Geschichte - Bischoff Verlag

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Geschichte - Bischoff Verlag
Geschichte des Chorsingens
„Der Chor ist eine Frucht am Gemeindebaum“
Chorgesang im neuapostolischen Gottesdienst
Ich habe bis jetzt für die Gesangchöre noch keine
Anweisungen gegeben, aber es ist zur Notwendigkeit
geworden […] Ein Gesangchor darf nur mit der
Genehmigung des Apostels gegründet werden. Die
Gemeinde soll wenigstens 150–200 Seelen stark
sein […] Ist diese Genehmigung erteilt, darf sich
der Dirigent erst die Stimmen aussuchen […] Bei
der Auswahl der Stimmen ist darauf zu achten,
dass ehrbare Personen ausgesucht werden, denn der
Chor ist eine Frucht am Gemeindebaum.1
Dieses Zitat aus einem 1912 an die Gemeindevorsteher gerichteten Brief des späteren Stamm­
apostels Johann Gottfried Bischoff ist in mehrerer
Hinsicht aufschlussreich: Auch Jahrzehnte nach
Entstehung der Neuapostolischen Kirche war der
im Gottesdienst singende gemischte Chor keinesfalls die Regel. Es gilt allerdings als gesichert, dass
die größeren Gemeinden zum Beispiel in Berlin
oder Stuttgart bereits um 1910 über gemischte
Chöre verfügten.2 In den vielen kleineren Gemeinden oder den sogenannten Stationen3 mit geringer
Mitgliederzahl blieb das gottesdienstliche Singen
zunächst auf die Gemeinde beschränkt, oftmals
ohne jede instrumentale Begleitung. Manchmal
führte ein Vorsänger den Gesang.
In seinem Brief macht Bezirksapostel Bischoff die
Gründung neuer Chöre von einer Gemeindegröße
abhängig, die uns heute erstaunt. Geht man in diesem Zusammenhang vom gesamten Charakter des
Briefes aus, dann finden sich durchaus Gründe für
dieses eher zögerliche, einschränkende Vorgehen.
Zunächst gab es innerkirchlich unterschiedliche, oft auch unbestimmte Vorstellungen über
die Rolle des gottesdienstlichen Chorgesangs.
Gleichzeitig gingen die Apostelbereiche, nicht
zuletzt die Gemeindechöre und ihre Dirigenten,
konzeptionell und inhaltlich oft eigenständige, ja
eigenwillige Wege, insbesondere auch in der Wahl
und Verbreitung der Lieder.
Die Anweisung am Schluss des Briefes, externes
Liedgut – Lieder also, die nicht im offiziellen
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Noten­buch enthalten waren – zur Prüfung und
zur Genehmigung vorzulegen, war der Versuch zu
ordnen und bei der wachsenden Zahl an Chören
der Beliebigkeit im Chorrepertoire entgegenzutreten.
In Berlin war es zehn Jahre später Bezirksapostel
Martin Lax, der aus diesen Gründen eine erste
Berliner Chormappe anregte. Unter Federführung
des Komponisten Max Hölting erschien sie 1924
als für Berlin offiziell autorisierte Sammlung,
vorwiegend mit Chorsätzen neuapostolischer
Komponisten. Dieser Prototyp einer erweiterungsfähigen Chormappe (Klemm-Mappe)
strahlte in alle Apostelbezirke aus. Lieder aus der
Berliner Chormappe verbreiteten sich bis in den
süddeutschen Raum.4
Das flexible Berliner Konzept wurde in weiten
Teilen Deutschlands nachgeahmt und bis zur Einführung einer gesamtkirchlichen Lösung in Form
einer einheitlichen Chormappe praktiziert. Noch
bis in die Kriegsjahre hinein wurden die vorhandenen Bestände an Liedern laufend ergänzt oder
erneuert. Es entstanden in Qualität und Umfang
… bunte Liedersammlungen5, die … mehrfach
umsortiert werden mussten6, weil z. B. Lieder ausgewechselt oder ganz herausgenommen wurden.
Diese individuellen Sammlungen blieben neben
dem Gesangbuch Grundlage und Rüstzeug der
Chöre bis weit über die Nachkriegsjahre hinaus.
Fügt man diese Vorgänge zusammen, spürt man
das starke Bestreben, sich bei der wortgebundenen
Musik von der Kantoren- und Choraltradition der
großen Kirchen zu lösen. Ein eigenständiger Weg
und Ausdruck war das Ziel: statt der Übermacht
des Chorals das einfache, melodisch einprägsame
Lied mit volkstümlicher Wirkung, statt alter Texte
solche, die die Sendung der Apostel betonen,
die Weltabgewandtheit und die Naherwartung
der Kinder Gottes. Dieses Bemühen schlug sich
in Aufrufen an dichterisch und musikalisch be­
gabte­Glaubensgeschwister nieder, Liedtexte und
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Vertonungen anzufertigen, … aus unserem Geist
herausgeboren.7
Man kann davon ausgehen, dass dies in manchen
Apostelbereichen zu einer Flut an neuen Texten
und Liedern führte. Es wurde genehmigt und
abgelehnt, aber die Entscheidungsprozesse einheitlich zu gestalten, war schwierig. Ein gewisses
Bewusstsein für das dem Gottesdienst angemessene Singen musste sich erst entwickeln in der
noch jungen Kirche, die der alten Liturgie abgeschworen hatte und nun in einer neuen, freieren
Form Gottesdienst feierte. Diese Loslösung von
einer strengen, festgelegten Liturgie führte dazu,
dass die musikalischen Inhalte des Gottesdienstes
einer gewissen Beliebigkeit ausgesetzt waren. Die
Lieder des Chores betrachtete man mehr und
mehr als verschönernden, emotionalen Part des
Gottesdienstes. Dies ist heute noch spürbar.
Das Ringen um eine eigene musikalische Identität
der Gemeindechöre dauerte bis in die 1970er-Jahre hinein und war doch immer ein Kompromiss:
der Versuch, Altes und Neues, erhebende Gefühle
und stille Nachdenklichkeit zu verbinden. So steht
dem Kunstvollen das Schlichte gegenüber, dem
Allgemeinen das spezifisch Neuapostolische.
In diesem Zusammenhang gewannen die Gesangbücher der Neuapostolischen Kirche eine große
Bedeutung für die Entwicklung des chorischen
Singens.
… das Beste vereinigen – das erste
Gesangbuch für die katholischapostolischen Gemeinden
Die 1863 vollzogene Abtrennung der Hamburger
Gemeinde von der katholisch-apostolischen Bewegung hatte zunächst auf die gottesdienstliche
Gestaltung kaum Auswirkungen. Singen war
immer noch zuallererst Sache der Gemeinde, war
Lobpreis Gottes, Bestätigung und Bekenntnis aller.
Gemeindegesang und Chor – so verfügbar – ­waren­
nicht bloß Bindeglied und Füllung des gottesdienstlichen Ablaufs, sondern auf intensive Weise
Beteiligte der Liturgie: …wie der Gottesdienst nicht
nur von einem Chor, sondern von der ganzen Gemeinde gefeiert wird, so muss der Kirchengesang der
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Art sein, dass auch die Gemeindemitglieder ihren
gebührlichen Anteil daran nehmen können.8
Das von Ernst Adolf Roßteuscher 1859 herausgegebene Hymnologium war ein erster Schritt,
für den Gesang in den katholisch-apostolischen
Gemeinden ein Buch zur Verfügung zu stellen.
Die offizielle Ausgabe 1864 enthielt 342 Lieder für
den gottesdienstlichen Gebrauch.
Unter dem Titel „Hymnologium. Eine Sammlung
der besten Lieder und Lobgesänge aus allen Jahrhunderten der Kirche. Mit beigefügten Melodien“
hatte sie nachhaltig Einfluss auf das Singen in den
apostolischen Gemeinden.
In der Vorrede zu diesem Gesangbuch zeigt sich
ein ausgeprägt ökumenischer Gedanke im Verständnis gottesdienstlichen Musizierens:
Während die meisten geistlichen Liederbücher
nicht umhin können, entweder einen streng confessionellen oder einen ganz unkirchlichen Charakter
zu tragen, so tritt hier eine Sammlung auf, welche
in mäßigem Umfange das Beste vereinigen wollte,
was die christlichen Jahrhunderte und Parteien bis
auf unsere Tage hervorgebracht haben.10 Es wird
dem Christen ein Gesangbuch in die Hand gelegt,
… das aufgehört hat, bloß confessionell zu sein.11
Damals verstanden die katholisch-apostolischen
Christen unter ,Kirche’ die Gemeinschaft aller Gläubigen als Leib Christi […] Sich selbst sah man nicht
als Konfession, sondern als eine Konfessionsgrenzen
überwindende Bewegung.12
Es ist jener Gedanke, der sich im neuapostolischen
Katechismus 2012 wiederfindet: Das Bild von der
Kirche als Leib Christi hat eine zentrale Stellung.
Es wird […] auf diejenigen bezogen, die durch
Taufe, Glauben und Bekenntnis zu Jesus Christus
gehören.13
Deshalb war es nur folgerichtig, dass Kernlieder
der verschiedenen Konfessionen in das Gesangbuch Eingang fanden. Gleichzeitig zeigen die
Gesänge und Lieder eine gewisse stilistische Bandbreite, ergänzt durch ursprünglich lateinische
und griechische liturgische Texte in deutscher
Übersetzung.
In einer Anleitung, enthalten im sogenannten
Rubrikenbuch14, wird die Vorrangstellung des
Gemeindegesangs betont. Allerdings lassen sich
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auch erste Impulse und Entwicklungen erkennen,
diesen durch einen Chor zu ergänzen, nicht aber
zu ersetzen:
Zunächst gehört der Gemeinde die Rezitation der
gewöhnlichen Responsorien15 und der Glaubensbekenntnisse; weiterhin auch der Gesang der Psalmen
und Hymnen. Auch die regelmäßig wiederkehrenden Gesänge […] sollten vorzugsweise durch die
Gesangsfähigen der Gemeinde vorgetragen werden,
während die zum Singen Unfähigen die Worte nur
mitlispeln müssen […] Bei feierlichen Gelegenheiten
mag diese Regel dahin beschränkt werden, dass
auch jene Gesänge dem Chor überlassen und eine
die Kräfte des allgemeinen Gemeindegesangs übersteigende, mehr figurierte Musik gewählt werde.16
Mit der Abspaltung von der katholisch-aposto­
lischen Kirche 1863 begann – dies zeigt sich
beispielhaft am gottesdienstlichen Singen – eine
Phase des Übergangs, aber auch des Umbruchs.
In der neuen Religionsgemeinschaft blieb das gottesdienstliche Musizieren weitgehend der geschilderten Tradition verpflichtet. Allerdings deutet
sich in einem Andachtsbuch aus dem Jahr 1864,
von Apostel Louis Stechmann in Umlauf gebracht,
eine Öffnung an, hin zum Chor als eigenständiges
Element der Gottesdienstgestaltung. Neben einem
Weihegebet für Sänger und Organisten enthält
das Andachtsbuch u. a. Gedanken zum Wesen der
Musik im Gottesdienst und zur Rolle der Chorsänger. Sie werden als Diener und Dienerinnen
bezeichnet, die zur Ehre Gottes singen und zur
Erbauung aller.17
Das Andachtsbuch bietet Choraltexte für den
Gemeindegesang, nicht mehr nur liturgische Gesänge. Die Texte sind weitgehend den Gesangbüchern der evangelischen Landeskirchen entlehnt.
Gleichzeitig liegt die Vermutung nahe, dass in den
Gottesdiensten da und dort aus den Gesangbüchern der evangelischen Kirche gesungen wurde.18
Die neue Ordnung und das Ende
liturgischer Gesänge
Für den Betrachter stellt sich die Kirche neuer
Ordnung, wie sie häufig umschrieben wird, zunächst uneinheitlich dar. Der Gebrauch der über-
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lieferten Liturgie lag meist in der Verantwortung
des jeweiligen Apostels, ebenso die musikalische
Ausgestaltung, die nicht mehr nur der Liturgie
diente, sondern die Predigt auf gesungene Weise
ergänzte oder bestätigte.
Die freie Predigt als vom Geist inspiriertes Wort
gewann an Bedeutung und in vielen Gemeinden
wurden Kirchengewänder und äußere Zeichen der
Heiligkeit (Weihrauch u. a.) abgeschafft. Die liturgischen Gesänge selbst wurden um 1885 endgültig
von Chorälen und Kirchenliedern abgelöst. Diese
Weichenstellungen waren es, von denen aus sich
die gemischten Chöre entwickelten, wie wir sie
heute vom Gottesdienst her kennen. In gleichem
Maße nahm die ursprüngliche liturgische Bedeutung des Gemeindegesangs ab, zumal die Chorgründungen oft einhergingen mit der Entstehung
von Instrumentalensembles wie Posaunenchöre,
die zum Teil als Orgelersatz dienten.
Ein Gesangbuch für alle als Lehrwerk
eines zeitgemäß geoffenbarten Glaubens
Die Geschichte eines einheitlichen Gesangbuchs
in der Neuapostolischen Kirche begann 1898. Es
erschien unter dem Titel Apostolisches Gesangbuch
nebst einer kurzen Anleitung für den Gottesdienst.19
(Das von Bezirksapostel Bischoff in seinem eingangs zitierten Brief erwähnte Notenbuch ist eine
revidierte Fassung dieses ersten Gesangbuchs der
Neuapostolischen Kirche.)
Das Vorwort erklärt die Absicht dieser Sammlung
aus Liedern und gottesdienstlichen Unterweisungen. Es sollte ein Buch sein, das dem zeitgemäß
geoffenbarten Glauben an die Sendung unseres
Herrn Jesus Christi in seinen gesandten Aposteln
entspricht.20
Im vierten Teil des Apostolischen Gesangbuchs,
überschrieben mit „Allgemeine Gesänge“,
vollziehen sich sowohl in inhaltlicher als auch
musikstilistischer Hinsicht einschneidende Veränderungen: Es sind nicht mehr die Kernlieder
der großen Kirchen, die in Qualität und Quantität
den Gemeinde- und Chorgesang bestimmen,
sondern die Empfindungs- und Erweckungs­lieder
des 19. Jahrhunderts. Darüber hinaus enthält
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dieses Gesangbuch aktuell entstandene Texte und
Chorsätze, die allerdings zum Teil keinen Bestand
hatten.21
Die mehr als 200 Lieder in diesem vierten Teil des
Gesangbuchs wurden im Wesentlichen den damals
vorhandenen Liedsammlungen freikirchlicher
bzw. evangelikaler Gemeinschaften entnommen,
allerdings oft umgestaltet, umgedichtet oder mit
komplett neuen Texten versehen.
Die vierstimmige Notenausgabe der Auflage
von 1906 enthält 522 Lieder, davon sind etwa 90
aufgrund ihrer melodischen und rhythmischen
Eigenheiten für den Chor-, aber nicht für den
Gemeindegesang geeignet. Von über 200 Liedern
ist nur der Text abgedruckt mit entsprechendem
Verweis.
Diese Notenausgabe erscheint aus heutiger Sicht
gestalterisch und vor allem urheberrechtlich
unzulänglich: Sie enthält weder Quellenangaben
noch werden – bis auf wenige Ausnahmen – die
Komponisten und Dichter genannt. Trotzdem
wurde die Notenausgabe mit ihren rund 300
vierstimmigen Sätzen zunächst zum Basisrepertoire vieler neuapostolischer Chöre, erinnert sei
an Lieder wie „Der Herr ist mein Licht“, „Lasst
unser Loblied steigen“ oder „Hinauf auf Zions
Höhen“. Allerdings löste sich die Kirche mit
diesem Gesangbuch musikalisch nachhaltig von
ihrem bisher aufrechterhaltenen ökumenischen
Kontext, nicht zuletzt auch vom tradierten Liedgut
der großen Kirchen.
Volkston und Marsch –
Emmanuel Gohle setzt Zeichen
Beispielhaft zeigt sich der Einzug des Volkstons
und der Empfindungs- und Erweckungslieder in
das Repertoire der neuapostolischen Chöre am
Wirken Emmanuel Gohles (1867–1937). Er war
Berufsmusiker, wirkte an einem Konservatorium
und war musikalisch umfassend ausgebildet. Gohle wurde 1897 neuapostolisch und erhielt u. a. von
Stammapostel Krebs den Auftrag, durch Chorkompositionen zu einem eigenständigen neuapostolischen Liedgut beizutragen. Gohle wuchs
Ende des 19. Jahrhunderts auf – in einem national
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und kaisertreu sich gebärdenden Bürgertum, das
sich musikalisch in einem ausgeprägten Spannungsfeld bewegte: Auf der einen Seite gewann
die gesellig-unterhaltende Musik – so z. B. in den
Gesangsvereinen und Liedertafeln – immer mehr
an Bedeutung, deutlich davon geschieden auf der
anderen Seite die ernste Musik, die an den überkommenen künstlerischen Maßstäben festhielt.
Gohles Stil orientierte sich eher am Volkston und
der Klanglichkeit der Erweckungslieder. Er wählte
vorwiegend gefühlvolle Texte, durchdrungen von
pietistischer oder auch schwelgerischer Frömmigkeit. Es sind manchmal eigene Texte, häufig aber
Übersetzungen von Liedtexten englischer oder
amerikanischer Autoren.
Die meisten Gedichte, die Gohle vertonte, atmen
ganz den Geist der Erweckungsbewegung. So goss
er z.B. die drei Strophen des Gedichts „Halleluja,
Jesus führt mich“22 in eine musikalische Form,
die beides vereint: das Sentimental-Idyllische (im
Sopran­solo) und das Entschiedene, Mitreißende
im Marschrhythmus des Liedanfangs. Harmonisch
beschränkte sich Gohle fast ausschließlich auf die
Hauptdreiklänge der Tonart. Seine Melodien sind
übersichtlich gegliedert, volkstümlich anmutend
und vor allem einprägsam (vgl. die Terzen- und
Sextenhäufung in „Neunundneunzig Schafe“).23
Das Gefühlvolle und die melodisch-harmonisch
runden und ausgewogenen Verläufe machten diesen Liedtypus zum lange bevorzugten der neuapostolischen Liedsammlungen. Es sind Lieder, die
den oft bescheidenen stimmlichen Möglichkeiten
des kleinen Gemeindechors entgegenkamen.
Gohle schrieb und bearbeitete über 50 Lieder
für das Gesangbuch und die Chorbücher. Seine
wichtigste Schaffensperiode fiel in die Zeit nach
dem Ersten Weltkrieg.
Um dem gegenwärtigen Erkenntnis- und
Glaubensstande gerecht zu werden – das
neuapostolische Gesangbuch von 1909
Noch während der ersten prägenden Schaffensphase Gohles traf die Apostelversammlung
eine wichtige Entscheidung: Nachdem 1906 eine
weitere Auflage des Apostolischen Gesangbuchs
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erschien, wurden die Rufe nach einer Revision
immer lauter, zumal das Angebot an ausgewiesener Chorliteratur eher dürftig war. So beschloss
1908 die Apostelversammlung die Herausgabe
einer grundlegend revidierten Fassung des Gesangbuchs. Die Textausgabe erschien 1909, die
Notenausgabe ein Jahr später.
Erstaunliches hatte sich zugetragen: Das Gesangbuch in der vorliegenden Form war zunehmend
auf innerkirchliche Kritik gestoßen aufgrund
vieler Fehler und Mängel. Darüber hinaus gab es
von den anderen Kirchen und Gemeinschaften
hämische Kommentare angesichts oft unerträglich
schlechter Texte und Sätze.
Was sich im Hintergrund abspielte, lässt sich
einem mutigen Artikel entnehmen, der in der
Neuapostolischen Rundschau 1909 erschien: Doch
da unser jetziges Buch infolge der vielen Fehler fortwährend Anstoß beim Gemeindegesang gibt, auch
der Inhalt der Lieder dem Erkenntnisstande im
Glaubensleben der Gemeinden nicht mehr gerecht
werden kann, wurde von der Apostelversammlung
beschlossen, […] sogleich an die Bearbeitung des
neuen Gesangbuches zu gehen […]. Zudem nutzten
und nützen heute noch unsere Feinde den Inhalt
des Gesangbuches zu heftigen Angriffen gegen die
Gemeinde aus.24
Gemeindelieder – dies spiegelt sich hier eindrucksvoll wider – sind vorrangig Gebrauchsmusik und
das, was dem streng traditionsorientierten Christen bis heute anstößig erscheint, wurde nun in fast
provozierender Weise vollzogen, wenn es im Begleitwort zur Textausgabe heißt: Eine ganze Reihe
von unpassenden und ungern gesungenen Liedern
wurde ausgeschieden […] weiter auch eine Anzahl
überlanger Lieder, dem praktischen Bedürfnis im
Gemeindedienste entsprechend, erheblich gekürzt
und aller Inhalt einer Läuterung unterzogen, um
dem gegenwärtigen Erkenntnis- und Glaubensstande der Gemeinden im Werke Gottes […] gerecht zu
werden.25
Für die Chöre verbesserte sich mit diesem neuen
Gesangbuch einiges: Ein Anhang mit 50 Liedern
sollte da Ersatz schaffen, wo Chöre noch nicht
über Liedmappen verfügten. Darüber hinaus
wurde ein gewisser Maßstab angedeutet für das,
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was Chorgesang sein kann: Wir haben in diesen
Chorstücken […] schwierigere Kompositionen zugelassen, um auch Dirigenten wie Chören Gelegenheit
zu geben, sich weiter fortzubilden und einer höheren
Stufe in der edlen Gesangskunst nachzustreben.26
Die inhaltliche Nähe zum ersten neuapostolischen
Gesangbuch wurde trotz der Reformbemühungen
nicht aufgegeben. Der stilistische Mix von Chorälen
und Erweckungsliedgut wurde […] weiter geführt.27
Das Bestreben, die Chorarbeit und Dirigentenausbildung zu fördern und zu unterstützen, wird
auf den letzten Seiten der Notenausgabe unterstrichen: Neben einem knappen Grundriss der
Notenlehre finden sich dort auch Ausführungen
zur Dirigiertechnik.28 Ergänzend dazu erschienen
zwischen 1912 und 1913 in der Neuapostolischen
Rundschau unter der Rubrik Sängertempel fachlich fundierte Artikel zu Fragen des Singens (z.B.
Aussprache, Tonbildung) und der Chorarbeit im
Allgemeinen.29
War es ein wehmütiger Blick zurück oder sollte
es der Impuls sein, jene musikalischen Elemente
wieder zu beleben, die der katholisch-apostolischen Liturgie ihre Spannung und Ausdruckstiefe
gaben? Jedenfalls enthält die Notenausgabe von
1910 noch zwölf liturgische Gesänge, die bei
Bedarf und nach Belieben in den Gottesdiensten
Anwendung finden können, wenn es die geistige
Stimmung erfordert oder ein kurzer Zwischengesang angebracht ist.30
Lieder, die unserem Glauben und
Hoffen gemäß sind – ein Gesangbuch
wird 80 Jahre alt
Hatte die Gesangbuchausgabe 1909/1910 noch
versucht, den Chören durch eine Sammlung ausgewählter und auch anspruchsvoller Chorsätze ein
einheitliches Grundrepertoire zur Verfügung zu
stellen, so wurde mit dem Gesangbuch von 1925
dieser Gedanke wieder fallengelassen.
Als es erschien, ahnte wohl niemand, dass aus
diesem Gesangbuch die Gemeinden 80 Jahre
lang singen würden. Aus dem Gesangbuch 1910
wurden etwa 400 Lieder übernommen, die anderen stammten größtenteils aus der evangelikal
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gestimmten Sammlung Reichslieder und den
damals aktuellen evangelischen Gesangbüchern.
Nur wenige Lieder gehen auf neuapostolische
Autoren zurück. Mit insgesamt 652 Liedern im
vierstimmigen Satz war es ein Gesangbuch für
den Gemeinde- und Chorgesang gleichermaßen.31
Gerade den kleinen Chören bot es einfache, vierstimmige Sätze mit wenig Lernaufwand.
Doch längst hatten sich in den Chören auch die
eingangs erwähnten Chormappen etabliert, jene
bunten Liedersammlungen, die in Inhalt und
Ausdruck oft Lieder enthielten, die musikalisch,
sprachlich oder auch theologisch kaum vertretbar
waren.
1938 reagierte der Verlag Friedrich Bischoff darauf
mit der Initiative einer ersten offiziellen Einheitsmappe, deren Lieder zunächst einzeln bezogen
werden konnten (Frankfurter Liste). Dieses Projekt setzte sich nur sporadisch durch. Trotzdem
begann mit ihm eine neue, auch aus rechtlicher
Sicht angemessene Editionspraxis, die nach 1945
fortgesetzt wurde.
Die endgültige Einführung einer offiziellen
neuapostolischen Chorliedsammlung begann
1971. Diese wurde in den folgenden Jahren durch
Nachträge bis zur Liednummer 400 ergänzt. Was
zunächst als flexible Loseblattsammlung begann,
mündete schließlich in eine gebundene Ausgabe,
die sich in den Chören weitgehend durchgesetzt
hat. Diesem Gedanken ist auch das neue, nun
vorliegende „Chorbuch für den neuapostolischen
Gottesdienst“ mit seinen 464 Liedern gefolgt.
Zusammenfassend ist festzustellen, dass der
neuapostolische Chorgesang vor allem zwischen
den beiden Weltkriegen und auch in der Aufbruchstimmung der 1950er- und 60er-Jahre eine
ungewöhnliche Blüte erlebte. Besonders in den
großen Zentren und Gemeinden entstanden
Chöre mit oft mehr als hundert Mitwirkenden,
Chöre ohne Nachwuchssorgen. Singen war trotz
bedrängter und oft angefochtener Gemeinden für
unsere Schwestern und Brüder ein erfüllendes,
Mut machendes Tun. Es war eine Gemeinschaft
ohne mediale Ablenkung und Inanspruchnahme.
Im Chor zu singen war Ausdruck eines starken
neuapostolischen Selbstverständnisses.
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Eindrucksvolle Chorauftritte außerhalb der Gottesdienste, Sängerfeste und Chorausflüge sorgten
für Öffentlichkeit. Das gemeinsame Singen war in
der knappen Freizeit, die den Menschen damals
zur Verfügung stand, ein kraftvolles Zeichen der
Glaubensfreude und Hoffnung. Auch in dunklen
und schweren Stunden ist das Singen in den Gemeinden und Chören nie verstummt. Lob sei dir
auch unter Tränen – diese Haltung der oft schwer
geprüften Schwestern und Brüder im Glauben
verdient bis heute Bewunderung.32
Seither haben sich unsere Lebensgewohnheiten,
das gesellschaftliche Umfeld und die Rolle des
kirchlichen Lebens nachhaltig verändert. Es gilt
jedoch die ursprüngliche Bedeutung gemein­
samen Singens im Gottesdienst zu bewahren: Es
war, ist und bleibt Anbetung, Lobpreis Gottes und
Quelle des Trostes.
Ich will den Herrn loben allezeit; sein Lob soll
­immerdar in meinem Munde sein. (Psalm 34,2)
1 J . G. Bischoff, Brief an die Harmoniumspieler, Dirigenten und
Chöre, Frankfurt, August 1912 (der Brief liegt als Kopie vor)
2 75 Jahre Berliner Schulchöre, Berlin, 1999, Anhang S. 69
3 K
leinste, neu gegründete Gemeinden, die noch über keine
eigene Kirche oder eigene Amtsträger verfügten (s. Notiz aus
der Zeitschrift „Der Herold“ in: Chronik der Gemeinde UlmWest, Ulm, 1990. S.21 f.)
4 a.a.O., S. 9
5 a.a.O., S. 71
6 a.a.O., S. 71
7 75 Jahre Berliner Schulchöre, a.a.O., S. 49
8 L
udwig Albrecht, Abhandlungen über die Kirche,
Ökumenische Texte und Studien Nr. 42, hrsg. vom
Schweizerischen Diakonieverein Rüschlikon, 5. Auflage, S.110
9 H
ymnologium. Eine Sammlung der besten Lieder und
Lobgesänge aus allen Jahrhunderten. Neuausgabe der
1. Ausgabe Berlin, 1859 (hrsg. von Andreas Ostheimer,
Nürtingen, 2007, S.203 ff.)
10 E
rnst Adolf Roßteuscher (Hg.), Hymnologium, Berlin, 1859,
S. II
11 a.a.O., S. II
12 D
ietmar Korthals, Hör ich hier der Andacht Lieder. Ein
Einblick in die apostolische Musikgeschichte. S. 2, Anm.:
Die Ausarbeitung des Autors ist Zwischenstand einer breit
angelegten Forschungsarbeit
13 K
atechismus der Neuapostolischen Kirche, Frankfurt 2012,
S. 262
14 R
ubrikenbuch der Katholisch-apostolischen Gemeinde (zitiert
aus einer Abschrift von Peter Sgotzai)
15 e in Wechselgesang im Gottesdienst zwischen Chor/Solisten
und Gemeinde
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16 a.a.O. (Zitat Abschrift Peter Sgotzai)
17 Die Liturgie. Andachtsbuch zum Gebrauch bei allen
Gottesdiensten der christlichen Kirche, Hamburg, 1864,
S. 214
18 vgl. Korthals, a.a. Ort, S. 10
19 Gesangbuch der NAK, Überblick zur
Gesangbuchgeschichte (Nachwort),Frankfurt, 2006
20 Apostolisches Gesangbuch, 4. Auflage 1904, Vorwort
(zitiert nach Hermann Ober, Entstehung und Entwicklung
des Gesangbuchs der Neuapostolischen Kirche, Königstein,
1998)
21 vgl. dazu die Ausführungen auf S. 2
22 Apostolisches Gesangbuch, Ausgabe 1906, Nr. 517
23 Chorliederbuch der NAK, Lied Nr. 197
24 zitiert nach: Korthals, a.a.O., S. 24
25 aus: Begleitwort zur neuen Ausgabe des Neuapostolischen
Gesangbuchs, Vorwort zur Textausgabe 1909, S. III f.
26 Neuapostolisches Gesangbuch (Notenausgabe),
unveränderte 5. Auflage für gemischten Chor, Leipzig,
1921, Begleitwort
27 Korthals, a.a.O., S. 25
28 Neuapostolisches Gesangbuch 1910, a.a.O., S. 884 ff.
29 Hinweise dazu bei Korthals, a.a.O. S. 31
30 zitiert nach Korthals, a.a.O., S. 32
31 siehe Deckblatt und Vorwort zum „Melodienbuch“, das
2005 von den Orgelbänden I und II zum Gesangbuch
abgelöst wurde
32 Vers eines Kirchenlieds von Walter Börner (1909–1976)
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