Christina und Uwe Schönfeld Gebärdensprachsolistin
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Christina und Uwe Schönfeld Gebärdensprachsolistin
Sendung vom 23.1.2014, 21.00 Uhr Christina und Uwe Schönfeld Gebärdensprachsolistin, Gebärdensprachdolmetscher im Gespräch mit Hans-Jürgen Mende Mende: Herzlich willkommen, meine Damen und Herren, zum Forum, zu einem ungewöhnlichen Forum heute, denn wir haben zwei Gäste im Studio. Ich begrüße zuerst ganz herzlich eine ganz wunderbare Frau: Christina Schönfeld, Schauspielerin und Gebärdensolistin. Da sie gehörlos ist, ist auch ihr Mann mitgekommen, den ich ebenfalls sehr herzlich begrüße. Er wird unser Gespräch dolmetschen. Vielen herzlichen Dank fürs Kommen. Uwe Schönfeld: Wir sind gerne gekommen. (Im Folgenden übersetzt Herr Schönfeld die Gebärden- bzw. die Lautsprache.) Mende: Frau Schönfeld, wir wollen über Ihre Arbeit auf der Bühne sprechen, aber auch über Ihr Leben als Gehörlose überhaupt und auch über die Sprache, mit der Sie sich verständigen können, also über die Gebärdensprache. Darf ich mit einer ganz persönlichen Frage beginnen? Christina Schönfeld: Bitte. Mende: Ist eine Ehe zwischen einem Hörenden und einer Gehörlosen normal oder heiraten die meisten Gehörlosen untereinander? Christina Schönfeld: Das ist eine sehr schöne Frage. Früher, vor 35 Jahren, war das eine harte Zeit, als ich meinen Mann kennengelernt habe, der mir ja als Hörender gegenüberstand. Für mich war ganz wichtig, dass er eine Gebärdensprachkompetenz hatte, da seine Eltern ebenfalls gehörlos sind. Für mich war das ganz wichtig in diesem Moment und da hat es mich gar nicht interessiert, ob er selbst hört: Das Herz hat gesprochen! So sind wir zusammengekommen. Aber ich muss sagen, dass am Anfang alle meine Freunde von dieser Situation überhaupt nicht begeistert waren. Sie haben quasi gesagt: "Was soll das? Du willst mit einem Hörenden zusammen sein? Du hast einen Gehörlosen zu nehmen wie wir auch!" Ich aber war begeistert von der Kommunikation mit ihm und von allem, was damit zusammenhing. Und nun sind wir schon 37 Jahre zusammen und davon 32 Jahre verheiratet. Wir haben eine große Tochter, die bald 35 wird, und wir haben auch noch einen Adoptivsohn. Wir haben also zwei Kinder. Im Laufe der Zeit war es dann so, dass sich immer mehr andere Gehörlose ebenfalls hörende Partner gewählt haben. Heute ist das schon fast eine Selbstverständlichkeit. Mende: Herr Schönfelder, wie haben Sie denn Ihren Heiratsantrag formuliert? Wie war das? Uwe Schönfeld: Mein Gott, wie habe ich den formuliert? Ich bin ein Mann, das ist jetzt schwierig zu sagen. Nein, im Ernst, ich weiß nur noch, dass ich damals die Christina haben wollte und dass ich sie ganz einfach, ganz normal gefragt habe. Aber die Vorgeschichte war, dass ich fünf oder sechs Mal Anlauf genommen habe: Ich bin hin zu ihr und wollte sie fragen, aber dann bin ich wieder davongelaufen, weil ich nämlich auch Angst hatte vor der Gehörlosigkeit und der Gebärdensprache, weil ich mich gefragt habe, ob ich das schaffe und ob sie das mit mir zusammen schafft. Aber eines Tages habe ich sie dann einfach nur gefragt. Ich weiß es nicht mehr ganz genau, aber ich habe mich halt hingekniet, wie das jeder Mann in dem Moment macht, mit einer Blume in der Hand. Aber die Christina will dazu noch was sagen. Christina Schönfeld: Ich habe damals zu meiner Mama gesagt: "Besorg mir doch bitte mal einen Mann, der die Gebärdensprache kann und der auch Elektriker ist." Da ist dann eben er erschienen und hat mir in meiner Wohnung viel gemacht. Wir haben uns viel unterhalten, während er gearbeitet hat, und als er ging, hat er den Werkzeugkoffer stehen gelassen und gemeint: "Der ist mir zu schwer, ich nehme mal nur ein Werkzeug mit nach Hause." Dann wollte er noch was sagen, ging aber doch sofort. Am nächsten Tag stand er aber wieder da und nahm dieses Mal nur einen Schraubendreher mit. Er stand immer so da und wirkte, als würde er was sagen wollen. Das ging über mehrere Tage so. Ich weiß nicht, irgendwie haben wir uns beide wohl nicht getraut, aufeinander zuzugehen, bis es dann doch so weit war und die ganze Geschichte von uns beiden anfing. Mende: Wie sehen denn die Gebärden für Liebe, für "ich liebe dich" aus? Wie zeigt man das? Christina Schönfeld: Das ist Liebe. Mende: Wunderschön. Was heißt "Gefühl"? Christina Schönfeld: Das hier bedeutet "Gefühl" und das hier "Emotion" und diese Gebärde hier ist z. B. eine Steigerungsstufe: "Die Haare stehen zu Berge." Mende: Zu einer Ehe gehört ja, dass man sich auch mal streitet. Wie ist das, wenn Sie sich streiten? Sieht man das? Würde man das von der Ferne sehen, wenn man die Gebärdensprache spricht? Christina Schönfeld: Natürlich kann man das sehen. Das kann man sogar sehr gut feststellen. Wenn wir beide uns streiten, dann ist unsere Mimik natürlich eine ganz andere: Die ist dann ein bisschen härter. So wie Sie, Herr Mende, die Stimme benutzen, um lauter zu werden oder um mit mehr Nachdruck zu sprechen, so setze ich natürlich meine Mimik ein. Mein Mann ist da manchmal sehr empfindlich: Wenn ich laut werde, dann macht er zu Hause sofort die Fenster zu, weil er immer denkt, die Nachbarn könnten sich was Falsches dabei denken. Er sagt mir manchmal, dass die Nachbarn, wenn ich laut bin, vielleicht denken, er würde mich gerade erwürgen. Deswegen macht er das Fenster zu. Aber ich bin, wenn ich die Hände benutze, eigentlich nie laut. Ich werde nur laut, wenn ich auch mal meine Stimme benutze. Ansonsten ist es eigentlich wie bei allen anderen Paaren auch: Man hat auch mal Streit, das ist ganz normal. Mende: Sie arbeiten ja als Schauspielerin, als Gebärdensolistin. Was das ist, werden wir gleich noch sehen. Aber Sie und Ihr Mann arbeiten auch gemeinsam im "Zentrum für Kultur und visuelle Kommunikation der Gehörlosen in Berlin und Brandenburg e. V." Ein schrecklich langer Titel. Was machen Sie dort? Was ist der Sinn dieser Einrichtung namens ZFK? Christina Schönfeld: Dieses Zentrum ist eigentlich schon ein uralter Verein: 1880 wurde der Vorläufer davon gegründet. Nach einigen Mutationen ist heute daraus dieses Zentrum geworden, das nun sehr vielseitige Aufgaben übernimmt. Es ist aufgeteilt in verschiedene Bereiche und hat z. B. den Bereich "Bildung". Was wird dort gemacht? In diesem Bereich bilden wir Menschen in der Gebärdensprache aus. Wir haben also Dozenten, die entweder Hörende in der Gebärdensprache unterrichten oder die Dolmetscher ausbilden. Daneben gibt es den Bereich der Einzelfallhilfe und der Familienhilfe: Da geht es um Hilfe bei der Kommunikation innerhalb der Familie. Wir helfen z. B. dabei, dass die hörenden Eltern mit ihren gehörlosen Kindern kommunizieren können, denn hörende Eltern wissen z. B. nicht, wann und wo sie wie Gebärden einsetzen sollen. Denn es ist einfach sehr, sehr wichtig, dass innerhalb der Familie gut kommuniziert wird. Ein weiterer Bereich ist der Medienbereich, in dem wir auch Filme machen. Wenn wir z. B. einen Auftrag von einem Ministerium bekommen – sei es vom Bildungs- oder vom Sozialministerium usw. –, dann machen wir kleine Filme, um auf der Homepage bestimmte Informationen auch in Gebärdensprache einblenden zu können. Es gibt also verschiedene Sachen, die wir da machen. Wir machen aber auch eigene Filme. Wir machen auch Filme im Kulturbereich und nehmen z. B. auf, was im Theater gespielt wird. Wir machen in diesem Zentrum also sehr, sehr viel. Und es gibt da noch die Dolmetscherzentrale, denn wir haben bei uns so ungefähr 60 Dolmetscher im Pool, mit denen wir arbeiten. Mende: Ich habe gesehen, dass man in diesem Zentrum auch bestimmte Gegenstände kaufen kann, wie z. B. – und daran denkt man ja als Hörender gar nicht – Telefone, die nicht klingeln, sondern die leuchten. Oder man kann eine bestimmte Art von Wecker kaufen, denn der Gehörlose hört ja einen normalen Wecker nicht klingeln. Christina Schönfeld: Ja, wir haben solche Wecker, die blitzen: Da wird einfach eingestellt, wann der Blitz kommen soll und dann werde ich durch diese Blitze geweckt am Morgen. Das mit dem Handy ist genauso. In so einem Handy ist ein Vibrator drin, damit es vibriert. Es gibt darüber hinaus heute viele hochtechnische Sachen, die wir benutzen wie z. B. FaceTime oder Skype. Hier hat sich für die Gehörlosen doch sehr, sehr viel entwickelt in der jüngeren Vergangenheit. Wir haben dadurch viel größere Möglichkeiten als früher. Früher gab es eigentlich gar nichts, da gab es höchstens irgendwelche Weckapparate, die einem quasi einen Eimer Wasser ins Gesicht schütteten, wenn es Zeit war, aufzustehen (lacht). Heute jedoch ist es so, dass uns die moderne Technik wirklich viel ermöglicht. Aber wir haben trotzdem immer noch Probleme in der Kommunikation. Die Inklusion ist leider immer noch nicht so weit vorangeschritten, dass sich da auf dem Gebiet der Kommunikation viel verändert hätte. Deswegen brauchen wir bis heute Dolmetscher, müssen wir immer noch Dolmetscher einsetzen, damit wir mit der Gesellschaft reden können. Es ist nicht so schön, jeden Tag einen Dolmetscher an der Seite haben zu müssen, aber im Moment ist das häufig noch notwendig, weil man diese Dolmetscher einfach braucht. Schöner wäre es natürlich, wenn uns viel mehr ganz normale Menschen verstehen könnten oder wenn wir sie verstehen könnten; das muss gar nicht perfekt sein, es würde schon genügen, wenn viel mehr Menschen bewusster die nonverbale Kommunikation einsetzen würden. Das wäre schön. Aber hier haben wir momentan eben noch Probleme, sei es beim Einkaufen, sei es im Theater oder bei den Opernproduktionen, bei denen immer mein Mann dabei sein muss als Dolmetscher, denn ohne ihn würde ich dort nichts verstehen. Vielleicht ändert sich das aber Schritt für Schritt in Zukunft noch. Früher war das alles natürlich noch viel problematischer. Für meinen Opa und meine Oma, die ja beide gehörlos waren, war das eine sehr harte Zeit. Sie waren selbständig und hatten gemeinsam eine Firma. Ich war immer sehr, sehr stolz auf meine Großeltern. Mein Opa war Tischlermeister und hatte als Tauber eben einen eigenen Betrieb mit hörenden Gesellen. Er hat das damals alles ohne Dolmetscher durchziehen müssen. Heute haben wir doch eine andere Situation als früher, heute wollen wir auch mehr Wissen haben, wollen mehr verstehen. Damals waren die Anforderungen noch nicht so hoch, weswegen wir heute eben auch diesen Wunsch nach mehr Kommunikation und Gebärdensprache haben. Mende: Wie schön, dass es so etwas wie FaceTime und Skype gibt heutzutage: Das ist all das, was man vielleicht unter dem Stichwort der Videotelefonie zusammenfassen könnte. Sie sehen und können sich daher jetzt weltweit mit anderen mittels der Gebärdensprache unterhalten. Früher war es ja ausgeschlossen, dass man als Gehörloser einfach mal so telefoniert hat. Insofern ist das natürlich eine wunderbare Entwicklung. Christina Schönfeld: Ja, wir können heute wirklich weltweit kommunizieren. Ich bin sehr, sehr froh, dass es heute diese technischen Möglichkeiten gibt. Die Hörenden können sich nämlich manchmal gar nicht vorstellen, ob und wie ich mit anderen gehörlosen Menschen in der Welt kommunizieren kann. Es gibt nämlich eine sogenannte internationale Gebärdensprache: Als ich damals zum ersten Mal gehörlose Italiener kennengelernt habe, hat es nur ein paar Minuten gedauert, und schon konnten wir über Gott und die Welt reden, weil dabei sehr bewusst neben der Gebärdensprache die nonverbale Kommunikation zum Einsatz kam. Das ist natürlich weltweit wunderbar. Für die Hörenden ist das natürlich viel problematischer, sie müssen immer ihr Englisch-, Französisch, Italienischwörterbuch usw. mitnehmen und dann versuchen, mittels der darin enthaltenen Vokabeln Sätze aufzubauen. Der Vorteil, den wir Gehörlosen haben, besteht also darin, dass wir weltweit problemlos miteinander kommunizieren können. Mende: Wir sprechen später in der Sendung noch einmal über die Gebärdensprache, aber davor möchte ich gerne darlegen, warum wir Sie, Frau Schönfeld, auch eingeladen haben. Denn Sie sind eine wirklich sehr eindrucksvolle Schauspielerin und Gebärdensolistin auf der Bühne. Ich habe Sie an der Deutschen Oper am Rhein in Düsseldorf erlebt, und zwar in einer Oper von Helmut Oehring, der aus dem "Fliegenden Holländer" von Richard Wagner und aus den Geschichten und Texten von Heinrich Heine, Hans Christian Andersen und anderen ein neues Stück kreiert hat. Helmut Oehring ist Sohn von ebenfalls gehörlosen Eltern. In diesem Stück sind Sie also aufgetreten und wir haben uns einen kleinen Ausschnitt aus dieser Oper besorgen können. Den sehen wir jetzt. Filmeinblendung: (aus der Oper "SehnSuchtMEER" von Helmut Oehring mit Christina Schönfeld als Gebärdensprachsolistin) Mende: Frau Schönfeld, Sie haben eine sehr feine und wunderbare Ausdrucksfähigkeit. Kann man denn sagen, dass Menschen, die gehörlos aufwachsen, doch sehr früh lernen, ihre Gefühle und ihre Aussagen auch mimisch auszudrücken? Und dass Ihnen das heute als Schauspielerin zugutekommt? Christina Schönfeld: Ja, das kann man so sagen, denn die Mimik, die Gestik, die Gebärdensprache und auch die Mundgestik, die wir verwenden, gehören natürlich zu unserem Alltag. Wir können z. B. drei, vier verschiedene Vokabeln durch verschiedene Bewegungen des Mundes und des Gesichts ausdrücken. Das kommt in sehr, sehr vielen Situationen vor. Das heißt, das ist alles bereits da bei jemandem wie mir. Ich bin ja auf der Bühne die einzige Gehörlose, und obwohl ich mich oft so fühle, als würde ich aus einer anderen Welt dorthin kommen, ist es für mich trotzdem ein ganz tolles Gefühl, z. B. in diesem Stück mitgemacht zu haben. Meine Rolle in diesem Stück stellte große Anforderungen an mich, denn ich gebärde in diesem Stück ja nicht nur, sondern ich musste auch noch sprechen und singen. Ich habe geschwitzt! Ich und Sprechen? Zum ersten Mal hat mich Helmut Oehring dabei korrigiert, das hatte er in all den früheren Stücken noch nie gemacht. Er hat z. B. darum gebeten, dass ich meine Stimme höher einsetze, damit das in bestimmten Situationen mit der Sängerin Manuela Uhl, mit der ich ja simultan gesungen und gebärdet habe, zusammenpasst. Das war natürlich eine schwierige Situation für mich: Wann fängt sie wo an zu singen? Ich bekomme ja die Signale nicht über die Lautsprache, sondern über die Lichtwechsel oder die Bewegungswechsel. Die Texte, die wir sagen, sind ja alle einstudierte Texte. Das war sehr schön. Mende: Das war ja nicht die erste Zusammenarbeit zwischen Ihnen und Helmut Oehring auf der Bühne, denn Sie haben auch schon andere Stücke mit ihm uraufgeführt. Ich kann mir vorstellen, dass das am Anfang für Sie eine große Überwindung bedeutet hat und dass sehr viel Mut dazugehört, als Gehörlose auf die Bühne zu gehen. Christina Schönfeld: Ja, das ist nun schon wieder 20 Jahre her. Damals stand der Helmut eines Tages bei uns in unserem Club und suchte einen Solisten. Er fragte mich dann, ob ich Interesse daran hätte. Ich antwortete ihm: "Aber Musik? Ich kann mir nicht so ganz vorstellen, was du damit meinst?" Aber der Helmut ist eben auch ein CODA (Children of Deaf Adults), denn seine Eltern sind ebenfalls gehörlos. Zu diesem Zeitpunkt war die Situation für uns Gehörlose jedoch Folgende: Alle Gehörlosen haben damals für die Anerkennung der Gebärdensprache gekämpft. Alles, was irgendwie mit Hörenden zu tun hatte, war für uns natürlich ein Problem. Und da sollte ich dann als Gehörlose auf einer Bühne stehen und dort auch noch meine Stimme anwenden? Ich empfand mich deswegen fast schon wie eine Verräterin, wie jemand, der quasi gegen die Gebärdensprache kämpft. Wir haben dann lange darüber diskutiert und Helmut sagte dann: "Bitte, mache es!" Ich habe mir gesagt: "Gut, warum nicht!" Ich bin eine Schauspielerin und auf der Bühne habe ich eben all das zu tun, was man von mir verlangt. Und da geht es eben nicht um die eigenen Emotionen, die man dabei hat. Wenn ein Schauspieler einen Mörder oder Vergewaltiger spielt, dann muss er das eben auch machen. Ich dachte mir: Genauso werde auch ich auf der Bühne stehen und die Stimme einsetzen. Aber auf der Straße war ich selbstverständlich weiterhin eine Kämpferin für die Gebärdensprache. So habe ich angefangen und mitgemacht. Es war dann wirklich ziemlich schwierig für mich, meine Stimme zum ersten Mal bewusst einzusetzen. Mir wurde sogar schwindlig davon. Aber für mich war es natürlich zuerst einmal wichtig, auch die Wünsche von Helmut umzusetzen. Und seitdem klappt das sehr gut. Heute läuft das einfach und ich bin stolz darauf, das getan zu haben. Am Anfang waren die anderen Gehörlosen deswegen ein bisschen zurückhaltend, aber inzwischen haben sie mich verstanden. Für solche Prozesse braucht man eben Zeit. Mende: "SehnSuchtMEER" heißt diese Produktion, die in der Deutschen Oper am Rhein in Düsseldorf gelaufen ist. Man kann sagen, Sie waren das Zentrum dieser Produktion, denn Sie haben das Alter Ego von "Senta" gespielt. Ich glaube, dass die meisten Menschen davon zutiefst berührt und begeistert waren, wie Sie das gemacht haben. Was mich sehr berührt hat – es waren viele Gehörlose in der Vorstellung –, war die Tatsache, dass man nicht klatscht, wie wir das normalerweise in der Oper machen, sondern es wurde vom Publikum eine bestimmte Bewegung mit den Händen und Armen gemacht, um zu zeigen, wie begeistert es ist. Das hat mich sehr berührt. Christina Schönfeld: Nun ja, das ist ja klar: Wenn ich auf der Bühne stehe und alle klatschen, höre ich das ja nicht. Ich bekomme also gar nicht mit, ob es dem Publikum gefallen hat oder nicht. Wenn sie jedoch die Hände hochheben, dann sehe ich ihre Begeisterung. Wenn Hörende auf der Bühne stehen, dann sind sie womöglich zuerst einmal ein bisschen irritiert, wenn das Publikum komplett die Hände hochreißt, weil sie es schlicht gewohnt sind, dass das Publikum laut klatscht, wenn es begeistert ist. Ich jedoch brauche diese Hände, brauche diesen optischen Ausdruck von Begeisterung. Ich habe ja kein Problem damit, wenn die Leute klatschen, um Gottes willen. Aber das mit den Händen ist eben auch schön. Mende: Sie haben gesagt, dass Sie die Musik nicht hören. Haben Sie denn eine Vorstellung davon, was Musik sein könnte? Christina Schönfeld: Ich habe schon mal eine Gitarre, eine Flöte oder auch einen Bass angefasst. Ich habe dabei Geräusche, genauer gesagt Vibrationen wahrgenommen. Wenn ich auf der Bühne stehe, dann spüre ich die Vibrationen von verschiedenen Instrumenten oder ich spüre den Schall als Bewegung. Aber mehr ist das nicht. Ich bin einfach stocktaub, und zwar von Geburt an. Mende: In welchem Alter ist Ihnen denn aufgefallen, dass Ihnen ein Sinn fehlt, nämlich der Gehörsinn? Mir hat ein Blinder mal erzählt, ihm sei das erst ganz spät in seiner Jugend aufgefallen, denn das sei etwa so gewesen, als würde man einem anderen Menschen sagen: "Du, andere Leute haben ein Auge am Hinterkopf." Das heißt, er hat diesen Sinn, nämlich das Sehen, gar nicht vermisst. Christina Schönfeld: Ich bin taub geboren, aber meine Eltern konnten gebärden, denn mein Vater ist ja auch ein CODA, da seine Eltern wie bei Uwe oder Helmut auch gehörlos waren. Meine Eltern haben daher so "Hausgebärden" verwendet, um mich zu erziehen. Mit Oma und Opa habe ich natürlich immer gebärdet. Und wenn ich auf dem Hof draußen war, habe ich auch gesehen, dass da andere Menschen miteinander sprechen, ohne zu gebärden. Aber das hat mich nicht weiter interessiert, ich habe da einfach ganz normal mitgemischt. Ich war dann eine kurze Zeit lang sogar in einem Kindergarten, aber da habe ich auch nichts gemerkt. Das ging so lange gut, bis die Einschulung in die Gehörlosenschule kam: Da habe ich einen Schock bekommen, denn da waren so viele Kinder, die mit den Händen herumgewirbelt haben! Ich habe mich dort überhaupt nicht wohlgefühlt und dachte, ich wäre an einem vollkommen falschen Ort gelandet. Ich ging also zur Mama und sagte ihr: "Nein, wir gehen wieder!" Sie jedoch hat mich wieder in die Klasse geschubst und zu mir gesagt: "Du bleibst hier, du musst hier bleiben!" Ich habe diese anderen Kinder gar nicht verstanden, das war für mich alles eine einzige große problematische Angelegenheit. Das hielt an, bis ich das dann nach geraumer Zeit doch alles verstanden habe. Denn meine Eltern hatten es einfach nicht geschafft bzw. mir als Kleinkind einfach nicht erklärt, dass ich taub bin. Aber nach einiger Zeit habe ich mich dann auch in der hörenden Welt wohlgefühlt. Heute bin ich in beiden Welten unterwegs: Die gehörlose Welt ist nämlich schon auch immer noch meine Welt. Mende: Ich kann mir vorstellen, dass es für Kinder und Jugendliche oft gar nicht so einfach ist, gehörlos zu sein. Man sieht ja hin und wieder mal Gruppen von Gehörlosen, wie sie untereinander mit der Gebärdensprache kommunizieren. Das sieht auf den ersten Blick ungewöhnlich aus für viele Menschen. Haben Sie denn auch Situationen erlebt, in denen andere Menschen über Sie gelacht haben? Christina Schönfeld: Ja, natürlich. Wenn wir an der U-Bahn standen und gebärdet haben, dann standen andere zusammen und haben wirklich verspottend gelacht über uns. Ich bin da immer sehr, sehr empfindlich gewesen. Wir haben dann sogar in irgendwelchen Ecken versteckt gebärdet, weil wir dieses Verspotten nicht mehr erleben wollten. Aber als ich dann so um die 15, 16 Jahre alt war, habe ich mir gesagt: "Nein, das ist mir doch egal, wenn andere spotten. Die sollen doch denken, was sie wollen. Wir gebärden ganz normal in der Öffentlichkeit!" Ich war z. B. einmal in einem Kaufhaus beim Einkaufen und wollte mir eine Hose kaufen. Ich stand dann dort an so einem runden Verkaufsständer, an denen die Hosen der Größe nach geordnet hingen. Ich habe dort aber nicht gefunden, was ich gesucht habe. Auf einmal merkte ich, dass hinter mir eine Frau steht und sich bewegt. Ich wurde nervös und drehte mich um deswegen. Diese Frau war eine Verkäuferin und sie sagte irgendetwas zu mir. Ich habe ihr dann gesagt, dass ich nicht hören kann. Sie sagte daraufhin: "Sie hören nicht? Ach, Sie können nicht sprechen! Sie müssen Halstabletten nehmen!" Und dann hat sie mir noch gute Besserung gewünscht. Mende: Das ist ja sehr einfühlsam. Ich habe mich ein bisschen mit der Geschichte der Gehörlosen beschäftigt. Solche Erlebnisse haben wohl auch mit dazu geführt, dass früher viele Gehörlose sehr zurückgezogen gelebt und die Öffentlichkeit gemieden haben. Wie sieht das heute aus? Christina Schönfeld: Das ist nicht mehr so! Seit 2002, als die Gebärdensprache anerkannt wurde, hat sich eine rasante Entwicklung ergeben. Angeschoben war diese Entwicklung bereits durch den Mauerfall geworden: Durch den Zusammenschluss der vielen Gehörlosen gibt es nun auch Studiengänge, in denen Gehörlose studieren können. Es gibt in Deutschland inzwischen sogar einen gehörlosen Professor und es gibt Gehörlose, die als Lehrer arbeiten. Und es gibt auch jede Menge Gehörlose, die sich mit ihrem jeweiligen Beruf selbstständig gemacht haben. Das heißt, es hat sich da sehr, sehr viel entwickelt, es ist wirklich sehr, sehr viel passiert. Leider gibt es immer noch keine vollständige Anerkennung der Gebärdensprache, aber das könnte mit der Inklusion nun weiter forciert werden. Was die Umsetzung der Inklusion betrifft, haben wir noch einen weiten Weg vor uns. Ich kann ja erzählen, wie es mir ergangen ist. Als ich vor vielen, vielen Jahren angefangen habe, mit Helmut zusammenzuarbeiten, war das eigentlich schon der erste Schritt, Inklusion zu betreiben. Mende: Es gibt heute eine ganz aktuelle Diskussion über die Frage, ob gehörlose Kinder in Lautsprache unterrichtet werden sollen, ob sie nicht mit ihren geringen Möglichkeiten doch versuchen sollen, sprechen zu lernen. Da sich jedoch gehörlose Menschen nicht über das Ohr kontrollieren können, klingt das für die meisten Menschen eben sehr ungewohnt. Die Alternative dazu ist, dass sie nur in Gebärdensprache ausgebildet werden. Über diese Frage wird gerade ganz intensiv diskutiert. Wie sehen Sie das? Christina Schönfeld: Es gibt natürlich ganz unterschiedliche Grade auf dem Gebiet der Hörbehinderung. Da gibt es z. B. Menschen, die schlicht taub sind. Diese Menschen brauchen unbedingt ihre Gebärdensprache. Schwerhörige jedoch benutzen natürlich die Lautsprache mit. Menschen, die ein Restgehör besitzen und dann ein CI bekommen, also ein Cochleaimplantat, können selbstverständlich auch ihre Lautsprache mit verwenden. Wie man hier vorgehen soll, darüber gibt es in der Tat einen langen Streit. Es gibt eben auch die Taubblinden, die in der Kommunikation das Lorm-Alphabet mit einsetzen. Und es gibt z. B. Kinder mit Lerneinschränkungen, die eine unterstützende Kommunikation verwenden. Sie sehen also, da gibt es viele verschiedene Formen und es muss immer individuell geschaut werden, was richtig und sinnvoll ist. Es gibt da nicht nur die eine oder die andere Alternative. Für uns ist ganz wichtig, dass die Schwerhörigen, die ja ein Restgehör haben, selbstverständlich auch weiterhin die Lautsprache lernen. Aber diejenigen, die wirklich komplett taub sind, sollten als Hauptkommunikationsmittel die Gebärdensprache verwenden, weil sie die Lautsprache ja eh nicht kontrollieren können. Wieso sollen sie da die Lautsprache lernen? Für die Menschen, die komplett taub sind, ist also die Gebärdensprache da. Mende: Ich habe bei der Recherche festgestellt, dass überhaupt sehr viel diskutiert wird im Bereich der Gehörlosen. Da wird z. B. diskutiert über die Möglichkeiten und Risiken eines Implantats, das Sie ja auch soeben angesprochen haben. Mit so einem Implantat wird eine gewisse Form von Hören ermöglicht. Christina Schönfeld: Ja, wenn eine Resthörigkeit vorhanden ist, kann ein CI eingesetzt werden. Aber bei einem Kind, das taub ist, ist das nichts. Hätte ich ein taubes Kind, würde ich ihm jedenfalls niemals ein CI einsetzen lassen. Denn das ist ja auch ein psychologisches Problem: Die Gebärdensprache ist das Kommunikationsmittel tauber Menschen. Und momentan ist es leider noch so, dass es einen Konflikt gibt zwischen den medizinischen Aspekten und den sozialen Aspekten. Die Mediziner versuchen natürlich, die CIs einzusetzen und die Kinder unter medizinischen Gesichtspunkten zu behandeln. Aber für mich ist es doch auch wichtig, dass die Kinder lernen, mit ihrer Taubheit umgehen zu können und die Gebärdensprache wirklich gut zu lernen. Sie können dann ja später selbst entscheiden, ob Sie ein CI implantiert bekommen wollen. Ich selbst würde das jedenfalls nicht machen. Ich habe große Probleme damit, wenn man heute blinde Kinder mehr oder weniger dazu zwingt, dass sie sich irgend so einen Chip, einen Fremdkörper einsetzen lassen. Denn wenn man blind oder taub ist, dann ist es eben so. Mende: Es gibt also für Sie nicht die Hoffnung, dass Sie eines Tages mittels einer ganz tollen elektronischen Erfindung die Musik von Richard Wagner doch hören können. Christina Schönfeld: Nein, diese Hoffnung habe ich nicht und ich möchte das auch gar nicht: Ich bin taub. Natürlich habe ich mir schon öfter Gedanken darüber gemacht und als Kind hatte ich auch eine Phase, in der ich unbedingt hören wollte. Aber heute bin ich eigentlich stolz darauf, wer ich bin, wie ich bin und was ich alles in meinem Leben erreicht und gemacht habe. Warum sollte ich dann jetzt noch hören müssen? Ich habe auch so meine Erfolge und das reicht mir. Ich bin glücklich, ich habe eine Familie, ich habe gute Freunde, für mich ist alles gut. Mende: Eine wichtige Erkenntnis war jedenfalls für mich, dass unter Gehörlosen heftigst diskutiert wird. Wenn man da in so manche Foren im Internet hineinschaut, dann stellt man fest, dass da im Internet eine sehr eindrückliche Form der Kommunikation über das Pro und das Kontra und über dies und das abläuft. Die Gehörlosen bilden also eine Gesellschaft, die sich sehr stark und auch sehr gerne artikuliert. Christina Schönfeld: Ja, das ist ja klar! Es ist einfach so: Es ist die Gesellschaft, die mich momentan leider noch behindert macht. Viele Menschen, die nicht wissen, was Gehörlosigkeit ist, sagen z. B. immer noch: "Ach, diese armen Menschen, die verstehen ja nichts!" Und dann halten sie auch gleich ein wenig Distanz. Aber viele Gehörlose sind unglaublich leistungsfähig und besitzen große Kompetenzen. Es gibt inzwischen viele Gehörlose, die sehr, sehr viel gelernt haben, die sich sehr viele Kompetenzen angeeignet haben. Aber diese Menschen müssen dann eben auch entsprechende Aufgaben bekommen. Der Deutsche Gehörlosenbund und alle anderen Initiativen auf diesem Gebiet müssen sich einig sein und diesen Weg gemeinsam gehen, damit wir endlich alle gleich behandelt werden. Das läuft natürlich nur über Information: Es müssen einfach alle hörenden Menschen wissen, wie wir Gehörlosen leben und wie wir kommunizieren. Wenn ich noch einmal auf das Thema Inklusion zu sprechen kommen darf. Für uns ist das ganz wichtig, denn wir wollen, dass gehörlose Kinder, die intelligent sind, heute auch in eine Hörendenschule gehen. Dort müssen sie selbstverständlich einen Dolmetscher mit dabei haben. Aber sie müssen einfach die Möglichkeit haben, in diese Schule der Hörenden zu gehen, um sich eventuell noch schneller entwickeln zu können. Ich finde das gut. Sicher, wenn das nur ein einzelnes Kind ist, dann ist das nicht so toll, d. h. das müssten dann schon immer zwei, drei Kinder sein. Bis heute ist es also immer noch eine große Frage: In welche Schule sollen gehörlose Kinder gehen? Ist es ein Vorteil oder ein Nachteil, wenn sie alle auf eine spezielle Schule für Gehörlose gehen? Wie und wo kann man was optimal umsetzen? Mende: Wie weit ist denn die heutige Gesellschaft bereit, auf Sie zuzugehen? Ich nehme als Beispiel mal das Fernsehen und die Frage, ob Filme untertitelt werden oder nicht. Oder nehmen wir aktuelle Sendungen als Beispiel. Wie ist das mit diesem Wahlkampfduell im Fernsehen zwischen Merkel und Steinbrück gewesen? Gehörlose sollen ja nicht ausgeschlossen werden aus den politischen Diskussionen: Inwieweit wird Ihnen das denn vermittelt? Haben Sie Zugang zu solchen aktuellen Sendungen? Christina Schönfeld: Ich sage mal so: Beim Duell zwischen Steinbrück und Merkel gab es Untertitel. Das war aber auch klar, denn das Fernsehen musste das einfach so machen: Da ging es um die Wahlen und deswegen war es völlig logisch, dass da Untertitel vorhanden waren. Mein persönliches Glück ist aber, dass ich ja zu Hause einen Dolmetscher habe, nämlich meinen Mann: Er übersetzt mir so manche Dinge, die eben nicht untertitelt sind. Etliche Gehörlose haben aber dieses Glück nicht; es gibt leider viele, viele Sendungen, die nicht untertitelt sind. Es gibt da so verschiedene Shows im Fernsehen, die nicht untertitelt sind. Ich schaue mir z. B. immer gerne "Das perfekte Dinner" an – mein Mann ist jedoch immer total genervt davon. Denn ich koche selbst unheimlich gerne. Wenn ich sehe, was sie da machen, dann hätte ich schon sehr gerne Untertitel, denn mein Mann haut womöglich plötzlich ab, weil er genervt ist, und ich sitze dann alleine vor dem Fernseher. Es gibt noch viele andere Shows, die nicht untertitelt werden. Das gilt leider auch für viele Kultursendungen und für Sendungen, in denen Journalisten miteinander diskutieren. Das fehlt mir natürlich, denn hier ist leider momentan noch nichts im Angebot. Mende: Wollen wir hoffen, dass sich dieses Angebot noch erweitert. Lassen Sie uns nun ein bisschen über die Gebärdensprache überhaupt sprechen. Als ich einigen Menschen erzählt habe, dass Sie in diese Sendung kommen, haben sie gesagt: "Ach, die kann bestimmt alles von den Lippen lesen. Da brauchst du doch gar keinen Dolmetscher." Inwieweit ist es für Gehörlose möglich, von den Lippen zu lesen? Christina Schönfeld: Wenn ein Schwerhöriger mit seinem Restgehör – das gilt allerdings nicht für alle Schwerhörigen – dem anderen noch zusätzlich vom Mund abliest, dann muss dieser andere dem Schwerhörigen aber auch das Angebot machen, sein Mundbild perfekt zu benutzen. Was ist aber mit Menschen, die im Oberkiefer furchtbar lange Schneidezähne haben? Oder mit Menschen, die einen Bart haben? Wie soll man solchen Menschen perfekt vom Mund ablesen können? Ich kann mir in solchen Momenten eben nur mit dem Zettel weiterhelfen. Nein, ich könnte in so einer Sendung wie hier nicht vom Mund ablesen, sondern ich brauche die Gebärdensprache. Letztlich ist das ja eine Gesamtkommunikation, bei der auch Gestik und Mimik eine Rolle spielen und mit dazu gehören. Mende: Die Gebärdensprache ist, und das hat mich doch erstaunt, in ihrer Systematik noch relativ neu. Sie ist nicht nur neu anerkannt, denn seit 2002 sind die Gehörlosen mit ihrer Gebärdensprache als Sprachminderheit anerkannt. Es ist auch so, dass dieses System relativ neu ist. Dabei ist doch die Gebärdensprache eigentlich die Ursprache des Menschen: Unsere Vorfahren haben sich zuallererst mit Gebärden ausgedrückt und verständigt – und nicht mit der Lautsprache. Christina Schönfeld: Ja, der Homo erectus konnte, wenn ich das richtig gelesen habe, noch nicht sprechen, und deswegen hat er Gesten verwendet, um mit anderen zu kommunizieren. Soweit ich weiß, waren damals einfach sein Kehlkopf zu hoch und seine Stimmbänder zu klein: Das war alles noch nicht ausgebildet und deswegen hat der Homo erectus nicht gesprochen, sondern über Gesten kommuniziert, um z. B. bestimmte Abläufe bei der Jagd festzulegen. Beim Homo sapiens, also beim Menschen, war es dann so, dass der Kehlkopf nach unten wanderte und die Stimmbänder größer und kräftiger wurden. Seit dieser Zeit ist es so, dass Gehörlose weiterhin ihre Gebärden benutzt haben: Damals begann dann aufgrund ihrer natürlichen Sprachnutzung eigentlich erst die Gebärdensprache als Sprache. Die Hörenden haben nie die Gehörlosen korrigiert oder ihnen gezeigt, wie sie die Sprache verwenden sollen. Stattdessen war es so, dass sich die Gehörlosen diese Sprache über ihr visuelles Auffassungsvermögen selbst erarbeitet haben. Das heißt, die Muttersprache, die wir Gehörlosen heute nutzen, haben wir uns selbst erarbeitet. 1880 gab es dann in Mailand einen Kongress der europäischen Gehörlosen-Pädagogen. Unter all den hörenden Gehörlosen-Pädagogen waren aber nur zwei gehörlose Pädagogen mit dabei. Dort auf diesem Kongress wurde beschlossen, die Gebärdensprache in allen Bildungseinrichtungen zu verbieten: Es durfte nur noch die Lautsprache eingesetzt werden. Im letzten Jahr in Kanada haben aber die Nachfolgepädagogen gesagt: "Das war damals nicht in Ordnung. Die Anerkennung der Gebärdensprache ist richtig." Heute muss daher der Kampf weitergeführt werden, dass in allen Bildungseinrichtungen die Gebärdensprache anerkannt wird und praktiziert werden kann. Ich vergleiche das immer mit den Sorben bei uns in Brandenburg. Die Sorben haben ja inzwischen die Anerkennung ihrer eigenen Sprache erreicht. Hier in Bayern wird ja z. B. auch immer noch stolz der Dialekt gesprochen und gepflegt. So brauchen auch wir unsere Sprache: Das ist freilich nicht nur ein Dialekt. Mende: Sie kommen ja aus Berlin. Verstehen Sie denn einen Gebärdensprachler hier in Bayern sofort? Oder gibt es auch in der Gebärdensprache so etwas wie Dialekte und Sie merken daher bald, wenn ein Gesprächspartner aus München kommt? Christina Schönfeld: Selbstverständlich gibt es viele unterschiedliche Dialekte hier in Deutschland. Die Bayern machen z. B. die Gebärde für die Wochentage anders: Der "Montag", der "Dientag" usw. wird bei ihnen ganz anders gebärdet. Ich stehe dann natürlich zuerst einmal ratlos da, denn bei uns in Brandenburg werden diese Wochentage über ganz andere Handstellungen und Bewegungen ausgedrückt. Das ist also schon ein bisschen anders. Aber verstehen können wir uns trotzdem. Da gibt es letztlich kein Problem beim gegenseitigen Verstehen. Mende: Italiener verstehen Sie aber auch, d. h. im internationalen Bereich ... Christina Schönfeld: Ja, im internationalen Bereich ist das genauso, da können wir uns auch verstehen. Wir Gebärdensprachler können uns überall auf der Welt verständigen. Das hat auch mit einer Form der Annäherung und der menschlichen Wärme zu tun. Denn wir fühlen uns alle irgendwie zusammengehörig. Mende: Wie lange würde ich denn als Hörender brauchen, um die Gebärdensprache so zu erlernen, dass sie für Gehörlose verständlich ist? Christina Schönfeld: Nun, das ist sehr, sehr unterschiedlich. Das ist wie in der Schule: Da gibt es Kinder, die schnell lernen, und da gibt es Kinder, die länger brauchen. Das ist einfach nur eine Frage der Auffassungsgabe, der Intelligenz einer Person, ob sie das schnell oder langsam lernt. Ein CODA hat natürlich den Vorteil, dass er das von klein auf mitbekommt. Mende: Aber wie ist das bei einer, sagen wir mal, mittleren Intelligenz? Christina Schönfeld: Es ist schwer, das einfach so zu sagen, aber wenn Sie z. B. auch noch Dolmetscher werden wollen, dann müssen Sie mindestens drei Jahre Vollzeitstudium investieren. Anschließend hätten Sie dann eine hohe Gebärdensprachkompetenz. Mende: Ein Zeichen habe ich mir gemerkt, nämlich das Zeichen für Fisch. Sehr spannend finde ich auch, dass die Grammatik in der Gebärdensprache etwas anders ist: Das Verb steht am Ende, das Große vor dem Kleinen, das Bewegliche vor dem Unbeweglichen usw. Christina Schönfeld: Das ist richtig. Das hat mit unserem Figur-Grund-Prinzip zu tun: Das große Objekt kommt zuerst, das kleine danach, das Verb kommt logischerweise immer am Satzende. So ist unsere Sprache aufgebaut. Mende: Wenn Sie dann jedoch schreiben, dann müssen Sie eine andere Grammatik verwenden. Christina Schönfeld: Ja, da verwende ich natürlich die deutsche Schriftsprache. Letztlich ist das einfach eine Bilingualität, d. h. ich beherrsche zwei Sprachen parallel. Wenn ich mich hier mit Ihnen unterhalte, dann spreche ich in der DGS, also in der Deutschen Gebärdensprache. Wenn ich etwas schreibe, dann schreibe ich selbstverständlich in deutscher Schriftsprache. Beim Lesen ist es natürlich auch so: Ich lese ganz normal die deutsche Schriftsprache. Es ist einfach so, dass wir in zwei Sprachen leben. Mende: Man sagt ja, dass man über die Stimme eines Menschen einiges erfahren kann: über seinen Charakter, über sein Wesen. Ist das auch in der Gebärdensprache möglich? Christina Schönfeld: Ja, auf jeden Fall. Schon alleine, wie sich die Person gibt, die Mimik, die Augen, das Verhalten: Ich brauche normalerweise nur ein, zwei Minuten, bis ich weiß, wie die Person ist, wie sie tickt. Denn ich sehe ja nicht nur, was eine Person sagt, sondern auch, wie sie sich gibt, wie sie sich verhält. Wenn Sie einen Blinden danach fragen, dann wird er Ihnen auch sagen, dass er dieses oder jenes viel besser wahrnehmen kann als ein Sehender. Wir Gehörlosen können z. B. gleichzeitig in verschiedene Richtungen schauen. Wenn meinetwegen jemand links oder rechts neben mir etwas gebärdet, dann kann ich sehen, was er gebärdet, obwohl ich gleichzeitig nach vorne schaue und mit jemand anderem vor mir gebärde. Mende: Uns erstaunt natürlich auch die Geschwindigkeit, mit der Sie sprechen können und mit der auch Ihr Mann simultan übersetzen kann. Das heißt, Sie geben mit der Gebärdensprache mehrere Zeichen gleichzeitig? Christina Schönfeld: Ja, wir komprimieren. In unserer Sprache können wir ohne Weiteres komprimieren. Ein Beispiel ist das von mir auch noch lautlich verstärkte Zeichen "pfft". Mein Mann müsste das in der Lautsprache übersetzen mit: "Der oder das ist aber komisch!" Ich mache nur eine kleine Bewegung mit der Hand und verstärke das mit meinem Mund, und er müsste daraus in der Lautsprache einen ganzen Satz machen. In der Gebärdensprache kann man unglaublich viel komprimieren und deswegen geht das so schnell. Mende: Die Gebärdensprache ist also schwierig zu lernen und auch nicht immer ganz so einfach zu übersetzen. Ist es für Sie, Herr Schönfeld, einfacher, Ihre Frau zu übersetzen, weil Sie sie so gut kennen? Oder wären Sie genauso schnell mit der Simultanübersetzung bei einer Ihnen völlig fremden Person, die in Gebärdensprache spricht? Uwe Schönfeld: Natürlich ist das leichter, weil wir ja gegenseitig genau wissen, wie der andere tickt. Wenn Sie mir eine andere Person auf den Stuhl von Christina gesetzt hätten, dann wäre es schon gut, wenn ich mich vorher kurz mit ihr unterhalten hätte. Danach aber würde das dann genauso schnell laufen. Die professionellen Dolmetscher können das alle. Aber wie gesagt, es ist immer besser, sich vorher 10, 15 Minuten zu unterhalten, sich den jeweiligen Dialekt anzueignen. Dann funktioniert das sehr gut. Mende: Die Frage für Hörende ist ja immer, wie man auf Menschen zugeht, die gehörlos sind. Wie wünschen Sie sich als Gehörlose, dass Hörende mit Ihnen umgehen und auf Sie zugehen? Christina Schönfeld: Wenn sich der Hörende z. B. mit mir unterhalten will, dann müssen wir, wenn er gemerkt hat, dass ich gehörlos bin, einfach nur versuchen, in der Kommunikation aufeinander zuzugehen. Er muss dann eben akzeptieren, dass ich eine andere "Stimme" habe. Gestern saß ich z. B. im Flugzeug und die Stewardess fragte mich, was ich trinken möchte. Ich habe daraufhin "Tee" gebärdet. Dann brachte sie mir sofort einen Tee. Damit sie mich versteht, habe ich etwas langsamer gebärdet und schon hat sie mich verstanden und ich bekam genau das, was ich wollte. Sie sagte dann "bitte" und ich "danke", als Sie mir den Tee gebracht hat. So war das absolut in Ordnung, das reicht schon völlig. Mende: Wir sind am Ende der Sendung angelangt, ich danke Ihnen beiden ganz herzlich fürs Kommen und wünsche Ihnen, Frau Schönfeld, auch für Ihre Arbeit als Künstlerin, als Gebärdensolistin alles, alles Gute. Ihnen, Herr Schönfeld, danke ich für das Übersetzen. Das war das Forum, heute mit der Schauspielerin und Gebärdensolistin Christina Schönfeld. Ihnen, meine Damen und Herren, herzlichen Dank für Ihr Interesse. © Bayerischer Rundfunk