bz – serie: pflege - Vinzentiushaus Murg
Transcrição
bz – serie: pflege - Vinzentiushaus Murg
BZ – SER I E: PF LEGE 3 F O LG E 1 .1 Es wurde Zeit für die Pflegereform. Denn die Rücklagen der Pflegeversicherung sind fast aufgebraucht, die Leistungen seit zwölf Jahren unverändert. Altersverwirrte MenBZ-SERIE – ZUKUNFT DER PFLEGE (1): schen etwa hatten bisher keinen Anspruch auf Unterstützung. Wenn die jetzt beschlossene Pflegereform im kommenden Jahr umgesetzt wird, soll sich das ändern. Ein Überblick. Gespräche und Anerkennung – auch das gehört zur Pflege. FOTO: DDP Reparaturen am Pflegesystem W Hilfe für Demenzkranke, Pflegestützpunkte, Pflegezeit – was ändert sich durch die Reform? / Von Bernhard Walker ochenlang haben sie beraten. Wochenlang haben Gesundheitsministerin Ulla Schmidt (SPD), Familienministerin Ursula von der Leyen (CDU) und Verbraucherschutzminister Horst Seehofer (CSU) an der Reform der gesetzlichen Pflegeversicherung (PV) gearbeitet. Und seitdem die Spitzenpolitiker der großen Koalition das Konzept des Dreierkreises gebilligt haben, steht fest, wann sich was wie ändert. 3 Die Koalition führt eine Pflegezeit ein. Was ist das? Angehörige von Pflegebedürftigen bekommen für sechs Monate den Anspruch auf unbezahlte Freistellung von ihrem Job, wobei ihnen die Rückkehr auf ihren Arbeitsplatz zugesichert wird. Dies gilt nicht in Firmen, die weniger als zehn Beschäftigte haben. Wer Pflegezeit nimmt, bekommt eine Absicherung in der Rentenversicherung. Erfolgt die Absicherung in der Krankenkasse nicht über ei- nen Angehörigen, zahlt die Pflegekasse dafür den Mindestbeitrag. 3 Was ändert sich bei altersverwirrten Menschen, den so genannten Demenzkranken? Für sie stehen künftig bis zu 2400 Euro im Jahr zur Verfügung. Für diesen Betrag können Angehörige die Pflegeleistungen einkaufen, die für die Versorgung des Kranken nötig sind. Der Betrag kann auch dann abgerufen werden, wenn der Kranke nicht in eine der bestehenden Pflegestufen eingruppiert ist. und ihre Angehörigen erfahren, wie sie an ihrem Wohnort optimale Betreuung organisieren können. Damit die Stützpunkte entstehen, gibt Berlin als Anschubfinanzierung 60 Millionen Euro aus. 3 Was ändert sich für Pflege- 2,2 Prozent gilt. Schon seit Längerem müssen sie einen erhöhte Beiträge abführen. Die große Koalition meint, mit dem angehobenen Satz von 1,95 bzw. 2,2 Prozent die Leistungen der PV bis etwa zum ZUKUNFT bedürftige, die in einer privaten Pflegekasse versichert DER sind? PFLEGE Was Schwarz-Rot für die gesetzliche PV beschlossen hat, muss auch die private PV übernehmen. Das heißt: die Anhebung der PfleWas im Alter auf uns zukommt geleistungen und das Betreuungs3 Die Koalition führt Pflege- budget von bis zu 2400 Euro für stützpunkte ein. Was ist das? Demenzkranke gelten auch im pri- Jahr 2014/2015 bezahlen zu können. Als Ausgleich für das Plus in Im ganzen Land sollen solche vaten System. Stützpunkte entstehen. Sie sind der Pflegeversicherung erhalten Beratungsstellen, die über die ört- 3 Wie sieht die Finanzierung Arbeitnehmer eine Senkung ihres Beitrags zur Arbeitslosenkasse. Er liche Struktur der Versorgung (am- der Pflegeversicherung aus? bulante Dienste, Pflegeheime, Zum 1. Juli 2008 müssen Arbeit- sinkt zu Jahresbeginn 2008 um Teams zur Betreuung von nehmer und Rentner einen höhe- 0,3 Prozentpunkte. Von diesem Schwerstkranken und Sterben- ren Beitrag an die PV zahlen. Der- Ausgleich haben die 20 Millionen den, Tagespflegeeinrichtungen, zeit liegt er bei 1,7 Prozent der Ein- Rentner nichts, da sie ja keine AbFreizeitangebote für Senioren) de- kommen und Renten. Ab Juli 2008 gabe an die Arbeitslosenversichetailliert Auskunft geben sollen. Es steigt er auf 1,95 Prozent, wobei rung zahlen. Fortsetzung nächste Seite geht darum, dass Pflegebedürftige für Kinderlose dann ein Satz von BZ – SER I E: PF LEGE Die Bundesregierung hofft, dass die Renten zum 1. Juli 2008 so deutlich steigen, dass der Zuschlag die Nettobezüge der Älteren nicht schmälert. 3 Bekommt die PV ein zweites finanzielles Standbein? Nein. Zwar hatten sich Union und SPD im Koalitionsvertrag vom November 2005 vorgenommen, eine so genannte Demografiereserve aufzubauen. Dort heißt es: „Um angesichts der de mographischen Entwicklung sicherzustellen, dass die Pflegebedürftigen auch in Zukunft die Pflegeleistungen erhalten, die sie für eine ausreichende und angemessene Pflege zu einem bezahlbaren Preis brauchen, ist die Ergänzung des Umlageverfahrens (also der Finanzierung über den Beitrag, Anm. der Redaktion) durch kapitalgedeckte Elemente als Demographiereserve notwendig“. Allerdings ist es dem Dreierkreis nicht gelungen, dafür ein konkretes Modell zu finden. Bis zur nächsten Bundestagswahl bleibt diese Frage 3 F O LG E 1 .2 also offen. Denn Schwarz-Rot wird voraussichtlich keinen neuen Anlauf dafür nehmen. Das gilt auch für einen Punkt, der ebenfalls im Koalitionsvertrag verabredet worden war. Danach sollte die private Pflegeversicherung der gesetzlichen Versicherung einen Finanzausgleich geben. Weil die CDU/CSU verfassungsrechtliche Schwierigkeiten sah, kam der Ausgleich nicht zu Stande. Pflege in Deutschland Pflegebedürftige Menschen Versorgung zu Hause: 1,45 Millionen 0,98 Gesamt: Mio. 2,13 Mio. davon: Pflege durch Angehörige 0,47 Mio. 3 Was ändert sich bei den finanziellen Leistungen der Pflegeversicherung? Die Sach- und Geldleistungen der PV waren seit 1995 nicht mehr erhöht worden, was auch heißt, dass sie aufgrund der allgemeinen Preissteigerung real an Wert verloren haben. Nun hat Schwarz-Rot beschlossen, die Leistungen ab 2008 in drei Stufen bis zum Jahr 2012 zu erhöhen. 0,68 Mio. Pflegebedürftige in Heimen Pflege durch ambulante Pflegedienste Veränderung der Zahl der Pflegebedürftigen Angaben in Tausend Zuwachs Bestand 161 404 462 401 1952 2113 2575 2979 2005 bis 2010 2010 bis 2020 2020 bis 2030 2030 bis 2040 BZ-Grafik/dre Quelle: Destatis /Bundesministerium für Gesundheit 3 Wie will die Regierung die te des Medizinischen Diensts der schiedenen Einrichtungen mögQualität in der PV stärken? Krankenkassen (MDK) künftig ver- lich werden. An der Heimaufsicht Der Beschluss von Union und öffentlicht werden. Damit soll ein durch die Bundesländer ändert die SPD sieht vor, dass die Prüfberich- Vergleich über die Güte der ver- Regierung nichts. „Die Jüngeren müssen dafür geradestehen“ BZ-INTERVIEW: Heinz Lanfermann (FDP) sieht das Gebot der Gerechtigkeit zwischen den Generationen verletzt Die jüngst beschlossene Pflegereform ist eine Umverteilung zu Lasten der Jungen – meint der pflegepolitische Sprecher der FDP, Heinz Lanfermann. Bernhard Walker sprach mit ihm. BZ: Die Pflegereform der großen Koalition lässt bei der Finanzierung der Pflegeversicherung alles beim Alten. Was bedeutet das für die junge Generation? Lanfermann: Es bedeutet, dass die Koalition das Gebot der Gerechtigkeit zwischen den Generationen verletzt. Denn die heutige Finanzierung allein über den Pflegebeitrag ist unsolide. Wer sie beibehält, verschiebt finanzielle Lasten in die Zukunft. Und dafür müssen die Jüngeren später mit enorm hohen Beiträgen geradestehen. Denn aufgrund des demografischen Wandels werden künftig mehr Ältere Leistungen der Versicherungen benötigen. BZ: Löst die Betrachtung nach Altersgruppen nicht einen Konflikt der Generationen aus? Lanfermann: Überhaupt nicht. Ich rede viel mit älteren Menschen. Und die sind allesamt nicht damit einverstanden, dass Lasten auf ihre Kinder und Enkel übertragen werden. Die wissen, dass die heutige Finanzierung der Versicherung im Prinzip die gleiche unfaire Folge hat wie die Staatsverschuldung. BZ: Was schlagen Sie als neues Finanzmodell vor? Lanfermann: Die FDP möchte die Finanzierung langfristig ganz auf ein kapitalgedecktes individuelles System umstellen. Das heißt: Jeder spart selbst für den Fall an, dass er später pflegebedürftig wird und Hilfe braucht. BZ: Das können die heute Älteren nicht mehr tun. Lanfermann: Richtig. Deshalb erhält diese Altersgruppe weiter die Leistungen der Versicherung, die es heute gibt, und zahlt dafür eine Prämie, deren Höhe nach individueller Leistungsfähigkeit begrenzt wird. Es wird also niemand finanziell überfordert. Bei den Jüngeren allerdings müssen wir so umstellen, wie ich es beschrieben Heinz Lanfermann FOTO: DDP habe. Sie sollen im Zuge des individuellen Sparens von Zins und Zinseszins profitieren. BZ: Gleichwohl würde es für die Jungen teurer. Sie müssten die Leistungen der heute Älteren bezahlen und nebenher ihre Finanzrücklage aufbauen. Lanfermann: Richtig teuer wird es nur, wenn wir nichts tun und im heutigen Verfahren bleiben. Denn dann steigt der Pflegebeitrag, der direkt an den Arbeitskosten hängt, enorm stark an. Dass die Jüngeren in meinem Vorschlag eine Zeit lang eine Doppelbelastung haben, bestreite ich nicht. Sie fiele aber geringer aus, als es beim Fortschreiben der heutigen Finanzierungsweise der Fall wäre. Das liegt am Zinseffekt, den ich erwähnte. Umso wichtiger ist, früh mit der Umstellung zu beginnen, damit er sich stark auswirkt. BZ: Für eine Umstellung fehlt die Mehrheit im Bundestag. Lanfermann: Das ist bei der heutigen schwarz-roten Koalition der Fall. Ich weise aber darauf hin, dass die Junge Union ein Modell vorschlägt, das unserem Finanzvorschlag sehr ähnlich ist. BZ: Käme es nach der nächsten Wahl zu einer Koalition aus Union und FDP, wäre also die Mehrheit für eine Umstellung vorhanden? Lanfermann: Ja, das hoffe ich jedenfalls. Denn die CDU/CSU hat sich deutlich auf die Position zubewegt, die die FDP in der Finanzfrage einnimmt. BZ – SER I E: PF LEGE 3 F O LG E 2 .1 Dank des medizinischen Fortschritts werden wir älter. Und mit dieser alternden Gesellschaft und der steigenden Zahl von Singlehaushalten wird sich viel Geld verdienen BZ-SERIE – ZUKUNFT DER PFLEGE (2): lassen. Die Nachfrage nach immer ausgefeilteren Hilfsmitteln für Senioren wird zunehmen. Pflegedienste und Heime investieren in die Zukunft. Hier werden einmal viele Menschen einen Job finden. Die diskreten Helfer fürs Alter Eine kleine Auswahl der gängigsten Hilfsmittel auf dem Pflegemarkt / Von Constance Frey und Ulrike Derndinger Mit rollender Krücke mobil bleiben Der Rollator auf drei oder vier Rädern verschafft Gehbehinderten mehr Mobilität. Die Idee zur Gehstütze auf Rädern kommt aus Schweden und ist noch gar nicht so alt. Erst im Frühjahr 1990 wurden die ersten Rollatoren in Deutschland verkauft. Die Händler waren skeptisch: „Damit fährt doch keiner durch die Gegend.“ Irrtum. Heute finanzieren die Krankenkassen bereits 500 000 Rollatoren pro Jahr. Die rollenden Krücken kosten von 50 Euro für schlichte Versionen bis 500 Euro für Luxusmodelle. Schlimme Füße weich betten In Deutschland gibt es derzeit rund fünf Millionen Diabetiker. Schätzungen zufolge entwickeln 15 Prozent der Betroffenen ein diabetisches Fußsyndrom, also vor allem schlecht heilende Wunden oder Fußgeschwüre. Diabetikerschuhe beugen durch eine nahtlose Innenverkleidung und einem Schuhbau, der den Druck möglichst gleichmäßig verteilt, solchen Verletzungen vor. Je nach Fertigung können sie bis zu 1300 Euro kosten. ZUKUNFT DER PFLEGE Was im Alter auf uns zukommt Wenn die Blase nicht mehr gehorcht Der Selbsthilfeverband Inkontinenz schätzt, dass in Deutschland fünf bis acht Millionen Menschen Blasenschwäche haben. Nach den verkauften Hilfsmitteln zu urteilen, könnten es sogar zehn Millionen sein. Frauen und ältere Menschen sind häufiger betroffen. Bis zum Jahr 2050 soll fast jeder Dritte an Inkontinenz leiden. Einlagen oder Windeln gibt es in vielen verschiedenen Ausführungen. Je nach Modell kosten sie 20 Cent bis ein Euro pro Stück. BZ – SER I E: PF LEGE 3 F O LG E 2 .2 Ein Strumpf gegen Beschwerden Spielend über das Bein gestülpt Fast ein Drittel der Bevölkerung hat Beschwerden in den Beinen, rund 20 Prozent tragen Kompressionsstrümpfe. Mittlerweile sind die Strümpfe so verarbeitet, dass man den Unterschied zu einem normalen Strumpf nicht erkennen kann. Je nach Art des Leidens brauchen die Patienten Kompressionsstrümpfe, die in Serie oder maßgefertigt wurden. Diese können bis zu 400 Euro kosten. Für diese Strümpfe wie für die meisten der abgebildeten Hilfsmittel gilt: Haben die Patienten ein Rezept dafür, zahlt die Krankenkasse mindestens einen Teil der Kosten. Wie viel das ist und wann die Bedürftigen Anrecht auf ein zweites Hilfsmittel dieser Art haben, ist je nach Krankenkasse unterschiedlich. Fällt das Bücken schwer und haben die Finger wenig Kraft, ist die Anziehhilfe für Kompressionsstrümpfe sinnvoll. Sie funktioniert nach einem einfachen Prinzip: Der Strumpf wird auf links gedreht auf das Gestell gestülpt (auf die kürzeren Stangen, die im Bild ein „V“ ergeben). Dann legt man das Bein hoch auf einen Stuhl, greift die beiden langen Griffe der Anziehhilfe, schlüpft mit dem Fuß in die entstandene Strumpföffnung und zieht das Gestell mitsamt dem Strumpf über die Ferse. So streift sich der Kompressionsstrumpf rückwärts auf das Bein. Das Metallgestell kostet etwa 50 Euro. Für solche Hilfsmittel des Alltags kommt die Krankenkasse meist nicht auf. Das Geschäft mit der Pflege Weil die Gesellschaft altert und weniger Angehörige zum Pflegen da sind, wächst der Umsatz der Branche Vo n u n s e r e r R e d a k t e u r i n Constance Fr ey Wenn Ardis Gröbner zu ihren Kunden nach Hause fährt, hat sie ordentlich was im Gepäck. Stomabeutel für diejenigen, die einen künstlichen Darmausgang haben, Wundverbände, Inkontinenzwindeln, Analtampons und eine Kamera, um den Krankheitsverlauf zu dokumentieren müssen mit, wenn die Leiterin der Abteilung Homecare vom Freiburger Sanitätshaus Schaub auf Tour geht. Vor Ort berät sie, besorgt bei Bedarf eine neue Matratze, Spezialschuhe oder anderes Zubehör. Immer mehr Menschen werden solche Hilfsmittel benötigen, denn auf eine alternde Gesellschaft kommt auch mehr Pflege zu. Hilfsmittel machten 2005 knapp vier Prozent der Ausgaben der gesetzlichen Krankenversicherungen aus – das sind rund 5,5 Milliarden Euro. Derzeit wird ein Großteil der Gehhilfen, Pflegebetten, Schuheinlagen und anderer Artikel von den Krankenkassen bezahlt. Für Hilfsmittel des Alltags wie gebogene Löffel und Greifhilfen müssen die Menschen meist schon selbst zahlen. Dieser Trend zur Selbstbeteiligung wird sich verstärken, glauben die Anbieter. Längst hat sich die Pflegebranche zu einem hochprofessionellen Dienstleistungssektor entwickelt. Die Rechnung ist einfach: Bis 2050 wird es in Deutschland bis zu zehn Millionen Menschen geben, die über 80 Jahre alt sind. Unter ihnen wird es schätzungsweise vier Millionen Pflegefälle geben – das sind doppelt so viele wie heu- te. Das geht aus einer Studie hervor, die der Professor Reinhold Schnabel von der Uni Duisburg-Essen über die Zukunft der Pflege erarbeitet hat. Die ersten Auswirkungen lassen sich schon heute beobachten. Allein zwischen 2001 und 2005 ist die Zahl der privaten Pflegeheime um ein Fünftel gestiegen. Derzeit gibt es im Pflegesektor rund 545 000 Vollzeitstellen. Bis 2050, hat Reinhold Schnabel errechnet, könnten es 1,35 bis 1,8 Millionen Stellen sein. „Die professionelle Pflege wird überproportional zunehmen“, sagt er. Jeder vierte Deutsche wird im Bereich Gesundheit oder Pflege arbeiten. Der Trend wird auch dadurch verstärkt, dass weniger Angehörige da sein werden, die sich um Pflegebedürftige kümmern können. Damit explodieren die Ausgaben – und für manche die Einnahmen. 2005 hat die Pflegebranche 26,7 Milliarden Euro umgesetzt. Bis 2050 könnte der Markt 72 Milliarden Euro Umsatz machen. Nach Berechnungen des Bundesverbandes privater Anbieter sozialer Dienste wird die Zahl der Pflegeeinrichtungen von derzeit 21 400 auf rund 28 400 im Jahr 2020 steigen, sofern die Nachfrage gleich bleibt. Vor allem die Zahl privater Heime und der Pflegedienste soll dann zulegen. Schon heute wird befürchtet, dass Fachkräfte fehlen werden. Zwar entlassen viele Kliniken noch Personal, das dann in der Pflegebranche arbeiten könnte. Aber der Bedarf an Pflegern wird höher sein, sodass die Nachfragen nach illegalen Kräften aus Osteuropa steigen könnte. BZ – SERIE: P FL E G E 3 F O LG E 3 .1 Das Geld der Pflegeversicherung will verteilt sein. Übernommen hat diese Aufgabe der Medizinische Dienst der Krankenkassen. Er teilt die Pflegebedürftigen in drei ver- BZ-SERIE – ZUKUNFT DER PFLEGE (3): schiedene Pflegegruppen ein. Bei diesem Urteil werden nicht nur viele Nöte der Älteren ignoriert, klagen Kritiker. Manche halten sogar das ganze Verfahren für höchst ungerecht. Hilfe nach Strichliste – nicht immer geht es bei der Einteilung in Pflegestufen gerecht zu. FOTO: UTE GRABOWSKY Wasser lassen – drei Minuten D Wer wie viel Geld aus der Pflegeversicherung bekommt, entscheidet der Medizinische Dienst / Von Michael Brendler ass Hilfe nötig ist, wird dem Besucher schon klar, bevor er die Wohnung betritt. Drei große Pappkartons mit Windeln versperren den Weg zur Eingangstür. Die Minuten nach dem Klingeln vergehen, dann erscheint die Besitzerin der Kisten. Auf ihrem Toilettenstuhl kommt Anke Heiner (Name von der Redaktion geändert) zur Türklinke gerollt. Mit dem Laufen will es nach einer Infektion des künstlichen Hüftgelenks nicht mehr recht klappen. „Gerne“ lässt sie sich die Kartons in die Wohnung räumen, „hinten in die Ecke“, wo sich schon andere Pakete mit Waschlappen, Einlagen und Windeln stapeln. Stefan Heiner, den 77-jährigen Ehemann, lernt man wenig später in der unaufgeräumten Küche der Wohnung kennen, wo er mit einem Handtuch kämpft. Verzweifelt versucht er aus dem Rollstuhl heraus mit zittrigen Fingern das Tuch vom Küchenboden zu angeln, wo auch schon der Greifarm liegt, der ihm eigentlich in solchen Fällen helfen soll. Heiner hat Parkinson, ist leicht verwirrt, stürzt oft, die genuschelte Sprache ist kaum zu verstehen. Noch dreimal ZUKUNFT DER PFLEGE Was im Alter auf uns zukommt wird in den nächsten Minuten das Handtuch auf dem Boden liegen. Kein Zweifel, die beiden brauchen Hilfe. Aber die ist nicht leicht zu bekommen. Dabei hat der Gesetzgeber 1995 eigentlich klare Regeln gesetzt: Kranke oder Behinderte, die „für die gewöhnlichen und regelmäßig wiederkeh- renden Verrichtungen des täglichen Lebens auf Dauer oder mindestens sechs Monate in erheblichem (. . .) Maße der Hilfe bedürfen“, gelten als „pflegebedürftig“. Damit sie diese bekommen, bezahlt die Pflegeversicherung ihnen so genannte Pflegesachleistungen, mit denen sie einen Pflegedienst in Anspruch nehmen können. Weil nicht jeder gleich hilfsbedürftig ist, hat der Gesetzgeber die Betroffenen in drei Klassen unterteilt. Wer mehr als 45 Minuten Betreuung braucht, darf sich zur Pflegestufe eins zählen, mit über 120 Minuten zur Stufe zwei und mit über 240 Minuten fängt die Pflegestufe drei an. Die Aufgabe, die Patienten den Gruppen zuzuteilen, wurde dem Medizinischen Dienst der Krankenkassen (MDK) anvertraut – einer Art Kontrollbehörde der Kassen. Ein verantwortungsvoller Posten: Fortsetzung nächste Seite Geld für die Pflege Pflegebedürftige Menschen in Deutschland 1999: 2005: 2,02 Mio 1200 800 2,13 Mio davon in Tausend: 926,5 1068,9 Stufe 1 Stufe 2 784,8 400 768,1 Stufe 3 285,3 0 1999 280,7 2001 2003 2005 Leistungen der Pflegekassen im ambulanten Bereich Leistung für kommerzielle Pflege Pflegegeld für Angehörige bisher 2012 bisher 2012 Stufe 1 384 450 205 235 Stufe 2 921 1100 410 440 Stufe 3 1431 1550 665 700 BZ-Grafik/zel Quelle: Destatis, BM für gesundheit BZ – SERIE: P FL E G E 3 F O LG E 3.2 Der Unterschied zwischen zwei 1000 Euro hinzu. überhaupt weiß, dass Morgen sei, Gruppen macht pro Monat rund Auch professionelle Beteiligte dass er sich anziehen möchte und 500 Euro aus. wie Michael Szymczak hadern mit dass er Herr Müller heißt, interesRund eine Stunde dauere so ein dem System. Gesehen werde der siert nicht weiter.“ Besuch eines der 240 Ärzte und Mensch nicht als Ganzes. Sondern „Wir müssen in der Begutach103 Pflegekräfte des Medizini- nur in seiner Rolle als Pflegefall – tung oft die Prügel für etwas einschen Dienstes Baden-Württem- und das vor allem nach den Kriteri- stecken, was politisch verantworberg, erzählt Michael Szymczak tet wurde“, sagt MDK-Fachgevon der Sozialstation Bötzinbietsleiter Uwe Brucker. Denn gen. Eine Stunde, in der die bis zur anstehenden Reform persönlichen Daten des Patiist die Ignoranz gegenüber Deenten aufgenommen werden, menz oder Altersverwirrtheit kurz die Krankengeschichte vom Gesetzgeber vorgeschrieüberflogen wird und wenn alben. les so läuft, wie es laufen soll, Aber es gibt noch andere sich der MDK-Gesandte auch Kritikpunkte: Viele wünschen einen persönlichen Eindruck sich mehr Gründlichkeit bei von der Hilfsbedürftigkeit des der Einstufung oder gleich ein Kranken oder Behinderten geanderes System. „Gerade alte macht hat. Menschen neigen dazu, sich Bei den Heiners in Freiburg eher von ihrer besten als ihrer zumindest war dieser Einhilflosesten Seite zu zeigen“, druck wahrscheinlich zu sagt die Pflegerin Anette flüchtig, sicher aber falsch. Baumgartner von der EvangeRichtig getestet, was ihr Mann lischen Sozialstation Freiburg. könne, habe der fremde Arzt Oft wird die Situation hilfsbedürfti- Ein einziger Besuch reiche FOTO: GMS nie, erzählt Anke Heiner, die ger falsch eingeschätzt deshalb zur Beurteilung der selber in die Pflegestufe eins Situation nicht aus. Eine wiseingruppiert wurde. Dreimal hätte en „satt und sauber“, klagt er. Bei senschaftliche Arbeit im Auftrag sie gegen die Entscheidung Wider- der Beurteilung zähle allein, dass der Bundesregierung zweifelt sospruch eingelegt. Schließlich wur- ein Herr Müller körperlich in der gar die Aussagekraft des ganzen de dem Gatten doch die Stufe zwei Lage sei, sich anzuziehen – Abrechnungssystems an. Wenn zugeteilt. Und trotzdem zahlt er schimpft ein anderer, der unge- nur die Zeit gemessen werde, so aus eigener Tasche monatlich nannt bleiben möchte. „Ob dieser das Ergebnis, in der einer Person geholfen wird, sei das nicht geeignet, Bedürftigkeit zu berechnen. „Einmal Wasser lassen – drei Minuten“ liest Szymczak von dem Einteilungsbogen des MDK vor. „Wenn Sie den Patienten gründlich untersuchen, müssen Sie aber noch das An- und Entkleiden, den gemeinsamen Gang die Treppe hoch, eventuell sogar das zusätzliche Abputzen mit dem Lappen mit einberechnen. Dann sind Sie schnell auf 25 Minuten und haben mit drei täglichen Toilettengängen schon die Pflegestufe eins erreicht.“ Wenn. Denn nicht alle Gutachter machen sich diese Mühe. „Manchmal wird inzwischen sogar nur noch nach Aktenlage geurteilt und ein Hausbesuch findet gar nicht mehr statt“, erzählt Konstanze Kötter von der Katholischen Sozialstation Freiburg Ost. Laut eigenen Angaben gilt das beim MDK Baden-Württemberg sogar für 37 Prozent der Fälle – gesetzlich vorgesehen ist es nur „ausnahmsweise“. Mit der Widerspruchsquote von 10,7 Prozent liegt man ebenfalls über dem Bundesdurchschnitt von 6,7 Prozent. Und jeder Dritte bekommt die beantragte Hilfe nie. „Ich empfehle ein Pflegetagebuch“ BZ-INTERVIEW: Sozialpädagoge Michael Szymczak über den Umgang mit dem MDK Der Antrag bei der Pflegekasse und der MDK-Besuch gehören gut vorbereitet, rät Michael Szymczak, der Geschäftsführer der Sozialstation Bötzingen. Michael Brendler fragte nach, wie. BZ: Herr Szymczak, wie gehe ich am besten vor, wenn der Besuch der MDK-Kontrolleure bei meinen Eltern ansteht? Szymczak: Zunächst einmal würde ich Ihnen raten, sich vorher gründlich beraten zu lassen. Wenn Ihre Eltern schon von einem Pflegedienst betreut werden, können die Ihnen in der Regel helfen. Sonst würde ich mich an eine Beratungsstelle für alte Menschen des Landkreises oder das städtische Seniorenbüro wenden. BZ: Und anschließend? Szymczak: Empfehle ich, ein Pflegetagebuch anzulegen, in dem Sie drei Wochen vor dem Termin alle Hilfeleistungen notieren, die Sie für Ihre Eltern erbringen. Vorlagen gibt es zum Beispiel bei den Krankenkassen. Damit verhindern Sie, dass in dem Gespräch mit den Gutachtern, wo ja jede Minute erbrachte Hilfeleistung zählt, Dinge unter den Tisch fallen, die Sie sonst als zu selbstverständlich betrachtet hätten, um sie zu erwähnen – das Beziehen des Bettes etwa oder das Einkaufen. Gleichzeitig wird Ihnen Ihr Aufwand bewusst und Sie können verhindern, dass eine besonders gute Tagesform Ihrer Eltern beim Besuch als Durchschnitt gewertet wird. BZ: Sollte man denn als Angehöriger beim MDK-Besuch dabei sein? Szymczak: Auf jeden Fall. Dies gilt für jeden Pflegenden – auch den Pflegedienst. Vorher sollten Sie sich aber unbedingt noch einmal mit Ihren Angehörigen über das bevorstehende Ereignis unterhalten. Auch Ihren Eltern sollte Michael Szymczak Vater in die Hände von Fremden abgeschoben sah. BZ: Sollte ich noch jemanden zu Rate ziehen? Szymczak: Ich empfehle noch, sich von den Ärzten über alles, was in Hinblick auf die Pflegebedürftigkeitwichti – Krankheiten beispielsweise, mangelnde Mobilität, Verwirrtheit – ein Attest ausstellen zu lassen. BZ: Und wenn der MDK nicht mitspielt? Szymczak: Da man nur ein kurzes Informationsschreiben über das Ergebnis bekommt, ist es ratsam, in jedem Fall das vollständige Gutachten anzufordern. Das steht Ihnen zu. Und ganz wichtig: Einen Widerspruch gegen die Beurteilung müssen Sie spätestens vier Wochen nach der ersten Benachrichtigung abschicken. klar sein, was der Besuch zu bedeuten hat. Ich habe schon manchen MDK-Besuch in Tränen enden sehen, weil zum Beispiel die Mutter in Gegenwart der überlaswww.sozialstation-boetzinteten Tochter beteuerte, dass sie alles selber könne. Oder sich der gen.de BZ – SER I E: PF LEGE 3 F O LG E 4 .1 Im Alter ins Heim? Für viele ein Graus. Alters- und Pflegeheime haben oft einen schlechten Ruf – immer wieder kamen Skandale an die Öffentlichkeit. Doch es gibt Einrich- BZ-SERIE – ZUKUNFT DER PFLEGE (4): tungen, in denen die Menschenwürde geachtet wird. Die Heime müssen dem erhöhten Altersdurchschnitt gerecht werden. Und sie brauchen Menschen von draußen, die sich engagieren. Schwester Marlene beim Spaziergang mit zwei Damen im Elisabethenheim FOTO: MICHAEL BAMBERGER Halb Heim, halb Hospiz Trotz erhöhtem Kostendruck gehen viele Heime dennoch respektvoll mit ihren Bewohnern um / Von Ulrike Schnellbach Z wei Schmetterlinge tanzen vor dem Fenster fröhlich über den Geranienkästen. Aus dem Garten dringt leises Vogelgezwitscher herein. Frau K. scheint nichts davon wahrzunehmen. Sie liegt in ihrem Bett in der Ecke des halbdunklen Raumes. Parkinson und Demenz, erklärt Schwester Marlene. Sie beugt sich über die alte Frau, „ich habe jemanden mitgebracht, Frau K.“ Die Frau schaut mit leeren Augen, sie spricht nicht. Behutsam wäscht Schwester Marlene ihr Po und Rücken, „oh – oh – oh“ kommt es angstvoll aus Frau K.s Mund. Die Schwester spricht beruhigend auf sie ein, „ja, ich weiß, ganz vorsichtig, ich halte Sie fest, Frau K.“. Sie cremt Rücken und Beine ein, setzt Frau K. auf den Toilettenstuhl, schiebt sie ins Bad vor den Spiegel. Zähneputzen, Kämmen, Gesicht waschen, alleine kann Frau K. gar nichts mehr. Dann den Toiletteneimer säubern, das Bett machen, Frau K. anziehen, in den Rollstuhl setzen, und immer gut zureden – eine gute halbe Stunde dauert das alles zusammen. „Die Zeit brauche ich, und die Zeit habe ich auch“, sagt Schwester Marlene bestimmt. Es ist später Vormittag ZUKUNFT DER PFLEGE Was im Alter auf uns zukommt im Müllheimer Elisabethenheim, die ruhige Phase der Frühschicht. Schwester Marlene ist seit viertel nach sechs im Einsatz, bis acht Uhr hat sie sieben Bewohnerinnen beim Waschen und Anziehen geholfen, einer Bettlägerigen Medizin und Sondenkost verabreicht. Sie hat die Tabletts fürs Frühstück gerichtet, „alles wunschgemäß“, wie sie sagt. Die 14 Bewohnerinnen und ein Bewohner auf Station Birke, die Schwester Marlene leitet, frühstücken fast alle im Speiseraum. Danach ist „Toilettentraining“ angesagt, erst dann haben die Pflegerinnen selbst eine Frühstückspause. Anschließend hat Schwester Marlene noch zwei Bewohnerinnen geduscht und eben Frau K. versorgt. Eine Menge Arbeit, aber Hektik lässt die 57-jährige Pflegerin nicht aufkommen. „Wir schauen, dass die Bewohner gut versorgt sind, ob eine Leistung nun bei der Pflegestufe vorgesehen ist oder nicht.“ Es ist zum Beispiel nicht vorgesehen, dass Menschen im Rollstuhl in den Garten geschoben werden, damit sie in der Sonne sitzen können. Im Elisabethenheim geschieht das trotzdem. „Ich mache hier nicht nur meinen Job“, sagt Schwester Marlene mit einem herausfordernden Blick durch ihre randlose Brille. „Ich bin gerne hier.“ Das ist ganz im Sinne von Thomas Bader und Holger Karg. Seit zweieinhalb Jahren leiten sie das evangelische Elisabethenheim mit 127 Pflegeplätzen und etwa 70 Pflegerinnen und Pflegern, die sich 45 Vollzeitstellen teilen. „Unser Fokus liegt auf den Bewohnern“, sagt Bader, und dass die Bewohner eben die Pflege bekommen, die sie brauchen. „Wir haben einen diakonischen Auftrag.“ Das Problem dabei: Betreuungsleistungen wie Ansprache oder Handhalten werden von der Pflegeversicherung nicht bezahlt. In vielen Heimen ist deshalb dafür kaum Zeit, die Pflegerinnen hasten über die Gänge und schaffen gerade das Notwendigste. „Satt-und-sauberPflege“ heißt das im Fachjargon, und auch Bader und Karg kennen das: „In Urlaubszeiten schaffen wir kaum mehr.“ Fortsetzung nächste Seite BZ – SER I E: PF LEGE Aber anders als private Einrichtungen ist das Elisabethenheim nicht auf Gewinn ausgerichtet. Alles, was eingenommen wird, wird für die Pflege und die Instandhaltung des Hauses ausgegeben. „Unser Ziel ist eine schwarze Null“, sagt Bader. Gute Organisation der Arbeitsabläufe ist ein Rezept, daran arbeiten die Vorstände kontinuierlich. Außerdem hilft das ehrenamtliche Engagement Außenstehender. In erster Linie sind es aber die Pflegerinnen, die die Qualität im Elisabethenheim sichern. Dass die Bewohner am Singkreis teilnehmen können, Gedächtnistraining machen und zum Gottesdienst gebracht werden – all das ist nur mit mehr Einsatz des Personals zu gewährleisten. Schwester Marlene sagt es so: „Ich schaue jeden Tag, dass ich mit ruhigem Gewissen hier rausgehe.“ Dafür bleibt sie auch mal länger. Es kommt sogar vor, dass sie an ihrem freien Sonntag auf Station Birke 3 F O LG E 4 .2 mit den Bewohnerinnen Apfelkuchen backt. Die Vorstände legen Wert darauf, auch das Personal zu „pfle- ist dennoch, wie überall in der Altenpflege, überdurchschnittlich hoch. Denn dass die Arbeit körperlich wie psychisch sehr belastend Um Sterbende würdig zu begleiten braucht man Zeit gen“: Supervision und Fortbildung sind Pflicht. Die Personalfluktuation – ein Riesenproblem in vielen Pflegeheimen – ist im Elisabethenheim minimal. Der Krankenstand FOTO: DPA ist, daran ist nicht zu deuteln. Und sie wird immer schwieriger. Die Menschen kommen heute später ins Heim, so dass sie dann oft schwer beeinträchtigt sind. Viele leiden an Demenz, eine besondere Anforderung an die Pflege – auch das wird von der Pflegeversicherung bisher nicht abgegolten. Und immer mehr Alte werden direkt aus der Klinik ins Heim gebracht – manchmal viel zu früh – und sterben nach kurzer Zeit. „Das Heim wird zum Hospiz“, meint Holger Karg. Würdiges Sterben ist deshalb ein wichtiges Thema. Schwester Marlene erzählt, dass sie bei Sterbenden am Bett sitzt und ihre Hand hält, auch dafür muss die Zeit sein. In ihren Unterlagen bewahrt sie einen Brief von Angehörigen auf, die sich dafür bedanken, wie liebevoll eine Bewohnerin bis zum Schluss begleitet worden sei. „Da freut man sich dann.“ Sie hat viel erzählt heute. Darüber ist die Dokumentation liegen geblieben – alle Leistungen müssen minutiös in Listen eintragen werden. Schwester Marlene wird nach Dienstschluss wieder etwas länger bleiben. „Viele werden unnötig ruhig gestellt“ BZ-INTERVIEW mit Thomas Klie über den Respekt vor der Menschenwürde in Heimen und über neue Konzepte Es gibt viele gute Pflegeheime in Deutschland – und leider auch schlechte. Nach einigen Skandalen fragen sich viele: Wie steht es um die Menschenwürde im Heim? Michael Neubauer fragte den Pflegeexperten Thomas Klie von der Evangelischen Fachhochschule in Freiburg. BZ: Oft werden Mängel in Heimen beklagt. Was läuft am meisten schief? Klie: Der Fisch stinkt vom Kopf her. Das Management stimmt häufig nicht. Zudem konzentrieren wir uns zu sehr auf die Pflege. In einem Seniorenheim geht es auch um einen gelingenden Alltag und nicht nur darum, dass Menschen satt und sauber gepflegt werden. Heime haben Verantwortung dafür, dass Menschen sich wohl fühlen, dass sie auch etwas wie Wellness erleben, ihre Würde spürbar geachtet wird. So etwas ist oft nicht möglich, weil viele Heime wie Krankenhäuser stark hierarchisch geführt werden. Zudem lassen wir die Heime mit ihren Bewohnern alleine und zeigen den Senioren nicht, dass sie für uns Bedeutung haben. Das ist es doch, was uns am Leben hält. BZ: Wie zeigt man das? Klie: Indem man sich auch um das Innenleben der Heime kümmert: Bewohner besuchen, kulturelle Angebote mitgestalten, im Heimbeirat mitwirken oder die Cafeteria mit unterhalten, in der Hospizgruppe helfen. Wo sich Leute engagieren, können sich Menschen beheimaten. Oft weisen leider noch Heimleitungen und Pflegekräfte solch bürgerschaftliches Engagement zurück und sagen: Wir wollen das nicht, das stört. BZ: Missbrauch von Psychopharmaka, Fixierung, Unterernährung in Heimen – sind das nur Einzelfälle? Klie: Nein, solche freiheitsentziehenden Maßnahmen gehören leider zum Alltag von Heimen. Fünf bis zehn Prozent aller Heimbewohner werden mit Gurten festgebunden, 20 bis 30 Prozent mit anderen Mitteln am Aufstehen gehindert. 40 bis 50 Prozent erhalten Psychopharmaka, die sie ruhig stellen. Zwei Drittel davon sind überflüssig oder rechtlich gar nicht legitimierbar. Das alles gehört zu den schwersten Eingriffen in die Thomas Klie FOTO: BAMBERGER Menschenrechte. Dabei sind diese Maßnahmen meist überflüssig. Man könnte darauf verzichten, wenn man Mitarbeiter schult, Freiwillige einbezieht oder Hüftschutzhosen, veränderte Betten oder Sensormatten nutzt. BZ: Der Altersdurchschnitt wächst in Heimen. Was hat das für Folgen? Klie: Die durchschnittliche Verweildauer hat sich stark reduziert. Sie liegt schon unter einem halben Jahr. Manche mit Demenz leben länger im Heim, manche nach einem Krankenhausaufenthalt nur kürzer. Auch das ist eine psychische Belastung für die Mitarbeiter, die immer wieder einen neuen Anlauf nehmen müssen, eine Beziehung herzustellen. Gleichzeitig sind die Heimkonzepte immer noch stark ausgerichtet auf Ältere, die dort länger leben. Das führt oft zur Frustration. BZ: Wie sieht das Heim der Zukunft aus? Klie: Wir brauchen anders gedachte Versorgungsformen für pflegebedürftige Menschen. Sie müssen die Angehörigen zwar entlasten, aber sie nicht von ihrer Verantwortungsbereitschaft lösen. Wir müssen die Abgeschlossenheit der Heime aufbrechen. Warum soll nicht eine Tochter ihre Mutter oder ein Partner seine Partnerin im Heim zum Teil selbst versorgen, die Wäsche machen, das Essen bringen? Wir brauchen eine Mischung aus professionellen Pflegern, Familienangehörigen und Freiwilligen. Leider passt so etwas nicht in eine klassische betriebswirtschaftliche Logik von Heimbetrieben. BZ – SERIE: P FL E G E 3 F O LG E 5 .1 Gute Heime, schlechte Heime: Das Thema Altersheim wird in Familien meist erst dann angegangen, wenn ein Schicksalsschlag die Angehörigen dazu zwingt. Eine passende BZ-SERIE – ZUKUNFT DER PFLEGE (5): Einrichtung für den Betroffenen zu finden, ist nicht immer einfach. Ein Gang zu Beratungsstellen lohnt sich. Und Checklisten verraten, worauf die Suchenden bei einem Heim achten sollten. Ein Pflegeheim finden, in dem man sich gut aufgehoben fühlt – keine leicht Aufgabe. FOTO: PHOTOTHEK Gutes Heim gesucht Bei der Unterbringung soll es schnell gehen – dabei braucht man Zeit, die richtige Einrichtung zu finden / Von Reiner Fritz D ie Gruppe ist klein, die sich an diesem Nachmittag zu einem Rundgang im Augustinum in Freiburg einfindet. Lediglich zwei Seniorinnen wollen wissen, was die luxuriöse Seniorenresidenz unterhalb des Schönbergs bietet. Langsam geht es durch die langen und breiten Gänge, während die Mitarbeiterin des Wohnstifts, Edeltraud Köbelin, Fragen beantwortet. Eine Plauderei mit Bewohnern des Heims ist den Damen nicht vergönnt, die Gänge sind wie ausgestorben. Es herrscht Mittagsruhe. Außer den Handläufen erinnert hier nichts an eine Seniorenwohnanlage – Hotelatmosphäre trifft es besser. Dazu passt das Schwimmbad im Untergeschoss, nebenan das Fitnessstudio sowie die große Gymnastikhalle und das Restaurant im Eingangsbereich. All das gefalle ihnen sehr, sagen die Damen. Sie könnten sich gut vorstellen, hier zu wohnen. ZUKUNFT DER PFLEGE Was im Alter auf uns zukommt „Wie teuer ist das denn?“, möchte die 73-jährige Inge Schneider (Name von der Redaktion geändert) wissen. Die Antwort ge- fällt ihr umso weniger. 2340 Euro monatlich koste eine 46 Quadratmeter große Wohnung im Stift, erklärt Edeltraud Köbelin. 3630 Euro müssten für 79 Quadratmeter aufgebracht werden. Für den Lebenspartner kämen noch einmal 530 Euro hinzu. Freilich alles ohne Pflegekosten. Nur wenige Senioren können sich das leisten. Und auch Inge Schneider resümiert enttäuscht: „Das ist für uns zu viel.“ Wie das Augustinum bieten immer mehr Träger direkte Einblicke in ihre Häuser, bestätigt das Seniorenbüro der Stadt Freiburg. Dort greift man betroffenen Senioren und deren Angehörigen bei der Suche nach einem geeigneten Heim seit mehr als einem Jahrzehnt un- ter die Arme. Allein im vergangenen Jahr verzeichnet die Statistik über 300 Beratungsgespräche der Heimplatzvermittlung. Fachleute helfen mit, unter den 21 Einrichtungen in Freiburg das passende, aber auch bezahlbare Heim zu finden. Die monatlichen Kosten für einen Platz liegen etwa zwischen 2500 und 3500 Euro, abhängig von der Pflegestufe. Reichen die Leistungen der Pflegeversicherung und Rente dafür nicht aus, müssen gegebenenfalls Angehörige einspringen, wenn nicht eine bestehende Pflegezusatzversicherung Löcher stopfen kann. Funktioniert das alles nicht, können ergänzende Sozialleistungen beantragt werden. Fortsetzung nächste Seite BZ – SERIE: P FL E G E Auch darüber informieren solche Beratungsstellen, die es auch bei den Landratsämtern gibt. Diese Stellen helfen meist gut weiter. Dennoch muss man, so die Erfahrung vieler, zusätzlich noch eine Menge Zeit in die Suche investieren. „Das ist auch dringend notwendig“, rät Guido Willmann vom Seniorenbüro. Doch die Realität sei leider eine andere: „Die meisten trifft es unvorbereitet – in der Regel nach einem Schlaganfall des Partners oder eines Angehörigen suchen sie schnell einen Pflegeplatz.“ Alter und Pflege sind für die meisten Menschen immer noch ein Tabu. Das Thema wird erst dann angegangen, wenn ein Schicksalsschlag einen dazu zwingt. Viel zu spät. Dabei sprechen die Zahlen für sich: 2005 waren deutschlandweit über zwei Millionen Menschen pflegebedürftig. Mehr als zwei Drittel davon wurden zu Hause versorgt. Doch dieser Anteil sinkt. Immer häufiger fühlen sich die Angehörigen – aus verschiedensten Gründen – nicht mehr in der Lage, die Pflege selbst zu überneh- 3 F O LG E 5.2 men. Schon aus diesem Grund werden Pflegeheime und die Qualität der professionellen Pflege immer wichtiger. In Baden-Württemberg wurden vor zwei Jahren fast 80 000 Senioren in Heimen versorgt. Bis 2030 könnte diese Zahl laut Statistischem Landesamt auf knapp 130 000 anwachsen. Die „Definition des Pflegebegriffs ist völlig im Umbruch“, sagt der Pflegeexperte der Katholischen Fachhochschule Freiburg, Hermann Brandenburg. Die Pflege dürfe nicht mehr nur als Handwerk begriffen, sondern müsse durch andere Komponenten wie Beratung, Prävention, Intervention und Pflegemanagement ergänzt werden, um so die Lebensqualität der Pflegebedürftigen zu sichern und zu verbessern. Doch wie diese Theorie zu gängiger Praxis machen, wenn die Einrichtungen heute schon mit Pflegenotstand und knappen Ressourcen zu kämpfen haben? Dennoch, es gibt sie, die guten Heime, in denen die alten Menschen ein würdiges, selbstbestimmtes Leben führen. Aber es gibt auch die schlechten Heime, in denen die Senioren abgestellt, sich selbst überlassen dahindämmern. Bei der Heimwahl ist es für die Betroffenen und deren Angehörige jedoch nicht einfach, diese Heime zu unterscheiden. Helfen können so genannte Leitfäden oder Checklisten, wie sie das Freiburger Seniorenbüro oder das Bundesministerium für Senioren entwickelt haben (siehe auch Kasten unten). Anhand solcher Hilfsmittel lassen sich wichtige Punkte gezielt beantworten. Die Heimaufsichten der Städte und Kommunen versuchen, die gesetzlich vorgeschriebenen Standards zu gewährleisten. Einmal im Jahr müssen sie jede Einrichtung in Augenschein nehmen, so die gesetzliche Vorgabe. Nicht immer jedoch sind Pflegefachkräfte dabei, die, wie ein Vertreter der höheren Heimaufsicht des Regierungspräsidiums Freiburg sagt, „die Qualität der Pflege auch unter den Bettdecken der Heimbewohner“ beurteilen könnten. Das aber wäre notwendig, um die Pflegeergebnisse konkret zu bewerten. „Die Besuche sind häufig sehr technisch, sehr bürokratisch. Gespräche mit Bewohnern, Angehörigen oder Pflegekräften kommen dagegen selten zu Stande“, kritisiert Siegfried Wolff vom Institut für Qualitätskennzeichnung sozialer Dienstleistungen in Filderstadt, das Einrichtungen auf freiwilliger Basis kontrolliert und zertifiziert. „Die Heimaufsichten sind personell und finanziell einfach zu schlecht ausgestattet.“ Darin wird Wolff auch vom Landesseniorenrat unterstützt. Der wünscht sich zudem mehr Transparenz und Einsicht in die Untersuchungsberichte der Heimaufsichten. „Die schotten sich total ab“, klagt die Geschäftsführerin Birgit Faigle. Gute Pflege aber werde dort geleistet, wo die Heime offen seien, wo Heimbeiräte weitgehende Mitspracherechte besäßen und wo sich Angehörige, aber auch Bürger in den Heimen einbringen dürften. Beim Landesseniorenrat hofft man nun darauf, dass das Sozialministerium in Stuttgart diese Ideen beim neuen Landesheimgesetz mitberücksichtigt. Zum Jahresende soll es fertig sein – vielleicht wird es dann einfacher, das richtige Heim zu finden. LEITFADEN Wichtige Fragen Zehn wichtige Punkte sollten Sie sich bei der Suche nach einem geeigneten Heim im Vorfeld beantworten. Die Antworten können Ihnen die Entscheidung erleichtern. 1. Machen Sie sich klar, welche Unterstützung Sie brauchen. Reicht eine ambulante Pflege, vielleicht auch eine teilstationäre (Tagespflege) noch aus, oder müssen Sie auf eine stationäre Einrichtung zurückgreifen? 2. Wie können Sie die Finanzierung der Pflege sichern? Reicht die Rente/Pension zusammen mit den Leistungen der Pflegeversicherung aus? Gibt es eine Pflegezusatzversicherung, die die Kosten decken hilft? Oder muss ich die Hilfe von Angehörigen oder die Sozialhilfe zusätzlich in Anspruch nehmen? 3. Welche Heime kommen in Frage? Heimbesuche sind unerlässlich: Wo liegt das Heim, wie ist seine Umgebung, wie sieht es im Innern aus, wie riecht es im Heim, wie ist der Umgangston? 4. Wer führt das Haus? Handelt es sich um einen gemeinnützigen, öffentlichen oder privaten Träger? Lässt er die Mitwirkung der Bewohner und Dritter (Heimbeirat) zu oder schottet sich das Heim ab? 5. Wie ist die bauliche Situation des Hauses? Gibt es spezielle Demenz- oder Pflegeabteilungen? Wie sind die Wohnbereiche gestaltet? Können eigene Möbel aufgestellt werden oder überwiegt der Anstaltscharakter? 6. Wie sieht das Pflege- und Betreuungskonzept aus? Gibt es Wahlmöglichkeiten und wie hoch ist die Fachkraftquote? Wie gut ist die ärztliche Versorgung und gibt es genügend Rehabilitationsmöglichkeiten? 7. Wie sieht die Ernährung im Heim aus? Wie viele Gerichte gibt es – und kann man Einfluss auf den Speiseplan nehmen? 8. Wie sieht die Wäscheversorgung aus? 9. Gibt es genügend Freizeitangebote für die Heimbewohner? 10. Wie ist der Heimvertrag gestaltet? Ist der Träger bereit, diesen zur Prüfung herauszugeben? Freiburger Seniorenbüro 0761/201 3035 www.freiburg.de Stichwort: Senioren Adressen www.bmfsfj.de/Kategorien/ publikationen.html Über das Angebot an Heimen in Ihrer Nähe informieren zum Beispiel die Gemeinden, Wohlfahrtsverbände, Seniorenbüros, Sozialämter, Pflegedienste oder Sozialdienste der Krankenhäuser. Hier eine Auswahl an Adressen: www.forum-fuer-senioren.de www.aok-pflegenavigator.de www.altenheim-adressen.de www.domizilsuche.de http://pflegeplatz-portal.de Landkreis BreisgauHochschwarzwald Telefon: 0761/2187-0 www.breisgau-hochschwarzwald.de Stichwort: Senioren im Landkreis Landkreis Ortenau 0781/805 1486 Landkreis Lörrach 07621/410 5030 www.landkreis-loerrach.de Stichwort: Altenberatung Bundesministerium für Senioren Broschüre: „Auf der Suche nach einem Heim“ unter rf BZ – SER I E: PF LEGE 3 F O LG E 6.1 Alter, Pflege, Tod: Die Gesellschaft blendet diese Themen gerne aus. Doch für viele Menschen gehören sie zum Alltag. Wie gehen sie damit um? Pflegerin Lucia Maier ver- BZ-SERIE – ZUKUNFT DER PFLEGE (6): sucht, die Patienten ernst zu nehmen. Ruth Albrecht sitzt im Rollstuhl und braucht Pflege. Und Herbert Riesterer erinnert sich noch an die Sorgen, als er für seine Mutter ein Heim suchte. Sie hat gelernt, Hilfe anzunehmen: Ruth Albrecht FOTOS: FÜSSLER Die Pflege und ich Pflege aus verschiedenen Blickwinkeln – drei Menschen erzählen aus ihrem Alltag / Aufgezeichnet von Claudia Füßler 3 L U C I A M AI E R: „I C H P F LEGE “ Als ich im Januar 1970 aus Rumänien nach Deutschland kam, konnte ich kein Wort Deutsch. Ich war 17 Jahre alt und habe in Bad Mergentheim als Stationshilfe angefangen. Ich habe Deutsch gelernt, eine Ausbildung gemacht, irgendwann meinen Mann kennen gelernt und bin nach Freiburg gezogen. Fast zwanzig Jahre lang habe ich dann in einem Pflegeheim gearbeitet. Bis 1999. Da meinte mein Mann, ich solle doch mal was anderes machen. Stimmt, dachte ich, und ging in die ambulante Pflege. Es war Zeit für diesen Wechsel. Ich habe diese Zeit mitgemacht, wo man mit Stoppuhren gearbeitet hat. Kürzungen haben dazu geführt, dass überall gespart werden musste. Und es wird immer zuerst am Menschlichen gekürzt. Bei meinem jetzigen Arbeitgeber muss ich nicht jeden zusätzlichen Handgriff genau dokumentieren, kann auch mal einen Brief mitnehmen, ohne dass die Zeit in Rechnung gestellt wird. Außerdem kann ich viel selbständiger arbeiten als in einem Pflegeheim. Und das Team ist toll. Das ist enorm wichtig, dass man Kollegen hat, denen man vertrauen und auf die man sich verlassen kann. Ganz unbürokratisch helfen wir uns untereinander. Wenn man in diesem Beruf nicht mit Herz und Geduld arbeitet, hat man ihn verfehlt. Ich nehme meine Patienten ernst, auch wenn ich in manchen Fällen weiß, dass dies oder das jetzt besser wäre. Aber wenn mir ein fast 100-Jähriger sagt, dass er etwas nicht will, respektiere ich das. Es ist schließlich ein erwachsener Mensch. Ich zwinge niemanden, weil ich das umgekehrt auch nicht wollen würde. Über- haupt versuche ich, mich viel in die Menschen hineinzuversetzen. Wir Pflegerinnen kommen und gehen, das ist sicherlich auch für die Patienten nicht einfach. ZUKUNFT DER PFLEGE Was im Alter auf uns zukommt Natürlich beschäftige ich mich auch mit dem Tod, zwangsläufig. Irgendjemand hat mal gesagt: „Wie ein Mensch gelebt hat, so stirbt er.“ Ich finde, da ist was dran. Es gibt viele alte Menschen, die sagen, dass sie sterben wollen. Das glaube ich nicht. Sie wollen nicht sterben, sie sind nur einsam. Und einsam sein ist schlimm. Ich pflege sehr gerne Menschen, die im Sterben liegen, da bin ich auch schon oft eingesprungen. Ich bin überzeugt davon, dass die Leute die Nähe spüren, auch wenn sie keine Antwort geben. Das macht es ihnen irgendwie leichter. Wenn ich heute an dem Haus eines Verstorbenen vorbeifahre, schaue ich immer noch hoch zu seinem Fenster. Das ist wie ein Reflex. Sicher, der Beruf ist anstrengend, vor allem körperlich. Früher gab es ja noch weniger Hilfsmittel als heute, da hatte man teils richtig schwer zu heben. Aber dennoch – es mag anstrengend sein, wie es will, ich mag es sehr und möchte nichts anderes machen. Wer pflegt, gibt nicht nur. Es kommt auch sehr viel zurück. Das Schönste ist für mich, wenn ich merke, dass meine Patienten zufrieden sind. Man lernt viel von alten Menschen. Fortsetzung nächste Seite BZ – SER I E: PF LEGE Und wenn es nur so einfache Dinge sind wie Haushaltstipps oder das Rezept für einen Kuchen. Alte Menschen haben unheimlich viel zu erzählen. Aber die wirklich guten Geschichten bekommt man eben nur zu hören, wenn man Zeit mitbringt oder sie sich nimmt. Die Tochter einer Patientin hat mal zu mir gesagt: „Das, was Sie tun, ist nicht mit Geld zu bezahlen.“ Diesen Satz vergesse ich nie, denn er zeigt, dass sie verstanden hat, was es bedeutet, einen Menschen zu pflegen. – Die Krankenpflegehelferin Lucia Maier (54, ohne Foto) arbeitet bei dem Freiburger Pflegedienst Pflegeplus und legt Wert darauf, dass der große Frieden im Kleinen anfängt, dem täglichen Miteinander. 3 RUTH ALBREC H T: „I CH WER DE GEPFLEGT“ Vier, fünf Jahre ist es vielleicht her, da musste ich wegen einer Bronchitis ins Krankenhaus. Und als ich rauskam, konnte ich nicht mehr laufen. Arthritis, Arthrose, was weiß ich. Fakt ist, dass ich an den Rollstuhl gefesselt bin. Das ist vor allem deshalb besonders hart für mich, weil ich vorher komplett fit war, ich habe keinerlei Hilfe gebraucht. Jetzt kommt täglich eine Pflegerin. Früher habe ich gerne und viel gekocht. Und gut! Das geht kaum noch, mir fehlt die Kraft, um lange am Herd zu hantieren. Ich mache oft Kartoffelpuffer, das geht schnell. Für mich ist es wichtig, dass ich zu Hause bleiben kann, so geht mein Leben praktisch weiter. Mein Arzt sagt immer, ich solle doch ins Heim gehen, da hätte ich Unterhaltung. Als ob ich kein aufregendes Leben gehabt hätte. Zwei Kriege habe ich erlebt, ich kenne Größen wie Curd Jürgens und Heinz Oestergaard. Kennt den heute eigentlich noch jemand? Der war früher das, was heute der Lagerfeld ist. Auf unzähligen Bällen habe ich getanzt. Ich stamme aus einer Berliner Großfamilie, wir waren sieben Kinder. Davon lebt nur noch eine Schwester, in Berlin. Wir haben uns vor drei Jahren zum letzten Mal gesehen, da gab es drei Tage hintereinander Sauerbraten, weil sie den so mag. Wir telefonieren viel und schicken uns Päckchen. 3 F O LG E 6.2 Ich esse die Krabben so gern, die es 3 HE R BE R T immer mal bei Aldi Nord gibt, die R IE ST E R E R : schickt sie mir dann. „ICH LASSE Als mein Vater gestorben ist, ha- PFLE G E N“ be ich seinen Lebensmittelgroßhandel übernommen. Später dann Dadurch, dass ich relativ früh von habe ich einen Textilkaufmann ge- zu Hause weg bin, ist das Verhältheiratet und mich selbständig ge- nis zu meiner Mutter nicht so macht mit einer Firma für Möbel- wahnsinnig eng. Aber es ist für stoffe. Das Geschäft lief gut. Da- mich selbstverständlich, dass ich mals hieß ich Rothe mit Nachna- für sie da bin, da spielt es keine Rolmen, mein Unternehmen nannte ich „RuRo“, ich habe noch einen Stempel als allerletztes Andenken. Selbständigsein war wunderbar. Ich schaue viel fern, lese. Mich interessiert die Politik. Ich mag die Merkel gar nicht, und das, obwohl ich CDU-Frau bin. Vielleicht bin ich ungerecht, sie hat ja manches erreicht. Aber sie ist mir einfach unsympathisch. Und wie die sich abknutschen, mit dem Bush zum Beispiel, das ist doch schrecklich für Politiker. Rumgekommen bin ich nicht viel in der Welt, ich mag das Reisen nicht so, bin lieber zu Hause. Mit meinem zweiten Mann war ich zweimal im Jahr an der Nordsee, in Cuxhaven. Er mochte die Schiffe so. Seit seinem Tod bin ich nicht mehr viel gereist, ich mag meine Wohnung im fünften Er besucht seine Mutter im Heim: Stock. Ich komme hier ja Herbert Riesterer nicht mehr raus, seit ich im Rollstuhl sitze. le, dass ich in Karlsruhe lebe und Wenn man alt wird, und ich sie in Freiburg. Mein Vater ist meine, 93 ist durchaus richtig alt, 1971 gestorben, seither hat meine kommt man viel mit dem Tod in Mutter alleine gelebt. 1998 ist sie Berührung. Am schlimmsten ist dann in ein Haus mit betreutem es, wenn man die Geschwister ver- Wohnen gezogen, aber sie hat liert. Und Freunde. Ich selbst habe trotzdem noch fast alles selber gekeine Wünsche mehr ans Leben, macht. Bis auf die größeren Saich habe alles gehabt. Wenn es chen, die Getränke habe ich ihr geht, möchte ich nicht schwer zum Beispiel geholt. Das klappte sterben. Auch habe ich Angst da- jahrelang wunderbar. vor, dass mein Zustand sich jetzt Dann rief mich eines Tages ihre noch verschlechtert. Es ist Schwester an und meinte, meine schlimm genug, wenn man nicht Mutter würde am Telefon so koeinfach irgendwohin gehen und misch sprechen. Mein erster Gesich das holen kann, was man danke war: Sie hat einen kleinen braucht. Wegen jeder Kleinigkeit Schlaganfall gehabt. Das stellte muss ich eine Pflegerin bitten. Da sich ziemlich schnell als falsch hermusste ich mich erst dran gewöh- aus, denn als ich selbst mit meiner nen. Mutter sprach, sagte sie, sie hätte so einen furchtbar trockenen – Seit fast 30 Jahren wohnt Ruth Mund. Bei ihr begann damals das Albrecht (93) in Freiburg. Sie mag Problem, das viele ältere Mendas Münster und nascht gern schen haben: Sie trinken zu wenig. Schokolade, am liebsten die dunk- Im März 2005 wurde sie ins Kranle mit Orangenstückchen. kenhaus eingeliefert, die Diagno- se: fast ausgetrocknet durch zu wenig Flüssigkeitsaufnahme. Von dem Moment an war mir klar, dass sie nicht mehr in ihre Wohnung zurückkonnte. Ich schaute mich nach einem Heimplatz um, das St. Johann in der Kirchstraße in Freiburg war ihre erste Wahl. Wir hatten uns früher mal drüber unterhalten, da meine Mutter in der Kirchstraße aufgewachsen ist, wollte sie dort gern wieder hin. Und es hat tatsächlich geklappt. Als sie zehn Tage später entlassen worden ist, konnte sie im St. Johann einziehen. Meine Hauptsorge damals war die Finanzierung. Ich wusste nicht, wie hoch die Heimkosten sind, was vielleicht noch auf einen zukommt. Aber das hat sich alles geklärt. Meine Mutter ist in der glücklichen Lage, dass sie das, was anfällt, selbst finanzieren kann. Sie hat die Pflegestufe 1. Da bleibt natürlich keine größere Summe im Monat übrig, aber wozu auch. Eigentlich habe ich nie wirklich daran gedacht, meine Mutter zu uns nach Karlsruhe zu holen. Zum einen haben wir selber kaum Platz, und zum anderen ist meine Mutter absolut nicht der Typ dafür. Sie war ihr ganzes Leben lang selbständig, und das ist ihr auch bis heute wichtig. Umgekehrt kam es für mich nicht in Frage, nach Freiburg zu meiner Mutter zu ziehen. Mein Lebensmittelpunkt ist in Karlsruhe. So telefoniere ich etwa jeden zweiten Tag mit ihr und komme alle drei bis vier Wochen nach Freiburg. Die Fahrerei macht mir nichts aus. Mittags essen wir außerhalb, ich sage meiner Mutter immer, sie soll sich was aussuchen, was es normalerweise im Heim nicht gibt. Das macht sie gern. Mit der Flüssigkeitsaufnahme gibt es keine Probleme mehr. Seit neuestem trinkt meine Mutter mittags und abends ein Bier zum Essen. Das ist umso erstaunlicher, als dass sie ihr ganzes Leben lang gar keins getrunken hat. – Der pensionierte Zollbeamte Herbert Riesterer (71) wohnt in Karlsruhe, ist Einzelkind und hat bis vor einem halben Jahr aktiv Badminton gespielt. BZ – SERIE: P FL E G E 3 F O LG E 7.1 Im Alter noch einmal neue Wege gehen? Die Idee ist verlockend: Jung und Alt leben nicht nebeneinanderher, sondern in Mehrgenerationenhäusern zusammen. In Zeiten, in BZ-SERIE – ZUKUNFT DER PFLEGE (7): denen die Großfamilie an Bedeutung verliert, könnten in solchen Wohnprojekten verschiedene Generationen einander helfen. Immer mehr Baugruppen wagen den Schritt. Gemeinsam statt einsam – auch Spielen macht dann mehr Spaß. FOTO: AFP Die Mischung macht’s Viele sehen im Mehrgenerationenwohnen eine Chance, im Alter nicht alleine zu sein – aber geht das gut? / Von Constance Frey W ie ist denn die Strahlung bei mir?“ Miriam Waldes schaut besorgt drein. Schließlich soll ihr Sohn Levin in der neuen Wohnung ohne schädliche Fremdeinflüsse aufwachsen. Sie sitzt in einer Gruppe von Leuten im Freiburger Stadtteil Vauban: Die Arche-Hausgruppe trifft sich. Strahlenbericht, Kündigungsfristen für die alten Wohnungen, Organisatorisches – das sind heute die Themen. Spätestens im Januar 2008 wird der „Sonnenhof“ auf dem Vaubangelände bezugsfertig sein. Miriam Waldes und ihre Arche-Freunde wollen im Sonnenhof in ihren neuen Mietwohnungen das Mehrgenerationenwohnen wagen. In Deutschland entscheiden sich immer mehr Menschen gegen einsames Wohnen: Ältere Menschen ziehen in Wohngemeinschaften, Jung und Alt in ein Haus, andere bauen zusammen, damit sie später nicht allein sind. Sie gehen weiter, als es Familienministerin Ursula von der Leyen für die Einrichtung von Mehrgenerationenhäusern verlangt: Denn während die von der Regierung geför- ZUKUNFT DER PFLEGE Was im Alter auf uns zukommt derten Projekte offene Treffpunkte für Jung und Alt sind, wollen hier die Menschen zusammenleben. In dem Freiburger Arche-Projekt haben sich Menschen gefunden, die nicht nur eine eigene Wohnung wollen, sondern auch Nachbarn, auf die man sich verlassen kann. Elf Wohnungen sind für das gene- rationsübergreifende Wohnen von Arche geplant. Alle Mietparteien ziehen mit Wohnberechtigungsschein ein. Wer dann hier lebt, ist nicht reich, will aber selbstbestimmt wohnen. Die zukünftigen Bewohner sind durch Alter und Beruf bunt gemischt. Miriam Waldes etwa ist 34 und alleinerziehende Studentin. Ellen Jansen-Ganzmann ist 54 Jahre alt und zieht mit ihrer 23-jährigen Tochter ein. Oder Freia von Kajdacsy, 67 – sie ist Innenarchitektin im Ruhestand. Weitere Nachbarn sind ein Schreiner, eine selbstständige Kunsttherapeutin, ein Verwaltungsfachangestellter. Sie alle glauben, dass es die Mischung macht. Im Sonnenhof-Gebäude entstehen auch zehn Wohneinheiten für ein anderes Projekt – Woge genannt. Darin leben demenzkranke Menschen, zwei Wohnungen sind für ihre Angehörigen geplant. Auch Gewerberäu- me und Eigentumswohnungen soll es im Sonnenhof geben. Drei Jahre wird es von der Idee zur schlüsselfertigen Erfüllung des Traums gedauert haben. Woche für Woche trifft sich die ArcheGruppe. Es sieht so aus, als säßen gute Freunde beim Tee. Doch hier wurde immer wieder zäh verhandelt, etwa mit Geldgebern. Der gesamte Sonnenhof kostet fünf Millionen Euro. Die Woge-Wohnungen und die Arche schlagen mit zwei Millionen Euro zu Buche. Die Summe wurde über Förderkredite, private Direktkredite und Stiftungskapital beschafft. Noch immer fehlt Geld, aber die größte Hürde ist bewältigt. Die Wohnungen sind fast fertig. Von der ursprünglichen Gruppe sind wenige noch dabei. Manche fanden andere Projekte interessanter. Andere haben sich verliebt und sind weggezogen. Fortsetzung nächste Seite BZ – SERIE: P FL E G E Einer hat zu viel verdient, um den Wohnberechtigungsschein zu bekommen. Worüber die Gruppe gestritten hat, weiß Projektleiter Jürgen Feldmaier. Seit Jahren arbeitet der 53-Jährige für das Mietshäusersyndikat, das selbst organisierte Hausprojekte betreut. Die Gruppe könne noch am Zusammenleben scheitern – auch wenn alle ihre eigene Wohnung haben, sagt er. Schließlich haben sich bis jetzt die Arche-Mitglieder nur für eine begrenzte Zeit getroffen. Was, wenn sie im Alltag nebeneinander statt wie gehofft miteinander leben werden? Könnte es da nicht Ärger geben wegen Müll, lauter Musik oder gemeinsamer Pflichten etwa? „Es wird sicher Diskussionspunkte geben, wenn wir zu- 3 F O LG E 7. 2 Gemeinsam unter einem Dach – funktioniert das? sammenwohnen“, sagt Ellen Jansen-Ganzmann. „Aber das Positive daran ist, dass jeder in der eigenen Wohnung genügeRückzugsmöglichkeiten hat.“ Als Freia von Kajdacsy sagt, sie werde in der Arche Leihoma, blicken die jungen Mütter erstaunt auf. Als hätten sie dar- FOTO: DPA über gar nicht nachgedacht. Den größten Konflikt haben die zukünftigen Arche-Bewohner um das Thema Pflege ausgetragen. Generationsübergreifendes Wohnen verstanden einige so, dass sie im Krankheitsfall bis zum Ende betreut würden. Darauf konnte sich die Gruppe aber nicht einigen. Heute steht fest, dass sich die Bewohner bei Krankheit und geringer Pflegebedürftigkeit unter die Arme greifen werden, soweit sie können. Aber sie müssen es nicht. Nach dem Treffen laufen einige zum Rohbau. Ellen Jansen-Ganzmann will etwas abmessen, die anderen sich zu Hause umgucken. Vorsichtig treten sie über den Zementboden. „In zehn Jahren, da werden wir eingefleischte Omas sein“, sagt Freia von Kajdacsy. „Dann ist es grün draußen und wir machen ganz viele schöne Sachen gemeinsam“, sagt Ellen JansenGanzmann. Die Abendsonne leuchtet warm in den Innenhof. Die beiden Frauen schauen schweigend auf das orange Licht. Der Traum ist ganz nah. „Viele Baugruppen überschätzen ihre Kräfte“ BZ-INTERVIEW mit dem Architekten Harald Zenke über Mehrgenerationenwohnen und Tipps für den Start Mit Mehrgenerationenwohnen kennt sich Harald Zenke bestens aus. Als Partner des Berliner Architekturbüros BHZ hat er die Siedlung „Lebens(t)raum“ in Berlin-Johannistal geplant. Zenke wohnt mit seiner Familie in der Öko-Siedlung, die im Zuge eines Baugemeinschaftsprojekts zur Heimat für 32 Kinder und 38 Erwachsene aller Altersgruppen geworden ist. Im Gespräch mit Bernhard Walker schildert Zenke seine Erfahrungen. BZ: Was ist das Besondere an der Siedlung Lebens(t)raum? Zenke: Sie ist aus Baugemeinschaft entstanden, also aus einer Gruppe von gleich gesinnten Leuten, die sich ihren Wunsch von einem gemeinsamen, ökologischen und Generationen übergreifenden Wohnen erfüllen wollten. Das bietet kein Bauträger an. Es musste also aus uns selbst heraus entstehen, was manchmal mühselig, aber trotzdem sehr erfüllend war. BZ: Den Wunsch nach einem Leben und Wohnen in Gemeinschaft haben ja viele Menschen. Was ist der wichtigste Rat für Interessenten? Zenke: Es geht vor allem darum, möglichst genaue Informationen zu sammeln. Inzwischen gibt es im Internet dazu gute Angebote. Baugruppen brauchen zum Beispiel ei- nen speziellen Gesellschaftervertrag, weil es ja nicht so ist, dass ein Einzelner oder eine Familie, sondern eben eine Gruppe baut. Neben der sachlichen Information ist Erfahrungsaustausch wichtig. Viele Gruppen neigen zum Beispiel dazu, ihre Kräfte zu überschätzen und nehmen sich zu viele Eigenleistungen am Bau vor. Auch braucht es einen Projektsteuerer, der prüft, dass die Finanzierung solide steht und exakt abläuft. Entscheidend ist aber sicher die erste Hürde – also die Suche nach einem geeigneten Grundstück. BZ: Ziehen die Kommunen da mit? Zenke: Wir hatten das Glück, dass uns für die Siedlung Lebens(t)raum der Berliner Senat zunächst ein Teilgrundstück verkauft hat. So konnten wir mit einer kleinen Gruppe loslegen, die dann wuchs. Mein Appell an die Bürgermeister und Kommunalpolitiker geht dahin, bei einem Grundstücksverkauf dem Mehrgenerationenwohnen eine Chance zu geben. Denn die ganze Gesellschaft hat ja ein Interesse daran, dass sich diese Wohnform entwickelt. Deshalb wäre es auch gut, wenn es bei den Kommunalbehörden eine zentrale Informations- und Anlaufstelle für Baugruppen gäbe. Das ist meines Wissens heute eher die Ausnahme. Harald Zenke FOTO: PRIVAT BZ: Sie sprachen davon, dass Sie mit einer kleinen Gruppe gestartet waren. Zenke: Häufig ist es so, dass sich ein großer Interessentenkreis bildet, der dann auf den harten Kern derer schmilzt, die wirklich zusammen bauen wollen. Bei uns musste zum Beispiel ein Paar aussteigen, weil es aus beruflichen Gründen aus Berlin wegzog. BZ: Bei den meisten Baugruppen, die Mehrgenerationenwohnen entwickeln, geht es um den Kauf eines Hauses oder einer Wohnung. Zenke: Ja, im Mietsegment des Wohnungsmarkts gibt es leider noch sehr wenig in dieser Rich- tung. Das wäre eine wichtige Aufgabe für die Wohnungsgenossenschaften. Denn das Ziel einer Gemeinschaft von Jung und Alt muss für Eigentümer wie Mieter verwirklicht werden. BZ: Gibt es eine spezielle Architektur des Mehrgenerationenwohnens? Zenke: Ja. Der Architekt muss die Bedürfnisse verschiedener Lebenslagen bedenken, also, salopp gesprochen, den Kinderspielplatz genauso wie die bodengleiche Dusche, den Fahrstuhl oder das Pflegebad. Das Ziel ist, zu verhindern, dass dies separate Einheiten werden, die unverbunden nebeneinanderher existieren. Es geht ja um die Gemeinschaft der Generationen, sodass es gelingen muss, die individuellen Bedürfnisse zu erfüllen und zugleich soziale Aktion möglich zu machen. Im Lebensraum Johannistal haben wir deshalb zwischen den beiden im Halbkreis angelegten Häuserzeilen eine große Freifläche, auf der sich alle begegnen und die auch der Ort unseres Gemeinschaftshauses ist. www.morgensonne.info, Kapitel „Service“. Das Deutsche Architektur Zentrum hat unter dem Titel „aufeinander bauen – Baugruppen in der Stadt“ einen Überblick erstellt: www.daz.de, Kapitel „Kataloge“ BZ – SER I E: PF LEGE 3 F O LG E 8.1 Der Beruf Altenpfleger(in) ist beliebt – vor allem bei Frauen. 60 Prozent der Pflegekräfte in Deutschland sind weiblich. Der Verdienst ist spärlich, die Arbeit hart. Das geBZ-SERIE – ZUKUNFT DER PFLEGE (8): sellschaftliche Ansehen ist meist nur gering. 268 000 Pflegekräfte in Deutschland arbeiten in Altenpflegeheimen und in der ambulanten Pflege. Eine davon ist Viola Richter. Viola Richter bei der Arbeit im Heim FOTO: ULRIKE DERNDINGER Ausgerechnet Altenpflegerin! E Vor 20 Jahren hat Viola Richter nicht geglaubt, Pflege aushalten zu können. Jetzt wird sie ihr Beruf / Von Ulrike Derndinger s regnet in aller Herrgottsfrühe. Imbettbleibwetter, Imbettbleibzeit. Das ausgeschlafene Lächeln von Viola Richter passt nicht dazu. Sie strahlt aus ihrem lockigen Wuschelkopf heraus, als hätte sie sechs Richtige im Lotto getippt. Dabei ist sie einfach nur unterwegs zu ihrem Ausbildungsplatz. Zu einem, den viele abstoßend und zu schlecht bezahlt finden. Das Emmendinger Altenpflegeheim der Diakonie liegt an einem Waldrand. Die Stockwerke arbeiten sich treppenförmig in den grauen Himmel, ein blauer Balkon reiht sich an den anderen. Von außen könnte es genauso gut eine Familiensiedlung sein. Drinnen ist es aber eindeutig „Heim“: Der Geruch wie Deospray über Schweiß, das typische Tür-an-Tür auf langen Fluren, die Hallo-Rufe der Alten, die jetzt schon aufstehen wollen. Vor gut einem Jahr hat Viola Richter in diesem Heim ihre Ausbildung angefangen. 43 Jahre alt, Mutter von zwei Jugendlichen, gelernte Buchhändlerin. Und jetzt: Altenpflegeschülerin. Früher fand sie den Gedanken absurd, undenkbar. Sie in der Pflege? „Da komm’ ich nicht mit den Schicksalen klar“, war ihr Fazit nach einem Krankenhauspraktikum, kurz nach dem Abi 1983. Jetzt kann sie die Leute nicht mehr verstehen, die schlucken, wenn sie sagt, was sie lernt: „Viele sagen, sie könnten das nie, viele haben auch Angst vor dem eigenen Altwerden.“ Viola ZUKUNFT DER PFLEGE Was im Alter auf uns zukommt Richter selbst hat keine Angst mehr davor, auch nicht vor dem Tod: „Vor vier Jahren ist mein Vater gestorben. Die in der Klinik haben das unglaublich schön gemacht mit ihm. Wir konnten mitbringen, was uns wichtig war, konnten bleiben, solange wir wollen. Und hier ist es ähnlich.“ Viola Richter sieht heute Morgen Gelb. Die Altenpflegestation ist in Farben eingeteilt. Im gelben Bereich sind neun Bewohner, sechs Frauen, drei Männer. Für die neun Alten ist Viola Richter den ganzen Morgen zuständig. Also für die „Grundpflege“, wie es in Pflegedeutsch heißt. Für Viola Richter heißt das: Beim Aufstehen, Waschen und Anziehen helfen. Und Stress, von jetzt an, 7.30 Uhr, vier Stunden lang. Frau L. ist schon wach. Sie hat sich an den Bettrand gesetzt. Viola Richter muss ihr nur helfen, die Strümpfe anzuziehen. „Danke Frau Doktor, Sie sind ein Engelchen!“, bedankt sich Frau L. Viola Richter lächelt. So wie sie den ganzen Morgen lächeln wird. Amüsiert, aber wohlwollend. Trösten, Mitgefühl zeigen, die Bewohner ernst nehmen, das macht Viola Richter instinktiv. Als sie vor der beruflichen Entscheidung stand, ob sie was mit Kindern machen will, sagte sie nein. „Das war irgendwie vorbei. Lieber Alte.“ Plötzlich wollen alle gleichzeitig was – Viola Richter streicht sich ei- ne Strähne aus dem roten Gesicht, läuft im Slalom um die Betten, begrüßt, beruhigt, verspricht, bereitet eine Bettlägerige vor: „Frau S., heute duschen Sie!“ Frau S. jammert. Aber Viola Richter hat keine Zeit, um darauf länger einzugehen. „Das habe ich mir anders vorgestellt“, sagt sie. Frau B. meldet sich: „Die Bettpfanne bitte.“ „Haben Sie gut geschlafen?“ „Ja.“ Das sind die Gespräche im Azubi-Alltag. Scheinbar geht es oft nur um das eine. Aber:„Das hier ist sinnvoll.“ Im Buch-Einzelhandel fand sie keinen Sinn mehr, weil alles aufs Verkaufen getrimmt sei. Vielleicht spielte auch eine Rolle, dass sie Christin ist. Viele Altenpfleger stützen sich auf ihren Glauben – auch, um ihren Beruf und die geringe Bezahlung zu rechtfertigen. Altenpfleger finden zwar fast sicher einen Job. Aber er gehört zu den am schlechtesten bezahlten in Deutschland, teilt die Hans-Böckler-Stiftung des Deutschen Gewerkschaftsbundes mit. Viele private Träger zahlen unter Tarif. Fortsetzung nächste Seite BZ – SER I E: PF LEGE Ein Altenpfleger in Baden-Württemberg verdient im Jahr 29 900 Euro, in Sachsen 20 600 Euro. Doch das Geld scheint Viola Richter nicht so wichtig. Mit dieser Ausbildung wollte sie es nochmal wissen. Ihr gefällt, wie sie langsam zur Fachkraft heranreift. Wie sie 3 F O LG E 8.2 beginnt, sich in der gerontologischen Medizin auszukennen. Auf Herrn W. freut sich Viola Richter, weil er gerne Witze macht. Sie hebt seine Bettdecke. „Des isch ä echter Saukerle“, meint der Mann, als er an sich hinunterblickt. Viola Richter lacht auf. Ein Lachen zwischen Erschöpfung und Gelassenheit. Denn eigentlich hätte sie jetzt Pause. Aber sie kann Herrn W. nicht so liegen lassen. „Es ist schon stressig und die Schichten sind sehr lang“, sagt sie fast entschuldigend. Bis 14.45 Uhr hat sie heute noch Dienst. Und danach nimmt sie die Geschichten der Bewohner manchmal mit nach Hause, sagt sie. An der Wand hängt ein Bild mit Sonnenuntergang und einem Bibelspruch: „Bleibe bei mir Herr, denn es will Abend werden und der Tag hat sich geneiget.“ „Irgendwann schnackelt es bei denen“ Zwei Lehrer der Evangelischen Altenpflegeschule Freiburg sagen, was ihnen wichtig ist Was unterrichten Sie in der Altenpflegeschule? Die Antwort von zwei Lehrern fallen verschieden aus. Logisch – denn Altenpfleger müssen Ärzte und Sozialpädagogen in einem sein. Lebenswert alt werden – auch mit Demenz FOTO: OBS BZ-INTERVIEW „Das Alter würdigen“ Hermann Brandenburg, Katholische Fachhochschule Freiburg BZ: Herr Brandenburg, schätzt BZ: Der Beruf wird also gering gedie Gesellschaft die Altenpfleger schätzt, weil das Alter gering gezu gering? schätzt wird? Brandenburg: Die Gesellschaft Brandenburg: Ja. Außerdem ist ist ambivalent. Für sie ist die sta- die Bezahlung gering und die Altionäre Altenpflege eine Möglich- ten werden auch nicht „gesund“ keit, Krankheit und Behinderung gepflegt wie die Patienten im wegzusperren, weil sie eine Krankenhaus. Am Ende steht imScheu vor dem Alter mer der Tod im Alhat. Auf der anderen tenpflegeheim. Der Seite neigen die LeuRuf der Krankente zu einer Hochschwester ist deshalb schätzung für die viel besser als der des Menschen, die die Altenpflegers. konkrete Arbeit tun. BZ: Wer gering geBZ: Warum die schätzt wird in eiScheu? nem anstrengenden Brandenburg: Ich Beruf, bleibt nicht denke, das ist eine lange. Frage des Umgangs Brandenburg: Fünf mit Alter, Behindebis acht Jahre. Dann rung und Tod. Die H. Brandenburg kommt die UmschuArt, wie das in der lung in andere BereiGesellschaft dargestellt wird, ist che, weil die Arbeit im Heim oft wenig seriös. Da wird ein Prob- keinen Spaß macht. Es kommt imlem inszeniert. Dabei wollen mer mehr darauf an, dass Konzepdoch alle alt werden! Jetzt wer- te erstellt werden: individuelle den wir es und wir sollten das Al- Pflegeplanung, Teamführung, ter würdigen. Diagnosen erstellen. Peter Moritz, Fach Medizin: „Ich unterrichte Medizin, denn es ist wichtig, dass die Pflegekraft den Unterschied erkennt zwischen einem unkomplizierten Harnwegsinfekt und einem Infekt, der zur Nierenbeckenentzündung führt. Sie entscheidet: Muss ich jetzt den Hausarzt nochmal vor dem Wochenende anrufen oder kann das bis Montag warten? Oder: warum bekommt eine Bewohnerin Atemnot? Ist es ein gefährlicher Zustand, der den Notarzt erfordert? Mir zeigt meine 15-jährige Lehrerfahrung: Wir brauchen in der Altenpflege Menschen, die wirklich verstanden haben, was sie für die Situation, in die sie kommen, brauchen. Für mich ist das eine Frage von medizinischer Notwendigkeit. Und von Menschlichkeit. Ich unterrichte ausgehend von Situationen in der Pflege. Ich probiere es mit den Leuten praktisch aus. Wie funktioniert es, wenn wir einatmen, was tut sich im Körper? Was kann dabei schief gehen? Dann erlebe ich, dass die Schüler die Zusammenhänge schnell verstehen. Ich spiele auch oft Sachen. Niere ist ein schwieriges Thema. Dann spielen wir Niere! Wir bauen mit Stühlen und Tischen ein Nierensystem auf und spielen, was im Organ passiert. Irgendwann schnackelt es bei denen. Die Altenpflegerin hat keine direkte Ankopplung an den Arzt wie die Pfleger in der Klinik. Und die Besuchsfrequenz der Ärzte in den Heimen ist eben sehr unterschiedlich. Daher muss die Altenpflegerin die Veränderungen bei den Bewohnern einschätzen und handeln.“ Rita Langenstein, Fach Aktivierung und Rehabilitation: „Mein Fach vermittelt das, was das Altwerden lebenswert und schätzenswert machen soll – mit Musik, Bewegung, Tanz, Bildender Kunst. Die Schüler lernen, den Blick auf die Fähigkeiten zu richten, die beim Menschen noch vorhanden sind. Denn die Pflege soll sich nicht beschränken auf satt und sauber, sondern den Menschen ganzheitlich wahrnehmen. Ich habe zum Beispiel eine Demenzgruppe vor Augen, die ich momentan betreue. Wenn wir das Lied vom ,Kleinen Matrosen’ singen und uns dazu bewegen, ist die Stimmung hinterher um einige Grade gehoben und alle lachen! Das will ich den Schülern vermitteln: Jeder Mensch hat ein gelebtes Leben. Und das gilt es wert zu schätzen. Dass es schön ist, wenn sich die alten Leute nicht nur in der Rolle der Versorgten fühlen, sondern auch merken: Ich kann da mitmachen, ich bin auf der gleichen Ebene mit den anderen. Ganz wichtig ist mir, den Schülern zu zeigen, was man im Umgang mit Dementen beachten muss: Nicht überversorgen, nicht bevormunden. Oft macht es den Schülern in der Praxis große Probleme, das Gelernte in die Tat umzusetzen. Oft heißt es: Wir haben keine Zeit dafür. Wenn irgendwo Zeit abgeknapst wird, dann leider in diesem Bereich. Dabei versuche ich den Schülern klarzumachen, dass mein Fach nicht nur nettes Beiwerk zur Pflege ist.“ ude BZ – SER I E: PF LEGE 3 F O LG E 9.1 Psychologen nennen es das neue Generationenproblem: Wir werden zu den Eltern unserer Eltern, weil sie plötzlich Pflege brauchen. Die erwachsenen Kinder finden sich BZ-SERIE – ZUKUNFT DER PFLEGE (9): in der Elternrolle wieder – oft ganz plötzlich. Denn nur wenige Eltern setzen sich mit ihren Kindern frühzeitig zusammen, um über die Tabuthemen Alter und Pflege zu sprechen. Angst vor dem Stock: Der Blick auf die alten Eltern ist wie der Blick in einen Spiegel. Wie werde ich selbst altern? FOTO: JOKER „Reden Sie. Noch heute!“ B Z - I N T E R V I E W mit dem Freiburger Therapeuten Eduard Dietz-Piram über die Angst vor dem Alter / Von Petra Kistler W ie ist es, wenn die eigene Mutter, der eigene Vater Pflege brauchen? Eduard W. Dietz-Piram (59) kennt sich mit solchen Fragen aus. Der Freiburger Psychoanalytiker und Psychotherapeut befasst sich mit Alterungsprozessen und damit aufkommenden Konflikten. fällt vielen Familien schwer. Warum eigentlich? Dietz-Piram: Die erste Frage lautet: Benötigen die Eltern Unterstützung? Diese Einsicht fällt den Betroffenen oft schwer. Es klappt doch noch, heißt es dann, ich kann mich noch gut selbst versorgen. Die alten Eltern fürchten, entmündigt und entrechtet zu werden und wollen deshalb keine Schwächen zeigen. Der Alltag zeigt aber, dass ZUKUNFT es oft doch nicht mehr geht. Die ElDER tern brauchen möglicherweise PFLEGE Hilfe und Betreuung. Doch die Kinder sind berufstätig, die Enkelkinder müssen auch Zuwendung bekommen. Also wird ein Platz in einer Einrichtung gesucht und geWas im Alter auf uns zukommt funden. Es klappt, alle sind froh, und dann sagt die Mutter oder der Vater: Ich gehe da nicht hin. Ich BZ: Irgendwann ereilt es jede bleibe zu Hause. Tochter, jeden Sohn: Die Eltern sind alt geworden und brauchen BZ: Die alte Mutter wird ihre Hilfe. Doch das Gespräch darüber Gründe haben. Dietz-Piram: Natürlich: Sie will ihr Haus, ihren Garten, ihre Umgebung nicht verlassen. Das ist nachvollziehbar und verständlich. Meist gibt es Tage, wo es gut geht. Und es gibt Tage, wo es schwierig ist. An den Tagen, wo es schwierig ist, ist sie bereit, in eine Einrichtung zu gehen. An den Tagen, wo es ihr gut geht, will sie daheim bleiben. BZ: Dann ist die Not groß. Was tun? Dietz-Piram: Holen Sie alle Angehörigen an einen Tisch: Wie schätzen die anderen die Situation ein? Wer hat einen Lösungsvorschlag? Wer übernimmt welche Aufgaben? Diese Familienkonferenz ist ein erster Schritt. BZ: Wie rede ich mit den Eltern über die heikle Frage, wo und wie sie ihren Lebensabend verbringen wollen? Dietz-Piram: Indem man sie fragt. Wie stellt ihr euch das Leben im Alter vor? Was wünscht ihr euch? Was ist machbar? Was ist, wenn eines der Kinder krank wird und die Pflege nicht mehr übernehmen kann? BZ: Und wann rede ich mit meinen Eltern darüber? Dietz-Piram: Nicht erst, wenn das Problem auf den Nägeln brennt, sondern zehn oder 15 Jahre vorher. Man muss frühzeitig mit den Eltern diskutieren. Und mit den Geschwistern: Was machen wir? Wer kümmert sich? Wer hat Zeit? Wie schultern wir es finanziell? Eltern können von einem Tag zum anderen zum Pflegefall werden. Wie Sie und ich auch – unabhängig vom realen Alter. Zu wissen, dass die richtigen Entscheidungen getroffen werden, beruhigt beide Seiten. Fortsetzung nächste Seite BZ – SER I E: PF LEGE BZ: Früher reden, das heißt, wenn die Kinder 40 und die Eltern 65 Jahre alt sind? Dietz-Piram: Oder wenn die Kinder 50 und die Eltern 75 sind. Wenn sie noch fit sind. Es ist schwer anzunehmen, dass ich älter werde, dass ich vielleicht nicht mehr so gut leben werde wie mit 75, dass ich gebrechlich und hilfsbedürftig werde. Deshalb mein Rat: Fangen Sie das Gespräch an. Reden Sie. Noch heute! BZ: Für wen ist es schwer? Für die Kinder oder für die Eltern? Dietz-Piram: Für alle Seiten. Auch für die Enkelkinder, die diese Schwierigkeiten mitbekommen. Das prägt sie für später. Deshalb versuchen wir alle an einen Tisch zu bekommen. Und dann gibt es die üblichen Schwierigkeiten mit dem Erbe, mit bislang verschwiegenen Nebenbeziehungen, mit Kindern außerhalb der Ehe – alles, was am Lebensende zum Vorschein kommen kann. Zudem ist Pflege ein sehr emotionales Thema. Menschen können an die Eduard Dietz-Piram Grenzen ihrer Belastung kommen. Das liegt oft daran, dass Versprechungen gemacht wurden, die nachher nicht eingehalten wurden. Deshalb ist es besser, die Verabredungen mit einem Anwalt oder Notar zu versachlichen. BZ: Die alten Eltern gehören einer Generation an, in der noch in der Familie gepflegt wurde. Dietz-Piram: Und dann erfahren sie, dass ihnen dies nicht so widerfahren wird. Das ist schrecklich. 3 F O LG E 9.2 Früher war es die Selbstverständlichkeit, dass sich irgendjemand für die Eltern opferte. Es waren vor allem die Töchter und Schwiegertöchter, die nicht berufstätig waren und ihre Eltern umsorgten bis zuletzt. Bis sie selbst krank wurden. se Fragen zu sprechen. Gemeinsam die Probleme angehen, jeden zu Wort kommen lassen, mit Hilfe von Mediatoren einen Konsens zu finden. en, wo es funktionierte, aber die Großfamilie ist kein Modell für die Zukunft. Ein moralisches Verantwortungsgefühl oder eine Wiedergutmachung für erhaltende Fürsorge allein sind keine Basis für eiBZ: Vielleicht haben sich Eltern ne funktionierende Pflege. Jetzt und Kinder längst auseinanderge- frage ich Sie: Haben Sie ein Testalebt? ment? BZ: Haben die Frauen ein schlechtes Gewissen, weil sie berufstätig sind und die Pflege nicht übernehmen können? Dietz-Piram: Viele Frauen, die ich kenne, haben ein schlechtes Gewissen. Aber sie sind nicht mutig genug, um zu sagen: Ich diskutiere jetzt. Ich höre auf, meinen Ängsten und Vorstellungen und Loyalitätskonflikten nachzugeben. BZ: Wie viel Anspruch haben die Eltern auf die Hilfe ihrer Kinder? Sie sagen, früher waren wir für euch da, wir haben euch großgezogen, viele Opfer gebracht. Nun seid ihr an der Reihe, euren Teil des Generationenvertrags zu erfüllen. Die Frage wer sich im Ernstfall um den Pflegebedürftigen kümmert sollte frühzeitig geklärt werden. FOTO: DPA Dietz-Piram: Oder es gibt Familiengeheimnisse, Dinge, die nicht diskutiert werden dürfen, Dinge, die besser begraben sind. Das hindert am Gespräch. Es gibt enttäuschte Gefühle, hemmende Gefühlswelten. BZ: Die Vorstellung, die Eltern waschen, pflegen, zur Toilette begleiten zu müssen, fällt manchen Kindern sehr schwer. Dietz-Piram: Natürlich gibt es Berührungsängste, Ängste vor der Pflege. Viele sind mit der Pflege ihrer Angehörigen völlig überfordert. Altern ist ein Tabu, an dem man besser nicht rührte. Die Eltern altern zu sehen bedeutet, auch das eigene Alter wahrzunehmen. Es ist wie der Blick in einen Spiegel: Wie wird es sein, wenn ich alt bin? Werde ich mich genauso entwickeln? Wer wird sich um FOTO: ???????? mich kümmern? Es ist schwierig, die eigene Endlichkeit zu akzepDietz-Piram: Das ist eine Varian- tieren. te. Die andere: Was habe ich alles gemacht für meine Eltern, meine BZ: War das zu Zeiten der GroßfaSchwiegereltern. Und wie werde milie einfacher? ich jetzt hängen gelassen. Die El- Dietz-Piram: Die Großfamilie hat tern haben gedacht, es läuft so wei- nichts mit dem Bild von Mutter, ter. Aber das ist nicht der Fall. Die Großmutter und Kind am KachelEnttäuschung ist groß. ofen irgendwo auf einem Bauernhof im Schwarzwald zu tun. Die BZ: Und wie kann der Konflikt ge- Großfamilie ist ein Arbeitszusamlöst werden? menhang gewesen. Auf den Dietz-Piram: Als Alternspsycho- Schwarzwaldhöfen gab es auch therapeut kann ich kein anderes schreckliche BeziehungsgeschichModell vorstellen, als über all die- ten. Natürlich gab es auch Famili- BZ: Nein. Dietz-Piram: Warum nicht? Machen Sie ein Testament. Noch heute. Übernehmen Sie Verantwortung. Sie haben Kinder, einen Mann und Eltern. Was glauben Sie, wie schwierig es für die Angehörigen ist, wenn sie keinen Erbschein haben. Man denkt immer, man sei unverletzlich. Doch das stimmt nicht. Ich habe mein Testament seit Langem geschrieben, meine Betreuung schriftlich geregelt, es ist ausgemacht, welche Kollegen meine Praxis auflösen werden. INFOBOX ALTERNSTHERAPEUTEN Alternstherapie ist ein relativ neuer Zweig der Psychotherapie. Viele Therapeuten wollten nicht mit älteren Menschen oder kannten sich im Thema nicht aus. In Südbaden gibt es inzwischen gut 40 Alternstherapeuten. Anlaufstellen: Eduard Dietz-Piram, Luisenstraße 5a, 79098 Freiburg, Telefon: 0761/288041 Seniorenbüro Freiburg, KaiserJoseph-Straße 268, 79098 Freiburg, Telefon: 0761/ 2013032 bis -3037 Kuratorium Deutsche Altershilfe, An der Pauluskirche 3, 50677 Köln, Telefon: 0221/9318470 , www.kda.de BZ – SERIE: P FL E G E 3 F O LG E 1 0 .1 Die einen sprechen von der rettenden Nothilfe in einer ausweglosen Situation, die anderen von modernem Sklavenhandel: Weil die 24-Stunden-Versorgung von Alten und Kran- BZ-SERIE – ZUKUNFT DER PFLEGE (10): ken zu Hause kaum bezahlbar ist, entscheiden sich viele deutsche Familien für illegale Hilfskräfte aus Osteuropa. Die örtlichen Pflegedienste sind verärgert – sie müssen sich verändern. Heimliche Hilfe in den Familien: Für einen Billiglohn 24 Stunden Dauerpräsenz. FOTO: DPA Schwarzarbeit bei Oma Tausende von Osteuropäerinnen betreuen illegal Alte und Kranke in Deutschland / Von Michael Neubauer W Sie stupsen sich an, als wären sie alte Freundinnen. Sie lachen miteinander, schauen sich Fotos an. Elisabeth Farner, 86, hat sogar ein wenig Polnisch gelernt. Und die Polin Zuzanna, 56, lernt von ihr Deutsch. Beide wirken vertraut miteinander. Dabei kennen sie sich erst kurz. Zuzanna arbeitet schwarz in Elisabeth Farners Wohnung. Sie betreut und pflegt sie illegal. Am Anfang war der Unfall. Oma Elisabeth rutschte in der Dusche aus. Brach sich den Wirbel und musste operiert werden. Es sah nicht gut aus. „Wir glaubten, sie stirbt uns weg“, sagt die Schwiegertochter Franziska Farner. Oma Elisabeth kam in die Rehaklinik. Langsam ging es ihr besser. Doch die Beine wollten nicht mehr, Treppensteigen wurde zur Tortur. „Sie darf nicht allein sein“, so die Ärzte. Franziska Farner und ihr Mann nahmen die Oma zu sich nach Hause. Das klappte zwei Monate, dann fing sie an zu jammern. „Ich will zurück in meine Wohnung.“ Ein Fachwerkhaus zentral in einem Ort bei Bad Krozingen. „Ich will zurück, ich gehöre doch zum Stadtbild“, sagte Oma Elisabeth immer wieder. ZUKUNFT DER PFLEGE Was im Alter auf uns zukommt Die Farners müssen beide hart arbeiten und können die Großmutter selbst nicht dauernd beaufsichtigen. Drei Pflegekräfte hätten sich am Tag abwechseln müssen – für sie zu teuer. Erst war die Schwiegertochter noch sicher: „Wir machen das alles ganz legal – mit einer Polin.“ Aber dann sah sie die Formulare der Arbeitsagentur: „Das hätte Monate gedauert, bis jemand gekommen wäre.“ Die Familie tauchte ein in die illegale Polenpflegewelt. Mundpropaganda. Jemand kennt jemanden, der wieder jemanden kennt. Ein paar Telefonanrufe. Jedenfalls, sagt Franziska Farner, „stand ruckizucki jemand da“. Zuzanna hat jetzt ein kleines Zimmer bei Oma Elisabeth. Sie hilft ihr im Alltag. Abends schauen sie zusammen fern. Elisabeth hat extra eine andere Satellitenschüssel kaufen lassen, damit Zuzanna auch zwei polnische Programme sehen kann. Sie hätten es getan, weil sie der alten Frau ein eigenständiges Leben ermöglichen wollten. „Das haben doch die alten Leute verdient, dass wir ihnen die letzten Wünsche erfüllen“, sagt die Schwiegertochter. Doch ganz wohl ist ihr nicht dabei. „Wir sind schon irgendwie Straftäter.“ Deswegen will sie unerkannt bleiben, deswegen sind ihre Namen nicht die echten Namen. „Wir sind einfach froh, wenn das ruhig läuft und uns niemand anzeigt.“ Das ist kein Einzelfall. Viele Familien mit einem Pflegebedürftigen sehen in ihrer Hilflosigkeit nur noch diesen einen Weg. Deutschland leistet sich neben dem etablierten Pflegesystem auch ein illegales. Schätzungsweise zwischen 80 000 und 100 000 solcher Hilfskräfte arbeiten in diesem Land, genaue Zahlen hat niemand. Die Bundesregierung weiß allerdings, dass ohne diese Kräfte die Finanzlage der Pflegeversicherung und die Situation in den Familien düster aussähe. Fortsetzung nächste Seite BZ – SERIE: P FL E G E Die illegalen Kräfte kommen meistens aus Polen, zunehmend aus Ungarn, Tschechien und Rumänien. Sie besitzen ein Touristenvisum und haben damit eine dreimonatige Aufenthaltsgenehmigung. Es ist ein Rotationsmodell: Auch Zuzanna wird nach drei Monaten Oma Elisabeth verlassen, eine Bekannte oder Verwandte nimmt 3 F O LG E deutschen ambulanten Pflegedienste. „Wir wissen von rund 20 Haushalten in Rheinfelden, in denen mit größter Wahrscheinlichkeit illegal beschäftigte Pflegekräfte ihre Arbeit tun“, sagt Peter Schwander von der kirchlichen Sozialstation in Rheinfelden. Immer wieder komme es vor, dass eine Familie seine Kolleginnen erst ruft, Eine Spritze für Oma – von Fach- oder Billigkräften? dann ihren Platz ein. Regelmäßig bringen Busse die neuen Helferschichten nach Südbaden. Alles ist perfekt organisiert, die Familien müssen sich um nichts kümmern. Der Preis: 800 bis 1300 Euro für eine Rundumbetreuung. Kost und Logis sind frei, Fahrtkosten nach Hause gibt’s dazu. Würde Familie Farner diese Arbeit von deutschen Kräften bei Stundenlöhnen von 40 bis 50 Euro machen lassen, müsste sie das Vier- bis Sechsfache bezahlen. Wer kann sich das leisten? Für Suzanna aber sind 1000 Euro sehr viel Geld. Sie ist eigentlich Tierärztin, findet in Polen aber keine Arbeit. Und mit Oma Elisabeth hat sie noch Glück. Viele ihrer osteuropäischen Kolleginnen kümmern sich um schwerstkranke, bettlägerige oder demenzkranke Menschen. Die Frauen kochen, waschen, bringen die Kranken ins Bett, geben Medikamente. Manche machen die Arbeit schlecht, setzen Familien sogar unter Druck. Viele arbeiten gut und aufopferungsvoll. Sie sind immer da, haben fast nie frei. Diese Fremden werden von den Alten manchmal besser akzeptiert als die eigenen Kinder, vor denen sie sich genieren. Die Arbeit der Illegalen geschieht oft unter den Augen der 10.2 FOTO: DDP wenn Pflegefehler zu Folgeerkrankungen führen, die professionell behandelt werden müssen, sagt er. Wenn die ambulanten Helfer dann zu den Familien kommen, kommt es schon mal vor, dass die Schwarzarbeiterinnen in die Hinterzimmer huschen und warten, bis die wunde Stelle behandelt ist. Schwander sieht die illegale Beschäftigung mit gemischten Gefühlen. „Natürlich sehen wir auch den Willen der Leute, für ihre Angehörigen das Beste zu wollen.“ Aber er wundert sich, wie sehr diese illegalen Beschäftigungen inzwischen als normal betrachtet werden. Ob Ärzte, Bankdirektoren, Finanzbeamte: „Die Leute sehen das als Kavaliersdelikt, da gibt es kein Unrechtsbewusstsein.“ Er findet es bedrückend, was den Osteuropäerinnen zugemutet werde. Und die Frauen ließen zu Hause ihre eigenen Familien zurück, in manchen Dörfern fehle die Hälfte der Mütter, weil sie hier arbeiteten. „Wir haben es hier in Deutschland mit modernen Dienstmädchen zu tun.“ Bernd Tews vom Bundesverband privater Anbieter sozialer Dienste vergleicht die illegalen Pflegekräfte mit der Schwarzarbeit auf dem Bau. „Eine Gesellschaft muss sich doch fragen: Gelten die Spielregeln oder gelten sie nicht?“ Nur zaghaft befasse sich die Politik mit dem Thema. Dieses illegale Pflegesystem schade den legalen Pflegediensten und entziehe der Sozialversicherung Geld. Die Frauen hätten keinen Urlaub, keine Versicherung, keinen angemessenen Lohn: „Das ist moderner Sklavenhandel.“ Die Frauen aus dem Osten müssen sich dennoch wenig Sorgen machen, dass ihnen der Zoll zu nahe kommt. Denn der Zollfahndung sind die Hände gebunden, weil sie in Privatwohnungen arbeiten. „Wenn wir aber konkrete Hinweise haben, dann holen wir uns einen richterlichen Durchsuchungsbeschluss“, sagt Klaus Salzsieder vom Zoll in Köln. Und Hinweise kommen oft: von Nachbarn, Sozialstationen, Verwandten oder geschiedenen Ehemännern. Die möglichen Strafen: bis zu fünf Jahre Gefängnis. Meistens Bußgeld in der doppelten Schadenshöhe. In einem Fall bei Freiburg, in dem jemand 15 Monate lang die demente Oma hat pflegen lassen, waren das 57 000 Euro. Doch gehe man sensibel vor, sagt Salzsieder – „da sind schließlich menschliche Schicksale dahinter“. Auch Richter urteilten mehrmals milde, weil sie wissen, dass manche Familien ohne diese billigen Pfleger nicht wüssten, was sie tun sollen. „Wir bringen es nicht fertig, unsere Alten angemessen zu pflegen“, so die Worte einer Darmstädter Richterin, die die Schwarzarbeit als Folge der schlimmen Missstände im Pflegesystem kritisierte. Die Osteuropäerinnen nehmen freilich auf dem heiß umkämpften Pflegemarkt den etablierten Diensten einen großen Teil des Kuchens weg. Franz Fink vom Deutschen Caritasverband warnt aber davor, im Konkurrenzdenken zu verharren. „Wir müssen vielmehr überlegen, wie wir den Familien helfen können.“ Die neue Berufsgruppe des „Alltagsbegleiters“ könnte einen Ausweg sein. Leute ohne spezielle Pflegeausbildung können in den Sozialstationen der Caritas eine Bezahlung zwar nach Tarif, aber unter der unteren Lohngruppe bekommen. Sie böten dann zwar keine 24-Stunden-Betreuung an, aber doch eine 40Stunden-Woche. Zu ihren Aufgaben könnten einfache Tätigkeiten wie die Begleitung bei Arztbesuchen oder Vorlesen gehören. Kosten für die Familien: 1500 bis 2000 Euro. „So könnten wir manchen Familien helfen, aus der Illegalität herauszukommen. Wir als Caritas müssen selbst dafür sorgen, dass unsere Sozialstationen so etwas anbieten können.“ Auch Langzeitarbeitslose könnten solche Hilfsjobs übernehmen, findet Fink. Er weiß: Seine Kollegen zögern noch bei dem Modell des Alltagsbegleiters. Aber um den Familien zu helfen und den Frauen aus Osteuropa Sicherheit zu bieten, müsse eine Kooperation mit den bisher Illegalen angedacht werden. „Wir müssen einen Hilfemix für die Familien arrangieren, der solche Kräfte einbindet.“ Zukunftsmusik, gewiss. Aber: „Die Zeiten für die Sozialstationen stehen auf Veränderung.“ PFLEGEKRÄFTE AUS OSTEUROPA Legal oder illegal? Wer unsicher ist, ob Vermittlungsagenturen für Pflegekräfte legal arbeiten, kann sich an die Agentur für Arbeit oder die Zollbehörden wenden. Die Zentralstelle für Arbeitsvermittlung (ZAV) in Bonn vermittelt Haushaltshilfen aus osteuropäischen Ländern an Familien mit pflegebedürftigen Personen. Die Familie ist dann Arbeitgeber. Allerdings: Sie dürfen nur 38,5 Stunden als Haushaltshilfe arbeiten – Pflegeaufgaben sind offiziell tabu. Kosten: ab 1300 Euro/Monat. Auch Vermittlungsagenturen stellen den Kontakt zu Pflegerinnen aus Osteuropa her – die Dienstleistungsfreiheit in den EU-Ländern macht es möglich. Kosten: ab 1200 Euro. Die Kräfte sind bei einer Agentur im Ausland angestellt und sozialversichert. Adressen gibt es im Internet. Die Agenturen kassieren allerdings hohe Gebühren, sodass die Pfleger wenig Lohn abbekommen. Nicht alle dieser Agenturen arbeiten ganz legal. Der billigste, aber illegale Weg ist die private Vermittlung. Kein Vertrag, keine Sozialabgaben und Steuern. Kosten: ab 800 Euro. mic BZ – SERIE: P FL E G E 3 F O LG E 1 1 .1 Ihre Autos bestimmen das Stadtbild: Ambulante Pflegedienste besuchen kranke und alte Menschen zu Hause. Auch Einkäufe erledigen sie. Die Helfer klagen oft über Zeit- BZ-SERIE – ZUKUNFT DER PFLEGE (11): not. Sie kritisieren, dass die Pflegeversicherung bis jetzt noch nichts für altersverwirrte, demenzkranke Menschen bezahlt. Doch gerade diese brauchen besondere Zuwendung. Mit dem Auto von Tür zu Tür: Ambulante Pflegekräfte im Einsatz. F O T O : D P A Die flitzenden Pfleger Ambulente Pflegedienste ermöglichen vielen alte Menschen zu Hause die notwendige Unterstützung / Von Bernhard Walker V ier Worte genügen. „Hier ist die Schwester“, ruft Martina Schröder in die Sprechanlage. Sofort tönt der Brummton, die Haustür springt auf und Schwester Martina geht die Treppe hinauf. Auf dem Absatz im ersten Stock wartet schon Herr Frank. Sobald sie ihn sieht, begrüßt ihn Schwester Martina und sagt: „Herr Frank, Sie haben zugenommen.“ Was für die meisten Menschen ein zweifelhaftes Kompliment wäre, freut Herrn Frank. Er strahlt regelrecht und sagt: „Ja, zum Glück“. Vor einiger Zeit ist Herr Frank wegen einer Zungenkrebserkrankung operiert worden. Damit die anschließende Bestrahlung nicht das Gebiss schädigt, sind ihm einige Zähne entfernt worden. Lange konnte sich Herr Frank deshalb nur über eine Magensonde ernähren. Schwester Martina von der Ökumenischen Sozialstation Leipzig prüft nun, ob die Sonde funktioniert und ob die Bauchdecke nicht entzündet ist. Sie wechselt den Verband und schaut nach, ob noch genügend Beutel mit der Sondenkost in der Küche sind. Inzwischen erzählt Herr Frank von seinen Erlebnissen: Der Enkel der Nachbarin war zu Besuch. Und zur Feier des Tages hat er sich ein ZUKUNFT DER PFLEGE Was im Alter auf uns zukommt Stück weiches Brot mit viel Streichwurst drauf gegönnt. Schwester Martina rät ihm, die Krankenkasse wegen der fehlenden Zähne anzusprechen. Aus ei- gener Tasche kann Herr Frank nicht die Kosten einer Brücke oder von Implantaten bezahlen. Er lebt in einer winzigen Wohnung und wartet, was aus seinem Antrag auf Rente wird. Bis dahin lebt er von Hartz IV. Für Herrn Frank kann Schwester Martina heute nichts mehr tun. Also bespricht sie mit ihm den nächsten Besuchstermin, steigt in den VW Fox der Sozialstation und fährt zu den nächsten Patienten. Alltag in der ambulanten Pflege. In der Bundesrepublik gibt es etwa 10 000 solcher Pflegedienste. Sie beschäftigen 190 000 Mitarbeiter. Das Ziel der Pflegeversicherung, überall häusliche Hilfen anzubieten, ist erreicht worden. So hat sich ein Arbeitsmarkt entwickelt, der vor allem Frauen die Chance gibt, Familie und Beruf zu vereinbaren – wenngleich Altenpflege zu den schlecht bezahlten Berufen in Deutschland gehört. Etwa 86 Pro- zent der Beschäftigten in ambulanten Diensten sind Frauen. Und zwei Drittel der Beschäftigten arbeitet in Teilzeit. Im Gegensatz zu vielen anderen Industriestaaten besteht in der Bundesrepublik ein Netz, das es erlaubt, auch die steigende Zahl an Pflegebedürftigen zu Hause zu betreuen. Das gilt auch für schwer Pflegebedürftige. Etwa 15 Prozent der Menschen, die heute ambulant versorgt werden, sind in die höchste Pflegestufe drei eingruppiert. Schwester Martina fährt weiter zu der Familie Keller. Frau Keller hatte sich bei einem Sturz das Handgelenk gebrochen. Es dauert eine Weile, bis sie sich bereit zeigt, sich den Verband von ihr abnehmen zu lassen. Denn die alte Dame leidet unter einer Demenzkrankheit und erkennt auch vertraute Menschen manchmal erst nach einiger Zeit. Fortsetzung nächste Seite BZ – SERIE: P FL E G E Um Frau Keller zu beruhigen, spricht Schwester Martina vertraute Dinge an: Sie fragt, wie es den Angehörigen gehe und was sie beim letzten Hausarztbesuch erlebt habe. So kann Frau Keller die Altenpflegerin als Vertrauensperson wiedererkennen. Wie viele Demenzkranke fürchtet sich die alte Dame sehr vor Veränderungen. Lange hat sie sich deshalb dagegen gesträubt, Stolperfallen wie den Flurteppich wegzuräumen. „Manches braucht einfach viel Zuwendung und Geduld“, sagt Schwester Martina. Später wartet in der Sozialstation die Bürokratie und Schreibkram auf sie: Sie bringt die Patientenakten auf den neuen Stand, geht Schreiben vom Medizinischen Dienst der Kassen durch, bespricht mit ihrer Kollegin die nächste Tour und schaut, dass die Kollegin die Türschlüssel der Patienten dabei hat, die manchmal das Klingeln nicht hören. 3 F O LG E 11.2 Dass die Pflegeversicherung Gutes bewirkt, steht für Schwester Martina außer Frage: „Viele könnten sich sonst Hilfe gar nicht leisten“. Gleichwohl hat sie einen Wunsch – einen Wunsch, den alle 70 Pflegekräfte der Ökumenischen Sozialstation Leipzig Südwest teilen. „Mehr Zeit“, sagt die Pflegedienstleiterin, Schwester Elke Wolf. Das gilt gerade für die Demenzkranken. Rund eine Million Menschen müssen in Deutschland mit einer Form von Demenz leben. Altersverwirrte Menschen brauchen besondere Zuwendung, was im Zeitbudget der von der Versicherung bezahlten Hilfen aber nicht vorgesehen ist. Manche Demenzkranke fallen ganz durch das Raster der Versicherung. Die berücksichtigt nur körperliche Einschränkungen, an denen Demenzkranke oft nicht leiden. Allerdings können sie von einer Minute auf die andere vergessen, ob sie sich gewaschen oder ob sie etwas ge- gessen haben. Hilfe brauchen sie also allemal. Wie bei Frau Keller geben die Mitarbeiter der Leipziger Sozialstation ihr Bestes, um diese Kranken mit allem was sie brauchen zu versorgen. Am Webfehler der Ver- sicherung selbst ändert das nichts. Jetzt bleibt abzuwarten, ob der Plan der großen Koalition – Demenzkranke sollen ab 2008 Unterstützung bis zu 2400 Euro im Jahr erhalten – die Struktur der Versorgung verbessert. INFOBOX ANGEBOTE IN DER TAGES-UND KURZZEITPFLEGE Einrichtungen für Tages- und Kurzzeitpflege bieten sich an, wenn ein pflegebedürftiger Patient zeitweilig nicht zu Hause versorgt werden kann. Das kann zum Beispiel der Fall sein, wenn eine Wohnung umgebaut wird oder ein pflegender Angehöriger selbst erkrankt ist. Bei der Tagespflege holt die Einrichtung den Pflegebedürftigen in der Regel morgens ab, versorgt ihn den Tag über und bringt ihn am Nachmittag oder Abend wieder nach Hause zurück. Kurzzeitpflege ist in der Regel ein vollstationärer Aufenthalt, bei dem jemand Tag und Nacht in der Einrichtung lebt. Bei der Tagespflege werden je nach Pflegestufe des Patienten 384, 921 und 1432 Euro im Monat von den Pflegekassen bezahlt. Für Leistungen der Kurzzeitpflege übernehmen die Kassen bis zu vier Wochen im Jahr Leistungen bis zu 1432 Euro. bwa „Alle zehn Jahre etwas ganz Neues lernen“ BZ-INTERVIEW mit der Ärztin Isabella Heuser über Möglichkeiten, Demenzerkrankungen vorzubeugen Geistig rege zu bleiben, ist nach Einschätzung von Professor Isabella Heuser eine wichtige Vorbeugung gegen Demenzerkrankungen. Heuser ist Direktorin der Klinik und der Hochschulambulanz für Psychiatrie und Psychotherapie der Berliner Charité. Mit ihr sprach Bernhard Walker. BZ: In der Diskussion über die Reform der Pflegeversicherung kommt die Rede auch immer auf die Demenzkranken. Was versteht die Medizin unter diesem Begriff? Heuser: Wir wissen, dass etwa 60 Prozent der De- Isabella Heuser menzerkrankungen auf die Alzheimer-Krankheit entfallen. zwischen dem Lebensalter und Weitere 20 bis 30 Prozent sind so den Demenzerkrankungen gibt? genannte vaskuläre Demenzen, al- Heuser: Ja, das ist völlig eindeuso neuro-degenerative Leiden tig. Je älter jemand wird, umso nach einem Schlaganfall oder ei- wahrscheinlicher ist, dass er an einer Gefäßerkrankung wie Diabe- nem Demenzleiden erkrankt. Und tes oder Bluthochdruck. Daneben weil nun im Zuge des demografigibt es verschiedene Unterformen. schen Wandels mehr Menschen BZ: Ist es eine gesicherte Erkennt- hochbetagt sein werden, wird sich nis, dass es einen Zusammenhang auch die Zahl der Demenzkranken von heute einer Million bis zum Jahr 2030 verdoppeln. BZ: Gibt es eine Vorbeugung? Heuser: Die gibt es. Zum einen ist die gute Ernährung angezeigt, die auch sonst zur Prävention von Krankheiten nützlich ist – also die Ernährung mit Gemüse, Fisch, hochwertigem Olivenöl und Obst. Daneben rate ich dazu, alle zehn Jahre etwas ganz Neues zu lernen, um geistige Anregung zu erfahren. Das kann eine Fremdsprache, ein anspruchsvolles Spiel wie Schach und Bridge oder ein Instrument sein. Gut ist auch Sport, wobei Tanzen ideal ist. Denn Tanzen fördert die Gemeinschaft mit anderen. Die Schrittfolge zu lernen, bringt zudem geistige Anregung mit sich. BZ: Wirkt sich das Erleben von Gemeinschaft auf Demenzerkrankungen aus? Heuser: Wir wissen, dass Menschen, die an depressiven Stimmungen oder regelrechten Depressionen leiden, eine erhöhte Neigung zu Demenzerkrankungen haben. Und Depressionen sind wiederum häufiger bei Menschen festzustellen, die oftalleine sind. Deshalb sind soziale Kontakte und das Leben in einer Gemeinschaft aus der Familie und Freunden überaus wichtig: In diesem Fall stellen wir weniger Depressionen und weniger Demenzleiden fest. Deshalb ist es so bedenklich, dass viele Menschen wegen der Beanspruchung im Beruf ihr soziales Umfeld nicht ausreichend weiter entwickeln und dadurch viel alleine sind. INFOBOX PFLEGEHOTLINE Für Fragen zur Pflege haben Verbraucherzentralen und BKK ein bundesweites Auskunftstelefon eingerichtet. Zum Thema Patientenverfügung: 0180/ 3770 -500-1. Vertragsberatung: -500-2. Alternative Wohnformen: -500-3. Mo/Mi 10-13 Uhr; Do 14-18 Uhr Der Anruf kostet 9 Cent pro Minute. BZ – SERIE: P FL E G E 3 F O LG E 1 2 .1 Der funktionierende Sozialstaat nimmt seinen Bürgern jede soziale Last ab. Daran hat man sich in Deutschland gewöhnt – auch bei der Altenpflege. Dass ein solcher BZ-SERIE – ZUKUNFT DER PFLEGE (12 UND ENDE): Staat nicht nur unbezahlbar ist, sondern auch unmenschlich sein kann, spricht sich erst allmählich herum. Ein Gespräch mit einem Sozialstaatskritiker, der einmal Sozialsenator war. „Stoppen wir die Investorenmodelle, die dicke Rendite wittern“: Henning Scherf F O T O : C A R O „Es muss bunt zugehen!“ B Z - I N T E R V I E W mit Henning Scherf, Bremer Bürgermeister im Unruhestand, über seine WG, ihre Pflegefälle / Von Stefan Hupka W ie weiter, wenn es nicht mehr geht? Sollten alte Menschen daheim gepflegt werden, im Kreis der Lieben, oder lieber von Profis im Heim? Wir fragten den früheren Bremer Bürgermeister Henning Scherf nach seinen Vorschlägen und WG-Erfahrungen. BZ: Herr Scherf, man wünscht es niemandem, aber wenn es dazu kommt, dass Sie pflegebedürftig werden, von wem wollen Sie dann gepflegt werden? Scherf: Von Verwandten und Freunden. Wir leben hier seit zehn Jahren zusammen und haben schon zwei von uns bis zu ihrem Tod begleitet. Wir haben das alles mit eigenen Kräften geschafft. Und wir haben uns hier fest versprochen, dass wir uns nicht alleine lassen und uns gegenseitig helfen, wenn es so weit ist. BZ: Das kann harte körperliche Arbeit sein. Fürchten Sie auch Überforderung? Scherf: Wenn das der Fall sein sollte, weil wir selber älter und schwächer geworden sind, dann möchten wir zu Hause ambulante Hilfen in Anspruch nehmen. ZUKUNFT DER PFLEGE Was im Alter auf uns zukommt BZ: Wollen Sie die Fälle kurz schildern? Scherf: Eine unserer Mitbewohnerinnen, Rosemarie, wurde krebskrank und wollte nicht ins Krankenhaus. Da haben wir gesagt, gut, das schaffen wir, wenn es sein muss, rund um die Uhr, einer nach dem anderen. Nach ihrem Tod wurde ihr ältester Sohn, der auch bei uns lebte, todkrank. Auch er wollte zu Hause sterben. Ihm haben wir fünf Jahre lang geholfen. ma. Ich bin sehr dafür, dass man sich in seiner Nachbarschaft oder, wenn es geht, sogar unter einem Dach darauf einstellt, jemanden zu pflegen. Das kann und sollte man üben und lernen. Man kann sich auch an Institutionen wenden, die BZ: Kosten die täglichen und einem helfen, damit man es selber nächtlichen Verrichtungen Sie schafft. Früher war häusliche PfleÜberwindung – Hygiene bei In- ge eines Angehörigen die Regel. kontinenz und so weiter? Heute ist sie die Ausnahme. Scherf: Wenn man mal drin ist in dieser Aufgabe, kostet das keine BZ: Sehen Sie das als BürgerÜberwindung mehr. Alleine wäre pflicht an? man wohl schnell überfordert. Scherf: So will ich das ungern Dann käme man auch wohl kaum nennen. Manche können es ja aus zum Schlafen. Aber mit mehreren, objektiven Gründen gar nicht. in diesem Fall acht, geht das. Dann Aber ich wünsche mir, dass das gekann man sich das teilen. lingt. Es ist eine Sache auf Gegenseitigkeit. Ich biete sie meinen BZ: Diese Wohnform, ein Mehrge- Freunden an und kann so auch selnerationenhaus, wie Sie sagen, ist ber leichter zulassen, zum Pflegealso in Ihren Augen etwas, das fall zu werden. Nicht Pflicht, sonman propagieren kann? dern gegenseitiges Vertrauen ist Scherf: Unbedingt! Gerade im Zu- die Basis dafür. sammenhang mit unserem TheFortsetzung nächste Seite BZ – SERIE: P FL E G E BZ: Sie haben darauf hingewiesen, dass Menschen heute im Idealfall noch 30 Jahre zur Verfügung haben zwischen dem Eintritt in den Ruhestand und dem Lebensende. Da kann man viel unternehmen, zum Beispiel Kreuzfahrten – oder einen Angehörigen pflegen. Ist das nicht doch eine Frage der Verantwortung? Scherf: Ich jedenfalls möchte gerne mein Leben sinnstiftend verbringen. Ich bin keiner, der nur unterhalten und abgelenkt werden will. Ich möchte alles wissen und alles annehmen können, auch meine schwierigen Lebensabschnitte. Dazu gehört, dass ich mich vertraut mache mit dem Pflegen, mit der Last, die da auf einen zukommt. Ich glaube, dieses Bewusstsein muss wieder in unsere Mitte gerückt werden. 3 F O LG E 12.2 ich es dann nicht mit meiner Familie schaffen kann, weil mein Arbeitsplatz nicht familiennah ist, muss ich mich eben in der neuen Nachbarschaft umsehen und es BZ: Sollten die Profis sich etwa dort organisieren. überflüssig machen? Scherf: Überflüssig werden die BZ: Was schlagen Sie da konkret nie sein. Sie werden die häusliche vor? Pflege unterstützen und helfen, Scherf: Ich plädiere für Wahlfamiwenn die Amateure nicht mehr lien, dafür, dass wir Nachbarschafweiterkommen. Sie springen ein, ten mobilisieren, dafür, dass wir wenn es nicht mehr geht, aber sie diese Monokultur – alles konzenersetzen nicht einfach die gegen- triert sich nur auf die Kleinstfamiseitige Mithilfe, sondern sie ma- lie – beenden, dass wir generatiochen sie möglich. So sollten wir nenübergreifende Quartiere in das sehen. den Mittelpunkt rücken, in denen dann auch beruflich mobile Leute BZ: Sollte man das Geben und einen Rahmen für gegenseitige Nehmen stärker organisieren, mit Hilfe haben. Wenn sie nicht für die Zeitkonten, Seniorengenossen- eigenen Eltern und Geschwister schaften, vertraglichen Gegenleis- da sind, dann eben für Freunde, tungen und so weiter? Kollegen und Wohngenossen. Da Scherf: Ich kann mir da ganz viel ist eine große Entwicklung im vorstellen. Es gibt auch schon ganz Gange. viel. Man muss sich das mal vor- BZ: Auch bei den Trägern? stellen: Es ist der größte Arbeits- Scherf: Bei manchen. Es gibt hier markt, den wir haben, mit den einen Träger, die Bremer Heimstifmeisten Beschäftigten. Natürlich tung, die ich selber jahrelang geleiwächst er weiter, weil wir alle älter tet habe, der größte Träger in Breund weil immer mehr älter wer- men, die bauen nur noch Quartieden. Auf diesem großen Dienst- re und „Dörfer“, und sie bauen leistungssektor sollte es viele, vie- keine Alteneinrichtung mehr ohle Alternativen geben. Es muss ne Krippe, ohne Kindergarten, ohbunt zugehen, und es darf nicht ne Angebote für Menschen, die als immer nur die eine Antwort ge- Berufstätige mit kleinen Kindern ben: Wir nehmen euch in die Voll- ihren Arbeitsalltag organisieren pflege, wollen das möglichst allei- müssen. Die haben einen Zune machen und brauchen weder spruch wie niemand sonst, da wolMithilfe noch Arbeitsteilung. Das len die Leute hin. Das ist die Zuwäre eine Sackgasse. kunft. ker motivieren, weil es um Menschlichkeit geht und weil so viele pflegebedürftige Menschen sich das wünschen. BZ: Wie meinen Sie das? Scherf: Wir haben uns aus vielerlei Gründen darauf eingerichtet, dass uns das Pflegen abgenommen und anderswo erledigt wird, dass es eine Stelle gibt, bei der man diese Last abliefern kann. Das ist kein guter Weg. Das bedeutet ein Abwehren und Abwerten dieser wichtigen Lebenserfahrung, den Versuch, einen Teil des Lebens zu verdrängen. Ich möchte aber auch diesen Teil gerne annehmen, gerne mehr darüber wissen, mehr können und das Wissen und Können weitergeben. Natürlich hoffe ich, dass ich auch davon profitiere, wenn ich einmal selbst pflegebedürftig bin. BZ: Einerseits sollen Erwerbstätige immer mobiler werden, verBZ: Von den Profis der Wohlfahrts- langt die Politik, andererseits solpflege bekommt man oft zu hören: len die Familien bei der Pflege der Lasst uns mal machen, wir verste- Angehörigen zusammenhalten. hen mehr davon. Sollten sich die Wie passt das zusammen? Profis mehr zurückhalten? Scherf: Stimmt, da gibt es viele Scherf: Ja, bitte. Ein solches Ver- schmerzliche Prozesse. Damit halten ist schon fragwürdig. Ich muss man umgehen lernen. Wenn kenne viele Profis, da ich jahrelang als Sozialsenator selbst für diesen Sektor verantwortlich war, auch viele Einrichtungen aufgebaut haHENNING SCHERF be. Ich habe selbst eine Pflegeauswurde 1938 in Bremen geboren bildung gemacht und selbst geund war erst Sozial-, später pflegt. Ich weiß, wie das ist. Desdann Bildungssenator und bis halb werbe ich unter den Profis – 2005 Bürgermeister seiner bei wachsender Zustimmung übriHeimatsstadt. Der Sozialdegens –, dass wir nicht alles profesmokrat hat in Freiburg und Berlin sionalisieren. Jura und Soziologie studiert. Stattdessen sollten wir aus humaEr lebt mit seiner Ehefrau Luise nen Gründen die Hilfe der Nachin einer achtköpfigen Wohnbarschaft, der Familie und der Angemeinschaft in der Bremer gehörigen mehr fordern und förInnenstadt. BZ dern. Wir sollten denen das nicht alles abnehmen, sondern sie stär- ZUR PERSON BZ: Was halten Sie vom neuen Anlauf zu einer Pflegereform? Scherf: Ich finde, die sind auf dem richtigen Weg, ich finde das alles ein bisschen zu zaghaft, ich würde gerne weitergehen, aber ich weiß, dass man in Koalitionen Rücksicht nehmen und auch den kleinen Nenner hoch schätzen muss. Aber sie haben’s kapiert: Es darf nicht alles immer auf professionelle und Heimunterbringung hinauslaufen, sondern es muss, bitte sehr, in wachsendem Maße Unterstützung für nachbarschaftliche, ambulante Versorgung Gebrechlicher möglich sein. BZ: Auch, weil es sonst nicht mehr bezahlbar ist? Scherf: Auch deshalb, aber vor allem aus Humanität. Ich bin oft unterwegs in Einrichtungen und habe tausende kennen gelernt, die dort leben. Ich weiß, was sie sich wünschen. Und weil sie selbst sich kaum äußern, sage ich es: Die ganz große Mehrheit möchte in vertrauter Umgebung alt werden und sterben und wünscht sich dringend, wirklich dringend, dass wir diesen Wunsch respektieren. Stoppen sollten wir also die Investorenmodelle, die jetzt überall aus ökonomischen Gründen, weil sie dicke Rendite wittern, ein großes Haus neben das andere an den Rand der Städte bauen. Die Menschen wünschen sich etwas anderes. DIE SERIE 3 Mit diesem Interview und dem Leitartikel von Lord Ralf Dahrendorf auf Seite 4 endet unsere zwölfteilige Serie „Zukunft der Pflege – Was im Alter auf uns zukommt“. 3 Bisher erschienen: Die Pflegereform, am 7. Juli. Das Geschäft mit der Pflege, am 10. Juli Der Medizinische Dienst, am 11. Juli Alltag im Pflegeheim, am 12. Juli Der Pflegeheim-Check, am 13. Juli Ich werde gepflegt, ich pflege, ich bin Angehöriger,am 14. Juli Mehrgenerationenwohnen, am 16. Juli Der Beruf Altenpfleger(in), am 17. Juli Tabu Pflege und Alter, am 18. Juli Die illegalen Pflegekräfte, am 19. Juli Ambulante Pflege, am 20. Juli 3 Alle Texte und die komplet- ten Seiten als pdf-Datei zum Ausdrucken DIN-A-4-Größe finden Sie unter: www.badischezeitung.de/pflege 3 Im Herbst wird es im Freibur- ger BZ-Haus eine Podiumsveranstaltung zum Thema Pflege geben. Den Termin erfahren Sie in der BZ. 3 Unsere Leserbriefredak- tion erreichen Sie unter [email protected]