bz – serie: pflege - Vinzentiushaus Murg

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bz – serie: pflege - Vinzentiushaus Murg
BZ – SER I E: PF LEGE
3 F O LG E
1 .1
Es wurde Zeit
für die Pflegereform. Denn die Rücklagen der Pflegeversicherung sind fast aufgebraucht, die Leistungen
seit zwölf Jahren unverändert. Altersverwirrte MenBZ-SERIE – ZUKUNFT DER PFLEGE (1):
schen etwa hatten bisher keinen Anspruch auf Unterstützung. Wenn die jetzt beschlossene Pflegereform
im kommenden Jahr umgesetzt wird, soll sich das ändern. Ein Überblick.
Gespräche
und Anerkennung
– auch das
gehört zur Pflege.
FOTO: DDP
Reparaturen am Pflegesystem
W
Hilfe für Demenzkranke, Pflegestützpunkte, Pflegezeit – was ändert sich durch die Reform? / Von Bernhard Walker
ochenlang haben sie
beraten.
Wochenlang haben Gesundheitsministerin Ulla Schmidt
(SPD), Familienministerin Ursula
von der Leyen (CDU) und Verbraucherschutzminister Horst Seehofer (CSU) an der Reform der gesetzlichen Pflegeversicherung (PV) gearbeitet. Und seitdem die Spitzenpolitiker der großen Koalition das
Konzept des Dreierkreises gebilligt haben, steht fest, wann sich
was wie ändert.
3 Die Koalition führt eine
Pflegezeit ein. Was ist das?
Angehörige von Pflegebedürftigen
bekommen für sechs Monate den
Anspruch auf unbezahlte Freistellung von ihrem Job, wobei ihnen
die Rückkehr auf ihren Arbeitsplatz zugesichert wird. Dies gilt
nicht in Firmen, die weniger als
zehn Beschäftigte haben. Wer Pflegezeit nimmt, bekommt eine Absicherung in der Rentenversicherung. Erfolgt die Absicherung in
der Krankenkasse nicht über ei-
nen Angehörigen, zahlt die Pflegekasse dafür den Mindestbeitrag.
3 Was ändert sich bei altersverwirrten Menschen, den so
genannten Demenzkranken?
Für sie stehen künftig bis zu 2400
Euro im Jahr zur Verfügung. Für
diesen Betrag können Angehörige
die Pflegeleistungen einkaufen,
die für die Versorgung des Kranken
nötig sind. Der Betrag kann auch
dann abgerufen werden, wenn der
Kranke nicht in eine der bestehenden Pflegestufen eingruppiert ist.
und ihre Angehörigen erfahren,
wie sie an ihrem Wohnort optimale Betreuung organisieren können.
Damit die Stützpunkte entstehen,
gibt Berlin als Anschubfinanzierung 60 Millionen Euro aus.
3 Was ändert sich für Pflege-
2,2 Prozent gilt. Schon seit Längerem müssen sie einen erhöhte Beiträge abführen. Die große Koalition meint, mit dem angehobenen
Satz von 1,95 bzw. 2,2 Prozent die
Leistungen der PV bis etwa zum
ZUKUNFT
bedürftige, die in einer privaten Pflegekasse versichert
DER
sind?
PFLEGE
Was Schwarz-Rot für die gesetzliche PV beschlossen hat, muss
auch die private PV übernehmen.
Das heißt: die Anhebung der PfleWas im Alter auf uns zukommt
geleistungen und das Betreuungs3 Die Koalition führt Pflege- budget von bis zu 2400 Euro für
stützpunkte ein. Was ist das? Demenzkranke gelten auch im pri- Jahr 2014/2015 bezahlen zu können. Als Ausgleich für das Plus in
Im ganzen Land sollen solche vaten System.
Stützpunkte entstehen. Sie sind
der Pflegeversicherung erhalten
Beratungsstellen, die über die ört- 3 Wie sieht die Finanzierung
Arbeitnehmer eine Senkung ihres
Beitrags zur Arbeitslosenkasse. Er
liche Struktur der Versorgung (am- der Pflegeversicherung aus?
bulante Dienste, Pflegeheime, Zum 1. Juli 2008 müssen Arbeit- sinkt zu Jahresbeginn 2008 um
Teams zur Betreuung von nehmer und Rentner einen höhe- 0,3 Prozentpunkte. Von diesem
Schwerstkranken und Sterben- ren Beitrag an die PV zahlen. Der- Ausgleich haben die 20 Millionen
den, Tagespflegeeinrichtungen, zeit liegt er bei 1,7 Prozent der Ein- Rentner nichts, da sie ja keine AbFreizeitangebote für Senioren) de- kommen und Renten. Ab Juli 2008 gabe an die Arbeitslosenversichetailliert Auskunft geben sollen. Es steigt er auf 1,95 Prozent, wobei rung zahlen.
Fortsetzung nächste Seite
geht darum, dass Pflegebedürftige für Kinderlose dann ein Satz von
BZ – SER I E: PF LEGE
Die Bundesregierung hofft, dass
die Renten zum 1. Juli 2008 so
deutlich steigen, dass der Zuschlag
die Nettobezüge der Älteren nicht
schmälert.
3 Bekommt die PV ein zweites
finanzielles Standbein?
Nein. Zwar hatten sich Union und
SPD im Koalitionsvertrag vom November 2005 vorgenommen, eine
so genannte Demografiereserve
aufzubauen. Dort heißt es: „Um
angesichts der de
mographischen Entwicklung sicherzustellen, dass die Pflegebedürftigen auch in Zukunft die Pflegeleistungen erhalten, die sie für
eine ausreichende und angemessene Pflege zu einem bezahlbaren
Preis brauchen, ist die Ergänzung
des Umlageverfahrens (also der Finanzierung über den Beitrag,
Anm. der Redaktion) durch kapitalgedeckte Elemente als Demographiereserve notwendig“. Allerdings ist es dem Dreierkreis nicht
gelungen, dafür ein konkretes Modell zu finden. Bis zur nächsten
Bundestagswahl bleibt diese Frage
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also offen. Denn Schwarz-Rot wird
voraussichtlich keinen neuen Anlauf dafür nehmen. Das gilt auch
für einen Punkt, der ebenfalls im
Koalitionsvertrag verabredet worden war. Danach sollte die private
Pflegeversicherung der gesetzlichen Versicherung einen Finanzausgleich geben. Weil die
CDU/CSU verfassungsrechtliche
Schwierigkeiten sah, kam der Ausgleich nicht zu Stande.
Pflege in Deutschland
Pflegebedürftige Menschen
Versorgung zu Hause:
1,45 Millionen
0,98 Gesamt:
Mio.
2,13
Mio.
davon:
Pflege durch
Angehörige
0,47
Mio.
3 Was ändert sich bei den
finanziellen Leistungen der
Pflegeversicherung?
Die Sach- und Geldleistungen der
PV waren seit 1995 nicht mehr erhöht worden, was auch heißt, dass
sie aufgrund der allgemeinen
Preissteigerung real an Wert verloren haben. Nun hat Schwarz-Rot
beschlossen, die Leistungen ab
2008 in drei Stufen bis zum Jahr
2012 zu erhöhen.
0,68
Mio.
Pflegebedürftige
in Heimen
Pflege durch
ambulante
Pflegedienste
Veränderung der Zahl der Pflegebedürftigen Angaben in Tausend
Zuwachs
Bestand
161
404
462
401
1952
2113
2575
2979
2005 bis 2010
2010 bis 2020
2020 bis 2030
2030 bis 2040
BZ-Grafik/dre
Quelle: Destatis /Bundesministerium für Gesundheit
3 Wie will die Regierung die te des Medizinischen Diensts der schiedenen Einrichtungen mögQualität in der PV stärken?
Krankenkassen (MDK) künftig ver- lich werden. An der Heimaufsicht
Der Beschluss von Union und öffentlicht werden. Damit soll ein durch die Bundesländer ändert die
SPD sieht vor, dass die Prüfberich- Vergleich über die Güte der ver- Regierung nichts.
„Die Jüngeren müssen dafür geradestehen“
BZ-INTERVIEW:
Heinz Lanfermann (FDP) sieht das Gebot der Gerechtigkeit zwischen den Generationen verletzt
Die jüngst beschlossene Pflegereform ist eine Umverteilung zu
Lasten der Jungen – meint der
pflegepolitische Sprecher der
FDP, Heinz Lanfermann. Bernhard Walker sprach mit ihm.
BZ: Die Pflegereform der großen
Koalition lässt bei der Finanzierung der Pflegeversicherung alles
beim Alten. Was bedeutet das für
die junge Generation?
Lanfermann: Es bedeutet, dass
die Koalition das Gebot der Gerechtigkeit zwischen den Generationen verletzt. Denn die heutige
Finanzierung allein über den Pflegebeitrag ist unsolide. Wer sie beibehält, verschiebt finanzielle Lasten in die Zukunft. Und dafür müssen die Jüngeren später mit enorm
hohen Beiträgen geradestehen.
Denn aufgrund des demografischen Wandels werden künftig
mehr Ältere Leistungen der Versicherungen benötigen.
BZ: Löst die Betrachtung nach Altersgruppen nicht einen Konflikt
der Generationen aus?
Lanfermann: Überhaupt nicht.
Ich rede viel mit älteren Menschen. Und die sind allesamt nicht
damit einverstanden, dass Lasten
auf ihre Kinder und Enkel übertragen werden. Die wissen, dass die
heutige Finanzierung der Versicherung im Prinzip die gleiche unfaire Folge hat wie die Staatsverschuldung.
BZ: Was schlagen Sie als neues Finanzmodell vor?
Lanfermann: Die FDP möchte
die Finanzierung langfristig ganz
auf ein kapitalgedecktes individuelles System umstellen. Das heißt:
Jeder spart selbst für den Fall an,
dass er später pflegebedürftig wird
und Hilfe braucht.
BZ: Das können die heute Älteren
nicht mehr tun.
Lanfermann: Richtig. Deshalb erhält diese Altersgruppe weiter die
Leistungen der Versicherung, die
es heute gibt, und zahlt dafür eine
Prämie, deren Höhe nach individueller Leistungsfähigkeit begrenzt wird. Es wird also niemand
finanziell überfordert. Bei den Jüngeren allerdings müssen wir so
umstellen, wie ich es beschrieben
Heinz Lanfermann
FOTO: DDP
habe. Sie sollen im Zuge des individuellen Sparens von Zins und Zinseszins profitieren.
BZ: Gleichwohl würde es für die
Jungen teurer. Sie müssten die
Leistungen der heute Älteren bezahlen und nebenher ihre Finanzrücklage aufbauen.
Lanfermann: Richtig teuer wird
es nur, wenn wir nichts tun und im
heutigen Verfahren bleiben. Denn
dann steigt der Pflegebeitrag, der
direkt an den Arbeitskosten
hängt, enorm stark an. Dass die
Jüngeren in meinem Vorschlag eine Zeit lang eine Doppelbelastung
haben, bestreite ich nicht. Sie fiele aber geringer aus, als es beim
Fortschreiben der heutigen Finanzierungsweise der Fall wäre. Das
liegt am Zinseffekt, den ich erwähnte. Umso wichtiger ist, früh
mit der Umstellung zu beginnen,
damit er sich stark auswirkt.
BZ: Für eine Umstellung fehlt die
Mehrheit im Bundestag.
Lanfermann: Das ist bei der heutigen schwarz-roten Koalition der
Fall. Ich weise aber darauf hin,
dass die Junge Union ein Modell
vorschlägt, das unserem Finanzvorschlag sehr ähnlich ist.
BZ: Käme es nach der nächsten
Wahl zu einer Koalition aus Union
und FDP, wäre also die Mehrheit
für eine Umstellung vorhanden?
Lanfermann: Ja, das hoffe ich jedenfalls. Denn die CDU/CSU hat
sich deutlich auf die Position zubewegt, die die FDP in der Finanzfrage einnimmt.
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Dank des medizinischen Fortschritts werden wir älter. Und mit dieser alternden Gesellschaft und der steigenden Zahl
von Singlehaushalten wird sich viel Geld verdienen
BZ-SERIE – ZUKUNFT DER PFLEGE (2):
lassen. Die Nachfrage nach immer ausgefeilteren
Hilfsmitteln für Senioren wird zunehmen. Pflegedienste und Heime investieren in die Zukunft. Hier
werden einmal viele Menschen einen Job finden.
Die diskreten Helfer fürs Alter
Eine kleine Auswahl der gängigsten Hilfsmittel auf dem Pflegemarkt / Von Constance Frey und Ulrike Derndinger
Mit rollender Krücke
mobil bleiben
Der Rollator auf drei oder vier
Rädern verschafft Gehbehinderten
mehr Mobilität. Die Idee zur Gehstütze auf Rädern kommt aus Schweden
und ist noch gar nicht so alt. Erst im Frühjahr 1990 wurden die ersten Rollatoren in
Deutschland verkauft. Die Händler waren
skeptisch: „Damit fährt doch keiner
durch die Gegend.“ Irrtum. Heute finanzieren die Krankenkassen bereits
500 000 Rollatoren pro Jahr. Die rollenden Krücken kosten von 50 Euro für
schlichte Versionen bis 500
Euro für Luxusmodelle.
Schlimme Füße
weich betten
In Deutschland gibt es derzeit rund fünf
Millionen Diabetiker. Schätzungen zufolge entwickeln 15 Prozent der Betroffenen
ein diabetisches Fußsyndrom, also vor allem schlecht heilende Wunden oder Fußgeschwüre. Diabetikerschuhe beugen
durch eine nahtlose Innenverkleidung
und einem Schuhbau, der den Druck
möglichst gleichmäßig verteilt, solchen
Verletzungen vor. Je nach Fertigung
können sie bis zu 1300 Euro kosten.
ZUKUNFT
DER
PFLEGE
Was im Alter auf uns zukommt
Wenn die Blase nicht
mehr gehorcht
Der Selbsthilfeverband Inkontinenz schätzt, dass in
Deutschland fünf bis acht Millionen Menschen Blasenschwäche haben. Nach den
verkauften Hilfsmitteln zu urteilen,
könnten es sogar zehn Millionen sein.
Frauen und ältere Menschen sind häufiger betroffen. Bis zum Jahr 2050 soll fast
jeder Dritte an
Inkontinenz
leiden. Einlagen oder Windeln gibt es in
vielen verschiedenen Ausführungen. Je
nach Modell kosten sie 20 Cent bis ein
Euro pro Stück.
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Ein Strumpf gegen
Beschwerden
Spielend über
das Bein gestülpt
Fast ein Drittel der Bevölkerung
hat Beschwerden in den Beinen,
rund 20 Prozent tragen Kompressionsstrümpfe.
Mittlerweile
sind die Strümpfe so verarbeitet, dass man den Unterschied
zu einem normalen Strumpf
nicht erkennen kann. Je nach
Art des Leidens brauchen die
Patienten
Kompressionsstrümpfe, die in Serie oder
maßgefertigt wurden. Diese
können bis zu 400 Euro kosten. Für diese Strümpfe wie
für die meisten der abgebildeten Hilfsmittel gilt: Haben
die Patienten ein Rezept dafür, zahlt die Krankenkasse
mindestens einen Teil der
Kosten. Wie viel das ist und
wann die Bedürftigen Anrecht auf ein zweites Hilfsmittel dieser Art haben, ist
je nach Krankenkasse unterschiedlich.
Fällt das Bücken schwer und haben die
Finger wenig Kraft, ist die Anziehhilfe für
Kompressionsstrümpfe sinnvoll. Sie
funktioniert nach einem einfachen Prinzip: Der Strumpf wird auf links gedreht
auf das Gestell gestülpt (auf die kürzeren Stangen, die im Bild ein „V“ ergeben). Dann legt man das Bein hoch
auf einen Stuhl, greift die beiden langen Griffe der Anziehhilfe, schlüpft
mit dem Fuß in die entstandene
Strumpföffnung und zieht das Gestell mitsamt dem Strumpf über die
Ferse. So streift sich der Kompressionsstrumpf rückwärts auf das
Bein. Das Metallgestell kostet etwa 50 Euro. Für solche Hilfsmittel des Alltags kommt die Krankenkasse meist nicht auf.
Das Geschäft mit der Pflege
Weil die Gesellschaft altert und weniger Angehörige zum Pflegen da sind, wächst der Umsatz der Branche
Vo n u n s e r e r R e d a k t e u r i n
Constance Fr ey
Wenn Ardis Gröbner zu ihren
Kunden nach Hause fährt, hat sie
ordentlich was im Gepäck. Stomabeutel für diejenigen, die einen
künstlichen Darmausgang haben,
Wundverbände, Inkontinenzwindeln, Analtampons und eine Kamera, um den Krankheitsverlauf
zu dokumentieren müssen mit,
wenn die Leiterin der Abteilung
Homecare vom Freiburger Sanitätshaus Schaub auf Tour geht. Vor
Ort berät sie, besorgt bei Bedarf eine neue Matratze, Spezialschuhe
oder anderes Zubehör.
Immer mehr Menschen werden
solche Hilfsmittel benötigen, denn
auf eine alternde Gesellschaft
kommt auch mehr Pflege zu. Hilfsmittel machten 2005 knapp vier
Prozent der Ausgaben der gesetzlichen Krankenversicherungen aus
– das sind rund 5,5 Milliarden Euro. Derzeit wird ein Großteil der
Gehhilfen, Pflegebetten, Schuheinlagen und anderer Artikel von
den Krankenkassen bezahlt. Für
Hilfsmittel des Alltags wie gebogene Löffel und Greifhilfen müssen
die Menschen meist schon selbst
zahlen. Dieser Trend zur Selbstbeteiligung wird sich verstärken,
glauben die Anbieter.
Längst hat sich die Pflegebranche zu einem hochprofessionellen
Dienstleistungssektor entwickelt.
Die Rechnung ist einfach: Bis
2050 wird es in Deutschland bis
zu zehn Millionen Menschen geben, die über 80 Jahre alt sind. Unter ihnen wird es schätzungsweise
vier Millionen Pflegefälle geben –
das sind doppelt so viele wie heu-
te. Das geht aus einer Studie hervor, die der Professor Reinhold
Schnabel von der Uni Duisburg-Essen über die Zukunft der Pflege
erarbeitet hat. Die ersten Auswirkungen lassen sich schon heute beobachten.
Allein zwischen 2001 und 2005
ist die Zahl der privaten Pflegeheime um ein Fünftel gestiegen. Derzeit gibt es im Pflegesektor rund
545 000 Vollzeitstellen. Bis 2050,
hat Reinhold Schnabel errechnet,
könnten es 1,35 bis 1,8 Millionen
Stellen sein. „Die professionelle
Pflege wird überproportional zunehmen“, sagt er. Jeder vierte
Deutsche wird im Bereich Gesundheit oder Pflege arbeiten. Der
Trend wird auch dadurch verstärkt, dass weniger Angehörige da
sein werden, die sich um Pflegebedürftige kümmern können.
Damit explodieren die Ausgaben – und für manche die Einnahmen. 2005 hat die Pflegebranche
26,7 Milliarden Euro umgesetzt.
Bis 2050 könnte der Markt 72 Milliarden Euro Umsatz machen.
Nach Berechnungen des Bundesverbandes privater Anbieter sozialer Dienste wird die Zahl der Pflegeeinrichtungen von derzeit
21 400 auf rund 28 400 im Jahr
2020 steigen, sofern die Nachfrage gleich bleibt. Vor allem die Zahl
privater Heime und der Pflegedienste soll dann zulegen. Schon
heute wird befürchtet, dass Fachkräfte fehlen werden. Zwar entlassen viele Kliniken noch Personal,
das dann in der Pflegebranche arbeiten könnte. Aber der Bedarf an
Pflegern wird höher sein, sodass
die Nachfragen nach illegalen Kräften aus Osteuropa steigen könnte.
BZ – SERIE: P FL E G E
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Das Geld der
Pflegeversicherung will verteilt sein. Übernommen
hat diese Aufgabe der Medizinische Dienst der Krankenkassen. Er teilt die Pflegebedürftigen in drei ver-
BZ-SERIE – ZUKUNFT DER PFLEGE (3):
schiedene Pflegegruppen ein. Bei diesem Urteil werden nicht nur viele Nöte der Älteren ignoriert, klagen
Kritiker. Manche halten sogar das ganze Verfahren für
höchst ungerecht.
Hilfe nach Strichliste –
nicht immer geht es bei der
Einteilung in Pflegestufen
gerecht zu.
FOTO: UTE GRABOWSKY
Wasser lassen – drei Minuten
D
Wer wie viel Geld aus der Pflegeversicherung bekommt, entscheidet der Medizinische Dienst / Von Michael Brendler
ass Hilfe nötig ist, wird
dem Besucher schon
klar, bevor er die Wohnung betritt. Drei große Pappkartons mit Windeln versperren den
Weg zur Eingangstür. Die Minuten
nach dem Klingeln vergehen,
dann erscheint die Besitzerin der
Kisten. Auf ihrem Toilettenstuhl
kommt Anke Heiner (Name von
der Redaktion geändert) zur Türklinke gerollt. Mit dem Laufen will
es nach einer Infektion des künstlichen Hüftgelenks nicht mehr
recht klappen. „Gerne“ lässt sie
sich die Kartons in die Wohnung
räumen, „hinten in die Ecke“, wo
sich schon andere Pakete mit
Waschlappen, Einlagen und Windeln stapeln.
Stefan Heiner, den 77-jährigen
Ehemann, lernt man wenig später
in der unaufgeräumten Küche der
Wohnung kennen, wo er mit einem Handtuch kämpft. Verzweifelt versucht er aus dem Rollstuhl
heraus mit zittrigen Fingern das
Tuch vom Küchenboden zu angeln, wo auch schon der Greifarm
liegt, der ihm eigentlich in solchen
Fällen helfen soll. Heiner hat Parkinson, ist leicht verwirrt, stürzt
oft, die genuschelte Sprache ist
kaum zu verstehen. Noch dreimal
ZUKUNFT
DER
PFLEGE
Was im Alter auf uns zukommt
wird in den nächsten Minuten das
Handtuch auf dem Boden liegen.
Kein Zweifel, die beiden brauchen Hilfe. Aber die ist nicht leicht
zu bekommen. Dabei hat der Gesetzgeber 1995 eigentlich klare
Regeln gesetzt: Kranke oder Behinderte, die „für die gewöhnlichen und regelmäßig wiederkeh-
renden Verrichtungen des täglichen Lebens auf Dauer oder mindestens sechs Monate in erheblichem (. . .) Maße der Hilfe bedürfen“, gelten als „pflegebedürftig“.
Damit sie diese bekommen, bezahlt die Pflegeversicherung ihnen so genannte Pflegesachleistungen, mit denen sie einen Pflegedienst in Anspruch nehmen
können.
Weil nicht jeder gleich hilfsbedürftig ist, hat der Gesetzgeber
die Betroffenen in drei Klassen
unterteilt. Wer mehr als 45 Minuten Betreuung braucht, darf sich
zur Pflegestufe eins zählen, mit
über 120 Minuten zur Stufe zwei
und mit über 240 Minuten fängt
die Pflegestufe drei an. Die Aufgabe, die Patienten den Gruppen
zuzuteilen, wurde dem Medizinischen Dienst der Krankenkassen
(MDK) anvertraut – einer Art
Kontrollbehörde der Kassen. Ein
verantwortungsvoller Posten:
Fortsetzung nächste Seite
Geld für die Pflege
Pflegebedürftige Menschen
in Deutschland
1999:
2005:
2,02 Mio
1200
800
2,13 Mio
davon in Tausend:
926,5
1068,9
Stufe 1
Stufe 2
784,8
400
768,1
Stufe 3
285,3
0
1999
280,7
2001
2003
2005
Leistungen der Pflegekassen im
ambulanten Bereich
Leistung
für kommerzielle
Pflege
Pflegegeld
für
Angehörige
bisher 2012
bisher 2012
Stufe 1 384 €
450 € 205 € 235 €
Stufe 2 921€ 1100 € 410 € 440 €
Stufe 3 1431€ 1550 € 665 € 700 €
BZ-Grafik/zel Quelle: Destatis, BM für gesundheit
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3.2
Der Unterschied zwischen zwei 1000 Euro hinzu.
überhaupt weiß, dass Morgen sei,
Gruppen macht pro Monat rund
Auch professionelle Beteiligte dass er sich anziehen möchte und
500 Euro aus.
wie Michael Szymczak hadern mit dass er Herr Müller heißt, interesRund eine Stunde dauere so ein dem System. Gesehen werde der siert nicht weiter.“
Besuch eines der 240 Ärzte und Mensch nicht als Ganzes. Sondern
„Wir müssen in der Begutach103 Pflegekräfte des Medizini- nur in seiner Rolle als Pflegefall – tung oft die Prügel für etwas einschen Dienstes Baden-Württem- und das vor allem nach den Kriteri- stecken, was politisch verantworberg, erzählt Michael Szymczak
tet wurde“, sagt MDK-Fachgevon der Sozialstation Bötzinbietsleiter Uwe Brucker. Denn
gen. Eine Stunde, in der die
bis zur anstehenden Reform
persönlichen Daten des Patiist die Ignoranz gegenüber Deenten aufgenommen werden,
menz oder Altersverwirrtheit
kurz die Krankengeschichte
vom Gesetzgeber vorgeschrieüberflogen wird und wenn alben.
les so läuft, wie es laufen soll,
Aber es gibt noch andere
sich der MDK-Gesandte auch
Kritikpunkte: Viele wünschen
einen persönlichen Eindruck
sich mehr Gründlichkeit bei
von der Hilfsbedürftigkeit des
der Einstufung oder gleich ein
Kranken oder Behinderten geanderes System. „Gerade alte
macht hat.
Menschen neigen dazu, sich
Bei den Heiners in Freiburg
eher von ihrer besten als ihrer
zumindest war dieser Einhilflosesten Seite zu zeigen“,
druck wahrscheinlich zu
sagt die Pflegerin Anette
flüchtig, sicher aber falsch.
Baumgartner von der EvangeRichtig getestet, was ihr Mann
lischen Sozialstation Freiburg.
könne, habe der fremde Arzt Oft wird die Situation hilfsbedürfti- Ein einziger Besuch reiche
FOTO: GMS
nie, erzählt Anke Heiner, die ger falsch eingeschätzt
deshalb zur Beurteilung der
selber in die Pflegestufe eins
Situation nicht aus. Eine wiseingruppiert wurde. Dreimal hätte en „satt und sauber“, klagt er. Bei senschaftliche Arbeit im Auftrag
sie gegen die Entscheidung Wider- der Beurteilung zähle allein, dass der Bundesregierung zweifelt sospruch eingelegt. Schließlich wur- ein Herr Müller körperlich in der gar die Aussagekraft des ganzen
de dem Gatten doch die Stufe zwei Lage sei, sich anzuziehen – Abrechnungssystems an. Wenn
zugeteilt. Und trotzdem zahlt er schimpft ein anderer, der unge- nur die Zeit gemessen werde, so
aus eigener Tasche monatlich nannt bleiben möchte. „Ob dieser das Ergebnis, in der einer Person
geholfen wird, sei das nicht geeignet, Bedürftigkeit zu berechnen.
„Einmal Wasser lassen – drei
Minuten“ liest Szymczak von dem
Einteilungsbogen des MDK vor.
„Wenn Sie den Patienten gründlich untersuchen, müssen Sie aber
noch das An- und Entkleiden, den
gemeinsamen Gang die Treppe
hoch, eventuell sogar das zusätzliche Abputzen mit dem Lappen mit
einberechnen. Dann sind Sie
schnell auf 25 Minuten und haben
mit drei täglichen Toilettengängen
schon die Pflegestufe eins erreicht.“
Wenn. Denn nicht alle Gutachter machen sich diese Mühe.
„Manchmal wird inzwischen sogar nur noch nach Aktenlage geurteilt und ein Hausbesuch findet gar
nicht mehr statt“, erzählt Konstanze Kötter von der Katholischen Sozialstation Freiburg Ost. Laut eigenen Angaben gilt das beim MDK
Baden-Württemberg sogar für 37
Prozent der Fälle – gesetzlich vorgesehen ist es nur „ausnahmsweise“. Mit der Widerspruchsquote
von 10,7 Prozent liegt man ebenfalls über dem Bundesdurchschnitt von 6,7 Prozent. Und jeder
Dritte bekommt die beantragte
Hilfe nie.
„Ich empfehle ein Pflegetagebuch“
BZ-INTERVIEW:
Sozialpädagoge Michael Szymczak über den Umgang mit dem MDK
Der Antrag bei der Pflegekasse
und der MDK-Besuch gehören
gut vorbereitet, rät Michael
Szymczak, der Geschäftsführer
der Sozialstation Bötzingen. Michael Brendler fragte nach, wie.
BZ: Herr Szymczak, wie gehe ich
am besten vor, wenn der Besuch
der MDK-Kontrolleure bei meinen
Eltern ansteht?
Szymczak: Zunächst einmal würde ich Ihnen raten, sich vorher
gründlich beraten zu lassen. Wenn
Ihre Eltern schon von einem Pflegedienst betreut werden, können
die Ihnen in der Regel helfen.
Sonst würde ich mich an eine Beratungsstelle für alte Menschen des
Landkreises oder das städtische Seniorenbüro wenden.
BZ: Und anschließend?
Szymczak: Empfehle ich, ein
Pflegetagebuch anzulegen, in dem
Sie drei Wochen vor dem Termin
alle Hilfeleistungen notieren, die
Sie für Ihre Eltern erbringen. Vorlagen gibt es zum Beispiel bei den
Krankenkassen. Damit verhindern Sie, dass in dem Gespräch
mit den Gutachtern, wo ja jede
Minute erbrachte Hilfeleistung
zählt, Dinge unter den Tisch fallen, die Sie sonst als zu selbstverständlich betrachtet hätten, um
sie zu erwähnen – das Beziehen
des Bettes etwa oder das Einkaufen. Gleichzeitig wird Ihnen Ihr
Aufwand bewusst und Sie können
verhindern, dass eine besonders
gute Tagesform Ihrer Eltern beim
Besuch als Durchschnitt gewertet
wird.
BZ: Sollte man denn als Angehöriger beim MDK-Besuch dabei sein?
Szymczak: Auf jeden Fall. Dies
gilt für jeden Pflegenden – auch
den Pflegedienst. Vorher sollten
Sie sich aber unbedingt noch einmal mit Ihren Angehörigen über
das bevorstehende Ereignis unterhalten. Auch Ihren Eltern sollte
Michael Szymczak
Vater in die Hände von Fremden
abgeschoben sah.
BZ: Sollte ich noch jemanden zu
Rate ziehen?
Szymczak: Ich empfehle noch,
sich von den Ärzten über alles,
was in Hinblick auf die Pflegebedürftigkeitwichti – Krankheiten
beispielsweise, mangelnde Mobilität, Verwirrtheit – ein Attest ausstellen zu lassen.
BZ: Und wenn der MDK nicht mitspielt?
Szymczak: Da man nur ein kurzes Informationsschreiben über
das Ergebnis bekommt, ist es ratsam, in jedem Fall das vollständige
Gutachten anzufordern. Das steht
Ihnen zu. Und ganz wichtig: Einen Widerspruch gegen die Beurteilung müssen Sie spätestens vier
Wochen nach der ersten Benachrichtigung abschicken.
klar sein, was der Besuch zu bedeuten hat. Ich habe schon manchen MDK-Besuch in Tränen enden sehen, weil zum Beispiel die
Mutter in Gegenwart der überlaswww.sozialstation-boetzinteten Tochter beteuerte, dass sie
alles selber könne. Oder sich der gen.de
BZ – SER I E: PF LEGE
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4 .1
Im Alter ins
Heim? Für viele ein Graus. Alters- und Pflegeheime haben oft einen schlechten Ruf – immer wieder kamen
Skandale an die Öffentlichkeit. Doch es gibt Einrich-
BZ-SERIE – ZUKUNFT DER PFLEGE (4):
tungen, in denen die Menschenwürde geachtet wird.
Die Heime müssen dem erhöhten Altersdurchschnitt
gerecht werden. Und sie brauchen Menschen von
draußen, die sich engagieren.
Schwester
Marlene
beim
Spaziergang
mit zwei
Damen im
Elisabethenheim
FOTO: MICHAEL
BAMBERGER
Halb Heim, halb Hospiz
Trotz erhöhtem Kostendruck gehen viele Heime dennoch respektvoll mit ihren Bewohnern um / Von Ulrike Schnellbach
Z
wei Schmetterlinge tanzen
vor dem Fenster fröhlich
über den Geranienkästen.
Aus dem Garten dringt leises Vogelgezwitscher herein. Frau K.
scheint nichts davon wahrzunehmen. Sie liegt in ihrem Bett in der
Ecke des halbdunklen Raumes.
Parkinson und Demenz, erklärt
Schwester Marlene. Sie beugt sich
über die alte Frau, „ich habe jemanden mitgebracht, Frau K.“ Die
Frau schaut mit leeren Augen, sie
spricht nicht. Behutsam wäscht
Schwester Marlene ihr Po und Rücken, „oh – oh – oh“ kommt es
angstvoll aus Frau K.s Mund. Die
Schwester spricht beruhigend auf
sie ein, „ja, ich weiß, ganz vorsichtig, ich halte Sie fest, Frau K.“.
Sie cremt Rücken und Beine ein,
setzt Frau K. auf den Toilettenstuhl, schiebt sie ins Bad vor den
Spiegel. Zähneputzen, Kämmen,
Gesicht waschen, alleine kann
Frau K. gar nichts mehr. Dann den
Toiletteneimer säubern, das Bett
machen, Frau K. anziehen, in den
Rollstuhl setzen, und immer gut
zureden – eine gute halbe Stunde
dauert das alles zusammen. „Die
Zeit brauche ich, und die Zeit habe
ich auch“, sagt Schwester Marlene
bestimmt. Es ist später Vormittag
ZUKUNFT
DER
PFLEGE
Was im Alter auf uns zukommt
im Müllheimer Elisabethenheim,
die ruhige Phase der Frühschicht.
Schwester Marlene ist seit viertel
nach sechs im Einsatz, bis acht Uhr
hat sie sieben Bewohnerinnen
beim Waschen und Anziehen geholfen, einer Bettlägerigen Medizin und Sondenkost verabreicht.
Sie hat die Tabletts fürs Frühstück
gerichtet, „alles wunschgemäß“,
wie sie sagt. Die 14 Bewohnerinnen und ein Bewohner auf Station
Birke, die Schwester Marlene leitet, frühstücken fast alle im Speiseraum. Danach ist „Toilettentraining“ angesagt, erst dann haben
die Pflegerinnen selbst eine Frühstückspause. Anschließend hat
Schwester Marlene noch zwei Bewohnerinnen geduscht und eben
Frau K. versorgt. Eine Menge Arbeit, aber Hektik lässt die 57-jährige Pflegerin nicht aufkommen.
„Wir schauen, dass die Bewohner
gut versorgt sind, ob eine Leistung
nun bei der Pflegestufe vorgesehen ist oder nicht.“
Es ist zum Beispiel nicht vorgesehen, dass Menschen im Rollstuhl in den Garten geschoben
werden, damit sie in der Sonne sitzen können. Im Elisabethenheim
geschieht das trotzdem. „Ich mache hier nicht nur meinen Job“,
sagt Schwester Marlene mit einem
herausfordernden Blick durch ihre
randlose Brille. „Ich bin gerne
hier.“
Das ist ganz im Sinne von Thomas Bader und Holger Karg. Seit
zweieinhalb Jahren leiten sie das
evangelische Elisabethenheim mit
127 Pflegeplätzen und etwa 70
Pflegerinnen und Pflegern, die
sich 45 Vollzeitstellen teilen. „Unser Fokus liegt auf den Bewohnern“, sagt Bader, und dass die Bewohner eben die Pflege bekommen, die sie brauchen. „Wir haben
einen diakonischen Auftrag.“ Das
Problem dabei: Betreuungsleistungen wie Ansprache oder Handhalten werden von der Pflegeversicherung nicht bezahlt. In vielen
Heimen ist deshalb dafür kaum
Zeit, die Pflegerinnen hasten über
die Gänge und schaffen gerade das
Notwendigste. „Satt-und-sauberPflege“ heißt das im Fachjargon,
und auch Bader und Karg kennen
das: „In Urlaubszeiten schaffen
wir kaum mehr.“
Fortsetzung nächste Seite
BZ – SER I E: PF LEGE
Aber anders als private Einrichtungen ist das Elisabethenheim nicht
auf Gewinn ausgerichtet. Alles,
was eingenommen wird, wird für
die Pflege und die Instandhaltung
des Hauses ausgegeben. „Unser
Ziel ist eine schwarze Null“, sagt
Bader. Gute Organisation der Arbeitsabläufe ist ein Rezept, daran
arbeiten die Vorstände kontinuierlich. Außerdem hilft das ehrenamtliche Engagement Außenstehender. In erster Linie sind es aber
die Pflegerinnen, die die Qualität
im Elisabethenheim sichern. Dass
die Bewohner am Singkreis teilnehmen können, Gedächtnistraining machen und zum Gottesdienst gebracht werden – all das
ist nur mit mehr Einsatz des Personals zu gewährleisten. Schwester
Marlene sagt es so: „Ich schaue jeden Tag, dass ich mit ruhigem Gewissen hier rausgehe.“ Dafür
bleibt sie auch mal länger. Es
kommt sogar vor, dass sie an ihrem
freien Sonntag auf Station Birke
3 F O LG E
4 .2
mit den Bewohnerinnen Apfelkuchen backt.
Die Vorstände legen Wert darauf, auch das Personal zu „pfle-
ist dennoch, wie überall in der Altenpflege, überdurchschnittlich
hoch. Denn dass die Arbeit körperlich wie psychisch sehr belastend
Um Sterbende würdig zu begleiten braucht man Zeit
gen“: Supervision und Fortbildung
sind Pflicht. Die Personalfluktuation – ein Riesenproblem in vielen
Pflegeheimen – ist im Elisabethenheim minimal. Der Krankenstand
FOTO: DPA
ist, daran ist nicht zu deuteln.
Und sie wird immer schwieriger. Die Menschen kommen heute
später ins Heim, so dass sie dann
oft schwer beeinträchtigt sind.
Viele leiden an Demenz, eine besondere Anforderung an die Pflege
– auch das wird von der Pflegeversicherung bisher nicht abgegolten.
Und immer mehr Alte werden direkt aus der Klinik ins Heim gebracht – manchmal viel zu früh –
und sterben nach kurzer Zeit.
„Das Heim wird zum Hospiz“,
meint Holger Karg. Würdiges Sterben ist deshalb ein wichtiges Thema. Schwester Marlene erzählt,
dass sie bei Sterbenden am Bett
sitzt und ihre Hand hält, auch dafür muss die Zeit sein. In ihren Unterlagen bewahrt sie einen Brief
von Angehörigen auf, die sich dafür bedanken, wie liebevoll eine
Bewohnerin bis zum Schluss begleitet worden sei. „Da freut man
sich dann.“ Sie hat viel erzählt
heute. Darüber ist die Dokumentation liegen geblieben – alle Leistungen müssen minutiös in Listen
eintragen werden. Schwester Marlene wird nach Dienstschluss wieder etwas länger bleiben.
„Viele werden unnötig ruhig gestellt“
BZ-INTERVIEW
mit Thomas Klie über den Respekt vor der Menschenwürde in Heimen und über neue Konzepte
Es gibt viele gute Pflegeheime in
Deutschland – und leider auch
schlechte. Nach einigen Skandalen fragen sich viele: Wie steht es
um die Menschenwürde im
Heim? Michael Neubauer fragte
den Pflegeexperten Thomas Klie
von der Evangelischen Fachhochschule in Freiburg.
BZ: Oft werden Mängel in Heimen
beklagt. Was läuft am meisten
schief?
Klie: Der Fisch stinkt vom Kopf
her. Das Management stimmt häufig nicht. Zudem konzentrieren
wir uns zu sehr auf die Pflege. In einem Seniorenheim geht es auch
um einen gelingenden Alltag und
nicht nur darum, dass Menschen
satt und sauber gepflegt werden.
Heime haben Verantwortung dafür, dass Menschen sich wohl fühlen, dass sie auch etwas wie Wellness erleben, ihre Würde spürbar
geachtet wird. So etwas ist oft
nicht möglich, weil viele Heime
wie Krankenhäuser stark hierarchisch geführt werden. Zudem lassen wir die Heime mit ihren Bewohnern alleine und zeigen den
Senioren nicht, dass sie für uns Bedeutung haben. Das ist es doch,
was uns am Leben hält.
BZ: Wie zeigt man das?
Klie: Indem man sich auch um
das Innenleben der Heime kümmert: Bewohner besuchen, kulturelle Angebote mitgestalten, im
Heimbeirat mitwirken oder die
Cafeteria mit unterhalten, in der
Hospizgruppe helfen. Wo sich
Leute engagieren, können sich
Menschen beheimaten. Oft weisen leider noch Heimleitungen
und Pflegekräfte solch bürgerschaftliches Engagement zurück
und sagen: Wir wollen das nicht,
das stört.
BZ: Missbrauch von Psychopharmaka, Fixierung, Unterernährung
in Heimen – sind das nur Einzelfälle?
Klie: Nein, solche freiheitsentziehenden Maßnahmen gehören leider zum Alltag von Heimen. Fünf
bis zehn Prozent aller Heimbewohner werden mit Gurten festgebunden, 20 bis 30 Prozent mit anderen Mitteln am Aufstehen gehindert. 40 bis 50 Prozent erhalten Psychopharmaka, die sie ruhig
stellen. Zwei Drittel davon sind
überflüssig oder rechtlich gar nicht
legitimierbar. Das alles gehört zu
den schwersten Eingriffen in die
Thomas Klie
FOTO: BAMBERGER
Menschenrechte. Dabei sind diese
Maßnahmen meist überflüssig.
Man könnte darauf verzichten,
wenn man Mitarbeiter schult,
Freiwillige einbezieht oder Hüftschutzhosen, veränderte Betten
oder Sensormatten nutzt.
BZ:
Der
Altersdurchschnitt
wächst in Heimen. Was hat das für
Folgen?
Klie: Die durchschnittliche Verweildauer hat sich stark reduziert.
Sie liegt schon unter einem halben
Jahr. Manche mit Demenz leben
länger im Heim, manche nach einem Krankenhausaufenthalt nur
kürzer. Auch das ist eine psychische Belastung für die Mitarbeiter,
die immer wieder einen neuen
Anlauf nehmen müssen, eine Beziehung herzustellen. Gleichzeitig sind die Heimkonzepte immer
noch stark ausgerichtet auf Ältere,
die dort länger leben. Das führt oft
zur Frustration.
BZ: Wie sieht das Heim der Zukunft aus?
Klie: Wir brauchen anders gedachte Versorgungsformen für
pflegebedürftige Menschen. Sie
müssen die Angehörigen zwar
entlasten, aber sie nicht von ihrer
Verantwortungsbereitschaft lösen. Wir müssen die Abgeschlossenheit der Heime aufbrechen.
Warum soll nicht eine Tochter ihre
Mutter oder ein Partner seine Partnerin im Heim zum Teil selbst versorgen, die Wäsche machen, das
Essen bringen? Wir brauchen eine
Mischung aus professionellen Pflegern, Familienangehörigen und
Freiwilligen. Leider passt so etwas
nicht in eine klassische betriebswirtschaftliche Logik von Heimbetrieben.
BZ – SERIE: P FL E G E
3 F O LG E
5 .1
Gute Heime,
schlechte Heime: Das Thema Altersheim wird in Familien meist erst dann angegangen, wenn ein Schicksalsschlag die Angehörigen dazu zwingt. Eine passende
BZ-SERIE – ZUKUNFT DER PFLEGE (5):
Einrichtung für den Betroffenen zu finden, ist nicht
immer einfach. Ein Gang zu Beratungsstellen lohnt
sich. Und Checklisten verraten, worauf die Suchenden
bei einem Heim achten sollten.
Ein Pflegeheim finden,
in dem man sich gut
aufgehoben fühlt –
keine leicht Aufgabe.
FOTO: PHOTOTHEK
Gutes Heim gesucht
Bei der Unterbringung soll es schnell gehen – dabei braucht man Zeit, die richtige Einrichtung zu finden / Von Reiner Fritz
D
ie Gruppe ist klein, die
sich an diesem Nachmittag zu einem Rundgang
im Augustinum in Freiburg einfindet. Lediglich zwei Seniorinnen
wollen wissen, was die luxuriöse
Seniorenresidenz unterhalb des
Schönbergs bietet. Langsam geht
es durch die langen und breiten
Gänge, während die Mitarbeiterin
des Wohnstifts, Edeltraud Köbelin, Fragen beantwortet. Eine Plauderei mit Bewohnern des Heims
ist den Damen nicht vergönnt, die
Gänge sind wie ausgestorben. Es
herrscht Mittagsruhe.
Außer den Handläufen erinnert
hier nichts an eine Seniorenwohnanlage – Hotelatmosphäre trifft es
besser. Dazu passt das Schwimmbad im Untergeschoss, nebenan
das Fitnessstudio sowie die große
Gymnastikhalle und das Restaurant im Eingangsbereich. All das
gefalle ihnen sehr, sagen die Damen. Sie könnten sich gut vorstellen, hier zu wohnen.
ZUKUNFT
DER
PFLEGE
Was im Alter auf uns zukommt
„Wie teuer ist das denn?“,
möchte die 73-jährige Inge Schneider (Name von der Redaktion geändert) wissen. Die Antwort ge-
fällt ihr umso weniger. 2340 Euro
monatlich koste eine 46 Quadratmeter große Wohnung im Stift, erklärt Edeltraud Köbelin. 3630 Euro müssten für 79 Quadratmeter
aufgebracht werden. Für den Lebenspartner kämen noch einmal
530 Euro hinzu. Freilich alles ohne Pflegekosten. Nur wenige Senioren können sich das leisten.
Und auch Inge Schneider resümiert enttäuscht: „Das ist für uns
zu viel.“
Wie das Augustinum bieten immer mehr Träger direkte Einblicke
in ihre Häuser, bestätigt das Seniorenbüro der Stadt Freiburg. Dort
greift man betroffenen Senioren
und deren Angehörigen bei der Suche nach einem geeigneten Heim
seit mehr als einem Jahrzehnt un-
ter die Arme. Allein im vergangenen Jahr verzeichnet die Statistik
über 300 Beratungsgespräche der
Heimplatzvermittlung. Fachleute
helfen mit, unter den 21 Einrichtungen in Freiburg das passende,
aber auch bezahlbare Heim zu finden. Die monatlichen Kosten für
einen Platz liegen etwa zwischen
2500 und 3500 Euro, abhängig
von der Pflegestufe.
Reichen die Leistungen der Pflegeversicherung und Rente dafür
nicht aus, müssen gegebenenfalls
Angehörige einspringen, wenn
nicht eine bestehende Pflegezusatzversicherung Löcher stopfen
kann. Funktioniert das alles nicht,
können ergänzende Sozialleistungen beantragt werden.
Fortsetzung nächste Seite
BZ – SERIE: P FL E G E
Auch darüber informieren solche
Beratungsstellen, die es auch bei
den Landratsämtern gibt.
Diese Stellen helfen meist gut
weiter. Dennoch muss man, so die
Erfahrung vieler, zusätzlich noch
eine Menge Zeit in die Suche investieren. „Das ist auch dringend
notwendig“, rät Guido Willmann
vom Seniorenbüro. Doch die Realität sei leider eine andere: „Die
meisten trifft es unvorbereitet – in
der Regel nach einem Schlaganfall
des Partners oder eines Angehörigen suchen sie schnell einen Pflegeplatz.“
Alter und Pflege sind für die
meisten Menschen immer noch
ein Tabu. Das Thema wird erst
dann angegangen, wenn ein
Schicksalsschlag
einen
dazu
zwingt. Viel zu spät. Dabei sprechen die Zahlen für sich: 2005 waren deutschlandweit über zwei
Millionen Menschen pflegebedürftig. Mehr als zwei Drittel davon wurden zu Hause versorgt.
Doch dieser Anteil sinkt.
Immer häufiger fühlen sich die
Angehörigen – aus verschiedensten Gründen – nicht mehr in der
Lage, die Pflege selbst zu überneh-
3 F O LG E
5.2
men. Schon aus diesem Grund
werden Pflegeheime und die Qualität der professionellen Pflege immer wichtiger. In Baden-Württemberg wurden vor zwei Jahren fast
80 000 Senioren in Heimen versorgt. Bis 2030 könnte diese Zahl
laut Statistischem Landesamt auf
knapp 130 000 anwachsen.
Die „Definition des Pflegebegriffs ist völlig im Umbruch“, sagt
der Pflegeexperte der Katholischen Fachhochschule Freiburg,
Hermann Brandenburg. Die Pflege
dürfe nicht mehr nur als Handwerk begriffen, sondern müsse
durch andere Komponenten wie
Beratung, Prävention, Intervention und Pflegemanagement ergänzt
werden, um so die Lebensqualität
der Pflegebedürftigen zu sichern
und zu verbessern. Doch wie diese
Theorie zu gängiger Praxis machen, wenn die Einrichtungen
heute schon mit Pflegenotstand
und knappen Ressourcen zu kämpfen haben?
Dennoch, es gibt sie, die guten
Heime, in denen die alten Menschen ein würdiges, selbstbestimmtes Leben führen. Aber es
gibt auch die schlechten Heime, in
denen die Senioren abgestellt, sich
selbst überlassen dahindämmern.
Bei der Heimwahl ist es für die Betroffenen und deren Angehörige
jedoch nicht einfach, diese Heime
zu unterscheiden. Helfen können
so genannte Leitfäden oder Checklisten, wie sie das Freiburger Seniorenbüro oder das Bundesministerium für Senioren entwickelt haben (siehe auch Kasten unten). Anhand solcher Hilfsmittel lassen
sich wichtige Punkte gezielt beantworten.
Die Heimaufsichten der Städte
und Kommunen versuchen, die
gesetzlich vorgeschriebenen Standards zu gewährleisten. Einmal im
Jahr müssen sie jede Einrichtung
in Augenschein nehmen, so die gesetzliche Vorgabe. Nicht immer jedoch sind Pflegefachkräfte dabei,
die, wie ein Vertreter der höheren
Heimaufsicht des Regierungspräsidiums Freiburg sagt, „die Qualität
der Pflege auch unter den Bettdecken der Heimbewohner“ beurteilen könnten. Das aber wäre notwendig, um die Pflegeergebnisse
konkret zu bewerten. „Die Besuche sind häufig sehr technisch,
sehr bürokratisch. Gespräche mit
Bewohnern, Angehörigen oder
Pflegekräften kommen dagegen
selten zu Stande“, kritisiert Siegfried Wolff vom Institut für Qualitätskennzeichnung
sozialer
Dienstleistungen in Filderstadt,
das Einrichtungen auf freiwilliger
Basis kontrolliert und zertifiziert.
„Die Heimaufsichten sind personell und finanziell einfach zu
schlecht ausgestattet.“
Darin wird Wolff auch vom Landesseniorenrat unterstützt. Der
wünscht sich zudem mehr Transparenz und Einsicht in die Untersuchungsberichte der Heimaufsichten. „Die schotten sich total
ab“, klagt die Geschäftsführerin
Birgit Faigle. Gute Pflege aber werde dort geleistet, wo die Heime offen seien, wo Heimbeiräte weitgehende Mitspracherechte besäßen
und wo sich Angehörige, aber
auch Bürger in den Heimen einbringen dürften. Beim Landesseniorenrat hofft man nun darauf, dass
das Sozialministerium in Stuttgart
diese Ideen beim neuen Landesheimgesetz
mitberücksichtigt.
Zum Jahresende soll es fertig sein –
vielleicht wird es dann einfacher,
das richtige Heim zu finden.
LEITFADEN
Wichtige Fragen
Zehn wichtige Punkte sollten Sie sich bei
der Suche nach einem geeigneten Heim
im Vorfeld beantworten. Die Antworten
können Ihnen die Entscheidung erleichtern.
1. Machen Sie sich klar, welche Unterstützung Sie brauchen. Reicht eine ambulante
Pflege, vielleicht auch eine teilstationäre
(Tagespflege) noch aus, oder müssen Sie auf
eine stationäre Einrichtung zurückgreifen?
2. Wie können Sie die Finanzierung der
Pflege sichern? Reicht die Rente/Pension
zusammen mit den Leistungen der Pflegeversicherung aus?
Gibt es eine Pflegezusatzversicherung, die
die Kosten decken hilft? Oder muss ich die
Hilfe von Angehörigen oder die Sozialhilfe
zusätzlich in Anspruch nehmen?
3. Welche Heime kommen in Frage? Heimbesuche sind unerlässlich: Wo liegt das Heim,
wie ist seine Umgebung, wie sieht es im
Innern aus, wie riecht es im Heim, wie ist
der Umgangston?
4. Wer führt das Haus? Handelt es sich um
einen gemeinnützigen, öffentlichen oder
privaten Träger? Lässt er die Mitwirkung
der Bewohner und Dritter (Heimbeirat) zu
oder schottet sich das Heim ab?
5. Wie ist die bauliche Situation des Hauses? Gibt es spezielle Demenz- oder Pflegeabteilungen? Wie sind die Wohnbereiche
gestaltet? Können eigene Möbel aufgestellt
werden oder überwiegt der Anstaltscharakter?
6. Wie sieht das Pflege- und Betreuungskonzept aus? Gibt es Wahlmöglichkeiten
und wie hoch ist die Fachkraftquote? Wie
gut ist die ärztliche Versorgung und gibt es
genügend Rehabilitationsmöglichkeiten?
7. Wie sieht die Ernährung im Heim aus?
Wie viele Gerichte gibt es – und kann man
Einfluss auf den Speiseplan nehmen?
8. Wie sieht die Wäscheversorgung aus?
9. Gibt es genügend Freizeitangebote für
die Heimbewohner?
10. Wie ist der Heimvertrag gestaltet? Ist
der Träger bereit, diesen zur Prüfung herauszugeben?
Freiburger Seniorenbüro
0761/201 3035
www.freiburg.de
Stichwort: Senioren
Adressen
www.bmfsfj.de/Kategorien/
publikationen.html
Über das Angebot an Heimen in Ihrer Nähe
informieren zum Beispiel die Gemeinden,
Wohlfahrtsverbände, Seniorenbüros, Sozialämter, Pflegedienste oder Sozialdienste
der Krankenhäuser.
Hier eine Auswahl an Adressen:
www.forum-fuer-senioren.de
www.aok-pflegenavigator.de
www.altenheim-adressen.de
www.domizilsuche.de
http://pflegeplatz-portal.de
Landkreis BreisgauHochschwarzwald
Telefon: 0761/2187-0
www.breisgau-hochschwarzwald.de
Stichwort: Senioren im Landkreis
Landkreis Ortenau
0781/805 1486
Landkreis Lörrach
07621/410 5030
www.landkreis-loerrach.de
Stichwort: Altenberatung
Bundesministerium für Senioren
Broschüre: „Auf der Suche nach einem Heim“
unter
rf
BZ – SER I E: PF LEGE
3 F O LG E
6.1
Alter, Pflege,
Tod: Die Gesellschaft blendet diese Themen gerne
aus. Doch für viele Menschen gehören sie zum Alltag.
Wie gehen sie damit um? Pflegerin Lucia Maier ver-
BZ-SERIE – ZUKUNFT DER PFLEGE (6):
sucht, die Patienten ernst zu nehmen. Ruth Albrecht
sitzt im Rollstuhl und braucht Pflege. Und Herbert
Riesterer erinnert sich noch an die Sorgen, als er für
seine Mutter ein Heim suchte.
Sie hat gelernt, Hilfe
anzunehmen:
Ruth Albrecht
FOTOS: FÜSSLER
Die Pflege und ich
Pflege aus verschiedenen Blickwinkeln – drei Menschen erzählen aus ihrem Alltag / Aufgezeichnet von Claudia Füßler
3 L U C I A M AI E R:
„I C H P F LEGE “
Als ich im Januar 1970 aus Rumänien nach Deutschland kam, konnte ich kein Wort Deutsch. Ich war
17 Jahre alt und habe in Bad Mergentheim als Stationshilfe angefangen. Ich habe Deutsch gelernt, eine Ausbildung gemacht, irgendwann meinen Mann kennen gelernt und bin nach Freiburg gezogen. Fast zwanzig Jahre lang habe
ich dann in einem Pflegeheim gearbeitet. Bis 1999. Da meinte
mein Mann, ich solle doch mal was
anderes machen. Stimmt, dachte
ich, und ging in die ambulante
Pflege. Es war Zeit für diesen
Wechsel. Ich habe diese Zeit mitgemacht, wo man mit Stoppuhren
gearbeitet hat. Kürzungen haben
dazu geführt, dass überall gespart
werden musste. Und es wird immer zuerst am Menschlichen gekürzt.
Bei meinem jetzigen Arbeitgeber muss ich nicht jeden zusätzlichen Handgriff genau dokumentieren, kann auch mal einen Brief
mitnehmen, ohne dass die Zeit in
Rechnung gestellt wird. Außerdem kann ich viel selbständiger arbeiten als in einem Pflegeheim.
Und das Team ist toll. Das ist
enorm wichtig, dass man Kollegen
hat, denen man vertrauen und auf
die man sich verlassen kann. Ganz
unbürokratisch helfen wir uns untereinander. Wenn man in diesem
Beruf nicht mit Herz und Geduld
arbeitet, hat man ihn verfehlt.
Ich nehme meine Patienten
ernst, auch wenn ich in manchen
Fällen weiß, dass dies oder das
jetzt besser wäre. Aber wenn mir
ein fast 100-Jähriger sagt, dass er
etwas nicht will, respektiere ich
das. Es ist schließlich ein erwachsener Mensch. Ich zwinge niemanden, weil ich das umgekehrt
auch nicht wollen würde. Über-
haupt versuche ich, mich viel in
die Menschen hineinzuversetzen.
Wir Pflegerinnen kommen und gehen, das ist sicherlich auch für die
Patienten nicht einfach.
ZUKUNFT
DER
PFLEGE
Was im Alter auf uns zukommt
Natürlich beschäftige ich mich
auch mit dem Tod, zwangsläufig.
Irgendjemand hat mal gesagt:
„Wie ein Mensch gelebt hat, so
stirbt er.“ Ich finde, da ist was
dran. Es gibt viele alte Menschen,
die sagen, dass sie sterben wollen.
Das glaube ich nicht. Sie wollen
nicht sterben, sie sind nur einsam.
Und einsam sein ist schlimm.
Ich pflege sehr gerne Menschen,
die im Sterben liegen, da bin ich
auch schon oft eingesprungen. Ich
bin überzeugt davon, dass die Leute die Nähe spüren, auch wenn sie
keine Antwort geben. Das macht
es ihnen irgendwie leichter. Wenn
ich heute an dem Haus eines Verstorbenen vorbeifahre, schaue ich
immer noch hoch zu seinem Fenster. Das ist wie ein Reflex.
Sicher, der Beruf ist anstrengend, vor allem körperlich. Früher
gab es ja noch weniger Hilfsmittel
als heute, da hatte man teils richtig
schwer zu heben. Aber dennoch –
es mag anstrengend sein, wie es
will, ich mag es sehr und möchte
nichts anderes machen.
Wer pflegt, gibt nicht nur. Es
kommt auch sehr viel zurück. Das
Schönste ist für mich, wenn ich
merke, dass meine Patienten zufrieden sind. Man lernt viel von alten Menschen.
Fortsetzung nächste Seite
BZ – SER I E: PF LEGE
Und wenn es nur so einfache Dinge sind wie Haushaltstipps oder
das Rezept für einen Kuchen. Alte
Menschen haben unheimlich viel
zu erzählen. Aber die wirklich guten Geschichten bekommt man
eben nur zu hören, wenn man Zeit
mitbringt oder sie sich nimmt.
Die Tochter einer Patientin hat
mal zu mir gesagt: „Das, was Sie
tun, ist nicht mit Geld zu bezahlen.“ Diesen Satz vergesse ich nie,
denn er zeigt, dass sie verstanden
hat, was es bedeutet, einen Menschen zu pflegen.
– Die Krankenpflegehelferin Lucia Maier (54, ohne Foto) arbeitet
bei dem Freiburger Pflegedienst
Pflegeplus und legt Wert darauf,
dass der große Frieden im Kleinen
anfängt, dem täglichen Miteinander.
3 RUTH ALBREC H T:
„I CH WER DE
GEPFLEGT“
Vier, fünf Jahre ist es vielleicht her,
da musste ich wegen einer Bronchitis ins Krankenhaus. Und als ich
rauskam, konnte ich nicht mehr
laufen. Arthritis, Arthrose, was
weiß ich. Fakt ist, dass ich an den
Rollstuhl gefesselt bin. Das ist vor
allem deshalb besonders hart für
mich, weil ich vorher komplett fit
war, ich habe keinerlei Hilfe gebraucht. Jetzt kommt täglich eine
Pflegerin. Früher habe ich gerne
und viel gekocht. Und gut! Das
geht kaum noch, mir fehlt die
Kraft, um lange am Herd zu hantieren. Ich mache oft Kartoffelpuffer,
das geht schnell. Für mich ist es
wichtig, dass ich zu Hause bleiben
kann, so geht mein Leben praktisch weiter.
Mein Arzt sagt immer, ich solle
doch ins Heim gehen, da hätte ich
Unterhaltung. Als ob ich kein aufregendes Leben gehabt hätte.
Zwei Kriege habe ich erlebt, ich
kenne Größen wie Curd Jürgens
und Heinz Oestergaard. Kennt den
heute eigentlich noch jemand?
Der war früher das, was heute der
Lagerfeld ist. Auf unzähligen Bällen habe ich getanzt.
Ich stamme aus einer Berliner
Großfamilie, wir waren sieben
Kinder. Davon lebt nur noch eine
Schwester, in Berlin. Wir haben
uns vor drei Jahren zum letzten
Mal gesehen, da gab es drei Tage
hintereinander Sauerbraten, weil
sie den so mag. Wir telefonieren
viel und schicken uns Päckchen.
3 F O LG E
6.2
Ich esse die Krabben so gern, die es 3 HE R BE R T
immer mal bei Aldi Nord gibt, die R IE ST E R E R :
schickt sie mir dann.
„ICH LASSE
Als mein Vater gestorben ist, ha- PFLE G E N“
be ich seinen Lebensmittelgroßhandel übernommen. Später dann Dadurch, dass ich relativ früh von
habe ich einen Textilkaufmann ge- zu Hause weg bin, ist das Verhältheiratet und mich selbständig ge- nis zu meiner Mutter nicht so
macht mit einer Firma für Möbel- wahnsinnig eng. Aber es ist für
stoffe. Das Geschäft lief gut. Da- mich selbstverständlich, dass ich
mals hieß ich Rothe mit Nachna- für sie da bin, da spielt es keine Rolmen, mein Unternehmen
nannte ich „RuRo“, ich habe noch einen Stempel als
allerletztes
Andenken.
Selbständigsein war wunderbar.
Ich schaue viel fern, lese.
Mich interessiert die Politik. Ich mag die Merkel gar
nicht, und das, obwohl ich
CDU-Frau bin. Vielleicht
bin ich ungerecht, sie hat ja
manches erreicht. Aber sie
ist mir einfach unsympathisch. Und wie die sich abknutschen, mit dem Bush
zum Beispiel, das ist doch
schrecklich für Politiker.
Rumgekommen bin ich
nicht viel in der Welt, ich
mag das Reisen nicht so,
bin lieber zu Hause. Mit
meinem zweiten Mann war
ich zweimal im Jahr an der
Nordsee, in Cuxhaven. Er
mochte die Schiffe so. Seit
seinem Tod bin ich nicht
mehr viel gereist, ich mag
meine Wohnung im fünften Er besucht seine Mutter im Heim:
Stock. Ich komme hier ja Herbert Riesterer
nicht mehr raus, seit ich im
Rollstuhl sitze.
le, dass ich in Karlsruhe lebe und
Wenn man alt wird, und ich sie in Freiburg. Mein Vater ist
meine, 93 ist durchaus richtig alt, 1971 gestorben, seither hat meine
kommt man viel mit dem Tod in Mutter alleine gelebt. 1998 ist sie
Berührung. Am schlimmsten ist dann in ein Haus mit betreutem
es, wenn man die Geschwister ver- Wohnen gezogen, aber sie hat
liert. Und Freunde. Ich selbst habe trotzdem noch fast alles selber gekeine Wünsche mehr ans Leben, macht. Bis auf die größeren Saich habe alles gehabt. Wenn es chen, die Getränke habe ich ihr
geht, möchte ich nicht schwer zum Beispiel geholt. Das klappte
sterben. Auch habe ich Angst da- jahrelang wunderbar.
vor, dass mein Zustand sich jetzt
Dann rief mich eines Tages ihre
noch verschlechtert. Es ist Schwester an und meinte, meine
schlimm genug, wenn man nicht Mutter würde am Telefon so koeinfach irgendwohin gehen und misch sprechen. Mein erster Gesich das holen kann, was man danke war: Sie hat einen kleinen
braucht. Wegen jeder Kleinigkeit Schlaganfall gehabt. Das stellte
muss ich eine Pflegerin bitten. Da sich ziemlich schnell als falsch hermusste ich mich erst dran gewöh- aus, denn als ich selbst mit meiner
nen.
Mutter sprach, sagte sie, sie hätte
so einen furchtbar trockenen
– Seit fast 30 Jahren wohnt Ruth Mund. Bei ihr begann damals das
Albrecht (93) in Freiburg. Sie mag Problem, das viele ältere Mendas Münster und nascht gern schen haben: Sie trinken zu wenig.
Schokolade, am liebsten die dunk- Im März 2005 wurde sie ins Kranle mit Orangenstückchen.
kenhaus eingeliefert, die Diagno-
se: fast ausgetrocknet durch zu wenig Flüssigkeitsaufnahme. Von
dem Moment an war mir klar, dass
sie nicht mehr in ihre Wohnung
zurückkonnte.
Ich schaute mich nach einem
Heimplatz um, das St. Johann in
der Kirchstraße in Freiburg war ihre erste Wahl. Wir hatten uns früher mal drüber unterhalten, da
meine Mutter in der Kirchstraße
aufgewachsen ist, wollte
sie dort gern wieder hin.
Und es hat tatsächlich geklappt. Als sie zehn Tage
später entlassen worden
ist, konnte sie im St. Johann
einziehen. Meine Hauptsorge damals war die Finanzierung. Ich wusste nicht,
wie hoch die Heimkosten
sind, was vielleicht noch
auf einen zukommt. Aber
das hat sich alles geklärt.
Meine Mutter ist in der
glücklichen Lage, dass sie
das, was anfällt, selbst finanzieren kann. Sie hat die
Pflegestufe 1. Da bleibt natürlich keine größere Summe im Monat übrig, aber
wozu auch.
Eigentlich habe ich nie
wirklich daran gedacht,
meine Mutter zu uns nach
Karlsruhe zu holen. Zum einen haben wir selber kaum
Platz, und zum anderen ist
meine Mutter absolut nicht
der Typ dafür. Sie war ihr
ganzes Leben lang selbständig, und das ist ihr auch bis
heute wichtig. Umgekehrt kam es
für mich nicht in Frage, nach Freiburg zu meiner Mutter zu ziehen.
Mein Lebensmittelpunkt ist in
Karlsruhe. So telefoniere ich etwa
jeden zweiten Tag mit ihr und
komme alle drei bis vier Wochen
nach Freiburg. Die Fahrerei macht
mir nichts aus. Mittags essen wir
außerhalb, ich sage meiner Mutter
immer, sie soll sich was aussuchen, was es normalerweise im
Heim nicht gibt. Das macht sie
gern. Mit der Flüssigkeitsaufnahme gibt es keine Probleme mehr.
Seit neuestem trinkt meine Mutter
mittags und abends ein Bier zum
Essen. Das ist umso erstaunlicher,
als dass sie ihr ganzes Leben lang
gar keins getrunken hat.
– Der pensionierte Zollbeamte
Herbert Riesterer (71) wohnt in
Karlsruhe, ist Einzelkind und hat
bis vor einem halben Jahr aktiv
Badminton gespielt.
BZ – SERIE: P FL E G E
3 F O LG E
7.1
Im Alter noch
einmal neue Wege gehen? Die Idee ist verlockend:
Jung und Alt leben nicht nebeneinanderher, sondern
in Mehrgenerationenhäusern zusammen. In Zeiten, in
BZ-SERIE – ZUKUNFT DER PFLEGE (7):
denen die Großfamilie an Bedeutung verliert, könnten in solchen Wohnprojekten verschiedene Generationen einander helfen. Immer mehr Baugruppen wagen den Schritt.
Gemeinsam statt einsam
– auch Spielen macht
dann mehr Spaß.
FOTO: AFP
Die Mischung macht’s
Viele sehen im Mehrgenerationenwohnen eine Chance, im Alter nicht alleine zu sein – aber geht das gut? / Von Constance Frey
W
ie ist denn die Strahlung bei mir?“ Miriam Waldes schaut besorgt drein. Schließlich soll ihr
Sohn Levin in der neuen Wohnung
ohne schädliche Fremdeinflüsse
aufwachsen. Sie sitzt in einer
Gruppe von Leuten im Freiburger
Stadtteil Vauban: Die Arche-Hausgruppe trifft sich. Strahlenbericht,
Kündigungsfristen für die alten
Wohnungen, Organisatorisches –
das sind heute die Themen. Spätestens im Januar 2008 wird der
„Sonnenhof“ auf dem Vaubangelände bezugsfertig sein. Miriam
Waldes und ihre Arche-Freunde
wollen im Sonnenhof in ihren neuen Mietwohnungen das Mehrgenerationenwohnen wagen.
In Deutschland entscheiden
sich immer mehr Menschen gegen
einsames Wohnen: Ältere Menschen ziehen in Wohngemeinschaften, Jung und Alt in ein Haus,
andere bauen zusammen, damit
sie später nicht allein sind. Sie gehen weiter, als es Familienministerin Ursula von der Leyen für die
Einrichtung von Mehrgenerationenhäusern verlangt: Denn während die von der Regierung geför-
ZUKUNFT
DER
PFLEGE
Was im Alter auf uns zukommt
derten Projekte offene Treffpunkte
für Jung und Alt sind, wollen hier
die Menschen zusammenleben. In
dem Freiburger Arche-Projekt haben sich Menschen gefunden, die
nicht nur eine eigene Wohnung
wollen, sondern auch Nachbarn,
auf die man sich verlassen kann.
Elf Wohnungen sind für das gene-
rationsübergreifende Wohnen von
Arche geplant. Alle Mietparteien
ziehen mit Wohnberechtigungsschein ein. Wer dann hier lebt, ist
nicht reich, will aber selbstbestimmt wohnen.
Die zukünftigen Bewohner sind
durch Alter und Beruf bunt gemischt. Miriam Waldes etwa ist 34
und alleinerziehende Studentin.
Ellen Jansen-Ganzmann ist 54 Jahre alt und zieht mit ihrer 23-jährigen Tochter ein. Oder Freia von
Kajdacsy, 67 – sie ist Innenarchitektin im Ruhestand. Weitere
Nachbarn sind ein Schreiner, eine
selbstständige Kunsttherapeutin,
ein Verwaltungsfachangestellter.
Sie alle glauben, dass es die Mischung macht. Im Sonnenhof-Gebäude entstehen auch zehn Wohneinheiten für ein anderes Projekt –
Woge genannt. Darin leben demenzkranke Menschen, zwei
Wohnungen sind für ihre Angehörigen geplant. Auch Gewerberäu-
me und Eigentumswohnungen
soll es im Sonnenhof geben. Drei
Jahre wird es von der Idee zur
schlüsselfertigen Erfüllung des
Traums gedauert haben. Woche
für Woche trifft sich die ArcheGruppe. Es sieht so aus, als säßen
gute Freunde beim Tee. Doch hier
wurde immer wieder zäh verhandelt, etwa mit Geldgebern. Der gesamte Sonnenhof kostet fünf Millionen Euro. Die Woge-Wohnungen und die Arche schlagen mit
zwei Millionen Euro zu Buche. Die
Summe wurde über Förderkredite,
private Direktkredite und Stiftungskapital beschafft. Noch immer fehlt Geld, aber die größte
Hürde ist bewältigt. Die Wohnungen sind fast fertig.
Von der ursprünglichen Gruppe
sind wenige noch dabei. Manche
fanden andere Projekte interessanter. Andere haben sich verliebt
und sind weggezogen.
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BZ – SERIE: P FL E G E
Einer hat zu viel verdient, um den
Wohnberechtigungsschein zu bekommen. Worüber die Gruppe gestritten hat, weiß Projektleiter Jürgen Feldmaier. Seit Jahren arbeitet der 53-Jährige für das Mietshäusersyndikat, das selbst organisierte Hausprojekte betreut. Die
Gruppe könne noch am Zusammenleben scheitern – auch wenn
alle ihre eigene Wohnung haben,
sagt er.
Schließlich haben sich bis jetzt
die Arche-Mitglieder nur für eine
begrenzte Zeit getroffen. Was,
wenn sie im Alltag nebeneinander
statt wie gehofft miteinander leben werden? Könnte es da nicht
Ärger geben wegen Müll, lauter
Musik oder gemeinsamer Pflichten etwa? „Es wird sicher Diskussionspunkte geben, wenn wir zu-
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7. 2
Gemeinsam unter einem Dach – funktioniert das?
sammenwohnen“, sagt Ellen Jansen-Ganzmann. „Aber das Positive
daran ist, dass jeder in der eigenen
Wohnung genügeRückzugsmöglichkeiten hat.“ Als Freia von Kajdacsy sagt, sie werde in der Arche
Leihoma, blicken die jungen Mütter erstaunt auf. Als hätten sie dar-
FOTO: DPA
über gar nicht nachgedacht.
Den größten Konflikt haben die
zukünftigen Arche-Bewohner um
das Thema Pflege ausgetragen. Generationsübergreifendes Wohnen
verstanden einige so, dass sie im
Krankheitsfall bis zum Ende betreut würden. Darauf konnte sich
die Gruppe aber nicht einigen.
Heute steht fest, dass sich die Bewohner bei Krankheit und geringer Pflegebedürftigkeit unter die
Arme greifen werden, soweit sie
können. Aber sie müssen es nicht.
Nach dem Treffen laufen einige
zum Rohbau. Ellen Jansen-Ganzmann will etwas abmessen, die
anderen sich zu Hause umgucken.
Vorsichtig treten sie über den Zementboden. „In zehn Jahren, da
werden wir eingefleischte Omas
sein“, sagt Freia von Kajdacsy.
„Dann ist es grün draußen und wir
machen ganz viele schöne Sachen
gemeinsam“, sagt Ellen JansenGanzmann. Die Abendsonne
leuchtet warm in den Innenhof.
Die beiden Frauen schauen
schweigend auf das orange Licht.
Der Traum ist ganz nah.
„Viele Baugruppen überschätzen ihre Kräfte“
BZ-INTERVIEW
mit dem Architekten Harald Zenke über Mehrgenerationenwohnen und Tipps für den Start
Mit Mehrgenerationenwohnen
kennt sich Harald Zenke bestens
aus. Als Partner des Berliner Architekturbüros BHZ hat er die
Siedlung „Lebens(t)raum“ in
Berlin-Johannistal geplant. Zenke wohnt mit seiner Familie in
der Öko-Siedlung, die im Zuge eines Baugemeinschaftsprojekts
zur Heimat für 32 Kinder und 38
Erwachsene aller Altersgruppen
geworden ist. Im Gespräch mit
Bernhard Walker schildert Zenke seine Erfahrungen.
BZ: Was ist das Besondere an der
Siedlung Lebens(t)raum?
Zenke: Sie ist aus Baugemeinschaft entstanden, also aus einer
Gruppe von gleich gesinnten Leuten, die sich ihren Wunsch von einem gemeinsamen, ökologischen
und Generationen übergreifenden
Wohnen erfüllen wollten. Das bietet kein Bauträger an. Es musste also aus uns selbst heraus entstehen,
was manchmal mühselig, aber
trotzdem sehr erfüllend war.
BZ: Den Wunsch nach einem Leben und Wohnen in Gemeinschaft
haben ja viele Menschen. Was ist
der wichtigste Rat für Interessenten?
Zenke: Es geht vor allem darum,
möglichst genaue Informationen
zu sammeln. Inzwischen gibt es im
Internet dazu gute Angebote. Baugruppen brauchen zum Beispiel ei-
nen speziellen Gesellschaftervertrag, weil es ja nicht so ist, dass ein
Einzelner oder eine Familie, sondern eben eine Gruppe baut. Neben der sachlichen Information ist
Erfahrungsaustausch wichtig. Viele Gruppen neigen zum Beispiel
dazu, ihre Kräfte zu überschätzen
und nehmen sich zu viele Eigenleistungen am Bau vor. Auch
braucht es einen Projektsteuerer,
der prüft, dass die Finanzierung
solide steht und exakt abläuft. Entscheidend ist aber sicher die erste
Hürde – also die Suche nach einem
geeigneten Grundstück.
BZ: Ziehen die Kommunen da
mit?
Zenke: Wir hatten das Glück, dass
uns für die Siedlung Lebens(t)raum der Berliner Senat zunächst ein Teilgrundstück verkauft
hat. So konnten wir mit einer kleinen Gruppe loslegen, die dann
wuchs. Mein Appell an die Bürgermeister und Kommunalpolitiker
geht dahin, bei einem Grundstücksverkauf dem Mehrgenerationenwohnen eine Chance zu geben. Denn die ganze Gesellschaft
hat ja ein Interesse daran, dass sich
diese Wohnform entwickelt. Deshalb wäre es auch gut, wenn es bei
den Kommunalbehörden eine zentrale Informations- und Anlaufstelle für Baugruppen gäbe. Das ist
meines Wissens heute eher die
Ausnahme.
Harald Zenke
FOTO: PRIVAT
BZ: Sie sprachen davon, dass Sie
mit einer kleinen Gruppe gestartet
waren.
Zenke: Häufig ist es so, dass sich
ein großer Interessentenkreis bildet, der dann auf den harten Kern
derer schmilzt, die wirklich zusammen bauen wollen. Bei uns
musste zum Beispiel ein Paar aussteigen, weil es aus beruflichen
Gründen aus Berlin wegzog.
BZ: Bei den meisten Baugruppen,
die
Mehrgenerationenwohnen
entwickeln, geht es um den Kauf
eines
Hauses
oder
einer Wohnung.
Zenke: Ja, im Mietsegment des
Wohnungsmarkts gibt es leider
noch sehr wenig in dieser Rich-
tung. Das wäre eine wichtige Aufgabe für die Wohnungsgenossenschaften. Denn das Ziel einer Gemeinschaft von Jung und Alt muss
für Eigentümer wie Mieter verwirklicht werden.
BZ: Gibt es eine spezielle Architektur des Mehrgenerationenwohnens?
Zenke: Ja. Der Architekt muss die
Bedürfnisse verschiedener Lebenslagen bedenken, also, salopp
gesprochen, den Kinderspielplatz
genauso wie die bodengleiche Dusche, den Fahrstuhl oder das Pflegebad. Das Ziel ist, zu verhindern,
dass dies separate Einheiten werden, die unverbunden nebeneinanderher existieren. Es geht ja um
die Gemeinschaft der Generationen, sodass es gelingen muss, die
individuellen Bedürfnisse zu erfüllen und zugleich soziale Aktion
möglich zu machen.
Im Lebensraum Johannistal haben wir deshalb zwischen den beiden im Halbkreis angelegten Häuserzeilen eine große Freifläche, auf
der sich alle begegnen und die
auch der Ort unseres Gemeinschaftshauses ist.
www.morgensonne.info, Kapitel „Service“. Das Deutsche Architektur
Zentrum hat unter dem Titel „aufeinander bauen – Baugruppen in der Stadt“ einen Überblick erstellt:
www.daz.de, Kapitel „Kataloge“
BZ – SER I E: PF LEGE
3 F O LG E
8.1
Der Beruf Altenpfleger(in) ist beliebt – vor allem bei Frauen. 60
Prozent der Pflegekräfte in Deutschland sind weiblich. Der Verdienst ist spärlich, die Arbeit hart. Das geBZ-SERIE – ZUKUNFT DER PFLEGE (8):
sellschaftliche Ansehen ist meist nur gering. 268 000
Pflegekräfte in Deutschland arbeiten in Altenpflegeheimen und in der ambulanten Pflege. Eine davon ist
Viola Richter.
Viola Richter
bei der Arbeit
im Heim
FOTO: ULRIKE
DERNDINGER
Ausgerechnet Altenpflegerin!
E
Vor 20 Jahren hat Viola Richter nicht geglaubt, Pflege aushalten zu können. Jetzt wird sie ihr Beruf / Von Ulrike Derndinger
s regnet in aller Herrgottsfrühe. Imbettbleibwetter,
Imbettbleibzeit. Das ausgeschlafene Lächeln von Viola
Richter passt nicht dazu. Sie strahlt
aus ihrem lockigen Wuschelkopf
heraus, als hätte sie sechs Richtige
im Lotto getippt. Dabei ist sie einfach nur unterwegs zu ihrem Ausbildungsplatz. Zu einem, den viele
abstoßend und zu schlecht bezahlt
finden.
Das Emmendinger Altenpflegeheim der Diakonie liegt an einem
Waldrand. Die Stockwerke arbeiten sich treppenförmig in den
grauen Himmel, ein blauer Balkon
reiht sich an den anderen. Von außen könnte es genauso gut eine Familiensiedlung sein. Drinnen ist es
aber eindeutig „Heim“: Der Geruch wie Deospray über Schweiß,
das typische Tür-an-Tür auf langen
Fluren, die Hallo-Rufe der Alten,
die jetzt schon aufstehen wollen.
Vor gut einem Jahr hat Viola
Richter in diesem Heim ihre Ausbildung angefangen. 43 Jahre alt,
Mutter von zwei Jugendlichen, gelernte Buchhändlerin. Und jetzt:
Altenpflegeschülerin. Früher fand
sie den Gedanken absurd, undenkbar. Sie in der Pflege? „Da komm’
ich nicht mit den Schicksalen
klar“, war ihr Fazit nach einem
Krankenhauspraktikum,
kurz
nach dem Abi 1983. Jetzt kann sie
die Leute nicht mehr verstehen,
die schlucken, wenn sie sagt, was
sie lernt: „Viele sagen, sie könnten
das nie, viele haben auch Angst vor
dem eigenen Altwerden.“ Viola
ZUKUNFT
DER
PFLEGE
Was im Alter auf uns zukommt
Richter selbst hat keine Angst
mehr davor, auch nicht vor dem
Tod: „Vor vier Jahren ist mein Vater gestorben. Die in der Klinik haben das unglaublich schön gemacht mit ihm. Wir konnten mitbringen, was uns wichtig war,
konnten bleiben, solange wir wollen. Und hier ist es ähnlich.“
Viola Richter sieht heute Morgen Gelb. Die Altenpflegestation
ist in Farben eingeteilt. Im gelben
Bereich sind neun Bewohner,
sechs Frauen, drei Männer. Für die
neun Alten ist Viola Richter den
ganzen Morgen zuständig. Also für
die „Grundpflege“, wie es in Pflegedeutsch heißt. Für Viola Richter
heißt das: Beim Aufstehen, Waschen und Anziehen helfen. Und
Stress, von jetzt an, 7.30 Uhr, vier
Stunden lang.
Frau L. ist schon wach. Sie hat
sich an den Bettrand gesetzt. Viola
Richter muss ihr nur helfen, die
Strümpfe anzuziehen. „Danke
Frau Doktor, Sie sind ein Engelchen!“, bedankt sich Frau L. Viola
Richter lächelt. So wie sie den ganzen Morgen lächeln wird. Amüsiert, aber wohlwollend. Trösten,
Mitgefühl zeigen, die Bewohner
ernst nehmen, das macht Viola
Richter instinktiv. Als sie vor der
beruflichen Entscheidung stand,
ob sie was mit Kindern machen
will, sagte sie nein. „Das war irgendwie vorbei. Lieber Alte.“
Plötzlich wollen alle gleichzeitig
was – Viola Richter streicht sich ei-
ne Strähne aus dem roten Gesicht,
läuft im Slalom um die Betten, begrüßt, beruhigt, verspricht, bereitet eine Bettlägerige vor: „Frau S.,
heute duschen Sie!“ Frau S. jammert. Aber Viola Richter hat keine
Zeit, um darauf länger einzugehen.
„Das habe ich mir anders vorgestellt“, sagt sie.
Frau B. meldet sich: „Die Bettpfanne bitte.“ „Haben Sie gut geschlafen?“ „Ja.“ Das sind die Gespräche im Azubi-Alltag. Scheinbar geht es oft nur um das eine.
Aber:„Das hier ist sinnvoll.“ Im
Buch-Einzelhandel fand sie keinen
Sinn mehr, weil alles aufs Verkaufen getrimmt sei. Vielleicht spielte
auch eine Rolle, dass sie Christin
ist. Viele Altenpfleger stützen sich
auf ihren Glauben – auch, um ihren Beruf und die geringe Bezahlung zu rechtfertigen.
Altenpfleger finden zwar fast sicher einen Job. Aber er gehört zu
den am schlechtesten bezahlten in
Deutschland, teilt die Hans-Böckler-Stiftung des Deutschen Gewerkschaftsbundes mit. Viele private Träger zahlen unter Tarif.
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BZ – SER I E: PF LEGE
Ein Altenpfleger in Baden-Württemberg verdient im Jahr 29 900
Euro, in Sachsen 20 600 Euro.
Doch das Geld scheint Viola Richter nicht so wichtig. Mit dieser
Ausbildung wollte sie es nochmal
wissen. Ihr gefällt, wie sie langsam
zur Fachkraft heranreift. Wie sie
3 F O LG E
8.2
beginnt, sich in der gerontologischen Medizin auszukennen.
Auf Herrn W. freut sich Viola
Richter, weil er gerne Witze
macht. Sie hebt seine Bettdecke.
„Des isch ä echter Saukerle“,
meint der Mann, als er an sich hinunterblickt. Viola Richter lacht
auf. Ein Lachen zwischen Erschöpfung und Gelassenheit. Denn eigentlich hätte sie jetzt Pause. Aber
sie kann Herrn W. nicht so liegen
lassen. „Es ist schon stressig und
die Schichten sind sehr lang“, sagt
sie fast entschuldigend. Bis 14.45
Uhr hat sie heute noch Dienst.
Und danach nimmt sie die Geschichten der Bewohner manchmal mit nach Hause, sagt sie. An
der Wand hängt ein Bild mit Sonnenuntergang und einem Bibelspruch: „Bleibe bei mir Herr, denn
es will Abend werden und der Tag
hat sich geneiget.“
„Irgendwann schnackelt es
bei denen“
Zwei Lehrer der Evangelischen Altenpflegeschule
Freiburg sagen, was ihnen wichtig ist
Was unterrichten Sie in der Altenpflegeschule? Die Antwort
von zwei Lehrern fallen verschieden aus. Logisch – denn Altenpfleger müssen Ärzte und Sozialpädagogen in einem sein.
Lebenswert alt werden – auch mit Demenz
FOTO: OBS
BZ-INTERVIEW
„Das Alter würdigen“
Hermann Brandenburg, Katholische Fachhochschule Freiburg
BZ: Herr Brandenburg, schätzt BZ: Der Beruf wird also gering gedie Gesellschaft die Altenpfleger schätzt, weil das Alter gering gezu gering?
schätzt wird?
Brandenburg: Die Gesellschaft Brandenburg: Ja. Außerdem ist
ist ambivalent. Für sie ist die sta- die Bezahlung gering und die Altionäre Altenpflege eine Möglich- ten werden auch nicht „gesund“
keit, Krankheit und Behinderung gepflegt wie die Patienten im
wegzusperren, weil sie eine Krankenhaus. Am Ende steht imScheu vor dem Alter
mer der Tod im Alhat. Auf der anderen
tenpflegeheim. Der
Seite neigen die LeuRuf der Krankente zu einer Hochschwester ist deshalb
schätzung für die
viel besser als der des
Menschen, die die
Altenpflegers.
konkrete Arbeit tun.
BZ: Wer gering geBZ:
Warum
die
schätzt wird in eiScheu?
nem anstrengenden
Brandenburg: Ich
Beruf, bleibt nicht
denke, das ist eine
lange.
Frage des Umgangs
Brandenburg: Fünf
mit Alter, Behindebis acht Jahre. Dann
rung und Tod. Die H. Brandenburg
kommt die UmschuArt, wie das in der
lung in andere BereiGesellschaft dargestellt wird, ist che, weil die Arbeit im Heim oft
wenig seriös. Da wird ein Prob- keinen Spaß macht. Es kommt imlem inszeniert. Dabei wollen mer mehr darauf an, dass Konzepdoch alle alt werden! Jetzt wer- te erstellt werden: individuelle
den wir es und wir sollten das Al- Pflegeplanung,
Teamführung,
ter würdigen.
Diagnosen erstellen.
Peter Moritz, Fach Medizin:
„Ich unterrichte Medizin, denn es
ist wichtig, dass die Pflegekraft den
Unterschied erkennt zwischen einem unkomplizierten Harnwegsinfekt und einem Infekt, der zur
Nierenbeckenentzündung führt.
Sie entscheidet: Muss ich jetzt den
Hausarzt nochmal vor dem Wochenende anrufen oder kann das
bis Montag warten? Oder: warum
bekommt eine Bewohnerin Atemnot? Ist es ein gefährlicher Zustand, der den Notarzt erfordert?
Mir zeigt meine 15-jährige Lehrerfahrung: Wir brauchen in der Altenpflege Menschen, die wirklich
verstanden haben, was sie für die
Situation, in die sie kommen, brauchen. Für mich ist das eine Frage
von medizinischer Notwendigkeit. Und von Menschlichkeit. Ich
unterrichte ausgehend von Situationen in der Pflege. Ich probiere
es mit den Leuten praktisch aus.
Wie funktioniert es, wenn wir einatmen, was tut sich im Körper?
Was kann dabei schief gehen?
Dann erlebe ich, dass die Schüler
die Zusammenhänge schnell verstehen.
Ich spiele auch oft Sachen. Niere ist ein schwieriges Thema.
Dann spielen wir Niere! Wir bauen
mit Stühlen und Tischen ein Nierensystem auf und spielen, was im
Organ
passiert.
Irgendwann
schnackelt es bei denen. Die Altenpflegerin hat keine direkte Ankopplung an den Arzt wie die Pfleger in der Klinik. Und die Besuchsfrequenz der Ärzte in den Heimen
ist eben sehr unterschiedlich. Daher muss die Altenpflegerin die
Veränderungen bei den Bewohnern einschätzen und handeln.“
Rita Langenstein, Fach Aktivierung und Rehabilitation:
„Mein Fach vermittelt das, was das
Altwerden lebenswert und schätzenswert machen soll – mit Musik,
Bewegung, Tanz, Bildender Kunst.
Die Schüler lernen, den Blick auf
die Fähigkeiten zu richten, die
beim Menschen noch vorhanden
sind. Denn die Pflege soll sich
nicht beschränken auf satt und
sauber, sondern den Menschen
ganzheitlich wahrnehmen.
Ich habe zum Beispiel eine Demenzgruppe vor Augen, die ich
momentan betreue. Wenn wir das
Lied vom ,Kleinen Matrosen’ singen und uns dazu bewegen, ist die
Stimmung hinterher um einige
Grade gehoben und alle lachen!
Das will ich den Schülern vermitteln: Jeder Mensch hat ein gelebtes Leben. Und das gilt es wert zu
schätzen.
Dass es schön ist, wenn sich die
alten Leute nicht nur in der Rolle
der Versorgten fühlen, sondern
auch merken: Ich kann da mitmachen, ich bin auf der gleichen Ebene mit den anderen. Ganz wichtig
ist mir, den Schülern zu zeigen,
was man im Umgang mit Dementen beachten muss: Nicht überversorgen, nicht bevormunden. Oft
macht es den Schülern in der Praxis große Probleme, das Gelernte
in die Tat umzusetzen. Oft heißt
es: Wir haben keine Zeit dafür.
Wenn irgendwo Zeit abgeknapst
wird, dann leider in diesem Bereich. Dabei versuche ich den
Schülern klarzumachen, dass
mein Fach nicht nur nettes Beiwerk zur Pflege ist.“
ude
BZ – SER I E: PF LEGE
3 F O LG E
9.1
Psychologen
nennen es das neue Generationenproblem: Wir werden zu den Eltern unserer Eltern, weil sie plötzlich
Pflege brauchen. Die erwachsenen Kinder finden sich
BZ-SERIE – ZUKUNFT DER PFLEGE (9):
in der Elternrolle wieder – oft ganz plötzlich. Denn
nur wenige Eltern setzen sich mit ihren Kindern frühzeitig zusammen, um über die Tabuthemen Alter und
Pflege zu sprechen.
Angst vor dem Stock:
Der Blick auf die
alten Eltern ist wie
der Blick in einen
Spiegel. Wie werde
ich selbst altern?
FOTO: JOKER
„Reden Sie. Noch heute!“
B Z - I N T E R V I E W mit dem Freiburger Therapeuten Eduard Dietz-Piram über die Angst vor dem Alter / Von Petra Kistler
W
ie ist es, wenn die eigene Mutter, der eigene Vater Pflege
brauchen? Eduard W. Dietz-Piram (59) kennt sich mit solchen
Fragen aus. Der Freiburger Psychoanalytiker und Psychotherapeut befasst sich mit Alterungsprozessen und damit aufkommenden Konflikten.
fällt vielen Familien schwer. Warum eigentlich?
Dietz-Piram: Die erste Frage lautet: Benötigen die Eltern Unterstützung? Diese Einsicht fällt den
Betroffenen oft schwer. Es klappt
doch noch, heißt es dann, ich kann
mich noch gut selbst versorgen.
Die alten Eltern fürchten, entmündigt und entrechtet zu werden und
wollen deshalb keine Schwächen
zeigen. Der Alltag zeigt aber, dass
ZUKUNFT es oft doch nicht mehr geht. Die ElDER tern brauchen möglicherweise
PFLEGE Hilfe und Betreuung. Doch die
Kinder sind berufstätig, die Enkelkinder müssen auch Zuwendung
bekommen. Also wird ein Platz in
einer Einrichtung gesucht und geWas im Alter auf uns zukommt
funden. Es klappt, alle sind froh,
und dann sagt die Mutter oder der
Vater: Ich gehe da nicht hin. Ich
BZ: Irgendwann ereilt es jede bleibe zu Hause.
Tochter, jeden Sohn: Die Eltern
sind alt geworden und brauchen BZ: Die alte Mutter wird ihre
Hilfe. Doch das Gespräch darüber Gründe haben.
Dietz-Piram: Natürlich: Sie will
ihr Haus, ihren Garten, ihre Umgebung nicht verlassen. Das ist nachvollziehbar und verständlich.
Meist gibt es Tage, wo es gut geht.
Und es gibt Tage, wo es schwierig
ist. An den Tagen, wo es schwierig
ist, ist sie bereit, in eine Einrichtung zu gehen. An den Tagen, wo
es ihr gut geht, will sie daheim
bleiben.
BZ: Dann ist die Not groß. Was
tun?
Dietz-Piram: Holen Sie alle Angehörigen an einen Tisch: Wie schätzen die anderen die Situation ein?
Wer hat einen Lösungsvorschlag?
Wer übernimmt welche Aufgaben? Diese Familienkonferenz ist
ein erster Schritt.
BZ: Wie rede ich mit den Eltern
über die heikle Frage, wo und wie
sie ihren Lebensabend verbringen
wollen?
Dietz-Piram: Indem man sie
fragt. Wie stellt ihr euch das Leben
im Alter vor? Was wünscht ihr
euch? Was ist machbar? Was ist,
wenn eines der Kinder krank wird
und die Pflege nicht mehr übernehmen kann?
BZ: Und wann rede ich mit meinen Eltern darüber?
Dietz-Piram: Nicht erst, wenn
das Problem auf den Nägeln
brennt, sondern zehn oder 15 Jahre vorher. Man muss frühzeitig mit
den Eltern diskutieren. Und mit
den Geschwistern: Was machen
wir? Wer kümmert sich? Wer hat
Zeit? Wie schultern wir es finanziell? Eltern können von einem Tag
zum anderen zum Pflegefall werden. Wie Sie und ich auch – unabhängig vom realen Alter. Zu wissen, dass die richtigen Entscheidungen getroffen werden, beruhigt beide Seiten.
Fortsetzung nächste Seite
BZ – SER I E: PF LEGE
BZ: Früher reden, das heißt, wenn
die Kinder 40 und die Eltern 65
Jahre alt sind?
Dietz-Piram: Oder wenn die Kinder 50 und die Eltern 75 sind.
Wenn sie noch fit sind. Es ist
schwer anzunehmen, dass ich älter werde, dass ich vielleicht nicht
mehr so gut leben werde wie mit
75, dass ich gebrechlich und hilfsbedürftig werde. Deshalb mein
Rat: Fangen Sie das Gespräch an.
Reden Sie. Noch heute!
BZ: Für wen ist es schwer? Für die
Kinder oder für die Eltern?
Dietz-Piram: Für alle Seiten.
Auch für die Enkelkinder, die diese
Schwierigkeiten mitbekommen.
Das prägt sie für später. Deshalb
versuchen wir alle an einen Tisch
zu bekommen. Und dann gibt es
die üblichen Schwierigkeiten mit
dem Erbe, mit bislang verschwiegenen Nebenbeziehungen, mit
Kindern außerhalb der Ehe – alles,
was am Lebensende zum Vorschein kommen kann. Zudem ist
Pflege ein sehr emotionales Thema. Menschen können an die
Eduard Dietz-Piram
Grenzen ihrer Belastung kommen.
Das liegt oft daran, dass Versprechungen gemacht wurden, die
nachher nicht eingehalten wurden. Deshalb ist es besser, die Verabredungen mit einem Anwalt
oder Notar zu versachlichen.
BZ: Die alten Eltern gehören einer
Generation an, in der noch in der
Familie gepflegt wurde.
Dietz-Piram: Und dann erfahren
sie, dass ihnen dies nicht so widerfahren wird. Das ist schrecklich.
3 F O LG E
9.2
Früher war es die Selbstverständlichkeit, dass sich irgendjemand
für die Eltern opferte. Es waren vor
allem die Töchter und Schwiegertöchter, die nicht berufstätig waren und ihre Eltern umsorgten bis
zuletzt. Bis sie selbst krank wurden.
se Fragen zu sprechen. Gemeinsam die Probleme angehen, jeden
zu Wort kommen lassen, mit Hilfe
von Mediatoren einen Konsens zu
finden.
en, wo es funktionierte, aber die
Großfamilie ist kein Modell für die
Zukunft. Ein moralisches Verantwortungsgefühl oder eine Wiedergutmachung für erhaltende Fürsorge allein sind keine Basis für eiBZ: Vielleicht haben sich Eltern ne funktionierende Pflege. Jetzt
und Kinder längst auseinanderge- frage ich Sie: Haben Sie ein Testalebt?
ment?
BZ: Haben die Frauen ein schlechtes Gewissen, weil sie berufstätig
sind und die Pflege nicht übernehmen können?
Dietz-Piram: Viele Frauen, die
ich kenne, haben ein schlechtes
Gewissen. Aber sie sind nicht mutig genug, um zu sagen: Ich diskutiere jetzt. Ich höre auf, meinen
Ängsten und Vorstellungen und
Loyalitätskonflikten
nachzugeben.
BZ: Wie viel Anspruch haben die
Eltern auf die Hilfe ihrer Kinder?
Sie sagen, früher waren wir für
euch da, wir haben euch großgezogen, viele Opfer gebracht. Nun
seid ihr an der Reihe, euren Teil
des Generationenvertrags zu erfüllen.
Die Frage wer sich im Ernstfall um den Pflegebedürftigen
kümmert sollte frühzeitig geklärt werden.
FOTO: DPA
Dietz-Piram: Oder es gibt Familiengeheimnisse, Dinge, die nicht
diskutiert werden dürfen, Dinge,
die besser begraben sind. Das hindert am Gespräch. Es gibt enttäuschte Gefühle, hemmende Gefühlswelten.
BZ: Die Vorstellung, die Eltern
waschen, pflegen, zur Toilette begleiten zu müssen, fällt manchen
Kindern sehr schwer.
Dietz-Piram: Natürlich gibt es
Berührungsängste, Ängste vor der
Pflege. Viele sind mit der Pflege
ihrer Angehörigen völlig überfordert. Altern ist ein Tabu, an dem
man besser nicht rührte. Die Eltern altern zu sehen bedeutet,
auch das eigene Alter wahrzunehmen. Es ist wie der Blick in einen
Spiegel: Wie wird es sein, wenn
ich alt bin? Werde ich mich genauso entwickeln? Wer wird sich um
FOTO: ????????
mich kümmern? Es ist schwierig,
die eigene Endlichkeit zu akzepDietz-Piram: Das ist eine Varian- tieren.
te. Die andere: Was habe ich alles
gemacht für meine Eltern, meine BZ: War das zu Zeiten der GroßfaSchwiegereltern. Und wie werde milie einfacher?
ich jetzt hängen gelassen. Die El- Dietz-Piram: Die Großfamilie hat
tern haben gedacht, es läuft so wei- nichts mit dem Bild von Mutter,
ter. Aber das ist nicht der Fall. Die Großmutter und Kind am KachelEnttäuschung ist groß.
ofen irgendwo auf einem Bauernhof im Schwarzwald zu tun. Die
BZ: Und wie kann der Konflikt ge- Großfamilie ist ein Arbeitszusamlöst werden?
menhang gewesen. Auf den
Dietz-Piram: Als Alternspsycho- Schwarzwaldhöfen gab es auch
therapeut kann ich kein anderes schreckliche BeziehungsgeschichModell vorstellen, als über all die- ten. Natürlich gab es auch Famili-
BZ: Nein.
Dietz-Piram: Warum nicht? Machen Sie ein Testament. Noch heute. Übernehmen Sie Verantwortung. Sie haben Kinder, einen
Mann und Eltern. Was glauben Sie,
wie schwierig es für die Angehörigen ist, wenn sie keinen Erbschein
haben. Man denkt immer, man sei
unverletzlich. Doch das stimmt
nicht. Ich habe mein Testament
seit Langem geschrieben, meine
Betreuung schriftlich geregelt, es
ist ausgemacht, welche Kollegen
meine Praxis auflösen werden.
INFOBOX
ALTERNSTHERAPEUTEN
Alternstherapie ist ein relativ
neuer Zweig der Psychotherapie.
Viele Therapeuten wollten nicht
mit älteren Menschen oder kannten sich im Thema nicht aus. In
Südbaden gibt es inzwischen
gut 40 Alternstherapeuten.
Anlaufstellen:
Eduard Dietz-Piram, Luisenstraße 5a, 79098 Freiburg, Telefon:
0761/288041
Seniorenbüro Freiburg, KaiserJoseph-Straße 268, 79098 Freiburg, Telefon: 0761/ 2013032
bis -3037
Kuratorium Deutsche Altershilfe,
An der Pauluskirche 3, 50677
Köln, Telefon:
0221/9318470 , www.kda.de
BZ – SERIE: P FL E G E
3 F O LG E
1 0 .1
Die einen sprechen von der rettenden Nothilfe in einer ausweglosen
Situation, die anderen von modernem Sklavenhandel:
Weil die 24-Stunden-Versorgung von Alten und Kran-
BZ-SERIE – ZUKUNFT DER PFLEGE (10):
ken zu Hause kaum bezahlbar ist, entscheiden sich
viele deutsche Familien für illegale Hilfskräfte aus
Osteuropa. Die örtlichen Pflegedienste sind verärgert
– sie müssen sich verändern.
Heimliche Hilfe
in den Familien:
Für einen Billiglohn
24 Stunden
Dauerpräsenz.
FOTO: DPA
Schwarzarbeit bei Oma
Tausende von Osteuropäerinnen betreuen illegal Alte und Kranke in Deutschland / Von Michael Neubauer
W
Sie stupsen sich an,
als wären sie alte
Freundinnen. Sie lachen miteinander, schauen sich
Fotos an. Elisabeth Farner, 86, hat
sogar ein wenig Polnisch gelernt.
Und die Polin Zuzanna, 56, lernt
von ihr Deutsch. Beide wirken vertraut miteinander. Dabei kennen
sie sich erst kurz. Zuzanna arbeitet
schwarz in Elisabeth Farners Wohnung. Sie betreut und pflegt sie illegal.
Am Anfang war der Unfall. Oma
Elisabeth rutschte in der Dusche
aus. Brach sich den Wirbel und
musste operiert werden. Es sah
nicht gut aus. „Wir glaubten, sie
stirbt uns weg“, sagt die Schwiegertochter Franziska Farner. Oma
Elisabeth kam in die Rehaklinik.
Langsam ging es ihr besser. Doch
die Beine wollten nicht mehr,
Treppensteigen wurde zur Tortur.
„Sie darf nicht allein sein“, so die
Ärzte.
Franziska Farner und ihr Mann
nahmen die Oma zu sich nach
Hause. Das klappte zwei Monate,
dann fing sie an zu jammern. „Ich
will zurück in meine Wohnung.“
Ein Fachwerkhaus zentral in einem Ort bei Bad Krozingen. „Ich
will zurück, ich gehöre doch zum
Stadtbild“, sagte Oma Elisabeth
immer wieder.
ZUKUNFT
DER
PFLEGE
Was im Alter auf uns zukommt
Die Farners müssen beide hart
arbeiten und können die Großmutter selbst nicht dauernd beaufsichtigen. Drei Pflegekräfte hätten
sich am Tag abwechseln müssen –
für sie zu teuer. Erst war die
Schwiegertochter noch sicher:
„Wir machen das alles ganz legal –
mit einer Polin.“ Aber dann sah sie
die Formulare der Arbeitsagentur:
„Das hätte Monate gedauert, bis
jemand gekommen wäre.“
Die Familie tauchte ein in die illegale Polenpflegewelt. Mundpropaganda. Jemand kennt jemanden,
der wieder jemanden kennt. Ein
paar Telefonanrufe. Jedenfalls,
sagt Franziska Farner, „stand
ruckizucki jemand da“.
Zuzanna hat jetzt ein kleines
Zimmer bei Oma Elisabeth. Sie
hilft ihr im Alltag. Abends schauen
sie zusammen fern. Elisabeth hat
extra eine andere Satellitenschüssel kaufen lassen, damit Zuzanna
auch zwei polnische Programme
sehen kann.
Sie hätten es getan, weil sie der
alten Frau ein eigenständiges Leben ermöglichen wollten. „Das haben doch die alten Leute verdient,
dass wir ihnen die letzten Wünsche erfüllen“, sagt die Schwiegertochter. Doch ganz wohl ist ihr
nicht dabei. „Wir sind schon irgendwie Straftäter.“ Deswegen
will sie unerkannt bleiben, deswegen sind ihre Namen nicht die echten Namen. „Wir sind einfach
froh, wenn das ruhig läuft und uns
niemand anzeigt.“
Das ist kein Einzelfall. Viele Familien mit einem Pflegebedürftigen sehen in ihrer Hilflosigkeit nur
noch diesen einen Weg. Deutschland leistet sich neben dem etablierten Pflegesystem auch ein illegales. Schätzungsweise zwischen
80 000 und 100 000 solcher Hilfskräfte arbeiten in diesem Land, genaue Zahlen hat niemand. Die
Bundesregierung weiß allerdings,
dass ohne diese Kräfte die Finanzlage der Pflegeversicherung und
die Situation in den Familien düster aussähe.
Fortsetzung nächste Seite
BZ – SERIE: P FL E G E
Die illegalen Kräfte kommen meistens aus Polen, zunehmend aus
Ungarn, Tschechien und Rumänien. Sie besitzen ein Touristenvisum und haben damit eine dreimonatige Aufenthaltsgenehmigung.
Es ist ein Rotationsmodell: Auch
Zuzanna wird nach drei Monaten
Oma Elisabeth verlassen, eine Bekannte oder Verwandte nimmt
3 F O LG E
deutschen ambulanten Pflegedienste. „Wir wissen von rund 20
Haushalten in Rheinfelden, in denen mit größter Wahrscheinlichkeit illegal beschäftigte Pflegekräfte ihre Arbeit tun“, sagt Peter
Schwander von der kirchlichen Sozialstation in Rheinfelden. Immer
wieder komme es vor, dass eine Familie seine Kolleginnen erst ruft,
Eine Spritze für Oma – von Fach- oder Billigkräften?
dann ihren Platz ein. Regelmäßig
bringen Busse die neuen Helferschichten nach Südbaden. Alles ist
perfekt organisiert, die Familien
müssen sich um nichts kümmern.
Der Preis: 800 bis 1300 Euro für
eine Rundumbetreuung. Kost und
Logis sind frei, Fahrtkosten nach
Hause gibt’s dazu. Würde Familie
Farner diese Arbeit von deutschen
Kräften bei Stundenlöhnen von 40
bis 50 Euro machen lassen, müsste
sie das Vier- bis Sechsfache bezahlen. Wer kann sich das leisten?
Für Suzanna aber sind 1000 Euro sehr viel Geld. Sie ist eigentlich
Tierärztin, findet in Polen aber keine Arbeit. Und mit Oma Elisabeth
hat sie noch Glück. Viele ihrer osteuropäischen Kolleginnen kümmern sich um schwerstkranke,
bettlägerige oder demenzkranke
Menschen. Die Frauen kochen,
waschen, bringen die Kranken ins
Bett, geben Medikamente. Manche machen die Arbeit schlecht,
setzen Familien sogar unter
Druck. Viele arbeiten gut und aufopferungsvoll. Sie sind immer da,
haben fast nie frei. Diese Fremden
werden von den Alten manchmal
besser akzeptiert als die eigenen
Kinder, vor denen sie sich genieren.
Die Arbeit der Illegalen geschieht oft unter den Augen der
10.2
FOTO: DDP
wenn Pflegefehler zu Folgeerkrankungen führen, die professionell
behandelt werden müssen, sagt er.
Wenn die ambulanten Helfer dann
zu den Familien kommen, kommt
es schon mal vor, dass die Schwarzarbeiterinnen in die Hinterzimmer huschen und warten, bis die
wunde Stelle behandelt ist.
Schwander sieht die illegale Beschäftigung mit gemischten Gefühlen. „Natürlich sehen wir auch
den Willen der Leute, für ihre Angehörigen das Beste zu wollen.“
Aber er wundert sich, wie sehr
diese illegalen Beschäftigungen inzwischen als normal betrachtet
werden. Ob Ärzte, Bankdirektoren, Finanzbeamte: „Die Leute sehen das als Kavaliersdelikt, da gibt
es kein Unrechtsbewusstsein.“ Er
findet es bedrückend, was den Osteuropäerinnen zugemutet werde.
Und die Frauen ließen zu Hause ihre eigenen Familien zurück, in
manchen Dörfern fehle die Hälfte
der Mütter, weil sie hier arbeiteten. „Wir haben es hier in
Deutschland
mit
modernen
Dienstmädchen zu tun.“
Bernd Tews vom Bundesverband privater Anbieter sozialer
Dienste vergleicht die illegalen
Pflegekräfte mit der Schwarzarbeit
auf dem Bau. „Eine Gesellschaft
muss sich doch fragen: Gelten die
Spielregeln oder gelten sie nicht?“
Nur zaghaft befasse sich die Politik
mit dem Thema. Dieses illegale
Pflegesystem schade den legalen
Pflegediensten und entziehe der
Sozialversicherung Geld. Die Frauen hätten keinen Urlaub, keine
Versicherung, keinen angemessenen Lohn: „Das ist moderner Sklavenhandel.“
Die Frauen aus dem Osten müssen sich dennoch wenig Sorgen
machen, dass ihnen der Zoll zu nahe kommt. Denn der Zollfahndung sind die Hände gebunden,
weil sie in Privatwohnungen arbeiten. „Wenn wir aber konkrete
Hinweise haben, dann holen wir
uns einen richterlichen Durchsuchungsbeschluss“, sagt Klaus Salzsieder vom Zoll in Köln. Und Hinweise kommen oft: von Nachbarn, Sozialstationen, Verwandten oder geschiedenen Ehemännern. Die möglichen Strafen: bis
zu fünf Jahre Gefängnis. Meistens
Bußgeld in der doppelten Schadenshöhe. In einem Fall bei Freiburg, in dem jemand 15 Monate
lang die demente Oma hat pflegen
lassen, waren das 57 000 Euro.
Doch gehe man sensibel vor, sagt
Salzsieder – „da sind schließlich
menschliche Schicksale dahinter“.
Auch Richter urteilten mehrmals
milde, weil sie wissen, dass manche Familien ohne diese billigen
Pfleger nicht wüssten, was sie tun
sollen. „Wir bringen es nicht fertig, unsere Alten angemessen zu
pflegen“, so die Worte einer Darmstädter Richterin, die die Schwarzarbeit als Folge der schlimmen
Missstände im Pflegesystem kritisierte.
Die Osteuropäerinnen nehmen
freilich auf dem heiß umkämpften
Pflegemarkt
den
etablierten
Diensten einen großen Teil des Kuchens weg. Franz Fink vom Deutschen Caritasverband warnt aber
davor, im Konkurrenzdenken zu
verharren. „Wir müssen vielmehr
überlegen, wie wir den Familien
helfen können.“ Die neue Berufsgruppe des „Alltagsbegleiters“
könnte einen Ausweg sein. Leute
ohne spezielle Pflegeausbildung
können in den Sozialstationen der
Caritas eine Bezahlung zwar nach
Tarif, aber unter der unteren Lohngruppe bekommen. Sie böten
dann zwar keine 24-Stunden-Betreuung an, aber doch eine 40Stunden-Woche. Zu ihren Aufgaben könnten einfache Tätigkeiten
wie die Begleitung bei Arztbesuchen oder Vorlesen gehören. Kosten für die Familien: 1500 bis
2000 Euro. „So könnten wir manchen Familien helfen, aus der Illegalität herauszukommen. Wir als
Caritas müssen selbst dafür sorgen, dass unsere Sozialstationen so
etwas anbieten können.“ Auch
Langzeitarbeitslose könnten solche Hilfsjobs übernehmen, findet
Fink. Er weiß: Seine Kollegen zögern noch bei dem Modell des Alltagsbegleiters. Aber um den Familien zu helfen und den Frauen aus
Osteuropa Sicherheit zu bieten,
müsse eine Kooperation mit den
bisher Illegalen angedacht werden. „Wir müssen einen Hilfemix
für die Familien arrangieren, der
solche Kräfte einbindet.“ Zukunftsmusik, gewiss. Aber: „Die
Zeiten für die Sozialstationen stehen auf Veränderung.“
PFLEGEKRÄFTE AUS OSTEUROPA
Legal oder illegal?
Wer unsicher ist, ob Vermittlungsagenturen für Pflegekräfte
legal arbeiten, kann sich an die
Agentur für Arbeit oder die Zollbehörden wenden.
Die Zentralstelle für Arbeitsvermittlung (ZAV) in Bonn vermittelt Haushaltshilfen aus osteuropäischen Ländern an Familien mit pflegebedürftigen Personen. Die Familie ist dann Arbeitgeber. Allerdings: Sie dürfen
nur 38,5 Stunden als Haushaltshilfe arbeiten – Pflegeaufgaben
sind offiziell tabu. Kosten: ab
1300 Euro/Monat.
Auch Vermittlungsagenturen
stellen den Kontakt zu Pflegerinnen aus Osteuropa her – die
Dienstleistungsfreiheit in den
EU-Ländern macht es möglich.
Kosten: ab 1200 Euro. Die Kräfte
sind bei einer Agentur im Ausland angestellt und sozialversichert. Adressen gibt es im Internet. Die Agenturen kassieren
allerdings hohe Gebühren, sodass
die Pfleger wenig Lohn abbekommen. Nicht alle dieser Agenturen
arbeiten ganz legal. Der billigste,
aber illegale Weg ist die private
Vermittlung. Kein Vertrag, keine Sozialabgaben und Steuern.
Kosten: ab 800 Euro.
mic
BZ – SERIE: P FL E G E
3 F O LG E
1 1 .1
Ihre Autos bestimmen das Stadtbild: Ambulante Pflegedienste besuchen kranke und alte Menschen zu Hause. Auch Einkäufe erledigen sie. Die Helfer klagen oft über Zeit-
BZ-SERIE – ZUKUNFT DER PFLEGE (11):
not. Sie kritisieren, dass die Pflegeversicherung bis
jetzt noch nichts für altersverwirrte, demenzkranke
Menschen bezahlt. Doch gerade diese brauchen besondere Zuwendung.
Mit dem Auto von Tür
zu Tür: Ambulante
Pflegekräfte im
Einsatz. F O T O : D P A
Die flitzenden Pfleger
Ambulente Pflegedienste ermöglichen vielen alte Menschen zu Hause die notwendige Unterstützung / Von Bernhard Walker
V
ier Worte genügen. „Hier
ist die Schwester“, ruft
Martina Schröder in die
Sprechanlage. Sofort tönt der
Brummton, die Haustür springt auf
und Schwester Martina geht die
Treppe hinauf. Auf dem Absatz im
ersten Stock wartet schon Herr
Frank. Sobald sie ihn sieht, begrüßt ihn Schwester Martina und
sagt: „Herr Frank, Sie haben zugenommen.“
Was für die meisten Menschen
ein zweifelhaftes Kompliment wäre, freut Herrn Frank. Er strahlt regelrecht und sagt: „Ja, zum
Glück“. Vor einiger Zeit ist Herr
Frank wegen einer Zungenkrebserkrankung operiert worden. Damit die anschließende Bestrahlung
nicht das Gebiss schädigt, sind ihm
einige Zähne entfernt worden.
Lange konnte sich Herr Frank deshalb nur über eine Magensonde ernähren. Schwester Martina von
der Ökumenischen Sozialstation
Leipzig prüft nun, ob die Sonde
funktioniert und ob die Bauchdecke nicht entzündet ist. Sie wechselt den Verband und schaut nach,
ob noch genügend Beutel mit der
Sondenkost in der Küche sind.
Inzwischen erzählt Herr Frank
von seinen Erlebnissen: Der Enkel
der Nachbarin war zu Besuch. Und
zur Feier des Tages hat er sich ein
ZUKUNFT
DER
PFLEGE
Was im Alter auf uns zukommt
Stück weiches Brot mit viel
Streichwurst
drauf
gegönnt.
Schwester Martina rät ihm, die
Krankenkasse wegen der fehlenden Zähne anzusprechen. Aus ei-
gener Tasche kann Herr Frank
nicht die Kosten einer Brücke oder
von Implantaten bezahlen. Er lebt
in einer winzigen Wohnung und
wartet, was aus seinem Antrag auf
Rente wird. Bis dahin lebt er von
Hartz IV. Für Herrn Frank kann
Schwester Martina heute nichts
mehr tun. Also bespricht sie mit
ihm den nächsten Besuchstermin,
steigt in den VW Fox der Sozialstation und fährt zu den nächsten Patienten.
Alltag in der ambulanten Pflege.
In der Bundesrepublik gibt es etwa
10 000 solcher Pflegedienste. Sie
beschäftigen 190 000 Mitarbeiter.
Das Ziel der Pflegeversicherung,
überall häusliche Hilfen anzubieten, ist erreicht worden. So hat
sich ein Arbeitsmarkt entwickelt,
der vor allem Frauen die Chance
gibt, Familie und Beruf zu vereinbaren – wenngleich Altenpflege zu
den schlecht bezahlten Berufen in
Deutschland gehört. Etwa 86 Pro-
zent der Beschäftigten in ambulanten Diensten sind Frauen. Und
zwei Drittel der Beschäftigten arbeitet in Teilzeit. Im Gegensatz zu
vielen anderen Industriestaaten
besteht in der Bundesrepublik ein
Netz, das es erlaubt, auch die steigende Zahl an Pflegebedürftigen
zu Hause zu betreuen. Das gilt
auch für schwer Pflegebedürftige.
Etwa 15 Prozent der Menschen,
die heute ambulant versorgt werden, sind in die höchste Pflegestufe drei eingruppiert.
Schwester Martina fährt weiter
zu der Familie Keller. Frau Keller
hatte sich bei einem Sturz das
Handgelenk gebrochen. Es dauert
eine Weile, bis sie sich bereit zeigt,
sich den Verband von ihr abnehmen zu lassen. Denn die alte Dame
leidet unter einer Demenzkrankheit und erkennt auch vertraute
Menschen manchmal erst nach einiger Zeit.
Fortsetzung nächste Seite
BZ – SERIE: P FL E G E
Um Frau Keller zu beruhigen,
spricht Schwester Martina vertraute Dinge an: Sie fragt, wie es
den Angehörigen gehe und was sie
beim letzten Hausarztbesuch erlebt habe. So kann Frau Keller die
Altenpflegerin als Vertrauensperson wiedererkennen. Wie viele
Demenzkranke fürchtet sich die
alte Dame sehr vor Veränderungen. Lange hat sie sich deshalb dagegen gesträubt, Stolperfallen wie
den Flurteppich wegzuräumen.
„Manches braucht einfach viel Zuwendung und Geduld“, sagt
Schwester Martina.
Später wartet in der Sozialstation die Bürokratie und Schreibkram auf sie: Sie bringt die Patientenakten auf den neuen Stand,
geht Schreiben vom Medizinischen Dienst der Kassen durch,
bespricht mit ihrer Kollegin die
nächste Tour und schaut, dass die
Kollegin die Türschlüssel der Patienten dabei hat, die manchmal das
Klingeln nicht hören.
3 F O LG E
11.2
Dass die Pflegeversicherung Gutes bewirkt, steht für Schwester
Martina außer Frage: „Viele könnten sich sonst Hilfe gar nicht leisten“. Gleichwohl hat sie einen
Wunsch – einen Wunsch, den alle
70 Pflegekräfte der Ökumenischen Sozialstation Leipzig Südwest teilen. „Mehr Zeit“, sagt die
Pflegedienstleiterin, Schwester Elke Wolf. Das gilt gerade für die Demenzkranken. Rund eine Million
Menschen müssen in Deutschland
mit einer Form von Demenz leben.
Altersverwirrte Menschen brauchen besondere Zuwendung, was
im Zeitbudget der von der Versicherung bezahlten Hilfen aber
nicht vorgesehen ist. Manche Demenzkranke fallen ganz durch das
Raster der Versicherung. Die berücksichtigt nur körperliche Einschränkungen, an denen Demenzkranke oft nicht leiden. Allerdings
können sie von einer Minute auf
die andere vergessen, ob sie sich
gewaschen oder ob sie etwas ge-
gessen haben. Hilfe brauchen sie
also allemal.
Wie bei Frau Keller geben die
Mitarbeiter der Leipziger Sozialstation ihr Bestes, um diese Kranken mit allem was sie brauchen zu
versorgen. Am Webfehler der Ver-
sicherung selbst ändert das nichts.
Jetzt bleibt abzuwarten, ob der
Plan der großen Koalition – Demenzkranke sollen ab 2008 Unterstützung bis zu 2400 Euro im Jahr
erhalten – die Struktur der Versorgung verbessert.
INFOBOX
ANGEBOTE IN DER
TAGES-UND KURZZEITPFLEGE
Einrichtungen für Tages- und
Kurzzeitpflege bieten sich an,
wenn ein pflegebedürftiger Patient zeitweilig nicht zu Hause
versorgt werden kann. Das kann
zum Beispiel der Fall sein, wenn
eine Wohnung umgebaut wird
oder ein pflegender Angehöriger
selbst erkrankt ist. Bei der Tagespflege holt die Einrichtung
den Pflegebedürftigen in der
Regel morgens ab, versorgt ihn
den Tag über und bringt ihn am
Nachmittag oder Abend wieder
nach Hause zurück. Kurzzeitpflege ist in der Regel ein vollstationärer Aufenthalt, bei dem
jemand Tag und Nacht in der
Einrichtung lebt.
Bei der Tagespflege werden je
nach Pflegestufe des Patienten
384, 921 und 1432 Euro im Monat
von den Pflegekassen bezahlt.
Für Leistungen der Kurzzeitpflege
übernehmen die Kassen bis zu
vier Wochen im Jahr Leistungen
bis zu 1432 Euro.
bwa
„Alle zehn Jahre etwas ganz Neues lernen“
BZ-INTERVIEW
mit der Ärztin Isabella Heuser über Möglichkeiten, Demenzerkrankungen vorzubeugen
Geistig rege zu bleiben, ist
nach Einschätzung von
Professor Isabella Heuser
eine wichtige Vorbeugung
gegen Demenzerkrankungen. Heuser ist Direktorin
der Klinik und der
Hochschulambulanz für
Psychiatrie und Psychotherapie der Berliner
Charité. Mit ihr sprach
Bernhard Walker.
BZ: In der Diskussion über
die Reform der Pflegeversicherung kommt die Rede
auch immer auf die Demenzkranken. Was versteht
die Medizin unter diesem
Begriff?
Heuser: Wir wissen, dass
etwa 60 Prozent der De- Isabella Heuser
menzerkrankungen auf die
Alzheimer-Krankheit
entfallen. zwischen dem Lebensalter und
Weitere 20 bis 30 Prozent sind so den Demenzerkrankungen gibt?
genannte vaskuläre Demenzen, al- Heuser: Ja, das ist völlig eindeuso neuro-degenerative Leiden tig. Je älter jemand wird, umso
nach einem Schlaganfall oder ei- wahrscheinlicher ist, dass er an einer Gefäßerkrankung wie Diabe- nem Demenzleiden erkrankt. Und
tes oder Bluthochdruck. Daneben weil nun im Zuge des demografigibt es verschiedene Unterformen. schen Wandels mehr Menschen
BZ: Ist es eine gesicherte Erkennt- hochbetagt sein werden, wird sich
nis, dass es einen Zusammenhang auch die Zahl der Demenzkranken
von heute einer Million bis
zum Jahr 2030 verdoppeln.
BZ: Gibt es eine Vorbeugung?
Heuser: Die gibt es. Zum
einen ist die gute Ernährung
angezeigt, die auch sonst
zur Prävention von Krankheiten nützlich ist – also die
Ernährung mit Gemüse,
Fisch, hochwertigem Olivenöl und Obst. Daneben
rate ich dazu, alle zehn Jahre
etwas ganz Neues zu lernen,
um geistige Anregung zu erfahren. Das kann eine
Fremdsprache, ein anspruchsvolles Spiel wie
Schach und Bridge oder ein
Instrument sein. Gut ist
auch Sport, wobei Tanzen
ideal ist. Denn Tanzen fördert die Gemeinschaft mit
anderen. Die Schrittfolge zu lernen, bringt zudem geistige Anregung mit sich.
BZ: Wirkt sich das Erleben von Gemeinschaft auf Demenzerkrankungen aus?
Heuser: Wir wissen, dass Menschen, die an depressiven Stimmungen oder regelrechten Depressionen leiden, eine erhöhte
Neigung zu Demenzerkrankungen
haben. Und Depressionen sind
wiederum häufiger bei Menschen
festzustellen, die oftalleine sind.
Deshalb sind soziale Kontakte und
das Leben in einer Gemeinschaft
aus der Familie und Freunden
überaus wichtig: In diesem Fall
stellen wir weniger Depressionen
und weniger Demenzleiden fest.
Deshalb ist es so bedenklich, dass
viele Menschen wegen der Beanspruchung im Beruf ihr soziales
Umfeld nicht ausreichend weiter
entwickeln und dadurch viel alleine sind.
INFOBOX
PFLEGEHOTLINE
Für Fragen zur Pflege haben
Verbraucherzentralen und BKK
ein bundesweites Auskunftstelefon eingerichtet. Zum Thema
Patientenverfügung: 0180/
3770 -500-1. Vertragsberatung:
-500-2. Alternative Wohnformen: -500-3.
Mo/Mi 10-13 Uhr; Do 14-18 Uhr
Der Anruf kostet 9 Cent pro
Minute.
BZ – SERIE: P FL E G E
3 F O LG E
1 2 .1
Der
funktionierende Sozialstaat nimmt seinen Bürgern jede soziale Last ab. Daran hat man sich in Deutschland
gewöhnt – auch bei der Altenpflege. Dass ein solcher
BZ-SERIE – ZUKUNFT DER PFLEGE (12 UND ENDE):
Staat nicht nur unbezahlbar ist, sondern auch unmenschlich sein kann, spricht sich erst allmählich herum. Ein Gespräch mit einem Sozialstaatskritiker, der
einmal Sozialsenator war.
„Stoppen wir die
Investorenmodelle,
die dicke Rendite
wittern“: Henning
Scherf F O T O : C A R O
„Es muss bunt zugehen!“
B Z - I N T E R V I E W mit Henning Scherf, Bremer Bürgermeister im Unruhestand, über seine WG, ihre Pflegefälle / Von Stefan Hupka
W
ie weiter, wenn es
nicht mehr geht?
Sollten alte Menschen daheim gepflegt werden,
im Kreis der Lieben, oder lieber
von Profis im Heim? Wir fragten
den früheren Bremer Bürgermeister Henning Scherf nach seinen Vorschlägen und WG-Erfahrungen.
BZ: Herr Scherf, man wünscht es
niemandem, aber wenn es dazu
kommt, dass Sie pflegebedürftig
werden, von wem wollen Sie dann
gepflegt werden?
Scherf: Von Verwandten und
Freunden. Wir leben hier seit zehn
Jahren zusammen und haben
schon zwei von uns bis zu ihrem
Tod begleitet. Wir haben das alles
mit eigenen Kräften geschafft. Und
wir haben uns hier fest versprochen, dass wir uns nicht alleine lassen und uns gegenseitig helfen,
wenn es so weit ist.
BZ: Das kann harte körperliche Arbeit sein. Fürchten Sie auch Überforderung?
Scherf: Wenn das der Fall sein
sollte, weil wir selber älter und
schwächer geworden sind, dann
möchten wir zu Hause ambulante
Hilfen in Anspruch nehmen.
ZUKUNFT
DER
PFLEGE
Was im Alter auf uns zukommt
BZ: Wollen Sie die Fälle kurz schildern?
Scherf: Eine unserer Mitbewohnerinnen, Rosemarie, wurde
krebskrank und wollte nicht ins
Krankenhaus. Da haben wir gesagt, gut, das schaffen wir, wenn es
sein muss, rund um die Uhr, einer
nach dem anderen. Nach ihrem
Tod wurde ihr ältester Sohn, der
auch bei uns lebte, todkrank. Auch
er wollte zu Hause sterben. Ihm
haben wir fünf Jahre lang geholfen.
ma. Ich bin sehr dafür, dass man
sich in seiner Nachbarschaft oder,
wenn es geht, sogar unter einem
Dach darauf einstellt, jemanden zu
pflegen. Das kann und sollte man
üben und lernen. Man kann sich
auch an Institutionen wenden, die
BZ: Kosten die täglichen und einem helfen, damit man es selber
nächtlichen Verrichtungen Sie schafft. Früher war häusliche PfleÜberwindung – Hygiene bei In- ge eines Angehörigen die Regel.
kontinenz und so weiter?
Heute ist sie die Ausnahme.
Scherf: Wenn man mal drin ist in
dieser Aufgabe, kostet das keine BZ: Sehen Sie das als BürgerÜberwindung mehr. Alleine wäre pflicht an?
man wohl schnell überfordert. Scherf: So will ich das ungern
Dann käme man auch wohl kaum nennen. Manche können es ja aus
zum Schlafen. Aber mit mehreren, objektiven Gründen gar nicht.
in diesem Fall acht, geht das. Dann Aber ich wünsche mir, dass das gekann man sich das teilen.
lingt. Es ist eine Sache auf Gegenseitigkeit. Ich biete sie meinen
BZ: Diese Wohnform, ein Mehrge- Freunden an und kann so auch selnerationenhaus, wie Sie sagen, ist ber leichter zulassen, zum Pflegealso in Ihren Augen etwas, das fall zu werden. Nicht Pflicht, sonman propagieren kann?
dern gegenseitiges Vertrauen ist
Scherf: Unbedingt! Gerade im Zu- die Basis dafür.
sammenhang mit unserem TheFortsetzung nächste Seite
BZ – SERIE: P FL E G E
BZ: Sie haben darauf hingewiesen,
dass Menschen heute im Idealfall
noch 30 Jahre zur Verfügung haben zwischen dem Eintritt in den
Ruhestand und dem Lebensende.
Da kann man viel unternehmen,
zum Beispiel Kreuzfahrten – oder
einen Angehörigen pflegen. Ist das
nicht doch eine Frage der Verantwortung?
Scherf: Ich jedenfalls möchte gerne mein Leben sinnstiftend verbringen. Ich bin keiner, der nur unterhalten und abgelenkt werden
will. Ich möchte alles wissen und
alles annehmen können, auch
meine schwierigen Lebensabschnitte. Dazu gehört, dass ich
mich vertraut mache mit dem Pflegen, mit der Last, die da auf einen
zukommt. Ich glaube, dieses Bewusstsein muss wieder in unsere
Mitte gerückt werden.
3 F O LG E
12.2
ich es dann nicht mit meiner Familie schaffen kann, weil mein Arbeitsplatz nicht familiennah ist,
muss ich mich eben in der neuen
Nachbarschaft umsehen und es
BZ: Sollten die Profis sich etwa dort organisieren.
überflüssig machen?
Scherf: Überflüssig werden die BZ: Was schlagen Sie da konkret
nie sein. Sie werden die häusliche vor?
Pflege unterstützen und helfen, Scherf: Ich plädiere für Wahlfamiwenn die Amateure nicht mehr lien, dafür, dass wir Nachbarschafweiterkommen. Sie springen ein, ten mobilisieren, dafür, dass wir
wenn es nicht mehr geht, aber sie diese Monokultur – alles konzenersetzen nicht einfach die gegen- triert sich nur auf die Kleinstfamiseitige Mithilfe, sondern sie ma- lie – beenden, dass wir generatiochen sie möglich. So sollten wir nenübergreifende Quartiere in
das sehen.
den Mittelpunkt rücken, in denen
dann auch beruflich mobile Leute
BZ: Sollte man das Geben und einen Rahmen für gegenseitige
Nehmen stärker organisieren, mit Hilfe haben. Wenn sie nicht für die
Zeitkonten, Seniorengenossen- eigenen Eltern und Geschwister
schaften, vertraglichen Gegenleis- da sind, dann eben für Freunde,
tungen und so weiter?
Kollegen und Wohngenossen. Da
Scherf: Ich kann mir da ganz viel ist eine große Entwicklung im
vorstellen. Es gibt auch schon ganz Gange.
viel. Man muss sich das mal vor- BZ: Auch bei den Trägern?
stellen: Es ist der größte Arbeits- Scherf: Bei manchen. Es gibt hier
markt, den wir haben, mit den einen Träger, die Bremer Heimstifmeisten Beschäftigten. Natürlich tung, die ich selber jahrelang geleiwächst er weiter, weil wir alle älter tet habe, der größte Träger in Breund weil immer mehr älter wer- men, die bauen nur noch Quartieden. Auf diesem großen Dienst- re und „Dörfer“, und sie bauen
leistungssektor sollte es viele, vie- keine Alteneinrichtung mehr ohle Alternativen geben. Es muss ne Krippe, ohne Kindergarten, ohbunt zugehen, und es darf nicht ne Angebote für Menschen, die als
immer nur die eine Antwort ge- Berufstätige mit kleinen Kindern
ben: Wir nehmen euch in die Voll- ihren Arbeitsalltag organisieren
pflege, wollen das möglichst allei- müssen. Die haben einen Zune machen und brauchen weder spruch wie niemand sonst, da wolMithilfe noch Arbeitsteilung. Das len die Leute hin. Das ist die Zuwäre eine Sackgasse.
kunft.
ker motivieren, weil es um
Menschlichkeit geht und weil so
viele pflegebedürftige Menschen
sich das wünschen.
BZ: Wie meinen Sie das?
Scherf: Wir haben uns aus vielerlei Gründen darauf eingerichtet,
dass uns das Pflegen abgenommen
und anderswo erledigt wird, dass
es eine Stelle gibt, bei der man diese Last abliefern kann. Das ist kein
guter Weg. Das bedeutet ein Abwehren und Abwerten dieser
wichtigen Lebenserfahrung, den
Versuch, einen Teil des Lebens zu
verdrängen. Ich möchte aber auch
diesen Teil gerne annehmen, gerne mehr darüber wissen, mehr
können und das Wissen und Können weitergeben. Natürlich hoffe
ich, dass ich auch davon profitiere,
wenn ich einmal selbst pflegebedürftig bin.
BZ: Einerseits sollen Erwerbstätige immer mobiler werden, verBZ: Von den Profis der Wohlfahrts- langt die Politik, andererseits solpflege bekommt man oft zu hören: len die Familien bei der Pflege der
Lasst uns mal machen, wir verste- Angehörigen zusammenhalten.
hen mehr davon. Sollten sich die Wie passt das zusammen?
Profis mehr zurückhalten?
Scherf: Stimmt, da gibt es viele
Scherf: Ja, bitte. Ein solches Ver- schmerzliche Prozesse. Damit
halten ist schon fragwürdig. Ich muss man umgehen lernen. Wenn
kenne viele Profis, da ich jahrelang
als Sozialsenator selbst für diesen
Sektor verantwortlich war, auch
viele Einrichtungen aufgebaut haHENNING SCHERF
be. Ich habe selbst eine Pflegeauswurde 1938 in Bremen geboren
bildung gemacht und selbst geund war erst Sozial-, später
pflegt. Ich weiß, wie das ist. Desdann Bildungssenator und bis
halb werbe ich unter den Profis –
2005 Bürgermeister seiner
bei wachsender Zustimmung übriHeimatsstadt. Der Sozialdegens –, dass wir nicht alles profesmokrat hat in Freiburg und Berlin
sionalisieren.
Jura und Soziologie studiert.
Stattdessen sollten wir aus humaEr lebt mit seiner Ehefrau Luise
nen Gründen die Hilfe der Nachin einer achtköpfigen Wohnbarschaft, der Familie und der Angemeinschaft in der Bremer
gehörigen mehr fordern und förInnenstadt.
BZ
dern. Wir sollten denen das nicht
alles abnehmen, sondern sie stär-
ZUR PERSON
BZ: Was halten Sie vom neuen Anlauf zu einer Pflegereform?
Scherf: Ich finde, die sind auf
dem richtigen Weg, ich finde das
alles ein bisschen zu zaghaft, ich
würde gerne weitergehen, aber
ich weiß, dass man in Koalitionen
Rücksicht nehmen und auch den
kleinen Nenner hoch schätzen
muss. Aber sie haben’s kapiert: Es
darf nicht alles immer auf professionelle und Heimunterbringung
hinauslaufen, sondern es muss,
bitte sehr, in wachsendem Maße
Unterstützung für nachbarschaftliche, ambulante Versorgung Gebrechlicher möglich sein.
BZ: Auch, weil es sonst nicht mehr
bezahlbar ist?
Scherf: Auch deshalb, aber vor allem aus Humanität. Ich bin oft unterwegs in Einrichtungen und habe tausende kennen gelernt, die
dort leben. Ich weiß, was sie sich
wünschen. Und weil sie selbst sich
kaum äußern, sage ich es: Die ganz
große Mehrheit möchte in vertrauter Umgebung alt werden und sterben und wünscht sich dringend,
wirklich dringend, dass wir diesen
Wunsch respektieren.
Stoppen sollten wir also die Investorenmodelle, die jetzt überall aus
ökonomischen Gründen, weil sie
dicke Rendite wittern, ein großes
Haus neben das andere an den
Rand der Städte bauen. Die Menschen wünschen sich etwas anderes.
DIE SERIE
3 Mit diesem Interview und
dem Leitartikel von Lord Ralf
Dahrendorf auf Seite 4 endet
unsere zwölfteilige Serie
„Zukunft der Pflege – Was
im Alter auf uns zukommt“.
3 Bisher erschienen:
Die Pflegereform,
am 7. Juli.
Das Geschäft mit der Pflege,
am 10. Juli
Der Medizinische Dienst,
am 11. Juli
Alltag im Pflegeheim,
am 12. Juli
Der Pflegeheim-Check,
am 13. Juli
Ich werde gepflegt, ich
pflege, ich bin Angehöriger,am 14. Juli
Mehrgenerationenwohnen,
am 16. Juli
Der Beruf Altenpfleger(in),
am 17. Juli
Tabu Pflege und Alter,
am 18. Juli
Die illegalen Pflegekräfte,
am 19. Juli
Ambulante Pflege,
am 20. Juli
3 Alle Texte und die komplet-
ten Seiten als pdf-Datei zum
Ausdrucken DIN-A-4-Größe finden Sie unter:
www.badischezeitung.de/pflege
3 Im Herbst wird es im Freibur-
ger BZ-Haus eine Podiumsveranstaltung zum Thema Pflege
geben. Den Termin erfahren Sie
in der BZ.
3 Unsere Leserbriefredak-
tion erreichen Sie unter
[email protected]

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