genauerem Hinsehen auf, dass die Bruchstücke in meiner Szene nicht
ordnungsgemäß untereinander kollidierten. Meine erste Fehlerquelle war, dass ich den
Particle-Solver anstelle des Rigid-Body-Solvers (RBS) aktiviert hatte. Dieser bildet die Kollisionsgeometrien der Bruchstücke nicht akkurat, sondern nur annäherungsweise nach – aus
Performancegründen. Nachdem ich nun den RBS aktiviert hatte, stimmte die Kollision der
Primärbruchstücke jedoch immer noch nicht überein. Hannes Gerl, ein nebenberuflich Lehrender an der Fachhochschule, empfahl mir, die Kollisionsgeometrien anzuzeigen. Und tatsächlich
waren diese wesentlich kleiner als die Geometrien der Bruchstücke. Herr Gerl kam schließlich
zur Ursache des Problems: Ich hatte das zu zerbrechende Objekt transformiert, ohne vorher
die beiden Funktionen „Freeze Transformations“ und „Delete History“ aufzurufen. Aus diesem
Grund entsprach die Kollisionsgeometrie genau der Größe, welche mein Bruchobjekt vor der
Transformation hatte und in Folge kam es zu merkwürdigen Überschneidungen bei Kollisionen. Jedoch damit war die Kollisionsproblematik noch nicht zur Gänze gelöst, da es bei den
Sekundärbruchstücken immer noch zu ungenauen Kollisionen und Überlagerungen kam. Ich
hatte es also wieder mit dem selben Problem zu tun wie vorher: Sekundärtrümmer können
keine Rigid Bodies sein, sondern werden vom Plugin als Partikel behandelt. Nach Recherche auf
dem Blastcode-Webportal fand ich heraus, dass es vermutlich mit der nächsten Veröffentlichung des Plugins möglich sein wird, Sekundärtrümmer als Rigid Bodies zu behandeln. Für mein
Projekt hieß das jedoch, dass ich mich bei den Sekundärbruchstücken mit dem ungenaueren
Particle-Solver begnügen musste.
Problem: Trümmergeometrie kollidiert mit einem bestimmten Offset
Ich hatte das Problem, dass meine Bruchstücke nicht direkt mit der Bodenfläche kollidierten,
sondern mit einem bestimmten Offset aufprallten. Wiederum ein Fall für die Visualisierung
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KON - D estruktion
dekonstruier t
(D iplomprojekt )
meiner Kollisionsgeometrien. Hierdurch bemerkte ich, dass meine Bodenfläche von einer „Hull“
umgeben war, welche den Offset verursachte. Lösung des Problems war die Umstellung der
„Stand in Option“ von „Hull“ auf „Height Field“.
Problem: Crack-File wird nicht richtig interpretiert
Unter einem „Crack-File“ versteht man eine Bilddatei mit Schwarz-Weiß-Information, welche die
Sollbruchstellen definiert, an denen ein Objekt später mit Hilfe des Plugins zerbrochen wird. Ich
erstellte ursprünglich ein Crack-File mit einer Auflösung von 2000 x 2000 Pixel – unnötig groß,
wie sich später bei Recherchen im Blastcode-Forum herausstellte. Ich wendete also das CrackFile mit der hohen Auflösung auf mein Objekt an und sah keine Auswirkung. Mit der Annahme,
dass die Auflösung zu hoch sei, verkleinerte ich das Bild sukzessive und tatsächlich schien es
dadurch zu funktionieren. Bei genauerer Betrachtung stellte ich jedoch fest, dass die Bruchgeometrie nicht mit den Sollbruchstellen des Crack-Files übereinstimmte. Es sollte sich später
herausstellen, dass dies aufgrund einer Restriktion der Trial-Version des Plugins passierte,
wonach Crack-Files, die größer als 30 x 30 Pixel waren, einfach beschnitten wurden.
Problem: Crack-File beeinflusst Geometrie des Ursprungsobjektes
Nachdem ich mein Crack-File erfolgreich auf mein zu zerstörendes Objekt (eine Kugel) angewandt hatte, veränderte sich dessen Form. Die Oberflächenstruktur der Kugel wurde dadurch
stark vergröbert, die runde Form abgeschrägt, was mir sehr missfiel. Meine Recherchen ergaben später, dass meine Bruchgeometrie auf „Simple Mesh“ eingestellt war. Eine Einstellung,
welche die Bruchgeometrie nur approximiert, um eine schnellere Simulationsberechnung zu
ermöglichen. Die Lösung für mein Problem stellte der Einsatz von „Quads“ anstelle des „Simple
Mesh“ dar. Diese Einstellung ermöglicht eine sehr präzise Darstellung der Ursprungsgeometrie,
was jedoch aufgrund der höheren Komplexität in einer wesentlich längeren Berechnungszeit
resultiert.
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KON - D estruktion
5.3
dekonstruier t
(D iplomprojekt )
Po s t p ro d u c t i o n
Die Nachbearbeitung (engl. post production) bezeichnete bei meinem Diplomprojekt sämtliche Arbeitsschritte, welche nach dem Rendering der Zerstörungssimulationen durchgeführt
wurden. Dies schließt sowohl Tätigkeiten im auditiven, als auch im visuellen Bereich mit ein.
Konkret heißt das, dass die Bildsequenzen zu einem Video zusammengefügt, geschnitten, mit
Effekten versehen, vertont und anschließend um Vor- und Abspann ergänzt wurden. Die technischen Daten des Endproduktes entsprechen einem High-Definition-Video (HDV) mit einer
Auflösung von 1280 x 720 Bildpunkten und einer Framerate von 25 Bildern pro Sekunde.
5.3.1
V i s u e l l e N a c h b e a r b ei t u n g
Der visuelle Postproduktionsworkflow wurde gänzlich mit der Compositing- und Animationssoftware Adobe After Effects sowie diversen dafür verfügbaren Plugins durchgeführt. Dabei wurden zunächst die Bildsequenzen der Zerstörungssimulation zu einem Video zusammengefügt und dieses im Anschluss geschnitten. Es folgte die etwas zeitaufwändige und nicht
unwesentliche Aufgabe der Farbbestimmung (engl. color grading) des Bildmaterials, sprich die
Generierung eines gewissen „Looks“. Dazu kamen programminterne Filter, aber auch Plugins
zur Anwendung.
Im Zusammenhang mit dem Hauptmaterial, welches in meiner Animation vorkommt, nämlich
Glas, war es wichtig, auf die speziellen visuellen Eigenschaften dieses Materials einzugehen.
Deshalb wurden verschiedene Effekte eingesetzt, die im Besonderen den Eindruck der Lichtbrechung durch Glas simulieren. Während die Lichtbrechung beim Blick durch Glas bereits in
Autodesk Maya von der virtuellen Kamera berücksichtigt wurde, ging es in der Postproduktion
um die Auffächerung von weißem Licht in seine Spektralfarben.
Besonderes Augenmerk wurde weiters auf die Schärfentiefe (Depth of Field, DOF) gelegt. Bei
extremen Naheinstellungen (engl. close-ups) wurde der Schärfebereich bewusst sehr klein
gewählt, um eine gewisse Bildästhetik und optischen Reiz zu erzeugen und den Betrachter nicht
bzw. nur wenig vom Hauptmotiv abzulenken. Glasscherben, welche sich also im Bildausschnitt
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dekonstruier t
(D iplomprojekt )
eher im Hintergrund befinden, werden mit einer deutlichen Unschärfe dargestellt, um den Eindruck der Bildtiefe zu verstärken. Das bewusste Spiel mit der Schärfentiefe musste bereits bei
den Kameraeinstellungen sowie beim Rendering mit Autodesk Maya bedacht werden. Dafür
wurde eigens ein geeigneter Renderpass herausgerechnet. Die gerendeten Bildinformationen
aus einem DOF-Renderpass bestehen aus Schwarz-Weiß-Informationen, wobei diese helfen,
den Schärfebereich im dreidimensionalen Raum festzulegen. Mit Hilfe eines speziellen Plugins
konnte die Schärfentiefe somit in der Nachbearbeitung mit Adobe After Effects noch flexibel
justiert werden. In diesem Zusammenhang kam auch ein weiteres Plugin zum Einsatz, um ein
Bokeh zu realisieren. Dabei nehmen Lichtpunkte im Unscharfbereich die Form der Blende an.
Dies stellt also eine Simulation der Charakteristik realer Kameraobjektive dar. Je nach Anzahl
und Form der Blendenlamellen haben diese Lichtpunkte ein scheibenförmiges oder eher
eckiges Aussehen. Dieses Bokeh soll also zum einen eine gewisse Bildästhetik herstellen und
erfüllt weiters die Funktion, den Betrachter etwas auf die Folter zu spannen, da er noch nicht
weiß, was sich denn genau hinter dem Unschärfeschleier verbirgt.
Ein weiterer Effekt, der bei meinem Projekt zum Einsatz kam, wenn auch in einem sehr subtilen
Ausmaß, ist der sogenannte „RGB-Color-Split“. Dabei wird ein Bild in die drei Farbkanäle Rot,
Grün und Blau aufgeteilt. Auch dieser Effekt war, über seinen visuellen Anreiz hinaus, noch
aus einem weiteren Grund für meine Arbeit relevant. Hierbei wird nämlich die additive Farbkonstruktion, mit Hilfe derer die digitalen Bilder meines Projektes am Computer dargestellt
werden, aufgebrochen.
5.3.2
Sound Design
Der auditive Postproduktionsworkflow, also das Sounddesign, erfolgte mit dem Programm Apple Logic Pro. Dabei wurde das fertige Video importiert, um den Sound genau auf die visuellen
Ereignisse abstimmen zu können. Die Vertonung leistet einen wesentlichen Beitrag zur Rhythmik und Dynamik der Animation und besteht vordergründig aus einer Vielzahl verschiedener
Geräusche. Der Sound beginnt leise und steigert sich im Verlauf der Animation kontinuierlich
bis zum visuellen Höhepunkt der Animation, bei dem die Glaskugel als Seifenblase zerplatzt.
Um einen Kontrast zu schaffen, setzt der Ton an einer Stelle auch einmal völlig aus.
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6R
esumée
M ar ti n J. Per nstei ner | D ekonstrukti on i m B ewegtbi ld | 67
R esumée
6.1
D i p l o m p r o je k t
Das parallel zu dieser Arbeit entstandene Diplomprojekt „KON - Destruktion dekonstruiert“
war für mich eine sehr lehrreiche Erfahrung und Möglichkeit, mich praktisch mit der Thematik
der Dekonstruktion auseinanderzusetzen. Mein Vorhaben, eine Animation mit dekonstruktivistischen Inhalten zu schaffen, gestaltete sich in der Konzeption und Durchführung etwas anspruchsvoller, als ursprünglich angenommen. War es doch zunächst nötig, das Feld der Dekonstruktion genau zu erarbeiten, um sie schließlich selbst gezielt als Stilmittel im eigenen Projekt
einsetzen zu können.
In der Konzeptionsphase war es sehr spannend den Fokus auf dekonstruktivistische Tendenzen
zu richten. Und zwar aus dem Grund, da ich dabei die Möglichkeit hatte, die weitgehend philosophische Thematik der Dekonstruktion praktisch auf eine Animation zu übertragen. Dies bedeutete zunächst, den Blick verstärkt auf die bewusste Irreführung des Rezipienten zu richten.
Also entgegen dem klassischen Ideal zu agieren, welches darin besteht, durch eine möglichst
transparente Handlung, dem Zuseher die Rezeptionsarbeit zu vereinfachen. Genau an dieser
Stelle eher kontraproduktiv einzugreifen und die eingefahrenen, bestehenden Sichtweisen und
Konstruktionen aufzubrechen und zu hinterfragen – also zu dekonstruieren – stellte eine anspruchsvolle und sehr interessante Aufgabe bei der Konzeption des Projektes dar.
Zur zeitlichen Umsetzung des Projektes kann ich rückblickend feststellen, dass ich die im Vorfeld eingeplanten Meilensteine durch das ständige Auftauchen diverser technischer Probleme
sowie durch Fehleinschätzung des Arbeitsaufwandes selten einhalten konnte. Der von mir angestrebte fotorealistische Look der Animation erforderte einiges Herumprobieren mit verschiedenen Glasmaterialien und Beleuchtungsverfahren. Auch die Zerstörungssimulation stand oder
fiel mit minimalen Abweichungen diverser Objekt- und Simulationseigenschaften. Die Berechnungszeiten für ein einzelnes Bild der Simulation unterschieden sich zeitlich enorm, manchmal
sogar um Stunden(!), wenn bestimmte Parameter nicht genau aufeinander abgestimmt waren.
Dieses genaue Justieren der einzelnen Parameter, kostete mich wesentlich mehr Zeit, als ich
in meiner Ersteinschätzung dafür einkalkuliert hatte. Mit Hilfe von einigen im Internet verfügbaren Tutorials zum Plugin Blastcode war es bereits mit relativ geringem Aufwand möglich, ein
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R esumée
erstes überzeugendes Ergebnis zu erzielen. Ein simuliertes, destruktives Ereignis jedoch genau
nach eigenen Vorstellungen ablaufen zu lassen, erforderte nicht selten stundenlanges Tweaking und Herumhantieren an den zahlreichen Parametern.
Abschließend kann ich sagen, dass es eine sehr interessante und nutzbringende Erfahrung war,
ein Konzept im Zusammenhang mit einer speziellen Thematik in einem derartigen Umfang
zu erarbeiten. In meinem Fall konnte ich einen guten Einblick in die Thematik der Praxis der
Dekonstruktion aus dem Feld der Literatur und Psychologie gewinnen und die theoretischen
Erkenntnisse sogleich in mein Diplomprojekt einfließen lassen.
6.2
Schlussbetrachtung
Dekonstruktion im Bewegtbild ist omnipräsent. Neben ihrer Etablierung im postmodernen
Kino hielt sie wenig später auch Einzug in die klassischen Hollywoodproduktionen und somit
ins Mainstream-Kino. Nach meiner persönlichen Einschätzung wächst die Medienkompetenz
des Gros der Rezipienten stetig an. Die Zuschauer wollen in ihrer Rolle als „Dechiffrier-Experten“ ernst genommen werden und verlangen nach intellektueller Unterhaltung. Und genau
hier treffen dekonstruktivistische Darstellungstendenzen meines Erachtens nach den Nerv des
aktuellen Kinos, denn sie ergeben, bewusst eingesetzt, ein mächtiges Werkzeug. Es ist damit
möglich, narrative Ebenen zu schaffen, die wesentlich kontroverser diskutiert werden können,
als jene Filme, welche korrekt nach einem altbewährten Schema ablaufen.
Für mich war jedoch auch die Erkenntnis aufschlussreich, dass Dekonstruktion im Bewegtbild
nicht zwingend in narrativem Kontext auftreten muss, sondern dass dieses Stilmittel auch auf
anderen Ebenen eingesetzt werden und wirken kann. Hierbei seien beispielsweise die optischen und ästhetischen Reize der Lichtbrechung, sowohl beim Blick durch Glas, jedoch auch bei
der Aufsplittung von Licht in seine Spektralfarben erwähnt. Oder aber auch jene dekonstruktivistischen Darstellungen, bei denen Bildinhalte aufgelöst werden.
Als Einsatzgebiet für dekonstruktivistische Darstellungen im Bewegtbild eignen sich meiner
Meinung nach Filme und Animationen mit narrativem Inhalt jedoch eher, als jene, die sich
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R esumée
beispielsweise rein aus ästhetischen Aspekten damit beschäftigen. Bei Narration findet die
Dekonstruktion eher auf der Bedeutungsebene statt, somit wird das Fachwissen des Rezipienten zum Schlüssel der Dechiffrierung dekonstruktivistischer Inhalte. Es wird somit „intellektuelles Kino“ geschaffen, das nicht von jedem Rezipienten in gleichem Umfang rezipiert sowie
dekodiert werden kann. Dieser Umstand kann zu einer Befriedigung jener medienkompetenten
Rezipienten führen, die eine Botschaft „entdeckt“ haben, jedoch im anderen Fall auch Unverständnis und letztendlich Resignation auslösen.
Bei Animationen, in denen dekonstruktivistische Darstellungen aus ästhetischen Gründen
eingesetzt werden, beziehen sich diese meist rein auf den Bruch der Erwartungshaltung des
Zusehers. Diese sprechen die Erfahrungen aus dem alltäglichen Leben des Rezipienten an und
es findet lediglich ein Abgleich mit den bereits gemachten Erfahrungen statt. Da dies eher
in Richtung Effekthascherei einzuteilen ist und den Intellekt des Rezipienten nur in geringem
Ausmaß fordert, wird sich diese Art von dekonstruktivistischen Inhalten vermutlich kürzer im
Gedächtnis der Rezipienten halten, als dies bei narrativen Inhalten der Fall ist. Dennoch können
auch hier sehr spannende Ergebnisse erzielt werden.
Die intensive Auseinandersetzung in dieser Arbeit mit der Thematik rund um die Dekonstruktion im Bewegtbild mag vielleicht den Anschein erwecken, sie wäre der Schlüssel für experimentelles Schaffen in diesem Bereich. Tatsächlich ist sie zwar im Bereich des Experimentalfilmes und vor allem im postmodernen Kino ein wichtiges Stilmittel, wird jedoch oft parallel mit
anderen Stilmitteln wie beispielsweise dem Surrealismus u.ä. eingesetzt.
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L iteratur verzeichnis
|
L i t e r a t u r v e r z ei c h n i s
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Film - & A nimationsverzeichnis
|
F i l m - & A n im a t i o n s v e r z ei c h n i s
ARNOLD, Martin:
Alone. Life Wastes Andy Hardy, 1998
Von: INDEX / DVD Edition - Martin Arnold - The Cineseizure, sixpack Film
16mm, s/w, 15 min
PERNSTEINER, Martin J.:
KON - Destruktion dekonstruiert (Diplomprojekt), 2009
45 sec
TBWA/Chiat/Day, Psyop, Massmarket:
Absolut Dissection Werbespot, 2008
Von: http://www.psyop.tv/
45 sec
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