Vorschau und - Freiraum

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Vorschau und - Freiraum
Vervielfältigung oder Weitergabe ist nicht gestattet!
© 1. Auflage 2014 freiraum-verlag Greifswald
Alle Rechte vorbehalten.
Umschlaggestaltung: Isabel Wienold
Satz: Raimund Nitzsche
Druck: Sowa Sp. z o.o.
ISBN: 978-3-943672-35-0
www.freiraum-verlag.de
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Uwe Saeger
Faust Junior
Roman
freiraum-verlag
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I
Der Weg ist das Ziel.
So was denkt nur einer und bringt’s unter die Leute, der nie unterwegs war. Am Ziel legst du die Füße hoch und lässt mehr als alle fünfe
gerade sein. Und wenn du’s noch bringst, lässt du auch die Puppen
tanzen und pfeifst auf Gott, die Kanzlerin und die schöne Nachbarin.
Du bist angekommen und wer das von sich sagen kann, ist fürs Erste
am Limit. Aber bist du unterwegs, brennen dir die Sohlen, irgendwas
ist stets am Jucken und du musst, egal ob mit oder ohne was auf ’m
Kopp, immer und überall auf der Hut sein, denn wer unterwegs ist,
ist Beute und Freibeuter in einem, steht mit einem Bein im Grab und
mit dem andern im Himmel. Es wird also Tag und Nacht gewandert
wie auf Messers Schneide, heimatlos ohne Hinterland und immer
nur’s Strohfeuer krauser Hoffnungen unterm Arsch. Auf ein Bett im
Kornfeld zum Beispiel und dass die ewige Schlange samt Apfel sich zu
einem legt und’s Erkennen dich überfällt wie der Sturm, der Eschen
fällt.
So ging’s eine Zeit und so ging ich. Mutters Segen hatte ich nicht.
Und um mich zu verfluchen, reichte es nicht, denn es war doch
Erleichterung genug, dass sie mich aus’m Haus bekam und der Zoff
mit mir endlich ein Ende hatte, weil ich nichts und nie was richtig auf
die Reihe bekam und dazu jedem ihrer sich unauffällig erneuernden
Beschäler mit meiner Duselei nach dem Sinn des Lebens, und ob der
in meiner Mutter zu finden sei, auf den Zünder poppte.
Wie’s ihre Geschichte verlangte, machte sie es nie mit einem, der nicht
wenigstens für einen König gehalten werden konnte, gleich in oder
auf welchem Mantel er daherkam. Für den erklärte sie mich dann als
ihr kleines Missgeschick, ein Satansbraten als Kuckucksei sozusagen,
das ihr passierte, als sie’s längst nicht mehr für möglich gehalten hatte,
dass ihrer hymnisch wie phallisch ausstrapazierten Büchse, das ist so
krud wie treffend gesagt, noch was einzupflanzen wäre. Aber jener
Typ, ein Bild von einem Mann – dieses Bild zu beschreiben, unterfand
sie sich nie, wie sie’s auch versuchte, es fielen ihr die Worte –, der’s
ihr mit einer wahrhaft teuflischen Rute in einer unheimlichen Nacht
besorgt hatte, sodass sie mich austragen musste und kein Krötensaft
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oder satanischer Fluch mich abtrieb, so, als hätte eine höhere Macht
ihre Hand über mich gehalten, der blieb ihr als Stachel im Fleisch.
Dieses Kind ist mein Kreuz, sagte meine Mutter oft, wenn ich wieder
einmal als missratener Sohn anstellig geworden war und Gott allein
wusste, warum. Überhaupt war Gott auf alles ihre Ausrede. Dabei
zweifle ich, dass sie nur irgendwas wusste von ihm. Gott war ihr
Sündenbock und Mülleimer. Und der ultimative Höhepunkt unserer
Mutter-Sohn-Beziehung war es, wenn sie sagte, einmal nur, Justus,
mein Sohn, möchte ich dich gottgefällig erleben, einmal nur erleben,
dass du das Leben anpackst und was machst aus dir! Und ich antwortete ihr dann, es sei dir gewünscht, Helena, Mutter, aber dazu bedarf ’s
eines andern Sohnes, ich bin aufs Verlorensein in der Welt. Dann
konnt’s geschehen und es geschah, dass wir uns aneinander lehnten,
Kopf an Kopf und Herz an Herz, und schwiegen, weil uns ein gleiches
Weh füllte und die Gewissheit, dass sie wie ich eines andern bedurften, um auf uns selbst zu kommen, dass unser letzter Grund nicht in
uns selbst zu finden war.
Zumeist lag dann einige Nächte später eine andere Hoheit bei ihr
und ihre Katzen und ich hatten uns wieder einmal an ein neues After
Shave, andere mannestypische Schnarchlaute und weitere Körpergeräusche zu gewöhnen.
Aber beim letzten Mal war’s anders. Der Kerl polterte noch vor dem
Frühstück in voller Rüstung in der Wohnung herum. Die Katzen
beförderte er mit Fußtritten auf den Balkon, dabei rief er meiner
Mutter zu, dass er den Kaffee mit Milch und viel Zucker wolle und
er auch den Junior an den Tisch holen täte. Da stand er schon in der
Tür zu meinem Zimmer und schnüffelte wie einer schnüffelt, der’s
Gras wachsen hört oder riecht und kommandierte: „Raus aus der
Molle!“ Er riss das Fenster auf. „Wasch dich!“, rief er, „und das war
dein letzter Joint in diesen Räumen, solange ich hier das Sagen habe!“
Er machte eine gymnastische Übung vor dem Fenster, so komisch,
dass ich gelacht hätte, wenn mir nicht so elend gewesen wäre. „Wenn
du kotzt“, schnauzte er mich an, „servier ich’s dir zum Frühstück.“
Er stieß die leere Ginflasche unter mein Bett. „In zehn Minuten
bei Tisch“, dröhnte er. „Und das sei auch gesagt: Unpünktlichkeiten machen mich krank und ich hasse es, krank zu sein. Haben wir
uns verstanden?“ Ich musste husten. „Haben wir uns verstanden?“,
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wiederholte er. Und ich sah, dass seine ohnehin imposante Statur sich
aufblähte, als wolle sie ganz in den Türrahmen passen.
„Sehr wohl, Hoheit“, stotterte ich. „Ihr habt laut genug gesprochen
und scharf genug gebellt!“
„Auch Spott macht mich krank“, sagte er. „Also, deine Spiele sind
ausgespielt.“
Und so war’s.
Ich saß pünktlich und in absoluter Rekordzeit am Tisch. Meine
Mutter füllte der Hoheit Milch und viel Zucker in den Kaffee. Er
halbierte das gekochte Ei mit einem Messerkick. Mich schauderte. Er
sah’s und grinste. „Musste dich dran gewöhnen“, sagte er. Er grinste
das gleiche Grinsen zu meiner Mutter. „Oder du gewöhnst dich nicht
und …“ Er machte eine Geste, die wohl „Hinaus“ bedeuten sollte.
Meine Mutter blickte auf den Tisch. Auch jetzt noch hatte sie Schönheit, einen Glanz, der nicht zu beschreiben war. „Das ist Eberhardt“,
sagte meine Mutter. „Und es ist was Ernstes mit ihm.“
Es war bitterer Ernst. Am nächsten Tag verließ ich das, was Eberhardt
Räume genannt hatte. Ich packte etwas Wäsche zusammen, steckte
die restlichen Joints ein, hängte mir die Gitarre über und sagte Adieu.
Eberhardt stand in Boxershorts und Sportsocken in der Küche und
winkte nur kurz, ließ sich nicht ablenken von seinen Trockenübungen, die Waffe aus dem Hüfthalfter zu ziehen, sie in Anschlag zu bringen und einen imaginären, doch gezielten Schuss anzubringen, denn
Eberhardt war Polizist und wollte auf den äußersten aller möglichen
Fälle bestmöglichst vorbereitet sein. Ich verkniff mir ein „Peng“, denn
es wäre Spott gewesen und das machte Eberhardt krank. Und kranke
Polizisten gab’s schon genug.
Meine Mutter kam zur Tür, wagte sich aber nicht ganz hinaus zu
mir. „Wo willst du denn hin?“, fragte sie. Ich hatte sie am dritten Tag
mit einem neuen König schon entspannter und schöner, überhaupt
glücklicher gesehen. Ihre Hand mit der Zigarette zitterte und sie hielt
den Kopf so, als könne jeden Augenblick ein von Eberhardt geworfener Latschen sie treffen. „Das kann doch noch werden mit euch“,
sagte sie. „Er ist doch jünger als ich und hat noch nie mit Kindern
zusammengelebt. Ich hab Angst um dich.“
Ich berührte mit meiner Stirn die Stirn meiner Mutter. „Ich bin nicht
dumm“, sagte ich. „Ich hab das Abitur, zwei abgebrochene Studien
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und zwei tolle chaotische Beziehungen hinter mir, also ich weiß, was
Liebe ist und auch sonst was vom Leben.“
„Aber du weißt doch gar nicht, was du willst!“ Meine Mutter Helena
schnippte die Asche von der Zigarette auf den Boden, blickte schnell
hinter sich. Von Eberhardt war nur Keuchen und Schnaufen zu hören,
wahrscheinlich liegestützte er sich auf Dienstniveau. „Nach wem bist
du nur geraten?“, fragte meine Mutter. „Ich habe mich nie treiben
lassen im Leben, nie, auch wenn es so ausgesehen haben mag.“ Meine
Mutter trat nun zu mir hinaus auf den Flur, zog die Tür hinter sich
zu. „Sogar, als ich entführt worden bin, habe ich es im Griff gehabt,
was lief und wie.“
„Ja, Mama“, sagte ich, „es ist ja auch nicht schwer, einen Kerl bei der
vorderen Leine zu nehmen und hossa springt der Bulle.“
„Justus“, zischte meine Mutter. „Wenn das Eberhardt hört, dass du
ihn Bulle nennst. Er hält’s für einen Beruf, was er tut.“
„Erkannt zu werden, macht selten glücklich“, sagte ich und drückte
meine Lippen auf die Stirn meiner Mutter. Sie schmeckte nach mindestens sieben der tausend Dosen, die sie für ihre Körperpflege überall
in der Wohnung deponiert hatte. „Hab noch ’ne gute Zeit, Mama.“
„Du solltest nicht versuchen, deinen Vater zu finden.“ Meine Mutter
blickte mir in die Augen. „Er ist heute bestimmt ein sehr alter Mann,
falls er überhaupt noch am Leben ist, und er wird dir nicht das bedeuten können, was du dir von ihm versprichst.“
„Ich habe mir fünfundzwanzig Jahre lang nichts von meinem Vater
versprochen“, sagte ich. „Mein Vater ist ’ne Dimension ohne Koordinaten, ein leeres Bild, ein Versprechen ohne Worte, eine Drohung,
die statt Furcht nur Lachen macht, ein Lachen, das wie Stacheldraht
durch die Kehle geht, das …“
Meine Mutter fasste mich so fest und heiß am Arm, als hätte sie den
Mann in mir zu rühren. „Ich weiß, dass dir ein richtiger Vater immer
gefehlt hat. Und wenn’s meine Schuld ist, dann trage ich sie. Aber es
kann keiner aus der Bahn, wenn’s ihm denn einmal per Verschriftlichung vorgegeben ist. Auch du wirst es noch erfahren.“
Von drinnen rief Eberhardt: „Helene! Wo bleibst du, Helenchen?“
„Ich heiße Helena“, grollte meine Mutter. „Und wenn er’s nicht bald
begreift …“
„Adieu, Mutter“, sagte ich. Hier war’s nun wirklich nicht mehr zum
Aushalten, wenn’s mit den Namen schon verquerging, wie könnt’s
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dann mit den Herzen überein sein? Und mein Herz war’s, das ich
spürte so plötzlich und heiß und wild wie noch nie, so, als würde es
mir voraus springen, wenn ich ihm nicht gleich den Weg freigab. „Sei
stark, Helena“, sagte ich, „und sei’s nur Helenas wegen.“
Meine Mutter starrte mich an. „Das“, stotterte sie und zog an der
ausgeglühten Zigarette, „das träumte ich in der Nacht, als ich wusste,
dass ich mit dir schwanger war, ich träumte, dass dein Vater mir sagte,
sei stark! Aber dein Vater, so wie ich ihn kannte, Justus, hatte eine
brennende, lodernde Seele, aber sein Fleisch war kalt. Er liebte wie
eine Maschine. Er hatte mich und damit war’s dann genug für ihn.
Vielleicht wollte er auch nur wissen, wie’s ist mit mir, mit Helena,
der Frau, um deren Schönheit beinahe die Welt untergegangen wäre.
Vielleicht glaubte er, in mir sein Glück zu finden und weiß bis heute
nicht, dass man’s zuallererst in sich selbst begründen muss? Justus!“
Meine Mutter nahm mein Gesicht zwischen ihre beiden Hände,
schüttelte mich. „Dein Vater, Justus, wird dich nicht lieben, weil er’s
nicht kann, weil wer so brennt innen wie er, der muss seine Liebe
darauf richten, nicht zu verbrennen.“
„Helene!“, rief Eberhardt nun lauter. „Ich muss in drei Stunden zum
Dienst und ich hab noch was vor mit dir, Helene.“
Meine Mutter wischte ihre feuchte Nase über meine Wangen. „Viel
Glück, mein Sohn“, schluchzte sie. „Und vergiss nicht, was ich dir
gesagt habe.“
Meine Mutter huschte zurück in die Räume. Ich habe sie für lange
Zeit nicht wiedergesehen, habe nie von ihr gehört, dass sie noch eine
Gegenwart gehabt hätte, nachdem ich sie verlassen hatte. Und der
Geschmack von ihrer Haut verschwand mit dem dritten Tequila von
meiner Zunge.
Da saß ich in einer Bar. In einer andern Stadt. Es ging auf die Nacht
zu. Wenige Gäste. Ich schob Frust. Die Süße hinterm Tresen gab
schon mal den einen oder andern Blick zurück, doch das war mehr
fürs Geschäft als für ’ne Anbändelei, das roch ich. Aber die Scheiben, die sie abspielte, waren richtig gut, bluesiger Sound; ich konnte
mich wegdenken, hin unter die Sonne irgendwo, mit genug Kies in
den Taschen und Puppen dazu. War schon fast so echt, dass ich am
Abdrehen war. Doch dann fragte sie: „Nimmst du noch einen oder
zahlst du?“
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Ich nahm natürlich noch einen. Aber es war schon so, dass das Salz
dazu gehörig süß schmeckte.
„Du erinnerst mich an wen“, sagte die Süße. Sie mixte zwei Drinks
für ein Paar, das sich nach heftiger Diskussion, wohin sie sich setzen
sollten, an den Tisch vor den Durchgang zu den Toiletten gesetzt
hatte und das sich nun verbissen anschwieg.
„Hast du einen Namen?“, fragte ich die Süße.
„Hab ich“, sagte sie. „Aber ein freies Bett habe ich nicht, damit das
klar ist.“
„Ich kann mich ganz klein machen, wenn’s sein muss.“ Ich versuchte,
zutraulich und verführerisch rüberzukommen, aber das misslang,
denn sie sagte: „Für so klein, wie ich dich brauche, musst du noch
mächtig wachsen.“
Sie brachte die Drinks an den Tisch des schweigenden Paares. Der
Mann zählte sofort und centgenau Münzen auf die Tischplatte. Die
Süße sagte: „Danke und weiterhin einen unterhaltsamen Abend.“
„Gehört das zum Repertoire oder bist du von Natur aus so freundlich?“ fragte ich, als sie wieder hinterm Tresen war.
„Wie?“, fragte sie. „Was?“
„Dass du so witzig bist.“
Sie lachte. „Bei mir werden alle Rechnungen beglichen“, sagte sie.
„Und bei dir macht’s jetzt einen glatten blauen Schein.“
„Hab ich“, sagte ich und hatte keinen Schimmer, wo ich den haben
könnte.
Die Süße steckte sich eine Gauloises an, schloss die Augen beim ersten
Zug. „Greta“, sagte sie, als sie den Rauch ausblies. „Ich heiße Greta.“
„Justus“, sagte ich. „Ich heiße Justus.“
„Du erinnerst mich an einen“, sagte Greta. „Ich komm noch drauf,
an wen, aber der war größer, kräftiger, von dem ging was aus, der war
kein Allerweltskerl.“
„Es gibt keine zwei, die in dieselben Schuhe passen.“ Ich tat mir einen
Teelöffel voll Salz in den letzten Tequila. „Und an wen ich dich erinnere, weißt du ganz bestimmt, wenn ich weg bin.“
„Ganz bestimmt“, sagte Greta und ein bitterer Zug, so unerwartet
wie uralt, prägte für einen tiefen Atemzug ihr Gesicht. „Erst wenn ein
Kerl weg ist, weiß man, was für einen Haufen Müll man sich mit ihm
angehangen hat.“
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„Und der, an den ich dich erinnere, war der auch Müll?“ Ich kippte
den bittersüßen Tequila in mich rein. „Oder war der solch Müll, dass
auch die Erinnerung an ihn nur Müll sein kann?“
„Was gehen dich meine Erinnerungen an?“ Greta griff mein leeres
Glas vom Tresen. „Der Mann, von dem ich spreche, war mein Schicksal. Du!“ Sie musterte mich. „Du wirst wahrscheinlich nie das Format
haben, irgendjemandes Schicksal zu sein. Du bist ’ne harmlose Type,
ein herzlich guter Mann, wie die Schwiegermütter sagen, aber du
hältst nicht viel davon.“
„’ne Schwiegermutter ist’s Letzte, auf das ich Bock hab!“ Der letzte
Schluck wollte wieder hoch, es war ein Tequila mit Widerhaken, so
zerrte es in der Kehle. „Aber das hat meine Mutter über meinen Vater
auch gesagt, dass er ihr Schicksal war, das heißt, er hat sie gebumst –
ich tippte auf mich – und sitzengelassen.“
Greta starrte mich an, bohrte einen Finger in die Perforation der
Spülplatte. „Ja, so was gibt’s“, sagte sie. „Aber dich hat deine Mutter
durchgebracht!“
„Weil“, sagte ich und schluckte den Tequila wieder runter, „ich war
ein folgsames, kluges und bescheidenes Kind.“
„Und damit“, sagte Greta und brachte sich mit einem tarantellaähnlichen Schwung aus ihrer Nachdenklichkeit, „erinnerst du an niemanden mehr“, ein grimmiger Blick streifte mich, „nichts ist an dir, das
mir das Blut bewegt, wodurch, womit auch immer.“
Was für Theater, ging’s mir durch den Kopf, die sieht nur aus wie echt,
die hat einen Riss in der Schüssel und ein Trauma im Slip. „Hey“,
sagte ich und schnipste ihr zu. „Greta, du durchschaust mich, ha?“
„Kein Theater“, sagte Greta. „Bitte! Davon hab ich hier all die Tage
genug.“
Aber damit fing das Theater erst an.
Die Eingangstür wurde aufgestoßen und es traten drei Männer ein,
die wie eine Kompanie salutierten. Einer klatschte mir seine Pranke
auf die Schulter, der zweite klopfte mit meinem leeren Glas auf den
Tresen und bedeutete, dass es zu füllen sei, und der dritte ging zu
Greta, schloss sie in seine Arme und rief: „Will keiner saufen, keiner
lachen?“
Die drei Kerle lachten.
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Greta verdrehte die Augen. „Ich weiß“, beschwichtigte sie der Kerl,
„das gehört hier nicht her, aber wir sind doch alle Menschen und hier
dürfen wir es auch sein.“
„Und wo bist du’s nicht?“, fragte ich.
„Was will der Bursche?“, ranzte der Dritte, den sie Direktor nannten,
und kniff Greta unters Kinn. „Was hat er hier zu suchen? Was gehen
ihn unsere Unternehmungen an?“
Die Pranke auf meiner Schulter verschwand und stattdessen krabbelte mich der Kerl mit den Fingern beider Hände an meinen Seiten,
sodass ich mit einem Jauchzer auffuhr und mit dem Kopf so heftig an
den Strang der Tresenglocke stieß, dass diese gellend anschlug.
„Was soll das?“, fuhr ich den Kerl an und der Tequila wollte wieder
hoch.
„Ich bin eine lustige Person“, lachte der und tat noch einen Griff in
meine Seiten und einen Kratzfuß mir zu Füßen.
„Übrigens“, der Direktor deutete auf die noch nachtönende Glocke
über mir, „das macht eine Runde fürs Lokal.“ Er lachte. „Für jeden
das, was er mag! Hoi!“ Er beugte sich mir zu. „Ich weiß, wie man den
Geist des Volkes versöhnt. Auf meine Rechnung!“, rief er und griff
zum Strang und läutete die Glocke abermals. „Dies Wunder wirkt auf
die verschiedensten Leute.“
Der Direktor und die lustige Person klatschten ihre rechten Hände
ineinander. „Nun schenk ein“, sagte die lustige Person zu Greta. „Um
zehn streicht der Meister den Zapfen, das weißt du doch, wir haben
nur noch eine gute Stunde.“
Greta ließ das Bier in die Gläser laufen.
Der dritte Kerl, der sich schüchtern abseits gehalten hatte, sagte: „Für
mich bitte wie immer, Fräulein Greta!“
„Ja, ja“, sagte Greta. „Warme Milch mit Honig und eine halbe rohe
Zwiebel.“
„Die Dichter sind auch nicht mehr das, was sie mal waren“, tönte der
Direktor. „Wenn Dichter Milch trinken, gibt’s saure Poesie.“
„Und einen Reim wie Schleim und trautes Heim“, setzte die lustige
Person hinzu und zerrte den dritten neben sich, damit ich ihn genauer
betrachten konnte. „Er treibt die dichterischen Geschäfte, wie man
ein Liebesabenteuer treibt.“
Der Dichter blickte scheu zu Greta. „Ach“, sagte er leise, „wie wenig
das dem echten Künstler ziemte.“
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„Immer das gleiche Getue“, stöhnte Greta und verteilte die gefüllten Gläser, „jedes Mal dieselben Worte.“ Sie blickte die drei an und
bewegte eine Hand kreisend vor ihrer Stirn. „Wie die’s immer wieder
schaffen, Ausgang zu bekommen?“
„Greta“, sagte der Direktor mit warnendem Unterton, „du weißt, wir
sehen alles.“
„Greta“, sagte die lustige Person ebenso warnend, „du weißt, wir
wissen vieles.“
Und auch der Dichter ließ sich vernehmen, entschieden schärfer
noch, drohend fast. „Greta“, sagte er, „du weißt, wir vergessen nichts,
und was wir wissen und was ich zum Wort mache, ist mit nichts mehr
aus der Welt zu schaffen, egal, was es ist, ob Heldentat oder Verbrechen, ob Teufelspakt oder Glücksbeschwörung, was Wort ist, ist und
bleibt.“
„Na denn“, sagte der Direktor und hob sein Glas in die Runde. „Auf
unser aller Wohl.“
Sie tranken. Ich nippte am Tequila. Greta beobachtete mich mit einer
Nachdenklichkeit, die ihrer Miene einen bösartigen Zug verlieh.
Der Dichter kaute auf seiner halben Zwiebel herum. „Aber“, murmelte
er, „einmal sag ich’s.“
„Was?“, fragte der Direktor. „Was fällt euch an? Entzückung oder
Schmerzen?“
„Geh hin und such dir einen andern Knecht“, sagte der Dichter. Er
schluckte die zerkaute Zwiebel und goss die Milch hinterher. „Das
sag ich einmal“, sagte er. „Denn in mir, im Dichter, offenbart sich der
Menschen Kraft.“
„Feine Gäste hast du“, sagte ich laut zu Greta. „Richtige Prominenz,
einen Direktor, einen Dichter und eine lustige Person, wo hat man
das schon auf einem Haufen und hautnah?“
„Reize sie nicht“, flüsterte Greta, „ich kann keinen Ärger mit ihnen
gebrauchen.“
„Ach ja“, sagte die lustige Person, „man ist entzückt, nun kommt der
Schmerz heran, und eh man sich versieht, ist’s ein Roman.“ Er stellte
sein leeres Glas auf den Tresen, bedeutete Greta, es nachzufüllen.
„Und noch sind wir bereit, zu weinen und zu lachen!“
„Ich nicht“, sagte ich. „Ich weine nicht.“
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Der Direktor stellte sein geleertes Glas neben das andere. „Es gilt,
immer dazu bereit zu sein“, sagte er. „Zum Weinen ebenso wie zum
Lachen.“
„Na dann, seid bereit“, sagte ich. „Aber ich weiß nichts von Tränen
und will’s auch nicht wissen.“
Und das stimmte und erst jetzt fiel mir auf, dass ich in meinem Leben
kein einziges Mal geweint hatte, denn ich hatte nichts besessen, dessen
Verlust mich zum Weinen hätte bringen können, ich hatte nie so tief
gefühlt, dass Tränen mich von einem inneren Druck hätten befreien
müssen, es gab keinen Schmerz in meinem Leben, der mir das Wasser
in die Augen getrieben hätte; die wenigen Kratzer in der Haut, die
zwei schnell verwelkenden Verliebtheiten und dass mir einmal das
Fahrrad gestohlen worden war, waren nicht Salz genug gewesen, mich
zum Weinen zu bringen. Einmal allerdings war’s nahe daran! Da kam
ich von der Schule nach Hause und meine Mutter Helena saß in der
Küche mit ’nem leeren Gesicht, das heißt, es war nichts mehr darin
von ihrer Schönheit, und sie sagte, setz dich, Justus, deine Mutter hat
dir was zu sagen. Ich kannte ihren gegenwärtigen Liebhaber nicht,
dennoch konnt’s sein, dass sie wieder mal verlassen worden war. Ihre
selbstanklägerischen Zeremonien waren dann immer ähnlich gewesen. Sie saß da und schwor, dass es nun aber zum letzten Mal gewesen war, dass ein Kerl ihr was bedeutet hätte im Leben. Nur diesmal
bezog sie mich mit ein in ihren privaten Kladderadatsch! Naja, sie
wird eben auch älter, dachte ich, da werden die Kreise zur Krisenbewältigung weiter gezogen, musste ich eben herhalten für ihr chaotisches Gefühlsleben. „Justus, mein Sohn“, hatte meine Mutter Helena
gesagt, „ich werde sterben.“
„Ich auch“, hatte ich geantwortet, „ich werde auch sterben.“
„Was hast du?“ fragte sie erschrocken. „Du warst nie krank!“
„Jeder stirbt einmal“, sagte ich.
Da krachte ihre rechte Hand links an meinen Kopf und ihre linke
Hand rechts an meinen Kopf. Mir wurde tatsächlich schwarz vor
Augen. Mein Kopf quoll auf, als würden alle Lieder der Welt aus ihn
heraus sich drängen oder auch in ihn hinein; das war eine Musik zum
Schreien und eine Situation zum Brüllen und ein Tag zum Heulen.
Aber ich tat’s nicht.
„Ich habe Krebs“, sagte meine Mutter. „Ich muss unters Messer, hab
Knoten in beiden Brüsten, wahrscheinlich schon Metastasen bis in
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den Bauch, ich habe zu wenig auf mich geachtet, habe alles zu selbstverständlich genommen, meine Schönheit, meine Gesundheit, mein
außerordentliches Leben, so, als wäre ich unsterblich.“ Sie griff nach
meinen Händen. „Entschuldige, Justus, ich weiß nicht, was ich von
dir erwartet habe.“
Wir schwiegen uns an. Meiner Mutter liefen Tränen bis unters Kinn.
Und in mir höhnte etwas Fremdes, Großes gegen sie und alles, was sie
bedeutete, wie Freude war’s beinahe und ich wusste nicht, worüber.
„Aber du gleichst zu sehr deinem Vater“, sagte Helena, „da ist kein
Mitgefühl zu erwarten, du wirst nicht um mich weinen, das weiß
ich.“
Ich konnte nicht um meine Mutter weinen, weil’s nichts um sie zu
weinen gab. Ihr Befund war vertauscht worden, in ihrer Brust war nur
ein fingerkuppengroßes Adenom, das ambulant mit einem streichholzlangen Schnitt entfernt wurde, so berichtete sie ihren Freunden.
„Dann lache“, sagte die lustige Person und ließ ihre Pranke wieder auf
meine Schulter fallen. „Viel Irrtum und ein Fünkchen Wahrheit, so
wird der beste Trank gebraut, der alle Welt erquickt und auferbaut.“
Die Gläser waren schon wieder gefüllt. Die drei prosteten erst einander, dann mir zu. Der Tequila schmeckte nicht mehr, war fad. Greta
blinzelte in meine Richtung. Der Direktor und die lustige Person
tranken ihr Bier auf ex. Der Dichter nippte an seiner Milch, er wirkte
weinerlich auf einmal, gebrochen und verbraucht.
„Ich hatte nichts und doch genug“, sagte er.
Der Direktor herrschte ihn an: „Dann lass es gut sein und schweig!“
Aber dafür wandte sich der Dichter nun direkt an den Direktor, flehte:
„Den Drang nach Wahrheit und die Lust am Trug gibt ungebändigt
jene Triebe, das tiefe, schmerzensvolle Glück, des Hasses Kraft, die
Macht der Liebe, gib meine Jugend mir zurück.“
„Der Jugend, guter Freund, bedarfst du ebenfalls.“ Die lustige Person
rüttelte an meiner Schulter, atmete tief, als machte eine unverhoffte
Gemütsregung ihm zu schaffen. „Aber wir, Freunde, bedürfen ihrer
nicht mehr, die Jugend ist nicht mehr unser Spiel.“
„Aber meine Jugend“, jammerte der Dichter, „ich will meine Jugend
zurück.“
„Aber doch nicht von mir“, fuhr der Direktor ihn neuerlich an. „Geh
zum Chef, heul dich bei dem aus, der uns das eingebrockt hat. Und
weißt du, was er dir sagen wird, falls er dich überhaupt anhört? Und
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wo ist meine Jugend, wird er sagen, wo ist meine Kraft, meine Liebe,
wo ist mein Glück?“
„Ach ja!“ Die Art der lustigen Person war wenig lustig. „Was, alte
Herren, ist unsere Pflicht? Das Alter macht nicht kindisch, wie man
spricht, es findet uns nur noch als Kinder.“
„Was ist nur los mit uns?“, fragte der Direktor. „Jedes Mal, wenn wir
uns aufmachen, die Tretklapsmühle für ein paar Stunden wenigstens
auszublenden, endet es in Jammerei. Seit wann ist das so?“
„Seit Greta hinterm Tresen steht“, antwortete der Dichter sofort.
„Ja, wir hätten sie gleich anzeigen sollen“, zischelte die lustige Person.
„Nun ist’s so gut wie verjährt.“
„Was aufgeschrieben ist, verjährt nie“, sagte der Dichter. „Und es ist
doch aufgeschrieben?“, wandte er sich an den Direktor.
Gretas Lider flatterten und es schien, als ob ihre Haare sich kräuselten
und aufrichteten. Sie wurde in innere Not gebracht und sah mich an,
als könnte ich ihre Rettung sein.
„Was wissen die von dir?“, fragte ich und blickte dabei zu ihnen.
Und wie ich sie so anblickte, verloren sie ihre Unterscheidungen, ihre
Gesichter wurden bleich, grau und glatt, ihre Körper bekamen die
gleichen Konturen, wurden austauschbar, und sie wirkten insgesamt
so wie der Dichter vor Minuten.
„Sie wissen, was sie wissen“, sagte Greta.
„Wenn du mal auf ’m Strich warst oder wenn es ein paar Nacktfotos
von dir gibt oder du Aktien fremder Leute durch den Schornstein
gejagt hast“, sagte ich, „darüber musst du dir heutzutage keinen Kopf
machen.“
„Du wirst’s noch erfahren“, sagte Greta, „irgendwann flöten sie es
dir.“
Der Direktor schlug die Hände ineinander und sagte: „Der Worte
sind genug gewechselt, lasst uns endlich Taten sehn!“
„Das könnt ihr nicht machen“, stotterte Greta. „Ich mach hier meinen
Job, tu keinem was und schreib euch jede Zeche an. Und was gewesen
ist! Ich büße und bereue Tag um Tag.“
„Na dann“, sagte die lustige Person, „trinke ich noch ein Pils.“
„Greta, wir tun’s nicht,“ sagte der Direktor, „keiner von uns wird’s je
tun, aber mit der Möglichkeit spielen, ja, aber mehr ist uns dazu nicht
ins Buch geschrieben.“
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„Ihr tut es, wenn’s euch mal anders juckt.“ Greta schenkte der lustigen Person Bier nach. „Wenn ihr’s nicht mehr aushaltet so mit euch,
wie’s vorgeschrieben ist.“ Greta zitterte, der Bierschaum floss auf den
Tresen. „Und dann fängt alles von vorne an und endet tatsächlich in
der Hölle.“
„Was ist hier los?“, fragte ich.
„So kommandiert die Poesie“, sagte die lustige Person, nahm sein Bier
vom Tresen und trank es.
„Das sagst du nicht!“, begehrte der Dichter auf. „Es ist aus mit uns,
wenn wir uns in den Worten vertun, die uns notiert sind.“
„Er ist eine lustige Person“, sagte der Direktor, „da macht’s nix, ob er
sich mal in deinem oder in meinem Text vertut, denn wir wandeln
alle“, er warf Greta einen scharfen Blick zu, „alle wandeln wir mit
bedächtiger Schnelle vom Himmel durch die Welt zur Hölle.“
„Das ist so wahr, wie’s wahr ist“, sagte Greta.
„Was ist hier los?“, fragte ich nun den Direktor. „Was ist’s für Gefasel,
mit dem ihr dem Mädchen Angst macht? Was sind’s für Worte, die
ihr sprecht und die so klingen, wie alte Steine wirken in einem neuen
Haus? Was ist’s mit euch, dass ihr bei allem wirkt, als wäret ihr irre?“
„Wie der Bursch tönt!“, säuselte die lustige Person.
„Und wie er sich spreizt“, sagte der Dichter.
„Und wie ich ihn gleich in Räson und Mores delegiere“, sagte der
Direktor und stieß mir einen Finger an die Brust. „Was nimmt er sich
raus, uns zu persiflieren, der übermütige Bube! Hat er’s schon zu was
gebracht, zu Werk und Lohn in dieser Zeit? Hat er sich schon einen
Namen gemacht, mit dem er uns posieren kann und der was gilt, das
mehr ist als dies Niemand hier vor mir?“
Die lustige Person lachte. Der Dichter tat’s etwas verhaltener.
„Keinen Streit!“, barmte Greta. „Wenn die Polizei hier zu schnüffeln
anfängt, macht sie mir den Laden dicht. Und ich hab’ nichts weiter,
womit ich mir was verdienen kann.“
Das schoss durch mich wie heißes Eis. Was ging sie mein Name an?
Was war das für ein Direktor, dass er mir daherkam wie ein Schulmeister? Was war das für ein Dichter, was war’s für eine lustige Person,
dass sie lachten über mich? Was hatten die denn mehr vorzuweisen als
ich, als aufgepeppte Sprücheklopferei, deren lose Enden sie einander
um die Ohren schlugen?
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Ich sah Greta an und – und es hielt mich nicht zurück, dass sie für
einen winzigen Augenblick wie ein Ebenbild meiner Mutter wirkte,
obwohl doch keinerlei Ähnlichkeit zwischen ihnen war – ging auf den
Direktor los und schlug mit meiner rechten Faust unter dessen Nase,
sodass ich seine kalten, sonderbar rauen Zähne an meinen Knöcheln
spürte und sah, wie sich die Haut faltete zwischen seinen Augen und
er wie hilfesuchend zur lustigen Person schielte, deren bierdunstiger
Atem mich von hinten umspülte. Und bevor ich’s sagte, dachte ich
noch, dass vom Dichter, von dem ich nicht wusste, wie er in der Szene
nun verkehrte, doch wohl größere Gefahr ausgehen mochte, als von
jeder anderen Person. Aber das tat nichts mehr dazu und ich sagte:
„Das ist mein Name! Faust! Und wenn du noch mehr davon probieren willst, mach nur dein Maul auf und quatsch mich noch einmal
an als einen Bub!“
„Du heißt Faust“, staunte der Direktor und es klang, als würden’s
auch der Dichter, die lustige Person und Greta tun.
„Was willst du hier?“, fragte der Dichter.
Und die lustige Person fragte: „Ist das ’n Zufall, dass du hier bist?“
Greta schlug beide Hände vors Gesicht. „Er erinnert mich an jemanden, das hab ich gleich gesagt, und nun weiß ich auch, an wen.“ Sie
stolperte in den Abstellraum hinter dem Tresen und verschloss die Tür
hinter sich.
„Kannst du beweisen, dass du so heißt?“ Der Direktor beschnupperte
meine Faust, die ich noch immer unter seiner Nase geparkt hielt. „Du
wirst doch irgendein Dokument bei dir haben?“
Die lustige Person legte abermals eine ihrer Pranken auf meine Schulter, fragte: „Du wirst doch nicht ohne Papiere in der Welt rum laufen?“
„Noch besser wäre es, du hättest was vorzuweisen, wo auch dein Vater
und deine Mutter notiert sind“, sagte der Dichter. „Eine Geburtsurkunde oder eine Bürgschaft.“
„Was geht euch meine Legitimität an?“ Ich stellte mich schnell so, dass
ich die drei vor mir hatte, auch deshalb, um einem Biss des Direktors
in meine Faust zuvorzukommen. „Was gehen euch meine Eltern an?
Ich bin anwesend und erwachsen. Das sollte reichen. Oder?“
„An sich ja.“ Der Direktor bedeutete den beiden anderen mit einem
Blick, sich vor mich zu stellen. „Aber die Situation ist nun mal so, dass
sie eine besondere ist.“
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Warum ich’s dann sagte, weiß ich nicht, aber ich sagte es: „Meine
Mutter war alleinerziehend, ich hab viermal die Schule gewechselt,
weil ihr Lebenswandel die Ortswechsel nötig machte, es ist viel Zeit
dafür draufgegangen, dass uns der Unterhalt gelang, denn wir mussten
uns durchbringen auch ohne Vater.“
„Aber dein Familienname ist Faust?“, fragte der Dichter und rückte
ohne Aufforderung einen weiteren Schritt an mich heran. „Aber deine
Mutter war nie eine Frau Faust?“
Auch die lustige Person kam einen Schritt näher, stemmte ihre Pranken in die Hüfte. „Wie’s aussieht, hast du ein Problem, ohne Personaldokument kommst du nicht in der billigsten Absteige unter.“
„Aber wir hätten da was für dich“, sagte der Direktor und schloss mit
einem Schritt die halbkreisförmige Phalanx vor mir. „Aber sag uns
noch eins! Du heißt Faust, weil dein Vater so hieß?“
„Ich kenne meinen Vater nicht“, sagte ich und trat unbedacht einen
Schritt zur Seite. Das ließ die drei noch enger zusammenrücken.
„Und er interessiert mich auch gar nicht.“
„Aber vielleicht interessiert sich dein Vater für dich?“ Der Direktor
musterte mich von Kopf bis Fuß. „Söhne sind für Väter Hoffnung
und Gefahr zugleich!“
Ich mochte es nie, wenn man mir auf den Leib rückt. Und ich streckte
meine Arme vor und sagte: „Ich wehre mich und ihr solltet mich
nicht unterschätzen.“
Doch packten sie mich da schon. Direktor, Dichter und lustige Person
agierten in einer bestens funktionierenden Choreografie. Ihre sechs
Hände hielten mich wie in einem einzigen Griff, meine Arme wurden
auf den Rücken gezwungen und an den Handgelenken zusammengehalten, mein Kopf wurde auf die Brust herunter gepresst, sodass ich
nur meine Zehenspitzen zu sehen vermochte, und es wurde mir so in
die Kniekehlen getreten, dass mir nichts anderes blieb, als mich so zu
bewegen, wie sie es wollten.
Bullen, dachte ich, das sind Bullen, Zivilfahnder und die beiden Joints
in meiner Tasche einem glücklichen Ausgang sicher nicht zuträglich.
Es ging zur Tür hinaus, meine Füße berührten kaum den Boden,
kurz die Straße entlang und dann weiter zwischen Baumstämmen
und durch Gesträuch. Es roch nach frischem Harz, nach Moder und
Verwesung. Die drei sprachen nicht und lockerten ihren Griff kein
einziges Mal. Ich war bald außer Atem, die Schultergelenke schmerz-
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ten, die Hände wurden taub und kalt und mir, da mein Kopf stets
niedergedrückt wurde, schwindelig. Ich wollte mich fallen lassen,
doch wurde damit der Schmerz von den Schultern in den ganzen
Körper getrieben, sodass ich mich nur williger in das Treiben fügte.
Und dann, als ich von Schritt zu Schritt glaubte, zusammenzubrechen und auf der Stelle zu verenden, stoppten die drei. Auch ihr Atem
ging schneller. Doch hielten sie mich unverändert in ihrem Griff.
„Wir geben dir drei Sekunden“, sagte einer oder die drei mit gleicher
Stimme. „Dann schaust du dir an, was du siehst, und weiter geht’s.“
„Wer seid ihr?“, fragte ich. „Bullen? Ich habe nichts verbrochen. Seid
ihr Ganoven? Bei mir ist nichts zu holen.“
Das Trio lachte herzlich. „Wir sind, wer wir zu sein haben und wer
wir sein müssen, wie’s sich gebietet und uns geboten ist in Wort und
Schrift.“ Die drei flöteten, als gäben sie einen Akt auf einer Bühne.
Dann wurde mein Kopf hochgerissen. Ich blickte auf eine Mauer. Sie
war überwiegend aus Beton, hin und wieder ragten Steine und Eisenteile hervor. Ihr Ausmaß zu erfassen, blieb mir keine Zeit. Denn die
drei sagten unisono. „Eins.“
Direkt vor mir war eine weißmarmorne Tafel in die Mauer eingelassen, auf der in schwarzer Schrift „Dr. Joh. H. Fausts Anstalt für IRRESEIN und andere Verwirrtheiten in Geist & Seele“ geschrieben war.
„Zwei“, sagte das Trio. Ich wollte der Kopf höher heben, denn dass
die Mauer, so wie es mir schien, bis in den Himmel reichte, konnte
nicht möglich sein. Doch da sagten sie schon: „Drei.“ Sie drückten
meinen Kopf auf die Brust zurück und das noch härter als zuvor,
sodass meine Nackenwirbel knackten und ich eine lähmende Hitze in
mir verspürte. „Jetzt wird’s noch mal hart“, sagten sie, „aber du wirst
es überleben.“
Und dann – und so war’s, obwohl’s so doch nicht gewesen sein kann
– hoben sie mich an, nahmen Anlauf, liefen auf die Mauer zu und
in sie hinein. Da war kaum Widerstand, es war mehr wie ein Gleiten zwischen Tüchern, doch in der Mauer wurde es echt hart, wie in
einem Sturm war’s, der Kiesel und Nägel entgegen peitscht. Und nur
dadurch, dass die drei mich auch da noch in ihrem Griff behielten,
wurde ich nicht zertrümmert und der eine Atemzug, den es dauerte,
nicht mein letzter.
Der Raum, in den wir gelangten, war matt erleuchtet und roch nach
alten Büchern, die nach Jahrhunderten wieder aufgeschlagen werden.
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Neben Lachen, Schreien und einer tiefen, fast beschwörende Stimme
dominierte Stille.
Und ich war nicht mehr im Griff der drei. Ich stand zwischen ihnen,
als gehörte ich dazu, als wäre ich ihresgleichen und wir wären in einer
harmlosen Verabschiedung aus einer Plauderei.
„Meine Sachen“, sagte ich und bewegte meine schmerzenden Schultern. „Ich brauche meine Tasche, meine Gitarre.“
„Greta ist ein gutes Kind“, sagten sie, „sie gibt Acht auf fremde
Sachen.“
Der Direktor deutete nach vorne. Da sah ich die Rezeption, ein halbrundes, bis zur Decke mit dickem Glas gesichertes Kastell. Darin saß
an einem ebenso halbrunden Tisch eine Person, die in einen fleischfarbenen Overall gekleidet war und mit einem Finger die dunkel
gerahmte Brille näher an die Augen schob und dann, als hätte sie uns
nur dadurch wahrgenommen, uns dann mit einem Wink weiter ins
Gebäude hinein wies.
„Es ist Wagner“, sagte der Direktor erleichtert, „der verpfeift uns
nicht.“
„Wie immer Wagner“, sagte die lustige Person, „und er verpfeift uns
nicht, weil, wenn er pfeift, tut er’s seit Jahren schon aus dem letzten
Loch. Wagner will nur noch überleben, und das heißt, er funktioniert
auf niedrigstem Niveau.“
„Ich trau ihm nicht“, sagte der Dichter. „Auch wenn er minimal funktioniert, läuft ohne ihn hier nichts. Und das weiß er.“
Der Direktor beorderte uns, dem Wink Wagners folgend, weiter. Ich
drehte mich um. Und Wagners Blick und mein Blick trafen einander. Er hatte die Brille abgenommen und sich halb erhoben, um uns
nachblicken zu können. Und ich kam nicht aus diesem Blick, wie in
einem Rätsel war’s, das man wendet und wendet, das man bedenkt
und bedenkt, dessen Lösung man sich nahe weiß und sie doch nicht
erkennt. Und dem Wagner, das wusste ich, ohne dass ich wusste,
woher ich’s wusste, erging’s ebenso.
Wir hätten bis ins Ewige in diesem Blick verweilen können, wenn
nicht die lustige Person gegen mich gelaufen wäre, nur dadurch stürzte
er nicht zu Boden. Der Dichter ließ einen geängstigten Schrei hören
und der Direktor einen brachialen Fluch. Denn ein großer schwarzer
Pudel wuselte zwischen uns herum, knurrte mal diesen, mal jenen an
und zeigte sein Gebiss.
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„Teufel noch mal!“, eiferte die lustige Person, „die Töle spukt auch
noch durch die Nacht!“
Der Dichter drückte sich an den Rücken des Direktors, zitterte. „Der
Hund ist längst entsorgt, hat man uns versichert“, zischte er. Wer hat
uns nur so belogen?“
„Ich“, sagte der Direktor. „Aber ich wusste es nicht anders, der Chef
persönlich hatte angeordnet, dass Hunde innerhalb der Mauern nicht
mehr erlaubt seien.“
„Es hört keiner mehr auf ihn“, sagte die lustige Person und schnitt eine
Grimasse in Richtung des Pudels. „Nicht mehr lange und es tanzen
uns die Mäuse auf dem Tisch und Lobesan persönlich spielt auf dazu,
wenn nichts Entscheidendes passiert und sich nichts ändert.“
Der Dichter schrie nun und umklammerte den Direktor ganz von
hinten, denn der Pudel war zu ihm gekommen, richtete sich an
ihm auf und wollte seine wie glühend rote, dampfende Zunge übers
Gesicht streichen. „Macht doch was“, kreischte der Dichter, „diese
Bestie frisst mich auf.“
„Den Teufel tut das Viech!“ Der Direktor versuchte, den Dichter
abzuschütteln, es gelang ihm nicht. „Dieser Hund liebt dich, das Spiel
ist eindeutig.“
„Aua!“ schrie der Dichter, denn der Pudel war mit einem Zahn in sein
Ohr geraten.
Die lustige Person hielt sich die Bierwamme vor Lachen.
Der Direktor fluchte neuerlich.
Und ich konnte mich nicht überwinden, dem Dichter beizustehen.
Tiere allgemein und Hunde im Besonderen gingen mich nie was an
– die Katzen meiner Mutter haben mich geprägt in dieser Haltung.
Ob artgerecht gehalten oder batteriegezüchtet, das Kotelett oder das
Ei kümmert sich darum nicht, und Hunde scheißen einem vor die
Füße oder machen Schlagzeilen durch Beißattacken. Dennoch kam’s
irgendwie so, dass Direktor, Dichter und Pudel mir so nah kamen,
dass ich nicht anders konnte, als dem Hund ins Fell zu greifen und
an ihm zu zerren. Und war’s das, dass ich ihn berührte, oder war’s der
Pfiff, der von irgendjemandem von irgendwoher abgegeben wurde,
was machte, dass der Hund vom Dichter abließ und sich, mir dabei
einen tiefen Blick aus seinen blau funkelnden Augen schenkend,
davontrollte.
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Nun ließ auch der Dichter vom Direktor ab. „Danke“, sagte er zu mir
und reichte mir seine noch zitternde Hand, „das vergesse ich dir nie.“
Der Direktor schüttelte sich. „Ich bestell Blausäure für die Töle“,
sagte er. „Und du!“ Er zupfte den Dichter am Ohr, das vom Zahn des
Pudels gezeichnet war. „Dich schicke ich in die Hundeschule.“
Die lustige Person lachte. „Damit er Sitz lernt und Platz und Wau!“,
keuchte er vor Belustigung. „Dass er ein Dichter wird, wie ihn die
Welt noch nie hatte.“
Da lachte auch der Direktor wieder.
Aber der Dichter sagte, was er so schon einmal gesagt hatte: „Geh und
such dir einen andern Knecht.“
„Das hatten wir schon!“ Der Direktor ging mit erhobenem Kopf
weiter. „Vorwärts, unsere Nacht ist kurz wie immer.“
Es war nicht auszumachen, wie die Räumlichkeiten der Anstalt im
Detail gestaltet waren. Korridore taten sich auf, Flure, die teils ins
Freie hinauszuführen schienen, teils wie blinde Zeilen wirkten, tote
Fenster, Türen ohne Rahmen oder deutliche Konturen zur Wand,
keine Bilder, hier und da eine Aushängetafel mit vergilbten Blättern,
die Schrift unleserlich. Einmal ein Tor, das von außen verriegelt und
verschlossen war. Am Riegel hing ein Emailleschild: „Prof. Faust
privat“.
Die drei hüstelten bedeutsam, als wir daran vorbeigingen. Lachen und
Schreie unverändert, die beschwörende Stimme war nun jedoch so zu
vernehmen, als töne sie immer wieder von dort hinter der Wand, wo
wir uns befanden. Einmal ein Gurren, als flöge ein großer, von uns
aufgescheuchter Vogel über uns hinweg.
Aber’s war wie selbstverständlich, dass es so war. Seit ich aus dem
Griff der drei entlassen war, stand mir die Welt anders gegenüber, ich
konnte sie hinnehmen, konnte, seit ich in der Anstalt war, mich abfinden mit mir. Das waren nur Minuten bisher, doch erfasste mich eine
Gelassenheit, wie sie sonst wohl nur nach einem zur Gänze gelebten
Leben geboten wird. Ich war angekommen.
Der Direktor hielt, deutete auf die Wand vor uns und sagte: „Treten
Sie ein, Herr Faust!“
Und da erst war eine Tür in der Wand, die sich öffnete wie von selbst.
„Nun geh schon“, sagte die lustige Person und stieß mir eine seiner
Pranken in den Rücken. „Du hast freie Kost und Unterkunft und die
Gedanken sind auch frei.“
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Ich stolperte über die Schwelle.
„Gute Nacht“, sagte der Dichter, „und träum was Schönes.“
Die Tür schloss hinter mir. Ich war allein. Das Zimmer war karg
eingerichtet. Bett, Schrank, Tisch, Stuhl. Hinter einem Vorhang
Toilette und Waschbecken. Der Kühlschrank war leer, die Beleuchtung defekt.
Ich zog die Vorhänge vor dem Fenster zur Seite. Überraschenderweise konnte ich es problemlos öffnen. Ich blickte in einen klaren
Nachthimmel; so nah war ich den Sternen noch nie gekommen, noch
nie hatte ich sie so groß und schön gesehen. Der Tequila rumorte
in mir. Ich wollte den Kopf hinausstrecken und frische Luft atmen.
Doch ich prallte mit der Stirn gegen eine harte, glatte, kalte Platte
und das gesamte himmlische Inventar wirbelte durch meinen Kopf.
Das Fenster war von außen vernagelt und der Himmel eine Illumination, er war nicht aufgemalt, sondern eine Projektion – das technische
Prinzip dafür konnte ich nicht erkennen.
Frische Luft kam so nicht ins Zimmer. Auch kein Laut drang herein,
kein Lachen, kein Schreien, keine Stimme.
Ich ging zur Tür zurück. Das Fenster zu schließen, machte keinen
Sinn. Ich lehnte den Kopf gegen die Tür, presste ein Ohr an sie. Es
war jemand auf der anderen Seite, das spürte ich. Und ich dachte
sofort: Das ist Wagner! Und ich fragte: „Bist du’s?“
„Ich bin’s“, wurde geantwortet. „Kann ich mit dir sprechen? Nur fünf
Minuten?“
Ich öffnete die Tür. Der Dichter stand davor. „Du hast jemand anderen erwartet?“, fragte er. „Wagner? Aber der hat mit jedem Blick eh
schon mehr versprochen, als er halten kann.“
„Warum sollte ich Wagner erwartet haben?“ Ich gab dem Dichter den
Weg ins Zimmer frei.
Der Dichter ließ die Tür einen Spaltbreit hinter sich offen. „Wir
kennen Wagner“, sagte er. „Er ist ein windiger Typ und so frisches
Fleisch wie du ist hier schon lange nicht mehr reingekommen.“ Er
hielt mir ein handgroßes altes Blatt entgegen. Eine Zeichnung. Das
undeutliche Porträt eines jungen Mannes. Ein Original wohl, denn es
war signiert und mit der Jahreszahl 1516 versehen. Die Jahresangabe
und die Signatur stammten eindeutig von verschiedenen Personen.
„Wer ist das?“, fragte ich. „Kunst und altes Zeug interessieren mich
nicht, ich lebe im Jetzt.“
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„Das bist du“, sagte der Dichter und hielt mir das Blatt näher an die
Augen. „Aber ich find’s nicht gut getroffen.“
„Warum bin das ich?“ Ich nahm das Blatt an mich. Auch mit dem
Zugeständnis, dass das Bild, das man selbst von sich hat, stets ein
anderes ist, als das, was andere von einem haben, konnte ich keine
Ähnlichkeit zu mir feststellen. Außerdem, wenn die Jahresangabe
stimmte, war das Porträt vor beinahe einem halben Jahrtausend
entstanden, und in so ’ner Zeit dreht sich die Welt mindestens einmal
von Abgrund zu Abgrund und zurück. „Nie und nimmer bin ich
das“, sagte ich. „Wie kommst du nur auf solchen Unsinn?“
„Der Professor hat’s behauptet.“ Der Dichter tänzelte weiter ins
Zimmer hinein. „Suche mir diesen Jüngling, hat er zu mir gesagt und
mir dieses Blatt in die Hand gedrückt, suche ihn, bis du ihn findest,
und falls du ihn nicht sicher erkennst, beobachte sein Umfeld, er
hängt, so wie ich ihn einschätze, am Rockzipfel seiner äußerst schönen Mutter.“
„Und?“, fragte ich.
„Dich habe ich bislang nicht gefunden“, sagte der Dichter. „Äußerst
schöne Mütter des Öfteren.“
„Aber warum solltest du mich finden?“
„Dazu hat der Professor geschwiegen.“ Der Dichter schloss das
Fenster, zog die Vorhänge zu. „Ist besser, wenn davon nichts nach
draußen gelangt, der Professor wollte damals nicht, dass die Sache
unter die Leute kommt und das wird sich bis heute nicht geändert
haben, denn …“ Die Miene des Dichters wandelte sich ins Spitzbübische. „Es gab Gerüchte um Unterhaltsforderungen einer äußerst
schönen Mutter gegen den Professor, es gab Gerüchte um die Klage
eines Knaben einer äußerst schönen Mutter auf Vorauszahlung seines
Erbes. Du musst wissen, der Professor war ein Mann mit Vermögen.
Wie genau er so auf den Hund gekommen ist mit dieser, sagen wir’s
mal so, Institution, die er Anstalt nennt, dafür gibt’s keine Chronik, aber … Also, wir waren der Meinung, der Professor wollte die
Möglichkeit ausschließen, dass ein Ableger von ihm, er soll manchmal
sogar von einem Bastard gesprochen haben, irgendwann auf den Plan
tritt, wenn’s grade auf der Kippe steht mit seinen Unternehmungen,
und ihm alles zunichtemacht. Denn solche Geschichten sind immer
ein gefundenes Fressen für die Medien.“
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„Aber ich?“ Ich fasste den Dichter am Hemd vor seiner Brust. „Was
habe ich mit der Geschichte zu tun?“
„Tu nicht dümmer, als du bist!“, sagte der Direktor. Er war gemeinsam mit der lustigen Person unbemerkt ins Zimmer getreten. „Und
du!“ Er verpasste dem Dichter eine deftige Kopfnuss „Schlag dir die
ganze Geschichte nicht allein zu.“
„Wir waren nämlich auch dabei“, sagte die lustige Person. „Unserem
Dichterle allein hätte der Professor nie und nimmer so eine heikle
Sache anvertraut.“ Er nahm mir das Blatt aus der Hand, verglich
mich mit dem gezeichneten Porträt.
„Ist er’s?“, fragte der Direktor.
„Er ist es!“, antwortete die lustige Person. „Wie ich’s gesagt habe noch
vor dem ersten Bier.“
Der Dichter rieb sich über die schmerzende Stelle am Kopf. „Und das
ist kein Zufall, oder?“, fragte er.
„Natürlich nicht.“ Der Direktor kontrollierte irgendwas am Fenster.
„Die Anwesenheit dieses jungen Mannes ist das Ergebnis unserer
jahrelangen Bemühungen, den vermeintlichen Sohn unseres Chefs
und Meisters aufzuspüren und ihm zuzuführen, wie es einst unser
Auftrag war.“
„Das wird eine Freude!“ Die lustige Person klatschte ihre Pranken
ineinander. „Papachen und Sohnemann fallen einander um den Hals
und …“
Ein lautes, wütendes Bellen ertönte auf dem Korridor, kam schnell
näher.
„Rückzug!“, befahl der Direktor. „Wenn uns die Töle hier erwischt,
wird’s ein teurer Spaß.“ Er flüchtete aus dem Zimmer.
Der Dichter und die lustige Person taten’s ihm gleich. In der Tür hielt
die lustige Person noch einmal inne, fragte: „Du heißt doch Justus,
weil deine Mutter dich so genannt hat? Oder?“
Ich nickte – und weg war er.
Die Tür stand offen. Und zwei Schritte davor saß der schwarze Pudel
auf dem Korridor und sah mich an. Seine wieder wie glühend rote
Zunge hing ihm zum Maul heraus und dampfte. Davon roch es in
meinem Zimmer nach verbrannter Haut.
„Hey, Bello“, sagte ich und bewegte mich vorsichtig zur Tür. Ich
musste verhindern, dass der Hund zu mir ins Zimmer kam, denn
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dann würde es alles andere als eine gute Nacht werden. „Ich tu dir
nix!“
Der Pudel bewegte den Kopf einmal zur Seite, knurrte.
„Ich hab nur noch zwei Joints“, sagte ich. „Und die brauche ich
selber.“
Der Pudel japste, als wäre ihm das ohnehin egal, ließ mich aber nicht
aus den Augen.
„Du bist ein Guter“, sagte ich und war nur noch einen Schritt von
der Tür entfernt, „und du bleibst auf deinem Platz und passt auf mich
auf.“
Eindeutig, der Pudel grinste, er zog eine Lefze schräg nach oben, die
andere schräg nach unten und schniefte, dass es aus seinen Nasenlöchern sprühte.
Leck mich, dachte ich, blöder Köter, und griff nach der Tür, um sie
ins Schloss zu schlagen. Aber ich bewegte sie nicht, sie blieb unverändert, als wäre sie mit der Luft verschweißt. Ich versuchte es mehrmals,
trat schließlich gegen die Tür, sprang sie an, aber außer noch stärker
schmerzenden Schultern erreichte ich nichts.
Und der Pudel saß da mit zur Seite geneigtem Kopf und lachte über
mich.
Ich streckte ihm die Zunge raus. Was war das für eine verflixte Situation! Was für eine saublöde Sache, in die ich geraten war? Warum
überhaupt hieß ich Faust? Warum nicht Hand oder Finger? Dann
wäre ich nie und niemals an die drei Typen geraten, die wie Karnevalsjecken daherkamen und sich als Headhunter entpuppten; nie und
niemals würde ich dann vor einer Bestie von Hund strammstehen
müssen und mich von ihm auslachen lassen; nie und niemals wäre ich
versucht, zu sagen, nun hilf mir doch mal einer, verdammt, ob Engel
oder Teufel ist egal! Hilfe! Und vielleicht sagte ich es doch?
Denn auf dem Korridor hörte ich Schritte und einen leisen Pfiff, der
dem Pudel galt, denn der wandte den Kopf zur Seite, trabte aber nicht
von der Stelle.
Es war Wagner. Er stellte sich neben den Pudel, legte ihm eine Hand
auf die Nase, was der ohne Reaktion hinnahm. Wagner setzte die
Brille ab, blickte mir in die Augen. Aber dieser Blick rührte nichts an,
das dem bei unserer ersten Begegnung an der Rezeption vergleichbar
war.
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„In diesem Haus werden nachts die Türen geschlossen“, sagte Wagner.
Seine Stimme war angenehm, weich, doch ohne schmeichlerisches
Timbre.
„Die Tür ist kaputt“, sagte ich. „Und das Fenster ist auch eigenartig
und der Hund mag mich nicht.“
Wagner schnipste mit den Fingern und die Tür fiel in die Angeln wie
in einem schwachen Durchzug.
„Schließen Sie die Tür!“, sagte Wagner. „Halten Sie Ruhe bis zum
Morgen und kommen Sie rechtzeitig in mein Büro, damit wir die
Formalitäten klären. Gute Nacht! – Und denken Sie daran, was man
in der ersten Nacht in einem neuen Zuhause träumt, das erfüllt sich.“
Wagner ging. Der Pudel trabte neben ihm her. Ich bemerkte, dass der
Hund auf dem rechten Hinterlauf hinkte und hörte ein leises Klicken, wenn er die Pfote auf den Boden setzte, als hätte er Horn oder
einen metallenen Beschlag dort.
Ich setzte mich aufs Bett, fummelte mir einen von den Joints aus der
Tasche und zog ihn mir rein. Dieser Wagner würde sich kringeln,
wenn er einen Schimmer davon bekäme, was ich träumen würde. In
zehn Minuten würde ich nicht nur der verwachsenen Töle die Flötentöne beibringen, sodass die nie wieder lachte über einen Menschen
und samt Wagner Männchen macht vor mir, so wie ich’s ihnen
gebiete, und dem Kanaillentrio würde ich Beine machen und die
Leviten lesen und es aus dem Anzug schütteln, sodass weder Direktor
noch lustige Person noch Dichter wüssten, wer wer denn wirklich ist
in ihrem Verbund, und dem Chef dieses Hauses würde ich den Bart
zausen und vielleicht würd ich Vater zu ihm sagen, nur so aus Spaß
natürlich, und mich putzig machen über sein Erschrecken oder seine
Freude, oder ich würd ihm sagen, hey, Alter, nun zeig mal Pflichtbewusstsein, kümmere dich um dein liebes Kind, gib ihm Zaster und
Weisheit, sodass ihm die Luft nicht ausgeht zwischen den elenden
Steinen und Knüppeln des Daseins, damit was wird aus ihm und er
eine Geschichte kriegt.
Aber es kam alles anders und doch genauso.
Mit dem Pudel hatte es seine Bewandtnis, auch wenn weder ich noch
ein anderer, auch Professor Faust nicht, seinen wahren Kern bestimmen konnten.
Für Wagner und für mich ging’s einen eignen Weg, für so was gibt’s
kein Bedenken und keine Ahnung.
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Vom Direktor, der lustigen Person und dem Dichter habe ich nie
wieder etwas gehört oder gesehen, auch wenn ich zuweilen glaubte,
sie in anderen Insassen der Anstalt auszumachen; sie blieben verschollen.
Und was den Professor und mich betrifft, so ist’s das Salz und der Speck
der Geschichte, die ich für mich von ihm einzufordern gedachte.
Auch, dass ich mir nach dem vorletzten noch den letzten Joint reinzog, ging auf eine Geschichte, und der Tequila hatte auch noch sein
Wirken in mir, auf die ohnedem nicht zu kommen gewesen wäre,
obwohl es sich zu Anfang so gehabte wie immer, also: Ich lachte,
einfach so, mir war danach und warum nicht, man gönnt sich ja sonst
nichts, und warum nicht reden, man wird ja eh von allen Seiten angelabert und zugetextet, gibt man auch seinen Senf dazu und mit ’nem
riesenroten Punkt auf ’m i, und den Hunger, na ja, den lässt man stecken, haste nix zu beißen, brauchste nix zu schlucken, auch wenn’s in
den Sand gesetzt ist, und keiner kann mir verbieten und ich lass mir
nicht verbieten, wo ich mich einbringe, wo ich meinen Spaß hab und
mit wem, sind eh nicht die schlechtesten, die tanzen und lachen und
sich auf geilen Jux verstehen, und alles so schön bunt und warm und
mit groovigen Sound, da bin ich dabei und war’s auch.
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XVIII
Es war kein Flug, keine Fahrt und kein Lauf, mit dem Mephisto uns
vom Platz brachte; es war eine Bewegung, das spürte ich, aber für die
Dauer und die Entfernung, die wir in dieser Bewegung verbrauchten und überwanden, hatte ich kein Empfinden. Wir waren weg von
dem einen Ort und gelangten an einen anderen Ort, ohne aus den
Fesseln von Raum und Zeit entlassen zu sein und wieder oder neu
auf vorsorgliche oder anders spitzfindige Bedenklichkeiten geworfen
zu werden.
Es war ein bekannter Platz in jener Stadt, soviel erkannte ich. Vor
einem Lokal. Die Plätze für Mephisto und mich am bestgestellten
Tisch unter Platanen waren freigehalten worden. Als wir uns setzten,
nahm der Kellner das Reservierungsschild vom Tisch.
„Das Übliche, Herr Doktor?“, fragte er Mephisto.
Mephisto nickte nur. „Wie fühlst du dich?“, fragte er mich. „Du
machst ein Gesicht, als hätte es dir die Blüte verhagelt.“
„Mit dem Wetter komme ich zurecht“, antwortete ich. „Und was
Hagel ist, weiß ich. Hab’s ein-, zweimal im Fernsehen gesehen. Aber
wie’s ist, wenn man davon getroffen wird oder wie’s sich anhört, wenn
es auf ein Dach schlägt, das weiß ich nicht.“
„Warum weißt du das nicht?“ Mephisto blickte mich an, als wäre ich
nicht von dieser Welt. „Hast du es vergessen?“
„Ich bin kein Landei. Ich war einmal mit meiner Mutter in der Uckermark. Erlebniswochenende auf einem Bauernhof. Das hat gereicht.
Es gab Sonne satt und Mücken satt und Kuhscheiße satt. Wir sind
vorm Sonntagsvesper wieder abgedampft. Mutter und Sohn waren
sich so einig wie selten, das mussten wir nicht noch mal haben.“
Mephisto wies über seine Schulter auf einen Tisch abseits. Daran
saßen ein Mann und eine Frau. Und die Frau war meine Mutter
Helena und der Mann war mein Vater Johann Heinrich Faust. Sie
führten ein intensives, aber unangestrengtes Gespräch. Meine Mutter
trank Weißweinschorle. Mein Vater rauchte Pfeife. Einmal lachten
sie. Es beunruhigte mich, die beiden so zu sehen.
„Wir sollten sie nicht stören“, sagte Mephisto. „Ich habe deinen Vater
selten so gut bei Laune gesehen.“
„Haben sie sich zufällig getroffen?“
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„So zufällig, wie alles zufällig ist mit uns.“
„Das heißt, Mephisto hat die Finger mit im Spiel und der Teufel
wird’s richten, wenn’s nötig ist.“
„So entspannt solltest du bleiben.“ Mephisto nahm seinen Blick nicht
von mir. „Es sieht aus, als hättest du Frieden mit dir gemacht. Als
hättest du die Frage – Wer bin ich – beantwortet mit: Der bin ich.“
„Und du machst auf Therapeut? Auf einen neuen Teufel? Du fängst
keine Seelen mehr, sondern du heilst sie?“
„Es ist typisch für Menschen, besonders wenn sie noch jung sind und
mit sich eins werden, dass sie nach einem neuen Feind suchen. Und
es ist auch typisch, dass sie sich diejenigen dafür aussuchen, denen sie
am meisten zu verdanken haben.“
„Du wirst in meinen Memoiren lobend erwähnt werden. Versprochen.“ Ich blickte zu dem Tisch, an dem mein Vater und meine
Mutter saßen. Helena berührte eben, wie abgelenkt durch das
Gespräch, flüchtig Fausts Hand und er griff nach der Hand, bekam
sie aber nicht zu fassen, weil sie die Flüchtigkeit der Berührung nicht
strapazierte und die Hand zurückzog, sodass er tat, als verscheuche er
Fliegen, die ihn auf der linken Körperseite attackierten.
„Wenn sie so gelassen hätten miteinander umgehen können, als sie
ihre entscheidende Zeit hatten, hätten sie mich nicht gebraucht“, sagte
Mephisto. „Allerdings wären sie dann auch nicht mit ihrer Geschichte
zur Geschichte geworden. Und du, Justus, hättest nie erfahren, dass es
Räume gibt, in denen festgeschriebene Gesetze keine Geltung haben,
die als Enklaven des Natürlichen die Gesetze der Natur gelegentlich
überscharf in sich anwenden und dass die Zeit manchmal so verspielt
mit sich umgeht, als hätte sie ihre Autonomie an der Garderobe ihrer
Kinderstube abgehängt.“
„Du meinst meine Zeit in der Anstalt meines Vaters!“ Nun musterte
ich Mephisto. „Wenn ich nicht gekommen wäre, du würdest noch
im Käfig im Keller sitzen und versuchen, ein zweites Einmaleins zu
erfinden.“
Mephisto wurde deutlich verlegen. „So ein großer Befreier warst du
nun auch nicht.“
„Ich hatte meine Anpassungsschwierigkeiten, das gebe ich zu. Aber,
und das weiß ich jetzt, mehr, als ich dort hatte, braucht’s zum Leben
nicht. Als ich die Form begriffen hatte, die Logik des An-Sich-Absurden als geistige Güte erkannte, hätte ich es aushalten können.“ Ich
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verkniff meine Lider, sodass Mephisto die gewollte Schärfe meines
Blickes nicht ignorieren konnte. „Aber es musste ein gewisser Herr,
der sich, als er letztmalig seinen Namen nannte, als Doktor Christo
de me Phisto vorstellte, mir ja einen ihm überflüssig und zur Last
gewordenen Karton zum Geschenk machen …“
„Ich habe dir einen Freund geschenkt“, unterbrach mich Mephisto.
„Willst du mir das zum Vorwurf machen?“
„Ich habe keinem was vorzuwerfen“, sagte ich. „Aber – und das manifestiert sich in mir – ich war dort an den Quellen meiner persönlichen Tragik und weit hinaus über die Grenzen, in denen mein Ich bis
dahin seinen Auslauf hatte.“
„Schön, sehr schön gesagt, junger Mann! Aber wie wird ein Schuh
daraus?“
„Sage mir die Zahl, die Nikolaus mir versprochen hat.“
„Die Zahl, die die Welt erklärt und in der alles verborgen ist?“
„Er ist so schnell vergangen und es war so vieles andere im Gange,
da ist uns die Zahl nicht so wichtig gewesen. Aber ich bin mir sicher,
wenn Nikolaus sie wusste, dann weißt du sie auch.“
„Und warum sollte ich sie dir sagen?“
„Weil es mir versprochen worden ist. Von dem Geschenk, das du mir
gemacht hast.“
„Ich bin gleich wieder da“, sagte Mephisto und stand auf. Und in dem
Moment servierte der Kellner das, was der Herr Doktor wie üblich
bestellt hatte. Einen doppelten Espresso, einen Schoppen Rotwein
und eine angeschnittene Havanna mit einer Schachtel HabanosHölzern dazu; mir stellte er ein Glas Wasser hin, in dem eine Limettenscheibe schwamm. „Das Übliche“, sagte der Kellner. „Die Genussmittel für den Herrn Doktor, das Wasser für den Patienten.“
„Ist die Box frei?“, fragte Mephisto den Kellner. „Ich müsste schnell
für fünf Minuten ins Internet.“
„Das macht der Boss persönlich für Sie möglich“, antwortete der
Kellner. „So ein guter Gast, wie sie sind.“
Dennoch zögerte Mephisto. „Du bleibst auf deinem Platz!“, wies er
mich scharf an. „Lass dich von keinem anquatschen und plaudere
keinem was aus. Wir haben’s noch nicht in trockenen Tüchern mit
dem Herrn Superstar. Verstanden?“
Der Ton gefiel mir nicht. Aber ich nickte.
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„Sage: Ja, ich habe verstanden!“ Aber Mephisto wartete meine Reaktion nicht ab. „Ich bin kein Fußabtreter, auf dem man rumtrampelt,
wie’s einem gerade passt. Du willst was von mir, also behandle mich
entsprechend. Merke dir das fürs nächste Mal!“
Mephisto ging ins Lokal. Er hatte nichts von dem angerührt, was
der Kellner serviert hatte. Und der verdrehte die Augen und sagte:
„Wieder mal dicke Luft in der Anstalt! Der Doktor würde sich an
deiner Stelle als Patient auch nicht fremd ausnehmen.“
Ich wollte mir keine Verärgerung zulassen, auch ein Teufel hatte
seine Launen. Von Faust und Helena schwirrte ein gemeinschaftliches Lachen herüber. Dass ich zum ersten Mal in meinem Leben das
Lachen meiner Eltern hörte, traf mich mit solch ätzender Wehmut,
dass ich das Glas Wasser auf einen Zug leer trank und die Limettenscheibe kaute, als wäre sie es, die ich zerfleischen musste, um gegen
den Gram, der aus dieser Situation sich entwickelte, zu bestehen.
Denn warum setzte ich mich nicht zu ihnen? Ich war ihr Kind, da
müsste es sie freuen, mich zu sehen. Und ich würde sagen, dass ich
gern eine Waldmeisterbrause trinken würde oder ein Fruchteis schlecken möchte. Und Papa und Mama würden sich erfreuen an ihrem
Sohn und ihm seine Wünsche erfüllen. Wir würden eine gute Familie bieten und müssten uns nicht mal einen abquälen dafür. Aber da
war’s, dass ich meinen Vater sehr deutlich hörte.
„Über unseren Sohn dürfen wir uns keine Illusionen machen“, sagte
er. „Seine Flausen haben eine tiefere Ursache.
Und ich hörte meine Mutter nicht minder deutlich.
„Justus war schon immer eigenartig“, sagte sie. „Eine Zeitlang, da war
er fünf Jahre alt, ist er nur rückwärts gelaufen. Und als er elf war, hat
er so echt einen Betrunkenen gespielt, dass ich schon den Notarzt
rufen wollte.“
Wieder lachten beide. Diesmal klang es weniger verlockend, mich zu
ihnen zu setzen.
„Ich weiß von meiner Kindheit gar nichts“, verkündete Faust. „Und
trotzdem fehlt mir nichts.“
„Ach, Heinrich“, sagte meine Mutter. „Unser Sohn trägt das aus, was
wir beide nicht bewältigt haben mit uns. Er ist kein Kind der Liebe.
Und daran trägt er sein Leben lang.“
Damit war’s klar, sie wussten nichts von mir, kannten nur was Äußeres. Warum war ich denn rückwärts gelaufen? Das hatte mich meine
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Mutter nicht gefragt. Nur, das ist nicht normal, Kind, hörte ich
von ihr, du musst vorwärtsgehen so wie ich. Aber ich konnte nicht
vorwärtsgehen, denn es waren Wände vor mir in alle Richtungen und
bei jedem Schritt und ich knallte dagegen, sodass es in meinem Schädel krachte. Das war wie versteinerte Luft vor mir und ich konnte
sie weder ahnen noch umgehen. Als es mir zum ersten Mal passierte,
versuchte ich, es mit mehreren Anläufen zu durchbrechen und zu
überwinden, aber jedes Mal prallte ich an Unsichtbarem zurück. Das
tat nicht nur weh, es ängstigte mich allein schon mit seiner Unbegreifbarkeit, denn diese Versperrung traf ausschließlich mich allein,
wer vor oder neben mir ging, hatte das Problem nicht, egal, wie nah
er mir war. Dass ich rückwärtsging, war meine einzige Möglichkeit,
damit fertigzuwerden, nicht so vorankommen zu können, wie es
jedem anderen möglich war. Aber ich war Kind und wollte so sein,
wie’s üblich war. Und einmal – ich hatte keine Übung darin und kein
Vorbild dafür, doch als ich es tat, musste ich darauf sinnen, wie es zu
tun war und ob ich es richtig machte; es gelang – setzte ich mich vors
Fenster schloss die Augen und betete. Ich weiß nicht, was genau ich
sagte und wie genau meine Haltung war, aber mit meinen Worten
öffnete sich mir ein Bild, und dieses Bild war eine zweifache Gestalt
aus Licht und Dunkelheit, sie saß erhöht und aus ihrem silbern
schimmernden Haar sprühten Funken, die als kleine, aber wachsende
Welten aus dem Bild heraussprangen. Das war schön anzuschauen.
Am schönsten jedoch war, dass – und irgendwie war’s gewiss, dass ich
es machte mit meinem Gebet, was sie anlockte – die Sonnen kamen,
um sich in seinem Licht zu baden. Und ob es die Gestalt war, die
das Licht aussäte, die zu mir sagte „Lauf!“ oder ob es eine von den
Sonnen war oder ob es alle Sonnen waren, die es mir befahlen, wusste
ich nicht. Ich sprang auf und lief vorwärts und nichts mehr war mir
im Weg. Er ist wieder vernünftig geworden, sagte meine Mutter, als
ich nicht länger rückwärtsgehen musste, was für ein Glück, man hätte
ja denken können, du bist nicht ganz richtig im Kopf! Und als ich
ihr sechs Jahre später zu meinem elften Geburtstag den Besoffenen
spielte – so wie ich’s ihr verklickerte danach –, machten’s wieder meine
Grenzen, die mir so hart auf den Leib rückten. Nämlich, dass ich
das Wunderkind, das meine Mutter sich, auf Grund der Vaterschaft
Fausts, mit mir versprochen hatte, nicht wurde. Sie war nicht zufrieden mit mir. Und die Frage, was soll nur aus dir werden, wenn’s nicht
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besser wird mit dir, war die Höchststrafe zum Ende mancher Tage,
wenn’s an sich schon Strafe genug gewesen war, sich durch den Tag zu
bringen, was hieß: Rechtzeitig aus dem Bett zu kommen um nicht zu
spät in der Schule zu sein, die Schule überhaupt, die ätzenden Lehrer,
die noch ätzenderen Mitschüler und Vivian, die das schönste Piercing
der Welt im linken Nasenflügel hatte und sich das gleiche Parfüm
zwischen ihre Brustknospen spritzte wie meine Mutter zwischen
ihre und die mich richtig abblitzen ließ und sich, sodass ich’s sehen
musste, mit einem aus der Neunten megageil befummelte; und dann
die Stunden nach so was allein in der Wohnung und den Brass im
Kopf und in der Brust und eine halbe Armlänge tiefer auch schon, ja,
da war die angetrunkene Flasche Batida hinterm Nachtschrank neben
Mamas Bett ein Trösterchen vom Feinsten. Und das wurde das Spiel
meines Lebens, dass ich besoffen war und spielte, dass ich’s spielte,
im Vollrausch zu sein. Von wem hast du nur das Talent, so zu schauspielern, wunderte sich Helena tagelang danach zu jedem Anlass,
vielleicht bringst du es auf dem Gebiet zu was, Schauspieler werden
heute viel mehr gebraucht als zu andern Zeiten und als andere Leute,
ohne Schauspieler und Schauspielerei geht doch kaum noch was und
auf ’m kahlen Ast sitzt von denen auch keiner heutzutage, also, Justus,
vielleicht ist Film, Fernsehen, Theater was für dich, vorausgesetzt, du
entwickelst genügend Persönlichkeit, um damit zurechtzukommen,
wieder und wieder eine andere Person so darzustellen, dass sie als die
Persönlichkeit, die ihr die Rolle vorschreibt, überzeugen kann. Aber
weder darüber noch über die verschwundene Flasche Batida hat meine
Mutter jemals wieder gesprochen. Aber ich hatte sie beeindruckt und
ihr, so wie sie es sagte, die Gewissheit gegeben, dass ich nicht untergehen würde in den Stürmen des Lebens. Das war der Strohhalm,
den meine Mutter mir als Lebenshilfe anbot. Dabei hätte ein Lachen,
so, wie sie es eben wieder am Tisch mit meinem Vater hören ließ,
mir die Tage heller gemacht und aus so mancher Nacht den Dämon
des Zweifels in mir, der mir meine Identität verstellte mit mir fremden faustischen Nachlässen, vertrieben. Nun also wusste ich es, dass
die Ahnung des Faustischen in mir auch gleichzeitig die unheimliche
Drohung gewesen war, die meine Jugend so kujonierte, dass meine
Sehnsucht nach meinem wahren Vater durch mich als Justus Faust
nicht zu rechtfertigen war.
„Unser Sohn“, hörte ich Faust, „ist auf seine Art etwas Besonderes.“
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„Bei dem Vater“, sagte Helena, „ist das kein Wunder.“
„Und bei der Mutter“, sagte Faust, „durfte man’s erwarten.
Und ich dachte: Das seid ihr wirklich, ihr, meine Eltern, zwei
Menschen, der eine Mann, der andere Weib, die sich weiter nichts zu
sagen haben, als dass ihr Kind, das sie einmal zeugten, ein eigenartiger
Balg war, um den es ihnen allerdings nicht bange sein musste, denn
sie hatten ihn ja genetisch so aufgepeppt, dass er dank dem durchkommen würde von seinem Anfang bis zu seinem Ende hierzulande
und überall.
Ich hielt den Stinkfinger über meinen Kopf. Das war alles, was ich
für meine Eltern tun mochte. Und ich tat es für mich. Und da war’s
egal, ob sie es bemerkten oder nicht. Ich hatte mit dieser Geste meine
Eltern von mir entlassen. Und so war’s gut.
Entspannt beobachtete ich einen Fahrradkurier, der den Platz abfuhr
und nach einem ganz bestimmten Empfänger Ausschau hielt. In
der linken Hand hielt er ein großes gelbes Kuvert, auf das er immer
wieder blickte und die Anschrift kontrollierte. Eine weitere Zustellung schien er, nicht als Auftrag zu haben. Zweimal fuhr er auf jemanden zu, als hätte er den richtigen Mann, nach Frauen schaute er nicht,
entdeckt – beide Male irrte er.
Als der Kurier wieder einmal auf der gegenüber liegenden Seite des
Platzes war und somit am weitesten entfernt von mir, erblickte er
mich. Sofort schwenkte er das Kuvert in meine Richtung, trat in
die Pedale und preschte, jede Vorsicht und Rücksicht missachtend,
wahrlich halsbrecherisch quer über den Platz auf mich zu. Die Reifen
schnurrten übers Pflaster und die Bremsen quietschten, als er neben
mir hielt.
„Hätte dich fast nicht erkannt“, sagte der Kurier. „Als du vor Heiner
rumjemacht hast, warste jrößa irjendwie! War aba ’ne jeile Numma.
Muss sich erst mal ena traun, so wat Verrücktdet!“ Er warf das Kuvert
vor mir auf den Tisch. „Is für dia. Kommt keen eener anner nich in
Frage für.“ Er schnallte den Kinnriemen des Kopfschutzes ein Loch
enger. „Na denn, Alda, mach ’n Superstar und kratz dia die Bouletten
aus’m Feua.“ Bei dem Antritt, mit dem der Kurier sich davonmachte,
hätte er sich bei jedem Rennen und bei jedem Wetter aufs Podest
gefahren.
Das Kuvert war skurril adressiert: „An Herrn Justus Faust“, war mit
schwarzem Stift und in normgerechter Schrift geschrieben, „Sohn des
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Professors Dr. Joh. H. Faust – selbiger ist Betreiber und Leiter der
Anstalt für seelisches Inferno und Hirnsteine – und Superstar in spe,
zur Zeit unterwegs in betreffender Angelegenheit und in Begleitung
seines Vaters und eines andern, nicht unbekannten Herrn, oder, falls
dieser in fraglicher Eigenschaft sich ausbildet, mit einem schwarzen
Pudel, der leinenlos sie begleitet und zu den absonderlichsten Kunststücken und Schabernacken befähigt ist; besondere Kennzeichen:
Mein Mann ist jung, gutaussehend und klug, sein Bart ist gelockt
und duftet nach teuren Pilzen.“ Ich fasste erschrocken an mein Kinn.
Ich trug tatsächlich einen Bart und ich fühlte die Locken wie fein
gewickelte Drähte.
Dass ich diesen Bart die ganze Zeit nicht bemerkt hatte, war ein
Streich übelster Art, den die Identität, wenn sie’s denn zu verantworten hatte, einem spielen kann. Max, Klausi, Heiner und so weiter
kannten mein wahres Gesicht gar nicht. Aber womöglich hatte der
Kurier mich nur wegen dieses Bartes erkannt. Aber auch Aloa hatte
mich erkannt. Dabei waren Bärte für sie, so hatte sie es zu unserer
Zeit behauptet, die ekelhaftesten Ungezieferbrutstätten, die es gab.
Ich zerrte an dem Gelocke um mein Kinn. Auf den Wangen war der
Bewuchs weniger dicht und ich wünschte, ich würde den Bart wie ein
künstliches Vlies von meinem Gesicht abziehen können.
Als Absender war notiert: „Frau Marie Anne Faust, geb. Wagner, z.
Z. (noch) anwesend in der Anstalt des Vaters meines Mannes. (Die
Koordinaten sind unter 000dreimalminusSinn.de kostenpflichtig
abrufbar.)“ Der Klebefalz war mit Tesafilm mehrmals überklebt, aber
die Kanten des Kuverts waren brüchig und aufgeschrammt, sodass
ich die eingelegten Blätter schon mit kräftigem Schütteln herausbekam. Und, in der einen Hand die Blätter, die andere im Haarwuchs
um mein Kinn beschäftig, ich begann zu lesen, was meine Frau mir
geschrieben hatte:
„Mein geliebter Mann und Herzbeißer, gottlieber Justus! Du fehlst
mir und überall. Meine Hände sind nicht wie deine an mir. Ich war
zu lange mit mir selbst. Da kitzelt’s sich so vergeblich, wie’s kein Feuer
gibt, das einen Toten wärmt. Es zieht mich dir nach und es schiebt
mich dir nach und ich leg mich quer in den Wind, wenn irgendwas
eine Tür aufschlägt und ein Zug durch die Anstalt fährt, wie’s nie
geschehen wäre, würde der Professor noch im Geschicke sein. Grüße
den Vater recht hübsch von mir. Wir sollten’s uns mit den alten Zeiten
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so genau nicht machen. Er war jung, ich war jung! Und es ist halt so,
dass, wenn der Flieder blüht und die wilden Katzen ranzen unterm
Schnee, einem zu viel Zucker fällt ins Salz der Seel. Da rettet kein
Erkennen was. Und was von meiner Mutter in mir arbeitet, ist die
Sucht auf den Stoff, mit dem wir geschaffen sind und den wir doch
nie finden können in uns. Wäre mir der Homunkulus nicht gelungen,
ich hätte mich womöglich selbst zerkocht in meinen Töpfen. Und wie
ich das Warten aushielt auf dich unter der Vorherrschaft deines Vaters,
bleibt das erste Mysterium meiner Existenz. Das zweite ist, warum das
Licht wieder zu mir kroch aus den Katakomben hier und die Zeit mir
eine neue Wahrheit versprach, als du im Gefolge des Direktors, des
Dichters und der lustigen Person einkehrtest in diesen Ort und alle
Bedenklichkeit sich neu bedachte und die alten Worte ihre Macht
verloren an einem jeden. Ach, unser erster Blick da ineinander! Da
wusste ich, dass ich es schaffe über meine Angst hinweg, dass es wieder
einen Anfang geben würde mit mir, dass die Verödung meines Falls,
nenne ihn den Fall Wagner/in im Kasus Faust, zum Kulturconsort
nicht das Ende meines Prozesses war. Du, mein Herzbeißer, hast mir
mit jedem Blick mein Frausein aufgeweckt, aber du warst keine Versuchung, der hätte ich widerstanden allein aus der Gewöhnung, du
warst ein Versprechen aufs Wahre. Und der Wahrheit, Liebster,
entgeht man nicht und sie bleibt über alle Zeit hinaus. Aber ich
konnte nicht gleich zu dir, es war so viel Geschichte zwischen uns. Ich
war Wagner, die Identität war mir ernannt worden als Famulus in
Faustens Gnaden. Diese Fessel des JWG hätte ich ohne dich nicht
gesprengt. Ich wäre fürderhin im Würgegriff der Worte denaturiert,
selbstlos und fremdbestimmt verelendet. Auch dein Vater ist nur
deshalb aus den Verschriftlichungen entkommen, weil er die Bedenklichkeit des Ortes über seinen eigenen bedenklichen Status gestellt
hat. Und’s gilt ja auch nur, wo man’s gelten lassen will, der Wille ist’s
und der Wille macht’s. In einem jeden Kopf gibt’s allemal Reviere, die
unverfügbar sind. Und nicht jeder Kopf ist als Anstalt herzunehmen.
Und nur in einem war’s füglich, dass Liebe ist. Doch das ist nun und
mit uns alles in allem gelungen. Und wenn ich an dich denke – und
wann denke ich nicht an dich! –, gestaltet sich auch das wirrste Gewesene in eine Ordnung und wie nach Plan und Bedeutung, sodass ich
die Tatsachen meines Lebens nicht mehr hasse. Auch ich war eine
faustische Existenz, aber durch dich ist dem die Bitternis genommen,
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dass ein Wagnersches nicht als Kennzeichnung einer Willensstruktur,
eines Daseinsprinzips also, ins Kulturgemenge kam. Ich kann mir
jetzt genügen. Und denk dir, ich habe von unserm Kind geträumt. Es
ist ein Mädchen und es nannte seinen Namen: Walpurgia! Ist das
nicht süß? Dass unser Kind ein Mädchen ist und einen solchen
Namen hat? Und sie ist, ich habe es gesehen und beschwöre es bei
unserer Liebe und meiner Unschuld vor dir, ein schönes Kind und
sieht dir dennoch ähnlich. Und ich denke, dass, wenn es ein wahres
Bildnis deiner Mutter Helena gäbe, deren Schönheit mit der Schönheit unserer Tochter ins Vernehmen zu bringen wäre. Von mir hat
unsere Tochter das, was eine Tochter von der Mutter haben muss,
damit sie eine Tochter ist. Aber ich habe ihr nicht unter den Rock
geguckt. Und ich freue mich, dass sie als freies Wesen von freien,
gefühlvollen, sorgenden, einander liebenden und einander achtenden
Eltern aufwachsen wird. Um diese Eltern beneide ich meine Tochter.
Und darum auch, dass ihr von ihren Eltern keine Urszene geboten
werden wird, die sie lebenslänglich in entstellende Maskeraden und
bürgertreuliche Verkleidungen zwingt, um zu überleben. Das habe
ich unserer Tochter – in diesem Traum, mein Gottlieber – in unser
beider Namen versprochen. Und, so sagte ich ihr, dein Vater wird ein
berühmter Mann, ein Superstar, und du, mein Fäustelmäusel, so sagte
ich im Traum zu unserer Tochter, wirst ein Superbaby, das er umsorgt
und beschützt und dem er zu Füßen legt, was immer du begehrst.
Und ich hätte unserm Kind noch viel mehr erzählt von uns, aber es
gab mal wieder Ratz und Batz in der Anstalt und aus war’s mit Schlaf
und Traum und schöner heiler Welt. Wir wollen Krieg, schrie’s von
irgendwoher. Da half nur, dass ich den alten Wagner noch einmal
gab, so, wie sie mich kannten. O, das war eine Freude, die Bande zu
räsonieren. Hah, Gottlieber und Herzbeißer, da hättest du mich sehen
sollen, wie ich mich drauf verstand, die Peitsche zu schlagen dazwischen und quer rüber und um die Beine, und du hättest sehen können,
wie’s Lust machen kann, zu schlagen und geschlagen zu werden.
Danach war’s in guter Ruhe wieder, auch mit mir. Es hatte wehgetan,
aber das war der Grund gewesen dafür, dass Schmerz gegeben wurde,
denn Schmerz ist Leben. Der Schmerz, Justus, macht das Leben klar.
Wenn’s die Haut aufreißt und das Blut spritzt, huch, Liebster, da wäre
ich gern einmal die Peitsche in meiner Hand und näher dran. Ja, wir
haben noch viel dunkles Gelüst mit uns zu entdecken. Auch träumte
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ich von meiner Mutter. In anderer Nacht. Sie lag auf der Folter. Und
es freute sie, je mehr es sie streckte und keilte, quetschte und brannte.
Und hier in der Anstalt war’s, das Gekrümme in alle Dimensionen
hierorten ist ausreichendes Indiz dafür, wo sie’s gestehen sollte, dass
ich ein Balg teuflischer Buhlschaft war. Mein Kind ist die Sonne des
Lichts, schrie sie – und wohlgemerkt, sie meinte mich –, mein Kind
ist geschmiedet aus seelenartigem Stoff in ewigem Feuer und mit dem
ehernen Hammer der Zeit von dem Schmied, der keine Rechenschaft
gibt über sein Tun und seine Werke, meine Tochter ist rein. Und da,
mein Justus, lachte es von überall und es zerriss den Traum. Ich lag da
auf dem Lager, das einmal unser gemeinsames war, und erwartete,
dass es mich auch zerriss. Aber es geschah nicht. Ich hielt meine
Hände auf meinen Leib, fühlte die Bewegungen unseres Kindes in
mir und ich weinte. Du kennst die Anstalt und weißt, wie dein Vater
sie gestaltete, und weißt also, dass es nicht möglich ist, von hier den
Himmel zu sehen mit den Wolken und den Sternen und dem Blau so
ungeheuer, aber ich sah’s, ich sah den eingerichteten Himmel wie
meine neue und letztliche Heimat. Und darin warst auch du. Du
warst der Grund dieses Himmels und der Grund, dass ich ihn sah,
mein Geliebter. Noch ist keine Nachricht von dir vermeldet. Von
Fausten und dem andern Herrn ebenfalls nicht. Aber, und das
vermerke dir fest, auch wenn’s dir misslingt auf den Superstar und wir
von unten in unser neues Leben starten, du bleibst mein Herzbeißerle! Ach, wenn’s dir nur halb so gelingt auf den Wahnsinn zu musizieren wie hierorts, dann lass es uns nicht bange sein um deine Karriere
in Hollyland und Wohlfahrtshausen! Und das sei dir gestanden noch:
Auch ich versuche mich zu Zeiten auf so manches Lied. Meine
Stimme trägt, ich halte die Melodie und den Takt und Klagen darüber,
dass es Lärm wäre oder andere störende Äußerung, sind noch nicht
geführt. Vielleicht also schaffen wir’s zu zweit in die Charts und du
musst nicht allein vor die Leute und alles tragen allein, das Blech vom
Ruhm und das Holz vom Schmäh. Halte dich aufrecht in allen deinen
Kämpfen, mein Super-Faust, und vertraue auf deine Frau, die dein
Kind austrägt, sich nach deinen Händen und so weiter sehnt und
daran glaubt, dass es zwischen dem Sinn des Wahns und dem Wahnsinn eine Enklave gibt, in die uns Zutritt gewährt wird und in der wir
ein Auskommen haben und wo alles, was Wort ist von uns, aufgehoben wird in dem einen Buch, für das die Schrift in Bestellung gegeben
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ist: mit uns. Es umarmt, herzt und pusselt dich deine Frau Marie
Anne. PS: In den Gärten der Lust, so geht seit Tagen ein Gerücht
durchs Gekrümme, blüht eine neue, bisher für niemanden bekannt
gegebene Blume, sie öffnet ihre einzige glühende Blüte nur und lässt
ihren Duft frei, wenn sich ihr ein Paar nähert, dass sein Versprechen
aufeinander nie bricht und das nie Lug und Trug kennt miteinander.
Liebster? Wollen wir’s bestehen und sie suchen?“
Puh! Das war eine Post, die schlug auf die Nüsse. Damit hatte mir
meine Wagnerin ganz schön was eingepackt vom letzten Abendmahl oder wie man’s nennt, wenn die persönlichen Sakramente
dem andern, sei er ein Gottlieber oder ein Satansbester, ausgereicht
werden. Allein, dass unser Kind, meine Tochter, Walpurgia heißen
sollte, war ein Streich allererster Ordnung! Himmel, was würde das
für eine Schlagzeile geben: „Walpurgia, die Tochter des Superstars!“
Aber als Walpurgia Faust hatte es dann doch was für sich, denn nicht
immer sind Namen Schall und Rauch. Und meinem Vater würde der
Name unter Umständen wollüstige Schauer körnigen Empfindens
durch Leib und Geist treiben, könnte er sein Enkelkind sich einmal
so herbeirufen.
Ich drehte mich um, Faust und Helena hatten ihre Plätze verlassen.
Der Kellner räumte den Tisch ab. Dem Geschirr nach zu urteilen, das
er auf das Tablett sortierte, hatten die beiden literweise Cocktails und
harte Drinks konsumiert. Die Trinkfestigkeit meiner Mutter wurde
noch beanstandet. Wie’s diesbezüglich mit meinem Vater stand,
wusste ich nicht.
Als der Kellner mit dem vollen Tablett bei mir vorbeikam, fragte ich
ihn: „Die Herrschaften sind schon gegangen?“
„Herrschaften!“ Der Kellner blies die Wangen auf. „Haste jepennt
oder wat? Die olle Schachtel hat dem ollen Sabbelkopp ’n paar
jeschmiert. Man, hat det jeknallt!“
„Sie haben sich geprügelt? Warum? Außerdem machten sie den
Eindruck, als wären sie prominent!“
„Der Olle hat nich zurückjehaun. Nee. Aba jekiekt hatta wie ’n Schellenlusche, wennet donnert. Und warum? Ick gloob, der olle Knasta
wollt ihr anne Wäsche. War ’n ja beede schön saftich betütert. Und
für prominent haben se nicht jenuch jesoffen und zu wenich rumjepost. Vastehste? Aba ’n juten Schein hatta jejeben, der Olle. Und
zusammen inne Taxe sind se trotzdem.“
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„Wohin?“
„Biste ’ne Schnüffelbürste? Denn taugste nix. Ick bin keene. Ick mach
meene Arbet.“ Er deutete auf Mephistos Espresso. „Een kalten Kaffe
hätt ick dem ooch jleich bringen könn. Musser nich ’ne halbe Stunde
pullern jehn dafür.“
„Für mich bitte noch ein Wasser“, sagte ich.
„Det is ’n Tach der Superlative“, stöhnte der Kellner. „Nun saje noch,
dat du det vadünnt willst?“
„Medium verdünnt“, antwortete ich. „Aber ohne Konservierungsmittel, ohne Ballaststoffe und ohne Geschmacksverstärker.“
Der Kellner starrte mich an. Das Tablett wackelte in seinen Händen
und die Gläser stießen aneinander und klirrten. Er grübelte über eine
Erwiderung. Und dass er das tat, war ein Problem. Doch dann hatte
er’s und sagte: „Also frisch gezapft, herb gehopft und kalt serviert.“
„Genauso“, antwortete ich. „Und serviert vom drittbesten Ober
südlich des Polarkreises.“
Der Kellner nickte und verschwand ins Restaurant, kam aber stehenden Fußes wieder zurück zu mir an den Tisch. „Eine Frage, wenn’s
erlaubt ist?“
„Es ist erlaubt“, sagte ich. „Bis zum Verdursten sind’s noch eineinhalb
Meilen.“
„Die Herrschaften? Kannet sein, dat du denen bekannt warst?“
„Kann es sein, dass ich doch nicht der Schnüffler von uns beiden
bin?“
„Im Ernst. Als se zur Taxe jejangen sind, hat der Olle jesacht, dreh dir
nich um, Helene! Wär nich jut, wenn der Bengel uns zusammen sehn
tut. Pseudoszenen entwickeln für so späte Kinder, so hatta jesacht,
oft eine für ihre eigene Libido desaströse Dynamik. Ja. Und da hatta
jenau zu dir jeguckt. Und die Olle sah aus, als würde se ihm wieda
eene ballern wolln.“
„Wenn’s so wäre, dann hätte er Helena zu ihr gesagt.“
„Is det nich ejal? Und ick hab ja ooch nich richtig ’n Ohr druffjehalten.“
„Dann ist es erledigt“, sagte ich.
Der Kellner ging, machte auf eingeschnappt. Aber damit war erwiesen, dass meine Eltern mich bemerkt und erkannt hatten. Und auch
sie hatten, um mich zu schonen, keinen Kontakt gewollt. Sie hatten
sich mir erspart mit der Ausrede, es könnte mich neurotisieren, sie als
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Mann und Frau begreifen zu müssen, als wüsste ich nicht, welchen
Akt und welches Instrumentarium sie verwendet hatten, damit ich
das Problemkind werden konnte, das ich war. Dreijährige Bettnässer
behandelt man so oder frühreife, Testosteron verseuchte Egomanen,
die mit fünf die Hand Tag und Nacht am Schniepel haben und denen
so ’ne Urszene live den ganzen ureigenen Lustkomplex fragmentieren
kann. Aber hier! Und ich! Und wir! Es stimmte was nicht in den
Verhältnissen, die subjektiven Koordinaten und Perspektiven schnitten und berührten einander nicht bezüglich ihrer Identitätsmaßgaben, sondern nach Zweck, Zustand und den nicht leugbaren Anteil
im andern. Meine Eltern, Faust und Helena, hatten mich mit den
Worten „Wäre nicht gut für ihn, wenn er uns zusammen sieht“ – und
meine Mutter hatte meinem Vater nicht widersprochen – als Sinnteil
ihres Lebens ausgeräumt, als hätten sie sich vergeudet an mich bislang
und ich wäre ein Unwert ihres Lebens gewesen. Meine Eltern hatten
mich erledigt, abserviert und ins Niemandsland der Missratenen
verschoben; sie hatten mich voreinander aus ihrem Leben verbannt.
Und ich, so arbeitete sich eine Gewissheit in mir durch, sollte mir ein
Messer greifen von einem der Tische und ihnen nachlaufen und sie
erledigen. Denn sie waren es, die auf Fehl und Trug in der Welt waren,
sie machten die Probleme, weil sie ihre literarische Unsterblichkeit
als Natürlichkeit anerkannt haben wollten. Sie verweigerten es, mich
wahrzunehmen, aber aus dem Würgegriff des faustischen Renommees
vermochten sie nicht, mich zu entlassen. Sie gaben mich einer Alltäglichkeit preis, vor der es sie noch mehr grausen mochte als mich, aber
für sie war’s fremde Zukunft, die ihnen keinerlei Verantwortlichkeit
abverlangte, für mich war’s gegenwärtig und meine persönliche Zeit
also, aber mir etwas auf den Punkt zu bringen, vermochte ich nicht.
Ich verlor mich. Ich hatte keine Sehnsucht auf was. Oder war’s doch
Sehnsucht, meine Eltern zu töten? War das die Sehnsucht nach Freiheit, nach Befreiung, der erst stattgegeben werden musste, um die
anderen Süchte aufs Selbst zu lenken, um sich zu spüren und leben
zu können?
Aber meine Eltern waren verschwunden, hatten die Fliege gemacht
vor ihrem Spross. Und mit keinem Messer der Welt waren sie mir
erreichbar. Das Faustchen, das ich war, hatte sich zu bescheiden. Und
der Superstar, der ich werden könnte, war vorerst auch nur ein vages
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Versprechen aufs Große. Wie böse man allem wird, wenn man sich zu
klein weiß in den Großartigkeiten der andern!
„Das ist Justus“, hörte ich den Doktor. „Das ist der Sohn Fausts.“
Mephisto stand am Tisch. Er trank den kalt gewordenen Espresso in
einem Schluck und nippte vom schalen Wein. „Entschuldige! Aber
ich habe einen Bekannten getroffen, der dich unbedingt kennenlernen wollte.“
Er trat zur Seite. Hinter ihm, und deshalb bisher von ihm verdeckt
gewesen, stand ein kleiner drahtiger Mann, graue Mähne, grauer
Schnauzbart, der einem vor Jahren verstorbenen, bekannten hässlichen Raubein aus Hollywood-Actionfilmen ähnlich war. Er lächelte,
was ihn nicht ansehnlicher machte, und reichte mir eine Hand.
„Das ist Theo Schrifter“, sagte Mephisto. „Ein bedeutender, aber
leider wenig bekannter Autor.“
Schrifter wiederholte sein Lächeln. „Er lügt“, sagte er. „Bedeutend
und wenig bekannt sind einander ausschließende Größen. Aber du
bist auf dem Weg zum Ruhm?“ Schrifters Hand war warm und trocken.
„Ich versuch’s mit Musik“, sagte ich.
„Er hat Heiner und seine beiden Hansel voll vom Hocker gehauen“,
sagte Mephisto. „Ich bin sicher, sie jagen die Nummer heute noch
mehrmals mit Hintergrundgeschichten über die Sender.“
„Das Verrückteste kommt zu Anfang immer gut an.“ Schrifter setzte
sich an den Tisch. „Meine erste Erzählung, wo ich meinem Affen Stoff
und meinem Vogel Tequila ungebremst gegeben habe und keinen
Strich von meiner Neurose abgeblieben bin, ist noch immer meine
berühmteste. Vielleicht mal davon gehört? Traumsammlers Ausflug
gen Babel und hinauf, so der Titel.“
Ich schüttelte den Kopf; nein, ich hatte davon nie was gehört und nie
darüber gelesen.
„Ein grandioser Text“, sagte Mephisto und schielte zu dem Tisch, an
dem Faust und Helena gesessen hatten. „Eine vollkommene Einheit
von Autor, Wort und Sinn. Leider zu vollkommen. Etwas weniger
monolithisch und es hätte ein Kultbuch werden können.“
„Der Herr Doktor scherzen noch immer wie vor dreißig Jahren.“
Schrifter winkte dem Kellner. „Aber du hast eine tolle Geschichte.“
Und damit wendete er sich an mich. „Sagt jedenfalls der Doktor. Aber
Faust und das Faustische hat zu allen Zeiten literarisches Potential.“
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„Mein Vater und meine Mutter haben vor einer Minute das Lokal
verlassen“, sagte ich. „Die haben die interessantere Geschichte.“
„Wo sind sie hin?“, fragte Mephisto.
„Faust war hier?“ Schrifters Raubeinmiene entgleiste ins Bescheuerte.
„Jetzt wird’s putzig, Herr Doktor!“
Der Kellner kam an den Tisch. „Kalte Getränke serviere ich gleich“,
sagte er an Mephisto gerichtet. „Die müssen nicht heiß bestellt
werden.“
„Für mich Whiskey“, sagte Schrifter. „Doppelt und temperiert. Kein
Wasser.“
„Für mich dasselbe“, sagte ich.
Und Mephisto sagte: „Es ist besser, wenn du dich nicht betrinkst,
Justus. Wenn sie deine Nummer über die Sender schicken, hat das
einen Wiedererkennungswert von nahezu hundert Prozent. Und
Heiners Sympathien für Abstinenz sollten wir nicht unterschätzen.“
„Wenn Fausts Sohn und ich“, sagte Schrifter, „in zwei Stunden sternhagelvoll durch den Kietz pilgern und die Sau rauslassen – ’n besseres
Image für eure Sache, das heißt Quote, Verkauf und Geld, baust du
dir mit keiner Werbung.“ Schrifter zupfte Mephisto am Ärmel. „Und
laufen sich dann rein zufällig Vater und Mutter und Sohn über den
Weg und … Sie merken, Herr Doktor, ich nehme die Geschichte
ernst. Und Geschichten wollen gestaltet sein. Wenn man sie sich
selbst überlässt, verlaufen sie sich in zu vielen losen Enden.“
„Diese Geschichte, Schrifter, steht mir bis hier.“ Mephisto strich mit
einem Daumen über seinen Hals. „Und nun ist der Alte auch noch
durchgebrannt!“
„Darfste ’nen Whiskey oder darfste nicht?“, fragte mich der Kellner,
der immer noch neben dem Tisch stand.
„Habe ich bestellt oder habe ich nicht bestellt?“, gab ich zurück.
Der Kellner verschwand.
„Gießt euch zu. Von mir aus.“ Mephisto winkte mir und Schrifter
abfällig zu. „Ich geb’s auf.“
„Aber! Aber! Herr Doktor!“ Schrifter wollte Mephisto bei der Schulter fassen und an sich ziehen. „Wir sind doch alle nur Menschen. Und
nichts Menschliches ist uns fremd, Herr Doktor. Auch nichts allzu
Menschliches! Und wir beide, Doktor, haben doch schon so manchen
Esel geritten, der als unbesteigbar galt. Zum Beispiel meine Phase, als
ich überzeugt war, mein Doppelgänger zu sein. Erinnern Sie sich?“
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Mephisto stieß Schrifters Arm von seiner Schulter und griff gleichzeitig nach dem Kuvert in meinen Händen. „Was ist das? Ein Vertrag,
von dem ich nichts weiß?“
Ich verweigerte Mephisto das Kuvert. „Das ist private Post. Von
meiner Frau. Unser Kind wird übrigens Walpurgia heißen.“
„Ein Brief von deiner Frau!“ Mephisto staunte mit offenem Mund,
als wäre ein Omnibus oder noch Gigantischeres seinem Mund entwichen. „Das ist nicht möglich.“
„Du hast Frau und Kind?“ Schrifter kratzte sich am Nacken. „Ob das
für eine Superstarkarriere förderlich ist? Eine Frau ist ein Fankiller
schlechthin. Und ein Balg, egal, ob süßer Fratz oder Monster, wird
immer zum Problem. Und korrigieren lässt’s sich nie wirklich. Ich
meine …“
„Halt die Klappe, Theo!“ Mephisto baute sich vor mir auf, stemmte
die linke Hand in die Seite, streckte die rechte vor. „Gib her! Ich will
es lesen.“
Ich presste das Kuvert an meine Brust, gab es nicht her.
„Du weißt, dass ich es lesen muss. Justus! Du weißt, woher wir
kommen! Das darfst du nie vergessen.“
„Halt die Klappe, Theo! Das vergesse ich nicht, Doktor!“ Schrifter
ging dem Kellner, der mit den beiden Whiskeys auf dem Tablett herankam, entgegen und nahm sich ein Glas. Er setzte es an die Lippen und
trank es mit zwei Schlucken leer. „Du kriegst die Lebensrettermedaille
in Holz und am Strumpfband“, sagte er zu dem Kellner.
„Seit ich mein Geburtsgewicht von sechstausendundneunzehn
Gramm nicht mehr unterboten habe, träume ich von dieser Auszeichnung“, sagte der Kellner. Er hielt mir das Tablett mit dem von mir
bestellten Whiskey hin. „Und von dir krieg ich ’nen Kaiser-Wilhelm
und siebzehn Euro für beide Pötte.“
Bevor ich das Glas nahm, steckte ich den Brief von meiner Frau unter
meine Kleidung. Mephisto würde es nicht wagen, hier in aller Öffentlichkeit mit mir darum zu streiten oder ihn mir gewaltsam zu entwenden.
„Du machst einen Fehler, Justus“, sagte Mephisto.
„Wer macht die nicht“, sagte ich und nippte so lange am Whiskey,
bis nichts mehr davon im Glas war. Wärme breitete sich in mir aus
und Kraft.
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Mephisto nahm mir das leere Glas aus der Hand, stellte es auf das
Tablett zurück. „Ich habe deinem Vater versprochen, auf dich aufzupassen, Justus. Mache es mir und uns nicht unnötig schwer.“ Er schob
dem Kellner einen Schein zu und winkte ihn weg. „Wir sollten uns
absprechen, wie wir weiter verfahren.“
„Also, meine Person genehmigt sich noch ein weiteres, so erfrischendes Getränk“, sagte Schrifter. Er nickte mir zu, nickte dem Kellner
zu und zeigte ihm zwei gestreckte Finger. „Denn Theo weiß, was er
seinem Durst schuldig ist.“
„Schrifter, bitte!“ Es sah aus, als würde Mephisto Theo beim Schlafittchen nehmen wollen, aber seine Fuchteleien vor dessen Gesicht
waren nur Gesten der Ratlosigkeit. „Bitte, Theo! Dieser Fall ist nicht
mit deinem vergleichbar. Bei dir ging’s um die Kunst. Du wolltest
ein Dichter sein. Und du wolltest das Unmögliche, du wolltest ein
erfolgreicher Dichter sein. Aber ich wäre nicht ich, würde ich nicht
auch das Unmögliche versuchen.“
„Danke, Herr Doktor, für die Vergeblichkeit.“ Theo strich seine
Zunge zwischen seinen Lippen hin und her. „Ich bin Autor. Immerhin ziemlich nahe dran gelegentlich. Und vielleicht ist meine Schrift
sogar schöner als die eines Dichters! Ach, Scheiße und Teufelsrotz. Ich
hätte es allein durchstehen müssen, entweder Dichter oder Wahnsinn.
Therapien, Therapeuten, Medikamente und Appelle an die Vernunft
sind Inhalt für die Bilderbücher darüber. Und Sie, Herr Doktor,
sagen: Halt die Klappe, Theo!“
„Du begreifst die Dimensionen dieses Falles nicht, Schrifter!“ Mephisto zeigte auf mich, als hätte er das Superexemplar einer Gattung
anzupreisen. „Das ist ein Faust. Und Justus Faust dokumentiert die
Fallhöhe von Idealen und Lebensentwürfen in historischer Spannbreite. Der Wahnsinn an sich, die psychische Destruktion ist modegeprägt, wie das Teuflische heute auch anders gesehen und dargestellt
und probiert wird als zu der Zeit seines Vaters. Verstehst du das nicht?
Das schöpferische Experiment des Menschseins an sich hat in unserer
Konstellation einen Fakt des Universellen zu erarbeiten.“
Schrifter lachte. „Das heißt, der Teufel muss arbeiten und sein großer
Bruder – oder ist’s sein aufmüpfiges Väterchen? – putzt die Fenster
zum Himmel? Aber, Herr Doktor! An sich ist das eine wie das andere
der Nachweis dafür, dass das Leben an sich verrückt und jede nervliche Attacke darauf der eigentliche Krieg innerhalb der Gattung ist.
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Und das reicht. Oder, Justus? Stell dir vor, du würdest nicht Faust,
sondern Bein heißen! Dann wäre deine Fallhöhe in allem null und
deine Klatsche ein bedenkliches, aber behandelbares Ärgernis.“
„Das will ich mir nicht vorstellen“, sagte ich. Die Wärme in mir war
zur Hitze geworden und wallte durch mich und die Kraft zerriss mich
beinahe. „Faust ist was Großes, und das bleibe ich. Und ich mach’s
noch größer und alles, was ans Faustische heranreicht, ebenfalls. Ich
verstecke mich nicht vor mir.“
Schrifter legte Mephisto eine Hand um den Nacken. „Da hast du’s“,
sagte er. „Wer einen Teufel braucht und ihn nicht findet, der macht
sich einen. Sie, Herr Doktor, wollten mit einem Finger in der Seele
rühren und haben mehr als nur eine Faust erwischt. Ach, das Leben
ist noch immer ungerecht, aber es wiederholt sich wenigstens nicht
mehr.“
„Leben tut weh“, sagte ich.
Schrifter zuckte zusammen. „Ja, das Leben tut weh“, sagte er. „Manchmal so sehr, dass du, wenn du schreien würdest an diesem Weh, dieser
Schrei dich umbringen würde mit seiner Schärfe, dein eigener Schrei
würde dich zerschneiden und es gäbe keine Möglichkeit, dein Ausbluten zu verhindern.“
„Justus!“ Mephisto schüttelte mich. „Du singst, Leben tut hier nicht
mehr weh. Justus! Du darfst deine eigene Aussage nicht vergessen und
verleugnen. Justus Faust! Du bist in der Pflicht. Du bist kein Anonymus, der so oder so mit seinem Spleen durchkommt. Du hast dich
verkauft.“
„Was macht’s“, sagte Schrifter. „Wir sind alle kleine Arschlöcher. Und
auch kleine Arschlöcher haben großen Durst.“
Der Kellner stand mit den zwei Whiskeys auf dem Tablett neben uns.
Schrifter nahm in jede Hand ein Glas, hielt mir eins hin. Dabei blickte
er Mephisto herausfordernd an. „Prost, armes Fäustchen! Darauf, dass
du deine Fesseln aus Genen, Interpretationen und selbstgemachtem
Seelenzwirn noch rechtzeitig loswirst!“
Ich nahm ihm ein Glas ab. Er stieß mit seinem Glas dagegen. „Ich bin
Theo“, sagte er. Wieder trank er das Glas in zwei Schlucken leer. Ich
schaffte das nicht, musste absetzen. Theo schüttelte sich. „Das putzt
einem die Haut innen und lacht ins Herz“, sagte er. „Was Justus?
„Ist ’n guter Drink“, sagte ich. „Und ist ganz umsonst.“
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„Ich zahle das nicht weiter.“ Mephisto riss mir das Glas aus der Hand,
kippte die Neige auf den Boden. „Dafür bin ich nicht im Einsatz!“
„Aber, Herr Doktor! Sie haben mich eingeladen!“ Theo stellte sein
leeres Glas auf das Tablett zurück. „Schrifter, haben Sie gesagt, wenn
ich Sie erinnern darf, Schrifter, ich habe da draußen einen Typen
sitzen, den müssen Sie kennenlernen.“
Ich trat Mephisto mit einem Fuß vors Schienenbein und sagte: „Das
war ein von mir für mich bestellter Drink. Und von dir war’s Diebstahl.“ Ich trat ein zweites Mal zu.
Doch Mephisto wich dem Tritt aus und schlug mir eine Fußspitze
gegen das linke Knie. „Meine Geduld ist zu Ende, Faustchen“,
fauchte er mich an. Er griff mit beiden Händen an meine Brust,
zerrte Jacke und Hemd auf, um den Brief von Marie Anne an sich zu
nehmen. Ich umklammerte seine Hände und stieß meinen Kopf vor.
Ich traf Mephisto mit meiner Stirn mitten im Gesicht. Ich hatte so
etwas noch nie getan, aber es war mir ein perfekter Treffer gelungen.
Mephisto ließ mich los und setzte sich platt auf den Boden, bedeckte
sein Gesicht mit beiden Händen, stöhnte.
„Damit hat meine Person nichts zu tun“, sagte der Kellner und ging.
Theo beugte sich von hinten zu Mephisto. Es sah aus, als wolle er
ihn streicheln. Doch dann legte er einen Arm um Mephistos Hals
und drückte mit dem anderen seinen Nacken, sodass er ihn würgte
und hebelte mit einem Griff. Mephisto scharrte die Hacken über den
Boden, verdrehte die Augen.
„Du bringst ihn um, Theo“, sagte ich.
„Halt die Klappe, Theo, hat er gesagt, nun muss er’s aushalten!“ Theo
zog den Würgegriff fester an. „Und du haue ihm auch noch eine rein!“
Mephisto zappelte mit den Füßen, schniefte, sprechen konnte er
nichts.
„Warum soll ich’s?“ Ich beugte mich vor, um Mephisto in die Augen
zu blicken, aber der hielt sie fest geschlossen. „Du bringst ihn doch
sowieso um.“
„Solche Typen sind unzerstörbar.“ Theo bewegte Mephisto hin und
her. „Aber ob ewig böse oder ewig jung und unfertig, wenn wir Ihnen
schon mal beikommen, müssen wir’s auch ausnutzen. Nun schlag
zu! Mittenrein und auf die Fresse. Es trifft keinen Falschen. Und
diese Burschen verzeihen dir alles, wenn sie einmal dein Blut lecken
dürfen.“
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Ich zögerte, ballte aber die rechte Hand zur Faust. Vom Nachbartisch
wollten sich welche einmischen, wussten aber die Situation und die
Haltung der Beteiligten nicht zu deuten. Und Theo beschwichtigte
und vertrieb sie mit der Aussage: „Das ist mein Patenonkel. Er hat
einen Medikamentenschock und dann wird er aggressiv. Ich muss ihn
unter Kontrolle halten, sonst wird’s gefährlich.“ Und von mir forderte
er: „Schlag zu! Denk an deinen Vater. Tu’s für ihn.“
Ich musste zuschlagen, das wusste ich. Aber weder für meinen Vater
noch mit der Ausrede auf jemand anderen. Ich musste es tun, um
diesen Augenblick zu brechen, weil die Zeit, verblieben wir so,
sich betonieren würde nach den Verfügungen eines missbrauchten
Raumes; sich das Böse im Würgegriff zu halten, bedeutete auch, selbst
im Würgegriff des Bösen zu sein – Theo war wohl mehr auf Mephisto
hereingefallen, als dass er es war, der ihn souverän überwältigte, auch
war mein Kopfstoß sehr gering zu schätzen in der Sache insgesamt –
und dann erstarrt’s allenthalben zu Beton und nichts geht mehr.
Aber wer war’s, den ich schlug mit meiner Faust? War’s denn der
Mephisto der altbekannten Verfügtheit, jener, der das Böse will und
das Gute schafft und ohne den – ob seine Anwesenheit nachgewiesen
ist oder nur unterstellt, ist nur in der Argumentation von Wert –
zumindest die Hälfte der Schöpfungsgeschichte eine Angelegenheit
für Comedians und staatstragende Luftikusse wäre. War’s der Verderber oder Wertemacher meines Vaters? War’s der, der mir den Weg bis
vor Heiner frei gemacht hatte und dem der Superstar Justus Faust
einen wesentlichen Anteil seines Erfolgs verdankte? Oder war’s die
zweifelhafte Kreatur, die als schwarzer Pudel genauso in die Geschichte
eingriff wie als ein Christo de me Phisto und die man somit nie voll
traf, gleich, von wem und wie der Schlag geführt wurde? Oder haute
ich womöglich einem Quälgeist eine rein oder dem Mann, dem Theo
wie ich es verdankten, so ins Leben gefunden zu haben und auf dem
Weg zu sein, der zu Hoffnungen berechtigte? Und verprügelte der
Sohn von Johann Heinrich Faust den von diesem gerufenen Geist
doch ungerechterweise – auch wenn dieser in Dauerbereitschaft
hinter einem Vorhang auf seinen Auftritt gewartet hatte? –, denn ein
Faust ohne Mephisto wäre auch als mein Vater nur eine Randnotiz in
den Ablagen der zur Verschriftlichung als lohnend befundenen Dokumente geblieben? Aber der Wahn kennt keine Gerechtigkeit und die
Kunst eh nicht. Und also hatte kein Faust sich darum zu kümmern.
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Ich schlug zu. Meine Faust traf Mephistos Nase. Der Knochen unter
dem Fleisch war hart und es brach wohl auch ein Zahn, denn etwas
Scharfes schnitt mir in die Knöchel. Meine Hand schmerzte und
blutete, sie noch einmal zur Faust zu ballen, gelang nicht.
„Junge, das war ’ne saftige Kelle“, sagte Theo. Er schüttelte Mephisto
noch einmal von links nach rechts und gab dann den Griff auf. „So
was macht frei, was?“
Mephisto lag auf der Seite und presste beide Hände vors Gesicht. Er
wimmerte: „Warum? Warum?“ Blut war an ihm nicht zu sehen. Aber
von irgendwoher ein Lachen und ein Schreien. Und’s war wie die
Titelmusik zu einem Film, an den erinnert zu werden, eine ungute
Erwartung anreizt, den sich ansehen zu müssen, man jedoch nicht
wünscht.
„Wir verschwinden!“ Theo riss mich hoch. „Ich wette, dieser Doktor
hat einen Notrufsender in der Tasche und er ist drauf trainiert, ihn
in jeder Lebenslage zu aktivieren. Und ob so oder so oder anders, sie
werden uns bald wieder mit all ihren Teufeln hetzen und hinter uns
her sein.“
„Wer?“, fragte ich.
„Du kannst fragen!“ Theo zerrte wieder an mir. „Die uns lieben. Die
uns umsorgen. Die uns heilen. Die uns für krank erklären, weil unsere
Krankheit es ist, mit der sie ihre Kohle machen.“
„Was textest du da?“ Ich stemmte mich gegen Theo. „Dein Doktor ist
nicht mehr und nicht weniger als der Höllenfuzzi, auf den mein Vater
sich verpflichtet hat. Oder auch umgekehrt.“
„Ja“, sagte Theo. „Mephistopheles mit Namen und die Kraft, die stets
das Böse will und Gutes schafft, wenn’s ihm keiner bestreitet. Oder
auch umgekehrt?“
Wir sahen, wie Mephisto sich aufrappelte und mit beiden Händen
sein Gesicht wieder zurechtrückte. Der Kellner kam zu ihm, redete
auf ihn ein. Doch ging er Mephisto damit auf die Nerven, er schubste ihn sogar zurück. „Wir hätten ihn erledigen sollen“, sagte Theo.
„Aber er hat ein starkes Genick. Wie ich’s auch gewürgt habe, da hat
nichts geknackt. Aber du hättest noch einmal zuschlagen können.
Denkst du nicht auch manchmal, dass es was Großes sein müsste,
einen zu erledigen? Ich hatte, das war einmal in der Pubertät und
dann im dritten Jahr meiner ersten Ehe, als alles daneben ging mit
den Gefühlen und der Vermehrung und dem Alltagstrott, das Verlan-
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gen, meinen Vater zu töten. Ich dachte, ihm ein Messer ins Herz zu
stoßen oder mit einem Knüppel so lange auf ihn einzuschlagen, bis er
hin wäre. Mein Vater sollte mir mit seinem Tod für alles büßen, was
er mir damit angetan hatte, dass er mich in meine Mutter aussäte.
Genaueres hätte ich ihm nicht aufrechnen können. Meine Mutter
betreffend hatte ich keine vergleichbaren Gedanken. Meine Mutter
war mir immer gleichgültig. Sie ist vor vier Monaten verstorben. Und
ich kann mich noch immer nicht entscheiden, ob ich trauern sollte
oder nicht. Mein Vater hebt sein Leben weiterhin für mich auf. Aber
wenn man Faust zum Vater hat, denkt sich so was schon von vornherein ins Aussichtslose.“
„Aber gedacht habe ich’s.“ Ich sah, dass Mephisto aufgeregt in sein
Handy sprach, wild gestikulierte und dabei um sich blickte, als hätte
er Theo und mich noch nicht entdeckt. „Aber ich bin zu feige. Aber
das Denken ist dem Tun näher, als man’s denken mag. Aber eine
Tötung ist viel zu endgültig. Wir wollen sie doch leiden lassen und
nicht vor ihrer Zeit erlösen.“
„Junge, du hast die größere Klatsche als ich. Musst du auch haben.
Denn du machst ja auf Superstar!“ Theo bedeutete mir energisch, ihm
zu folgen und sagte: „Komm, Geliebter! Gehen wir ins Land und
sammeln uns die Lust zu Haufe!“
Ich hatte keine Wahl gegen diese Geste. Es gab niemand anderen,
dem ich folgen konnte, niemanden, von dem ich mir etwas erwarten durfte. Und die Zufälle waren verbraucht. Max und Klausi waren
keine Option. Und auf Heiner verzichtete ich aus Rücksicht auf alles
und sowieso. Von meinem Vater war ich preisgegeben und von meiner
Mutter auch. Und außerdem war ich noch immer unterwegs.
Theo schlenderte um den Platz und ich hielt mich neben ihm. „Deine
Geschichte, Klein-Faust, ist so verrückt, um dir das noch einmal zu
sagen, dass sie schon allein deshalb irgendwie was Historisches hat“,
plauderte er. „Wenn mir so was eingefallen wäre! Davon wäre ich
wirklich verrückt geworden. Denn so eine Geschichte – einfallen
kann einem ja vieles und noch mehr – kann man nicht schreiben.
Und an solchen Geschichten verliert man den Verstand. Um eine
solche Geschichte verflucht man sein Gewissen und verzweifelt an
der Vernunft. Denn das Gewissen und die Vernunft sind die Fesseln
der Kunst. Und nur als Kunst ist deine Geschichte als wirklich zu
behaupten. Ja. Faust und sein Sohn verlaufen sich im Gegenwärti-
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gen und keiner bemerkt’s. Ein Mythos stirbt in aller Öffentlichkeit
und keine Tröte pfeift drauf und keine Generalanzeiger zeigt’s an. Das
Faustische entzieht uns seinen maßgeblichen Reiz, dass es nämlich
jedem zu eigen werden könnte, aber was nicht juckt, das kratzt auch
nicht. Und das heißt, Justus? Du musst Superstar werden. Das ist
deine Pflicht am Faustischen. Du musst es mit dir in aller Öffentlichkeit infrage stellen, nur so kommt es durch dich neu auf den Plan.
Auch wenn der intellektuelle Hochadel sagen wird, dass du es ins
Elend führst und letztlich ruinierst im vulgären Populismus solcher
medialen Unternehmung. Aber das darf dich nicht abschrecken,
wenn’s Faustische nur als Problem wieder diskutiert wird und sein
Verlust als Verlust eines wesentlichen Teils unserer Sinnbestimmung
begriffen wird, denn das Faustische ist noch immer eine Garantie
darauf, außerhalb der pur funktionierenden Biologie eine Zukunft zu
vermögen. Das musst du begreifen und dir verinnerlichen. Justus. Du
musst deinen Wahnsinn – und es ist ja bestens auf den Weg gebracht
– zu unser aller Verrücktheit kultivieren. Hey! Hey! Justus Faust ist
Prädator und Terminator der Neuesten Deutschen Welle im globalen
Betriebssystem des zivilisatorischen Animismus. Und ich, Theo von
Schrifter – in solch hohen Momenten extremer Erhabenheit verzichte
ich nicht aufs Adverb! –, habe den letzten wahren, übernationalen
Helden deutschen Blutes und Fleisches und Geistes ein Stück des
Wegs begleitet und, dies in gebotener Unbescheidenheit, vorangebracht.“
„Das ist Gelaber, Mann. Wieder mal ist’s Gequatsche und Phrasen.“
Ich blieb stehen. „Das ist Quatsch auf unterirdischem Niveau.“
„Ja. Aber genau das muss es sein.“ Theo zog mich weiter. „Aus eigenem Treiben geschmiedet in tosender Werkstatt, Justus, ist nur als
Dichtung als großes Tun zu behaupten und bleibt so unfruchtbar
wie’s da gestaltet ist. Das Faustische ist dein Schicksal, Justus. Und es,
und ich behaupte wieder, zu unser aller Schicksal werden zu lassen, ist
dein Auftrag. Denn das Schicksal kann nicht von Schicksalsschlägen
getroffen werden. Und nur in solcher Verfassung sind wir gerüstet,
in unserem Zeitalter der Zerstörung wenigstens als Entwürfe einer
außerspekulativen Subjektivität Marken zu hinterlassen. Und dafür
wirst du, der Sohn Fausts, das Beispiel sein.“
„Nein!“, sagte ich. „Das werde ich nicht sein. Und das bin ich nicht.
Nur weil ich nichts und wieder nichts anzufangen wusste mit mir,
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keine Richtung fand für mein Leben und vor Langeweile und allgemeiner Zustandslosigkeit mich entweder in Aggressionen austoben
konnte oder was fand, das, wenn’s nicht hinreichen sollte dafür mit
der Kraft, dem Fleiß, dem Talent und dem übrigen nötigen Vermögen, noch immer dem Kotzbrocken Heiner in die Schuhe zu schieben war. Aber nur deshalb lasse ich mich nicht zum dummen Max
machen im Kauderwelsch deiner Eingeweidephilosophie. Ich bin
kein Stellvertreter für eine Generation, die die Selbsterfahrung ihres
Selbstbewusstseins aus der Dose konsumiert. Nur weil Faust mein
Vater ist, muss ich mich nicht in die Messer der Zeit stürzen und die
Wunden der andern mit meinem Blut auswaschen.“
„Halt!“ Theo stand vor mir, stoppte mich, indem er beide Hände auf
meine Schultern legte. „Was hast du gesagt? Kannst du das wiederholen? Den letzten Satz, Justus. Bitte! Du wäschst mit deinem Blut die
Wunden der andern?“
„Dass ich’s nicht will, habe ich gesagt.“
Theo umarmte mich, schlang beide Arme um meinen Nacken,
drückte sein hartes Gesicht an meines. „Du machst mich glücklich,
Justus. Wenn in einem Wortgefüge das ganze Elend und die ganze
Schönheit einer Existenz exemplarisch erstehen, dann ist’s Poesie.
Und solch einen Satz hast du gesprochen. Sage ihn noch einmal.
Bitte! Nur für mich!“
Eine Frauenstimme, brüchig und dennoch hell: „Hast du bitte gesagt,
Schriftiger? Habe ich das richtig gehört? Hat Theo von Schrifter um
die Wiederholung von Worten gebeten?“
„Kalliope!“ Theo ließ von mir ab, wandte sich in die Richtung, aus der
die Stimme kam, sagte aber für mich bestimmt: „Das ist Kalliope, das
abgefahrenste und tiefste weibliche Wesen in dieser aus Grauen und
Gier gebauten Stadt.“
„Und du bist noch immer der großmäuligste Dichter zwischen den
Polarkreisen.“ Die Frau saß am Ecktisch hinter einem geöffneten
Fenster des Cafés „Veneziano“. Die von ihr durchlebten Suchten
hatten ihre blaugrünen Augen mit einem wehmütigen Schimmern
überzogen, als hätte sie in der vorhergehenden Minute einen Weinkrampf und auch den Gram, der’s verursacht hatte, überwunden
und blicke nun mit Zuversicht ins Kommende. Sie und Theo liefen
aufeinander zu. Aber dann hielten sie sich nur bei den Händen. „Dass
du wieder da bist, Theo! Es ging das Gerücht, du wärst mit einer
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dreihundertjährigen russischen Jüdin durchgebrannt und hättest dir
einen persönlichen Poeten angestellt.“
„Ich habe einige Verrücktheiten hinter mir in den letzten Monaten“, sagte Theo. „Aber das Verrückteste ist er.“ Er deutete auf mich.
„Dass ich den Sohn von Faust getroffen habe.“ Er winkte mich hinzu.
„Darf ich vorstellen! Kalliope von Scharich. Autorin. Ihr Buch – Der
Frust mit der Lust – gilt als Kultfibel ihrer Generation und sie ist, der
Name sagt’s, meine Muse gelegentlich. Und das ist Justus Faust. Sohn
des Dr. Johann Heinrich Faust aus den bekannten Notationen und
zukünftiger Superstar.“
Frau von Scharich reichte mir eine Hand, um ihren Mund spielte
eine grüblerische Amüsiertheit. „Das Vergnügen ist ganz auf meiner
Seite“, sagte sie. „Die geistigen Ingredienzien Ihres Vaters sind mir in
früheren Jahren sehr hilfreich gewesen, ohne die oftmalige Besinnung
aufs Faustische wäre ich im puren Überleben verendet. Sagen Sie ihm
also bitte einen dicken Dank.“
So nah ihr gegenüber und mit einer ihrer Hände im Griff oder im
Griff einer ihrer Hände wirkte die Frau auf mich, als wären wir seit
langem auf dieses Treffen verabredet. „Ich werde es meinem Vater
ausrichten“, sagte ich.
„Er ist übrigens ebenfalls in der Stadt“, sagte Theo. „Er ist in einer
gemeinsamen Unternehmung mit Justus’ Mutter.“
Frau von Scharich drückte meine Hand nun intensiver. „Ihre Mutter
Helena habe ich ebenfalls sehr geschätzt. Die Frau ist nicht kleinzukriegen. Das hat mir von jeher imponiert. Der Fluch der Schönheit
ist an ihr ebenso exemplarisch wie die Kraft eines Selbstbewusstseins,
das sich nicht entwürdigen lässt.“
„Seit wann hältst du Festtagsansprachen?“ Theo versuchte, Frau von
Scharich an den Tisch zurückzudrängen. „Wir setzen uns“, sagte er.
„Justus muss aus der Schusslinie. Er hat heute einen großen Auftritt
beim Casting gehabt. Den Hohlenschen Heiner hat’s vom Hocker
gehauen. Wenn’s schon über den Sender ging und er erkannt wird,
könnte es Komplikationen geben.“
„Theo!“ Frau von Scharich ließ meine Hand los. „Du schwörst, dass
du nicht auf einem Trip bist? Du bist clean und deine Therapie war
erfolgreich?“
Theo lachte. „Sehr erfolgreich. Vor zehn Minuten haben Justus und
ich den Doktor beinahe zu Tode geprügelt. Noch geiler wär’s gewe-
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sen, wir hätten ihn erledigt. Aber was kann schließlich der Mensch
dafür, dass wir zu schwach sind.“
„Da bin ich beruhigt“, sagte die Frau. „Ich bin nämlich mit diesen
alten Geschichten fertig.“ Nun schob sie Theo und mich an den
Ecktisch hinter dem geöffneten Fenster. „Kein Dope und keine exzessiven Saufereien mehr.“
„Aber Sex noch immer und ungeschützt und über jedem Limit.“
Theo setzte sich, zwinkerte mir zu. „Kalliope ist in jeder Stellung eine
Klasse für sich. Und die Wahrheit ist, dass, wenn’s drauf ankommt, sie
noch immer die erste Wahl ist.“
„Wenn du die alte Sau gibst, weiß ich, dass du okay bist.“ Frau von
Scharich berührte meinen Arm. „Um Ihnen keine unnötigen Rätsel
aufzugeben, Herr Faust, wenn Theo von Muse spricht, meint er
eine Frau, die er ficken kann, ohne auf ihre Bedürfnisse eingehen zu
müssen.“
„Auch das ist lange her“, sagte Theo. „Justus ist im Übrigen verheiratet und sieht Vaterfreuden entgegen.“
„Dann ist er, wenn er’s wird, der erste familienfreundliche Superkasper.“ Frau von Scharich nickte mir zu. Sie würde noch immer eine
Schönheit aufbieten können, die alles Weibliche um sie herum blass
werden ließe. „Die Meinung Ihres Vaters dazu würde mich interessieren.“
Wir saßen am Tisch. Kalliope bestellte was auf Italienisch. Theo
machte Notizen in einem schwarzen Heft. Ich tastete über meine
Brust. Der Brief von Marie Anne fühlte sich unerwartet hart und kalt
an. Und alles wurde da hart, kalt und feindlich. Alles ballte sich und
drang in mich ein. So, wie ich im Reich meines Vaters die Zeit hatte
spüren können, wenn sie unsichtbar, aber doch als wohle Kraft mich
umflutete und ich ihr nachspüren konnte bis in die Krümmungen,
die vom bedenklichen Ort ausgehend in die Urzeiten sich verloren
und doch nicht verloren gingen, so stieß ich nun und hier mit der
geringsten Bewegung ans Räumliche. Ich kauerte mich zusammen,
hielt meinen Atem flach. Die Hand, die ich Mephisto ins Gesicht
geschlagen hatte, schmerzte wieder und aus der Wunde über dem
aufgeschlitzten Knöchel pulsierte das Blut in heißen Schüben, so
jedenfalls vermutete ich. Dazu ging ein brandiger Geruch durchs
Lokal.
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„Puh!“ Kalliope wedelte mit der Spezialitätenkarte vor ihrem Gesicht,
rief: „Victorio! Habt ihr einen Teufelsbraten auf dem Herd oder was
stinkt hier so?“
Kein Victorio und auch kein anderer gab eine Antwort.
„Teufelsbraten ist gut“, sagte Theo. „Das ist für unsere Situation so
ambitioniert wie vielversprechend.“ Er wendete sich an mich. „Vielleicht hat der Doktor unsere Prügel doch nicht überlebt und nun
gibt’s Teufelsbraten nach Art des Hauses.“ Er lachte. „Für uns selbstverständlich gratis und mit einem Schuss Satanspisse.“
„Theo!“ Kalliope von Scharich warf die Spezialitätenkarte nach
Schrifter. „Wenn sich dein Zynismus ins Schweinische steigert, fühlst
du dich gewöhnlich nicht gut.“
„Nichts kann ins Schweinische gesteigert werden, Frau von Scharich“,
sagte Theo mit angespitzten Lippen. „Ins Schweinische begibt man
sich, egal in welcher Gangart, stets hinab.“
„Von Schrifter!“ Kalliope atmete, als wäre sie es, die dem sich weiter
verengenden Raum Paroli bieten wollte. „Du kommst bei mir nicht
mehr unter. Du nicht, Theo, und keiner mehr. Diese Muse ist für
jeden Gebrauch erledigt und dein Piratencharme geht an mir vorbei.
Und mit deinem faustischen Supernarren im Gefolge kannst du zwar
auf delikate Masche machen, aber mit Kalliope spielt sich rein gar
nichts mehr ab.“ Sie deutete auf mich. „Du wirst dieses Jungchen
genauso verbrauchen wie jeden und jede. Gegen dich ist keiner und
niemand durch seinen eigenen Wahnsinn geschützt.“
„Du bist seit Wochen nicht mehr gevögelt worden.“ Theo warf die
Spezialitätenkarte in Kalliopes Schoß zurück. „Deine sexuellen, ums
Faustologische nicht zu vereinzeln, Entzugserscheinungen sind noch
immer dieselben und ich vergesse sie nicht. Wenn dir die Möse juckt
und keiner in ihr stöbert, musst du ungerecht sein.“
„Hau ab“, sagte Kalliope zu mir. „Wenn du es zu was bringen willst
– und egal was, es muss erst einmal geschafft werden –, dann darfst
du dir nicht so einen Partner wie Herrn von Schrifter nehmen. Denn
dieser Mann ist ein Held, ein Maulheld. Egal, ob er die Worte spricht
oder schreibt, wenn du sie annehmen willst, hast du nur Asche und
das Spülicht von seinem misanthropischen Gewäsch. Auch wenn’s
einmal anders war mit ihm und er Hoffnung vermittelte.“
„Victorio!“, rief Theo. „Für die gnädige Frau bitte ein gutbestücktes,
standfestes Exemplar unserer Gattung.“
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Victorio kam an den Tisch, starrte aber nur auf mich. „Irre ich mich
oder sind Sie es?“, fragte er.
„Er ist es.“ Theo zupfte Victorio an der magentafarbenen Weste.
„Wenn er es nicht wäre, hätte er zumindest einen anderen Kopf und
eine der Gnädigen zusagende Bestückung.“
„Er ist noch immer das alte Ekel, als das wir ihn kennen. Oder Victorio?“ Kalliope blickte mir auf den Schritt. „Und dieser junge Mann
ist sein Opfer.“
Victorio ließ sich von dem Gerede der beiden nicht ablenken. „Wenn
er es ist, dann ist er so gut wie durch als Superstar“, sagte er und
drehte meinen Kopf. „Du bist’s doch, der diese Wahnsinnsnummer
vor Heiner abgezogen hat? Es lief vor fünf Minuten auf LTR. Das war
die totale Spitze. Der Megawahnsinn!“
„Was?“ Theo stand auf. „Entweder sie verheizen dich oder sie machen’s
echt heiß mit dir. Hast du Heiner was unterschrieben? Oder einem
andern? Das muss ich sehen!“
„Also sind Sie es!“ Victorio sagte das zwar zu mir, wendete sich aber
Kalliope zu. „Zuerst denkt man, er ist wirklich plemplem. Aber dann!
Er hat’s voll getroffen. Das hättest du sehen sollen, Kalli! Perfekt
verrückt.“
„Ich habe Faust immer für einen Wahnsinnstypen gehalten“, sagte
Kalliope. „Warum sollte sein Sohn anders sein!“
„Aber das kommt nicht krank rüber. Das kannst du mitsingen und
mitmachen, ohne dass dir’s im Kopf verquer geht.“ Victorio tippte
auf meine Schulter. „Würdest du’s hier bringen? Jetzt? Wir haben eine
Gitarre da. Das wär der Hammer. Der erste öffentliche Auftritt eines
Superstars bei Victorio, bevor er offiziell einer ist!“
„Er macht’s nicht.“ Kalliope musterte mich, aber der ironische Zug,
den sie ihren Mundwinkeln geben wollte, misslang. „Außer, er
ist tatsächlich Fausts Sohn? Dann nämlich muss er sich darbieten
seinem inneren Imperativ zufolge! Entweder er bringt seine verrückte
Nummer oder er lässt Wein aus diesem ungedeckten Tisch strömen!“
Auch jetzt noch verfehlte sie die Ironie in ihrer Mimik. „Oder reichen
wir nicht so hoch ins Faustische, Herr Faust?“
„Du machst es“, sagte Victorio. „Und du hast alle Getränke die nächsten hundert Jahre frei bei mir.“
Und da war’s wieder, dass es sich in mir aufblähte, der Widerwille
zwischen meinem Ich und meinem Selbst, und aus mir drängte,
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sodass ein Gemenge mich besetzte und mich unfähig machte, es für
den Augenblick zu packen. Mir wurde übel am Gegenwärtigen, an
den Zuständen, in die ich mich verfügt hatte. Und ich sagte: „Es ist so
zerstückelt, so zerrissen, so ungestalt, so wund, so erkaltet, so gegen,
so unbeschreiblich.“
„Das Glück des Erfolgs macht selten glücklich“, sagte Kalliope.
„Und’s Essen frei gebe ich auch noch drauf“, sagte Victorio.
„Bringe mal die Gitarre!“ Kalliope wollte Victorio vom Tisch haben,
so viel war klar, sie wies ihn ab. Dann griff sie mit beiden Händen
meine Hände, hielt sie fest. „Du fühlst dich beschissen und weißt
nicht, warum?“
Ich nickte und bemerkte, dass ihre Schönheit sich zu verjüngen
begann.
„Du bist das alles, was Theo von dir und was überhaupt von dir gesagt
wird, und es gefällt dir nicht?“ Kalliope drückte meine Hände mit
ihren Händen. „Du fühlst dich als armes Würstchen, dabei meint
jeder, du hättest Grund zum Feiern.“
Ich zuckte mit den Schultern, es war gut, dass meine Hände in Kalliopes Händen waren und dass sie sich weiter verjüngte.
„Und dein Vater ist ein Problem für dich, an dem du krank geworden
bist.“ Sie sah mir in die Augen. Und es war so viel Raum in ihrem
Blick, dass es ausreichen mochte für ein eignes Reich. Ich dachte:
Vater Mutter Kind sind Kind und Kindeskind und sind was sie sind
im Zeitenwind und blind und sind so Kind vom Kind mit dem es
beginnt und im Blut das gerinnt was im Samen beginnt und Kind um
Kind schindet und schindet bis neu beginnt und anders nicht endet
im fremden Kind denn Vater Mutter Kind sind Kind und Kindeskind
und sind was sie im Zeitenwind sind und blind und sind so Kind
vom Kind mit dem es beginnt und im Blut das gerinnt was im Samen
beginnt und Kind um Kind schindet und schindet bis neu beginnt
und …
„Ist dir nicht gut?“, fragte Kalliope. „Deine Hände zittern, sind kalt
und schwitzen.“ Sie faltete ihre Hände über meine Hände, und auch
das war gut. „Brauchst du Medikamente?“
„Es war nicht Theos Doktor, den wir verdroschen haben“, sagte ich.
„Es war Mephisto. Theo hat ihn nur nicht erkannt. Und ich hätte
es nicht tun sollen. Er hat mir nie etwas getan, war immer für mich
da wie für meinen Vater auch.“ Ich zog meine Hände unter Kallio-
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pes gefalteten Händen hervor, zeigte ihr die Wunde auf meinen
Knöcheln, die ich mir an Mephistos Zahn aufgeschlagen hatte. „Ich
habe ihm einen Zahn ausgeschlagen.“
„Das ist Körperverletzung.“ Frau von Scharich überwindete sich
nicht, meine Hände wieder in ihre Hände zu nehmen. „Und Theo
hat auch zugeschlagen?“
„Der hat ihn festgehalten und gewürgt. Ich hätte nie geglaubt, dass
einer den Teufel so einfach überwältigen kann.“
„Und Faust, dein Vater, wo war der?“ Frau von Scharich blickte um
sich, als könne ein halbes Mongolenheer jeden Moment aus jeder
Richtung über sie herfallen. „Denn wo Mephisto ist, kann Faust doch
nicht weit sein.“
„Mein Vater hat zufällig meine Mutter getroffen und sie sind gemeinsam mit einem Taxi weggefahren. Mein Vater ist ein alter Mann und
er hat es nicht leicht unter uns. Ich darf ihm – und meiner Mutter
auch – nicht alles krummnehmen. Ich muss ihnen gegenüber nachsichtiger sein.“
„Und deine Mutter ist?“ Kalliope schnipste mit den Fingern, als erinnere sie sich gerade eben nicht auf den Namen.
„Helena ist meine Mutter“, sagte ich.
„Richtig!“ Kalliope duckte sich, als ritte die andere Hälfte des Mongolenheeres in voller Geschwindigkeit auf sie zu. „Und Theo hat das
arrangiert? Ohne ihn wärst du nie auf den Gedanken gekommen,
nach draußen zu wollen? Oder?“
„Theo spielt doch gar keine Rolle“, sagte ich. „Mephisto wollte was
im Restaurant erledigen und kam dann mit ihm an. Aber Theo hat
ihn nicht erkannt oder wollte es vielleicht auch nicht. Er hat ihn mit
Herr Doktor angeredet. Und Mephisto hat’s mitgemacht. Er hat’s als
Spaß genommen. Und als Theo ernst daraus gemacht hat, war’s für
den Teufel ’ne Nummer zu groß geworden.“
„So war das. Aha!“ Kalliope bot mir keine Möglichkeit, dass ich nach
ihren Händen greifen konnte. Und ich hatte so ’ne Sehnsucht nach
der Sicherheit darin. „Du brauchst Hilfe“, sagte sie. „Und ich kann
dir nicht helfen. Aber ich weiß, wo ich anrufen kann, damit jemand
kommt und dir hilft.“
„Rufe Mephisto an“, sagte ich. „Sage ihm, dass es mir leid tut. Er
kann es sich nicht leisten, nachtragend zu sein.“
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Kalliope hatte ihr Handy zur Hand, sagte: „Über Theo machen wir
uns keine Gedanken weiter.“
Mussten wir auch nicht, denn Theo kam wieder an den Tisch zurück.
Hinter ihm folgte Victorio mit einer Gitarre. Auch andere Gäste folgten ihnen.
„Das ist die schrägste Nummer auf allen Kontinenten!“ Theo schüttelte sich. „Junge! Damit eroberst du die nördliche Milchstraße bis
übermorgen.“ Und dann flippte er aus, hampelte und zuckte wie einst
der goldene Reiter beim Galopp und grölte: „Bist du verrückt, dann
kannst du glücklich sein, in deinem Wahnsinn bist du nie allein.“ Er
zerrte Victorio die Gitarre aus den Händen und knallte sie mir vor die
Brust. „Mach’s! Jetzt! Hier! Damit die Menschheit weiß, wann und
wo einst die Geschichte vom Elend und vom Prunk der Seele neu
und unfragmentarisch begann!“ Er blickte Kalliope von Scharich an,
es war der Blick eines Mannes auf eine Frau, die er bis ins Innerste
treffen will mit den nächsten Worten, ein Blick war’s wie ein geschärftes Messer. „Damit das Geschreibsel von den Legenden, vom großen
Gefühl und die dem zugesellten romantischen Fragmente auf ihren
feuilletonistischen Rang verwiesen werden.“
„Ihr seid beide verrückt“, sagte Kalliope von Scharich. „Ihr seid eine
Gefahr und gehört in Gewahrsam genommen.“
„Fang an, Justus“, forderte Theo. „Nutze den Tag!“
Und ich tat’s wieder einmal. Und es gelang Takt für Takt und Ton für
Ton wie vor Heiner. Schon beim ersten „Leben tut nicht mehr weh“
bewegte Frau von Scharich die Lippen und schlug, vorsichtig noch,
ihre Hände ineinander. Aber alle im Lokal, und es war plötzlich übervoll, gingen richtig ab, so, als kannten sie’s schon. Mein Titel war ihr
Ding. Wie wahnsinnig grölten sie „verrückt“ und wie verrückt jubelten sie „Wahnsinn.“ Was bei Victorio abging, überbot den Auftritt in
der Anstalt und den vor Heiner bald noch. Männer und Frauen, Alte
und Junge, feine Herren und noch feinere Damen, abgerissene Verlierer und billigste Bordsteinschwalben tanzten in skurrilen Choreografien umeinander und miteinander im Chorus der Begeisterung, als
wär’s der Hymnus einer langersehnten Befreiung, dem sie sich endlich
hingeben durften. Auch wenn ich den Griff oder die Melodie einmal
nicht exakt traf, es tat keinen Bruch ins ekstatische Gewese. Ich heizte
die Masse an, das Feuer zündete sie von allein. Und es brandete über
mich hin und erledigte mich. Ich warf ihnen die Gitarre vor die Füße.
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Und sie merkten’s nicht, dass sie diese zertrampelten, merkten nicht,
dass ich nicht mehr spielte, nicht mehr sang. Einmal huschte Theo an
mir vorbei, er schwenkte eine Frau, der ihre gesamte Geräumigkeit
sozusagen auf den Leib geschrieben war. „Hallo, Justus!“, rief sie mir
zu. „Hey!“, rief ich zurück. Und das gehörte wie selbstverständlich
dazu. Auch dass einer, der sehr an Mephisto erinnerte und sich tendenziell diabolisch gab, mit einer Solonummer die Menge teilte und herrschaftlich seinen Text über den andern Singsang schmetterte – „Bin
ich verrückt, dann darf ich wirklich sein, in eurem Wahnsinn liegt
mein Glück allein“ – war der Logik des Arrangements verschrieben.
Aber dass Faust und ein vormals gewisser Famulus Wagner als Paar
die Masse am Rand auffüllten, ließ ich meiner Wahrnehmung nur als
Verdacht zu. Auch, dass ein schwarzer Pudel als Anführer einer Rotte
Straßenköter in den unteren Regionen, bis in Kniehöhe, im Tanz der
jeglicher Macht entsetzten Seelen mitmischte, war der Doppelstrich
unter der behaupteten Logik des Arrangements. Und nichts davon
signalisierte eine Gefahr. Sogar, als ich Insassen aus der Anstalt meines
Vaters im Reigen meiner Superstarnummer bei Victorio zu erkennen
glaubte, beunruhigte mich das nicht. Pinki tanzte vorüber. Und nach
ihm der Chronist, der mir im Überschwang des Gefühls endlicher
Entsetzung jeglicher Zwänge, und das mochte seinerseits wie meinerseits gleich intensiv sein, beide Hände zum Abklatschen bot; sein
vormals asketisches Gesicht wirkte prall und rosig, der Mann war zu
neunundneunzigkommaviervier Prozent zum ersten Mal in seinem
Dasein glücklich. Und das verdankte er und das verdankten alle mir.
Der Herzog und der Mörder tanzten in der Menge, dass wir einander
erkannten, blieb unzweifelhaft. Wenig später teilten die Suchenden
und die Findenden die Masse so, als wäre sie polarisiert und für den
Augenblick ihres Erscheinens schien es auch auf der Kippe zu stehen
damit. Doch schon war’s wieder wie in einem Reich und unvergleichlich, unvergleichbar, vollkommen, trauerlos, traumfrei, phobiesteril,
depressionsneutral, maniesauber, invariant, pathologisch, rutschfest
und unzerstörbar. Chiron galoppierte ins Geschehen. Marsyas und
Orpheus hingen an seiner Mähne. Die drei gaben ein Gespann im
Rost innigster Verbrauchtheit. Aber als ich – gegen die Herrschaft
einer Erinnerung, die den Gestus des persönlich Schuldhaften nie
überwinden wird, besteht man am trefflichsten, wenn man ihr nachgibt – nach meinem Freund Nikolaus Ausschau hielt – wie er’s schaf-
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fen sollte mit seiner homunkuluiden Körperlichkeit zwischen all den
Beinen hindurch, ohne unter die Räder zu geraten, bedachte ich nicht
– sah ich den ersten Schatten.
Konkret waren es zwei. Und sie waren so gewaltig und flächendeckend
und tiefer als abgrundtief niederträchtig wie Schatten, die von Kraftatzen geworfen werden, die auf einen persönlich gehetzt sind, nur
sein können. Ach ja, die Gewalt ist in allen Reichen gleich portioniert
und rekrutiert gleichartiges Personal. Als die beiden Atzen bemerkten,
dass ich sie entdeckt hatte, winkten sie mir zu, bedeuteten mir, das
wir was zu reden hätten miteinander, sie spulten das Repertoire ihres
erlernten Deeskalationskurses perfekt ab. Das waren Kumpels, wirklich und wahrhaftig. Aber ein großer Teil der enthusiastischen Menge
war noch zwischen ihnen und mir. Die von mir initiierte, generationsübergreifende und gesellschaftliche Normative außer Kraft
setzende Nummer aus Wahnsinn und entschmerztem Leben würde
mich ihnen entkommen lassen. Ich duckte mich, bewegte mich auf
allen vieren rückwärts. Die Menge nicht und kein einzelner nicht
bemerkte mein Verschwinden. Und die Kraftatzen und ihre Schatten
betrafen mich auch nicht länger. Zwar wurde ich von einigen unbeabsichtigten Tritten getroffen und ich stieß selber gegen Tische, Stühle
und Wände und der direkte körperliche Schmerz stand im Augenblicklichen dem Seelenschmerz, dem von der Menge im Abgesang
verrücktester Masche und allerschrägster Manier die letzte Huldigung
gehalten wurde, in nichts nach. Jeder Tritt tat weh und jeder Stoß
tat weh. Ja, was die Seele mit einem unhörbaren Seufzer wegsteckt,
darüber krakeelt der Körper aufs Heftigste.
Außerhalb des „Veneziano“ war’s ruhig. Ich hatte erwartet, dass so,
wie es drinnen zuging, die Tollheit zumindest den Platz und die
umliegenden Straßenzüge schon erfasst hätte. Nur der Gesang drang
dumpf nach draußen. Die wenigen Passanten, die den Platz erreichten, wurden allerdings schnell darauf aufmerksam, näherten sich
neugierig, zumeist schon die Melodie summend und in rhythmisch
tänzelnden Bewegungen dem Restaurant und verschwanden ohne
Ausnahme und ohne Halt, der aus Bedenken oder Scheu zu erklären
wäre, hinein. Es war kein pandemisches Phänomen, aber doch ein
steter Zuwachs derer, die Verrücktheit, Wahnsinn und entschmerztes Leben nach meiner Vorgabe sich als Erbauung gestalteten. Das
einzig Wunderliche daran war, dass der Bau nicht wegen Überfüllung
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aus den Fugen platzte und die darin tobende, sich loslassende Masse
wie ein auf Virulenz programmiertes Virus in die Stadt und in die
Welt herausgeschleudert wurde, als die von mir bevollmächtigte Brut,
meinen Song als die Welt einendes Elixier zu verbreiten.
Einmal traten die Kraftatzen vor das Lokal und suchten nach mir.
„Dieser Superknaller kann sich doch nicht in Luft auflösen“, sagte der
eine. „Der Chef macht uns rund, wenn wir ihn nicht bringen.“
Und der andere sagte: „Wie so einer überhaupt zurechtkommt und
überlebt? Unsereins würd’s die Birne zerkrachen vor so viel Faustigkeit. Aber unser Irrer feiert vor der Kamera ab, dass sogar das Arschgesicht der Nation Beifall klatscht.“
Und der eine sagte: „Weißt du, was ich mich manchmal frage? Weißt
du, wo’s mich vom Bock stößt und warum?“
„Weiß ich“, sagte der andere. „Du fragst dich, wer der eigentlich
Verrückte ist, du oder der, der oder du, die oder wir, wir oder die?
Und es haut dich um, wenn du dir antworten musst, du bist’s und wir
sind’s. Denn wenn’s anders wäre, also nicht so, wie es ist, und also so,
wie es nicht ist oder doch, dann wär’s nicht so und wär’s doch, aber
anders und nur, weil, wenn’s nicht anders wäre, es so wäre.“
„Äh“, machte der eine und kratzte sich am Kopf.
Und „Äh“ machte der andere und kratzte sich am Arsch.
Sie verschwanden im Lokal. Und an ihrer Stelle trat Frau Kalliope von
Scharich irgendwie auf den Plan. Und sie trat mir nah und doch nicht
zu nahe. Ich roch ihr Geschlecht und der Reif auf ihrer Schönheit
taute ab mit jedem Herzschlag.
„Ich habe dich nicht verraten, Justus“, sagte sie. „Aber ich wusste mir
keinen anderen Rat und mir nicht anders zu helfen, als anzurufen.“
„Warum?“, fragte ich. „Wen?“
„Vielleicht, weil ich dich beneide.“ Kalliope bemühte sich, mich
vom „Veneziano“ zu entfernen. „Du hast die Kraft, deinen Wahnsinn freizulassen. Das ist das Beeindruckende an deinem Titel. Und
dass sogar ein Holzkopf wie Heiner davon überwältigt wird. Aber was
drumherum ist, passt nicht zusammen. Deine Geschichte meine ich.
Faktisch, rational und logisch passt nichts zusammen, und emotional
und geistig auch nicht. Ein Faust ist im Faktischen eine Spekulation,
für die Ratio ein monströses Phänomen und mit Logik ist ihm nur
so weit beizukommen, dass er im Konjunktiv nicht zu verleugnen
ist.“ Kalliope schlug mit beiden geballten Händen vor meine Brust.
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„Aber du bist doch nicht verrückt! Dein Wahnsinn ist doch nicht so
wirklich wie bei Theo. Theo ist ein Patient. Du hast kein pathologisches Profil.“ Zwischen ihren beiden Fäusten lehnte sie ihren Kopf an
meine Brust. „Noch vor ein paar Jahren wäre ich mit so einem Typen
wie dir nach dem siebten Drink im Bett gelandet. Ich war süchtig
danach, einen zu finden und zu haben, der alle und alles überfliegt
und der die Enttäuschung, die er deshalb für eine allein sein muss,
denn das ist der Preis dafür, bei mir bloßlegen und ausleben kann. So
ging’s mir mit Theo von Schrifter. Der las was vor und ich dachte, das
ist einer, der die Welt mit Worten vernichten und zusammenhalten
kann. Aber …“
„Aber auch als der erwartete Enttäuscher war ich eine Enttäuschung.“
Theo umarmte Kalliope und mich. „Der pure Wahnsinn, was bei
Victorio abgeht! Ich bin der letzte, der da lebend rauskommt.“ Er
lachte schrill. „Die schrägste Nummer und der allerschrägste Typ
beherrschen den Tag.“ Er rüttelte Kalliope und mich. „Habt ihr vielleicht gedacht, ihr könntet mir entkommen? Ihr launigen Schlingel,
ihr? Einer wie ich hat mindestens zwei Sinne zusätzlich. Davon ist
einer für meine ewige Freundin Kalliope dauerreserviert. Und der
andere ist von meinem Doktor auf den sensationellen Faustspross
fokussiert worden. Und wir waren ihm gegenüber vielleicht doch
etwas undankbar, Justus?“
„Es war Mephisto, den du gewürgt hast und den ich geschlagen habe.“
„Justus!“ Kalliope kniff mir ins Kinn. „Vor uns brauchst du die
Nummer nicht überzustrapazieren.“
„Und ich habe meine psychotonen Problemzonen, aber geistesgestört
bin ich nicht.“ Theo tat beleidigt. „Mephisto ist ein negativer Mythos.
Damit kannst du dir alles kaputtmachen. Lass ein Wort davon in die
Medien und sie machen dir die Hölle heiß.“
„Was wahr ist, muss wahr bleiben.“ Ich rückte von Kalliope ab.
„Ohne Mephisto und ohne meinen Vater – und das eine ist so wahr
wie das andere und der eine so wahrhaftig wie der andere – hätte ich
es nicht geschafft.“ Theo und Kalliope standen nun weit entfernt von
mir. „Den Titel hat mein Vater, denn er hat Beziehungen bis in die
illustresten Kreise, für mich in Auftrag gegeben. Und um was daraus
zu machen, hat er seinen Mephisto auf mich verpflichtet. Ich hätte
mich doch niemals so allein in die Spur bringen können!“
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„Du bist erledigt, wenn das einer außer Kalli und mir mitgehört hat“,
sagte Theo.
„Ist er nicht“, sagte Klausi. Er und Max standen hinter mir. „Und sein
Leben wird als klassischer Fernsehvierteiler verfilmt, inklusive einer
neunzigminütigen Kinoversion“, sagte Max. „Wir haben alles am
Kochen. Heiner ist begeistert und beileibe nicht der Pfennigfuchser,
wenn’s um Größe geht. Und mit Tan-Tin-Cons-Film im Paket haben
wir das Beste, was zu kriegen ist; dass Beichinger so was wie freien
Zugriff auf die Fördertöpfe hat, muss ich euch doch nicht sagen.“
Und Klausi sagte: „Justus gehört uns. Und von euch beiden Schreckund Schussfiguren nimmt ihn uns keiner weg.“
Klausi und Max waren so plötzlich da, wie alles, seit Faust, Mephisto
und ich das Reich meines Vaters verlassen hatten, nach dem Motto
zufälliger Notwendigkeiten geschehen war und nach einem Woher
und Warum nicht gefragt wurde, sondern nur: Wie geht’s weiter?
„Klausi und Max!“, stöhnte Theo. „Die zwei Unvermeidlichen, wenn
Misserfolg und Lächerlichkeit nicht vermieden werden dürfen.“
„Wie bist du an diese Hanseln aus der vorletzten Reihe geraten?“,
fragte Kalliope und schnipste mit den Fingern, damit ich mich zu ihr
stelle. „Solche Leute machen auch den besten Wahnsinn zur blödesten
Verrücktheit. Nicht der stupideste Heiner und nicht der arbeitsblindwütige Beichinger würden mit solch eingetragenen und vorbildlichen
Luschen ein Geschäft machen. Auch mit einem faustischen Mephisto
als Drahtzieher würde das nicht laufen.“
„Frau von Scharich!“ Klausi stellte sich neben mich, aber mir zur Seite
war er damit nicht. „Ihre Erfolgsquote bei zuviel Frust mit der Lust
in allen Ehren, aber in dieser Sache sollten Sie zurückhaltender sein.“
„Und ich bin es, der die erste Option auf den Superstar hat.“ Max
stellte sich an meine andere Seite, dies ebenfalls, ohne mir dadurch
näher zu sein. „Inklusive seiner Geschichte mit all ihren Unglaublichkeiten.“
„Du bist schnurz, Max“, sagte Theo. „Und du, Klausi, du bist zwar
ein Treppchen über ihm, aber fürs Geschäft seid ihr beide Größen, die
zu vernachlässigen sind.“
„Du hast’s nötig, den großen Zampano zu geben!“ Klausi legte einen
Arm um mich. „Theo Schrifter! Der große Edelversager! Wie viele
von den großen Romanen, die du versprochen hast, sind eigentlich
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verlegt? Oder hast du’s überhaupt einmal über den ersten Satz hinaus
geschafft?“
„Das ist nicht mein Niveau“, sagte Kalliope. „Komm, Theo! Und du,
Justus Superkasper, entscheide dich!“
Ich schüttelte Klausis Arm ab. Aber Theo und Kalli zu folgen, die
einander untergehakt sich entfernten, entschloss ich mich auch nicht.
Ich rief ihnen nach: „Halt! Wartet!“ Die beiden hielten, drehten sich
aber nicht zu mir um.
„Das sind die falschen Leute für dich“, sagte Max.
Und Klausi sagte: „Es läuft megasuper für uns, Justus! Ich habe schon
zwei Promi-Termine für dich klar gemacht. Morgenmagazin bei LTR
und später TotalTV.“
„Und dein Titel wird gepusht wie noch nie eine Nummer zuvor“,
sagte Max. „Heiner dreht an allen Rädern.“
„Jetzt eine falsche Entscheidung“, sagte Klausi, „und alles war
umsonst.“
„Es hat sich auch schon ein Ghostwriter gemeldet“, sagte Max. „Falls
du mit deiner Biografie nicht schnell genug zu Potte kommst. Er
hat einen akzeptablen Verlag an der Hand und dass wir einen satten
Vorschuss aushandeln werden, davon darfst du ausgehen.“
„Und als ein Faust bist du auch für die Edelbranche von Interesse.“
Klausi rief in Richtung Theo und Kalliope: „Wir sehen uns bei der
ersten Platin-Verleihung. Ihr seid als Ehrengäste am Katzentisch geladen.“
„Justus!“ Kalliopes Stimme übertönte sogar den Lärm aus dem „Veneziano“. „Du bist ein Faust, Justus! Vergiss nicht, was du dem Namen
und deinem Vater schuldest!“
Das zündete. Und ich lief los. Dass es in Richtung Kalliope und Theo
war, geschah aus Unbedachtheit, denn ich wollte wieder einmal nur
weg. Ich wollte weg von Max und Klausi, die mich mit ihrer medialen
Krämerseligkeit folterten; und ich wollte ebenso weg von Theo und
Kalliope, für die ich im Grunde doch nur ’ne schrille Flitzpiepe war
und bleiben würde; und die schöne Frau von Scharich, Fachautorin
in Sachen Gefühl und Obszönität, so jedenfalls hatte ich sie verstanden, war nicht mein Level und der parapoetisierende, nervenkranke
Schreiber von Schrifter ging mir mit seiner bodenlosen Individualität
gegen jeden Strich.
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Doch entwickelte sich die Situation mit unabdinglichen Zynismus
zur billigsten Komödie. Aus irgendeinem Gruppenreflex oder dem
Versuch der Verlustbegrenzung liefen Klausi und Max mir nach. Und
Theo und Kalliope begannen, vor mir herzulaufen, als sie mich laufen
sahen, sodass ich nun ihnen nachlief. Wir bildeten ein laufendes
Quintett, von dem ich die Mitte war und so Verfolger und Verfolgter
in einem. Kalliope und Theo hielten ein strammes Tempo. Ich hatte
Mühe, mitzuhalten. Aber anzuhalten oder umzukehren, galt nicht,
denn Max und Klausi waren hinter mir. Denen wieder in die Arme
zu fallen, durfte nicht sein. Aber wir alle waren, daran gab es keinen
Zweifel, Flüchtende.
„Schneller“, hörte ich Klausi keuchen.
Und von Kalliope hörte ich: „Ich sterbe! O Gott!“
Von meinen Tritten dröhnte es durch mich wie Peitschenschläge.
„Haltet durch“, hörte ich von Theo. „Wir schaffen es!“
Die Fassaden zerklüfteten und wackelten und ein heißer Wind trieb
neben uns her. Und dann stand da einer im Weg und winkte mit
einem Arm, dass wir uns stärker eilen sollten, und wies uns mit dem
anderen Arm in einen seitlichen Abgang. Er war pagenmäßig uniformiert. Aber ich erkannte ihn trotzdem. Es war Mephisto. Er verpasste
mir einen Schubs auf die Schulter und flüsterte mir zu: „Keine Bange,
Faustchen, noch sind wir bei dir, dein Vater und ich.“ Theo bedachte
Mephisto mit einem flüchtigen misstrauischen Blick. Kalliope
rümpfte die Nase. Und Max und Klausi liefen im Übereifer auf ihn
auf und entschuldigten sich dafür, sie wären in Eile und es ginge um
alles für sie. Auch mich rempelten sie vor der ersten Stufe an, überholten mich und verschwanden hinab wie Theo und Kalliope vor ihnen.
Ich zögerte. Aber der Mephisto ließ mir keine Zeit, mich zu bedenken.
„Geh!“, sagte er. „Diesmal musst du’s noch bestehen.“ Und der Kraft,
die auf meinen Rücken wirkte und die mich vorantrieb, vermochte
ich nichts entgegensetzen, geschweige, ihr zu widerstehen und umzukehren. Und es war kein gering zu schätzendes Detail, dass mich
beim ersten Schritt abwärts ein großer schwarzer Pudel überholte
und meine Hand in einem Impuls erworbener und endlich bekannter Zugehörigkeit durch das Fell auf seinem Rücken strich und mich
ein Gefühl heimkehrerischer Duseligkeit griff. Aber das mochte auch
darin begründet sein, dass, wie es mir bekannt war, es abwärts ging.
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XIX
Stufe um Stufe ging’s hinab und Schritt für Schritt führte es hinauf.
Ich war ins wahrhaftige Paradoxon eines C. M. Escher geraten, das
Gegenteilige des Offenkundigen bestimmte den Verlauf. Stimmengewirr tönte mir entgegen, schwoll an, je tiefer ich gelangte und desto
höher ich kam. Er kommt, kündigte jemand an. Und ich trat in einen
grell ausgeleuchteten Raum. Beifall. Pfiffe. Buhrufe. Blitzlichter. Wie
im Instinkt ging ich um die Anwesenden herum und aufs Podium.
Ein mir nicht unbekannter Herr, ohne dass ich hätte sagen können,
wer er war und woher ich ihn kannte, wies mich auf den mittleren
von drei Stühlen, die hinter den Tisch gestellt waren. Auf dem Tisch
und davor waren Mikrofone aufgebaut, die das Label von Stationen
und Sendern aus dem ganzen Land und zum Teil auch aus Europa
trugen. Ich setzte mich, hob dabei zur Begrüßung beide Hände über
den Kopf. Blitzlichter. Beifall. Pfiffe. Buhrufe. Rechts von mir wurde
von dem mir nicht unbekannten Herrn Heiner platziert. Er umarmte
mich, bevor er sich setzte, und zeigte seinen aufgereckten rechten
Daumen ins Rund. Buhrufe. Beifall. Blitzlichter. Pfiffe.
„Was wären die Medienfuzzis ohne uns?“, zischte Heiner mir zu. Er
war etwas knapp bei Luft und sein Deo verbraucht. „Kleine Arschlöcher, die vergeblich auf den großen Furz warten.“ Er lachte so typisch,
wie man’s von ihm kannte.
Mir zur Linken setzte sich ein Herr, der keinerlei Aufmerksamkeit
beanspruchte. Er reichte zuerst mir die Hand und fragte: „Sie sind
doch damit einverstanden, dass ich Sie weiter als Rechtsbeistand
betreue?“ Er bemerkte meinen ratlosen Blick. „Christo de me Phisto
mein Name, falls er Ihnen entfallen sein sollte.“ Und nur für mich
hörbar fügte er hinzu: „Doctore diabolis horribilis, wie es die Zeit
gebietet und der Ort verlangt.“
Er hielt auch Heiner eine Hand zur Begrüßung hin. Der wollte die
Geste übersehen. Doch der Doktor überlistete ihn irgendwie. Danach
hatte Heiner Probleme mit seiner Hand, die er zum Handschlag
gereicht hatte. Er betastete sie ununterbrochen, behauchte sie mit
seinem warmen Atem.
Der mir nicht unbekannte Herr übernahm aus dem Stand die Moderation. „Meine Damen und Herren“, sagte er. „Wir haben eine Sensa-
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tion.“ Er wies mit ausgestrecktem Arm auf mich. „Der zum Casting
zum Superstar angetretene Justus Faust hat mit seinem selbstkomponierten und getexteten Song ‚Wahnsinn’, dessen Qualitäten so
einen gestandenen und gefürchteten Mann wie Heiner Hohlen …“
Er zeigte mit seinem auf mich gerichteten ausgestreckten Arm auf
den Sitz rechts neben mir. „… sofort überzeugten und ihn, wie wir es
von ihm kennen, geschäftlich aktiv werden ließen. Schon nach zwölf
Stunden, so lange ist es her seit dem Casting, gibt es eine vordere
Notierung in den Charts und der Titel ist landauf, landab zu hören.
LTR als produzierender Sender der Show trägt diesem Phänomen
Rechnung und veranstaltet exklusiv diese Pressekonferenz. Um die
Vorstellung der Herren auf dem Podium vollständig zu machen …“
Diesmal verzichtete der mir nicht unbekannte Herr darauf, auf den
Platz rechts von mir zu weisen. „Der dritte Herr auf dem Podium ist,
soweit ich in der gebotenen Eile richtig informiert wurde, der langjährige Rechtsbeistand der Familie Faust, Doktor … Doktor …“ Er
sortierte seine Notizzettel, fand aber nicht, was er suchte, was ihn aber
nicht verunsicherte. „Mich kennen Sie“, setzte er seine Moderation
fort. „Ich bin und bleibe wie immer Ihr Dieter Didi Dietersen.“ Nun
deutete er auf meinen Rechtsbeistand. „Und der Herr stellt sich am
besten selber vor.“
„Doktor Christo de me Phisto“, murmelte der mir zur rechten Seite
sitzende, langjährige Rechtsbeistand der Familie Faust. „Ich verfüge
über alle Vollmachten und Ermächtigungen in rechtlich relevanten
Zusammenhängen. Und …“ Jetzt erhob er sich. „Ich warne vorab
jeden, der meinen Klienten Justus Faust in irgendeiner Art persönlich
diffamiert. Ich bin international erfahren, um jegliche Rechtsmittel,
und sei es auch, um das Recht zu beugen, beizubringen.“ Er legte mir
eine Hand auf die Schulter. „Das, was ich dem Vater dieses Mannes
schuldig bin, werde ich auch an ihm dienen.“
Aus der vorderen Reihe sprang Klausi auf und rief: „Ich habe ein
Papier mit der Unterschrift Ihres Klienten, in dem er mir Rechte
einräumt …“
„Sie hatten ein Papier“, unterbrach ihn Christo de me Phisto. „Oder
irre ich mich?“
Klausi fuchtelte mit der Serviette herum. „Hier stand es drauf. Eine
Generalvollmacht. Von Justus Faust unterschrieben. Aber …“
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„Ich wiederhole mich! Sie hatten ein Papier!“ Christo de me Phisto
blickte zu Heiner. „Und hier ist Wichtigeres zu verhandeln.“
Heiner gab einen lakonischen Hohlenschen Kommentar ab: „Klausi,
du lernst es nie. Schwarz auf weiß musst du es haben und nicht Rotze
auf einem vollgekleckerten Lappen.“
Lacher. Pfiffe.
Didi nahm das, dafür war er Profi genug, als Einstieg und stellte sich
auf die rechte Seite des Podiums. „Kombiniere ich richtig, Heiner, dass
Sie das schwarz auf weiß haben, was dieser Herr zu haben glaubte?“
Heiner delegierte die Frage mit jovialer Geste zur linken Seite des
Podiums. „Wer mich kennt, braucht darauf keine Antwort.“
Und der Rechtsbeistand der Familie Faust sagte: „Alle aus dem Superstarstatus meines Klienten sich ergebenden Regelungen zu Rechten,
Optionen und Verwertungen sind ganzheitlich an die Firma des
Herrn Hohlen übertragen.“
Max, der neben Klausi saß, hielt’s nun auch nicht mehr auf seinem
Platz. Er schrie: „Das ist Mauschelei. Ich habe den Superknalli gefunden und ich habe ihn gepicht.“
„Halt die Klappe!“, sagte Heiner. „Ihr werdet abgefunden, du und
Klausi! Setzt euch hin und wärmt euch die Eier.“
Klausi und Max setzten sich.
„Na, also“, sagte Heiner. „Geht doch!“
Und Didi moderierte: „Das ist Heiner, wie wir ihn kennen und lieben,
nicht herzlich, aber direkt.“
Aus dem Publikum kam eine Meldung: „Ist eine Frage an Herrn
Hohlen erlaubt?“
„Aber bitte“, antworteten Heiner und Didi zugleich.
Es war ein junger Mann, der sich als Mitarbeiter der Hör hin vorstellte
und fragte: „Herr Hohlen, stimmt es, dass Sie unmittelbar nach dem
Casting von Herrn Faust gesagt haben – ich zitiere sinngemäß –:
Wenn ich die Nummer ins Rennen schicke, verdiene ich vielleicht
einen Haufen Geld, wenn nicht, behalte ich auf alle Fälle meinen
Verstand?“
„Äh“, ließ Heiner vernehmen. „Äh, ich bin geizig, das ist seit den
Plauderein einer, äh, gewissen Pflanze aus Feld und Busch kein
Geheimnis. Äh. Und mein Verstand, äh, ich meine, ich bin in einem
Alter, wo man ohne den auskommen könnte.“
Lacher. Vereinzeltes Klatschen.
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Und von Didi kam der Kalauer: „Ehrlichkeit ist, wer wüsste es nicht,
Heiners Pläsier, doch weiter kommt man ohne ihr.“
Heiner drohte, die Show bedienend natürlich, Didi mit einem
Stinkefinger. „Trotzdem, wer das gepetzt hat, wird sich die Hacken
heißlaufen.“
Eine attraktive Frau stand auf. Sie stellte sich als Programmchefin von
FunTV vor. Ihrer Frage ging ein zweiminütiges Statement voraus. „Ich
gestehe“, sagte sie. „Ich weiß nicht recht, was der Titel so vehement
in mir anspricht und warum. Weder der Interpret noch die Musik
noch der Text sind außergewöhnlich. Und Wahnsinn und Verrücktheit sind populistische Verbalismen, die alltagssprachlich verschlissen
sind und kaum noch mentalpsychologisch definiert werden. Und
dennoch funktioniert der Titel als Ganzes. Und so ist die eigentliche
Sensation daran, dass es als Sensation bewertet wird und wohl auch
bewertet werden muss, wenn mit Wahnsinn und Verrücktsein Zeitgeist und Massenerwartung bedient werden und dies noch finanziell
einträglich ist und ohne dass nach pathologisch-klinischen Befunden
und Wertungen gefragt wird. Ja, der Titel ist für mich direktester
Ausdruck für die geistige Verelendung neuzeitlicher Existenz. Ja. Und
deshalb …“
„Haben Sie ein Frage oder referieren Sie so, weil Sie denken, Sie
befänden sich in einer Vorlesung?“, unterbrach Didi die Frau.
„Ich habe eine Frage an Herrn Faust.“ Die Frau neigte den Kopf zur
Seite, blickte mich an. „Sind Sie sich bewusst, Herr Faust, was Sie mit
Ihrem Titel leisten? Sind Sie sich bewusst, welche seit langem nötige
Normalität Sie dem psychisch Bedenklichen damit erobern?“
Der Rechtsbeistand der Familie Faust antwortete unaufgefordert für
mich. Er weise ausdrücklich darauf hin, dass das Bewusstsein seines
Klienten hier nicht zur Diskussion stünde und dass er, sollten weitere
Fragen dazu gestellt werden, er mich zum Verlassen dieser Veranstaltung drängen würde.
Die Frau zog einen Flunsch und setzte sich. Es gab allgemeines Missfallen zur Äußerung Christo de me Phistos. Und es fragte jemand, der
nicht zu identifizieren war: „Aber volljährig ist der Junge doch?“
Mein Rechtsbeistand konterte sofort. Bei weiteren Injurien gegen
seinen Klienten würde er Anzeige erstatten, auch für diese Äußerung
kündigte er einen betreffenden Vorbehalt an.
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Didi war damit etwas aus der Fassung gebracht. Und Heiner meinte,
er schlug dabei das linke Bein über das rechte und trommelte mit
den Fingern der rechten Hand auf den Handrücken der linken:
„Nun bleibt auf ’m Teppich, Leute. Es geht um Trallala und nicht um
Menschenrechte oder Kapitalverbrechen. Äh! Zur Erinnerung: Der
Junge heißt Faust. Und sein Vater auch.“
Ein Herr mittleren Alters erhob sich. Er stellte sich als freier Musikjournalist vor. Ein grauer Streifen sorgfältig gestutzten Bartes zog wie
eine Helmkordel von Schläfe zu Schläfe über die Wangen und ums
Kinn. Seine Aussprache war geschult, die Gestik sparsam.
Ein bourgeoiser Langweiler von Format, dachte ich, so einer fehlt
noch zum Großen Preis von Faustens Not und Wendigkeit.
Der Mann öffnete den Mund, doch mein Rechtsbeistand linkerseits
war schneller. „Nur eine Frage, um Sie nicht misszuverstehen“, sagte
er. „Freier Journalist? Ist das ein Selbsttitular nach Ihrem Gusto, weil
es so enorm nach Persönlichkeit und Bedeutung klingt? Oder ist es
eine Berufsbezeichnung, die aus einem Arbeitsverhältnis resultiert?“
Der Mann blieb so ausgestellt souverän, wie er sich gegeben hatte.
„Ich habe gesagt, was ich bin“, sagte er. „Ich arbeite journalistisch frei
im musikalischen Geschäft. Das heißt, ich lebe von dem, was ich von
dieser Arbeit verkaufen kann. Das schließt Aufträge und Projektbindungen über längere Zeit und zu speziellen Themen mit ein. Aber ich
stehe in keinem Angestelltenverhältnis. Ich bin in meinen Urteilen so
frei wie in meinem Trinkverhalten. Genügt Ihnen das als Antwort?“
„Vollkommen“, antwortete Christo de me Phisto. „Und ich beglückwünsche Sie, dass Sie im Status einer Freiheit eine Existenz haben, die
das Trinkverhalten nicht als kausale Komponente im sozialen Kontext
fremdbestimmt.“
Lacher. Und nachhallende Heiterkeit.
„Und ich wollte Ihren Klienten dazu beglückwünschen“, sagte
der Mann, „dass er so grandios unverfroren und dilettantisch eine
Nummer ins Geschäft geschleudert hat, die alles toppt, was bisher
von Trash bis Gaga auf dem Markt war; für solch hirnrissige Unternehmung bedurfte es wirklich – und dies wirklich ist in Konsequenz
jeglicher Erfahrung meinerseits gemeint – eines faustischen Einschlags
in der cerebralen Region, die für Anstand, Vernunft und Demut der
Schöpfung gegenüber zu lokalisieren ist, um sie mit solch horrend
psychomanipulativen Popnonsens zu überwältigen.“
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Heiner hielt sich nicht zurück. „Es behauptet doch keiner, dass der
Junge keine Klatsche hat“, sagte er. „Und Sie können Ihre Antennen
in den Sand fahren, wenn der Sound von ‚Wahnsinn’ Ihr hochgestelltes Ohr strapaziert. Mannomann! Solch kleinfeingeistiges Gedöns
macht mich pissig!“
Didi versuchte, die Schärfe aus der Diskussion zu nehmen. „Ich habe,
im Gegensatz zu Heiner“, wendete er sich an den freien Musikjournalisten, „Ihren Glückwunsch an den Herrn Faust weder ironisch noch
zynisch verstanden, sondern als Annäherung an das Phänomen, das
‚Wahnsinn’ für uns ist. Deshalb frage ich den Interpreten persönlich
…“
Heiner musste seiner Rage weiter Luft machen, unterbrach Didi.
„Nein“, sagte er. „Ich kenne den Herrn Krümelpickerundkacker, den
freien Musikjournalisten Ernst Spaßhansel! Er hat mir nach jedem
Nummer-eins-Hit, den ich nach Avant Whispers hatte – man erinnert sich?“
Beifall. Pfiffe. Buhrufe. Und ein Ruf: „Wo verdammt ist der Andere?“
Aber das brachte Heiner nicht ab von seiner Linie. „Bei jedem Titel
hat der Herr Spaßhansel dem Herrn Hohlen nachgewiesen oder
versucht, es ihm nachzuweisen, dass er ein musikalischer Tiefflieger
ist, dass seine Stimme scheiße ist und sein Gitarrenspiel auch und
solche Musik überflüssig ist und ein Beleidigung für jedes Ohr. Und
wat is’? Hohlen ist berühmt, hat Mäuse und Käthen, wie er’s braucht
und will. Und der Herr Spaßhansel …“, der freie Musikjournalist
setzte sich wieder, „… knausert und mosert noch immer an allem, was
sein musikjournalistisches Gehirn ihm zu begreifen verwehrt. Aber
begreif ’s doch mal, Spaßhansel! Musik, die Musik, über die wir hier
verhandeln und für die ich stehe, ist Tagesgeschäft und von der Theorie mindestens so weit entfernt wie meine Faust von deiner Nase.“
Der Herr Spaßhansel erhob sich kein zweites Mal, sagte aber: „Bisher,
Herr Hohlen, waren wir keine Feinde. Aber das ändert sich.“
Mein Rechtsbeistand sprach Didi an: „Um was geht es hier? Sagen
Sie es mir? Mein Klient hat ein Recht darauf, nicht dafür benutzt zu
werden, dass an seiner Person andere Personen Ihre Ressentiments
austragen.“
„Sie haben vollkommen recht, Herr Doktor.“ Didi stellte sich zu
Christo de me Phisto. „Und deshalb wollte ich den Interpreten ja
auch persönlich fragen …“
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„Nur einen Satz noch“, meldete sich Heiner. „Damit mich keiner
missversteht. ‚Wahnsinn’ wird in der Version, in der ich den Titel vor
neun Stunden und …“, er blickte auf die Uhr an seinem Arm, „…
zwölf Minuten ins Rennen geschickt habe, egal von wem und wie oft
er gecovert werden wird, ein Welterfolg. ‚Wahnsinn’ ist ein Produkt
für jedermann. Alter, Geschlecht, Bildung, Vermögen, nichts schützt
davor und nichts und keiner wird davon ausgeschlossen. Ja, das wollte
ich noch sagen.“
Die Frau von FunTV meldete sich wieder. „Ihre Privatfehde mit
Herrn Spaßhansel amüsiert mich nur, Herr Hohlen. Aber sehen Sie
nicht auch eine Gefahr darin, wie sich dieser Song behauptet? Besteht
nicht die Gefahr, dass es allgemein im Sog seiner Wirkung schick
wird, eine Macke zu haben und sie auszuleben? Dass Wahnsinn zum
Statussymbol werden könnte? Dass Dazugehörigkeit und Ausgrenzung – das heißt, das Normale wird vorerst zum Sonderfall, dann
zum Vorfall und schließlich zum gefährlichen Ernstfall, der entsorgt
und beseitigt werden muss – zur manifesten Polarisierung der Gesellschaft, ja, der Menschheit führen kann? Ich sehe die Gefahr, dass
der Titel ‚Wahnsinn’ eine Manie nach exemplarischen psychophobischen Indikationen auslöst und so das Geistesgestörte sich zum Zeitgeist erklärt. Und dann, um das Faustische nicht zu vergessen, hätte
Mephisto mehr gewonnen, als nur eine Wette und wäre doch der
große Verlierer, denn was soll er und was will er mit Seelen, die nie
zur Gänze bei sich sind?“
„Äh“, kam’s von Heiner. „Äh! Über so was zu reden, bin ich nicht hier
gesessen. Äh!“
Didi stellte sich näher zu mir. „Herr Faust, sagen Sie uns doch bitte,
was Sie zu dem Titel inspiriert hat? Gibt es persönliche Erlebnisse, die
Sie verarbeitet haben? Gibt es musikalische Vorbilder? Erzählen Sie
von sich! Überrascht Sie der Erfolg? Wie sehr betreffen Sie die Diskussionen? Zum Beispiel auch diese, die wir hier erleben? Und dann gibt
es ja die wildesten Spekulationen um ihre Person.“
Ich wollte antworten, doch mein Rechtsbeistand erklärte, dass er
ermächtigt sei, zu erklären, dass Fragen zu meiner Person nur dann
zugelassen würden, wenn sie allein faktisch gesichert zu beantworten wären. Aber persönliche Erlebnisse wären immer subjektiv determiniert und es könne demnach nicht stattgegeben werden, dass
danach gefragt werde; und gleichfalls wären Inspirationen nur unklar
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darzustellende Verhältnisse, deren Wirkung noch stärker subjektiv
bestimmt seien als die Erlebnisebene, also sei eine Frage danach ausgeschlossen; und von seinen musikalischen Vorbildern spreche Herr
Faust grundsätzlich nicht und von sich habe er nicht viel zu berichten,
um die Spekulationen um seine Person nicht noch stärker anzutreiben. Aber einen Verweis an die Frau Programmchefin von FunTV sei
ihm erlaubt: „Mephisto gewinnt nicht und Mephisto verliert nicht,
er wirkt, und das auf jede Seele und auch auf den geringsten Teil,
mit dem sie bei sich ist.“ Mein Rechtsbeistand zeigte sich zufrieden
mit seiner Erklärung, er lehnte sich zurück, spannte die Daumen ins
Achselpassee seiner Weste und blickte provozierend nach vorn.
„Dennoch!“ Didi hielt sich an seine Konzept. „Wir wollen den Superstar persönlich hören! Also, Herr Faust, was …?“
Es meldete sich ein farbiger junger Mann aus der zweiten Reihe. Seine
Dreadlocks hatten Pflege nötig und sein anglikanischer Slang klang
etwas zu überbetont. Er stellte sich als Rabi Tami vom Musikkanal
VAVI vor und erklärte als erstes, dass er ein grundsätzliches Problem
mit diesem Tag hätte. Es würde der Take eines vierminütiges Castings,
das zugegeben etwas crazy gewesen wäre, in die Sender gepusht und
eine Person als Superstar gefeiert und sein Titel, der durchaus etwas
anspreche, auch das sei zugegeben, das eine Fangemeinschaft brauche, nämlich den kollektiven Tick mit Wiedererkennungswert, zum
orgiastischen globalen Gassenhauer aufgeblasen, ohne dass der blasse
Herr Faust seine Berechtigung nachgewiesen hätte, an dem Superstarcontest überhaupt teilnehmen zu dürfen. Und deshalb sei seine Frage:
„Welche Staatsbürgerschaft besitzen Sie, Herr Faust? Sind Sie volljährig? Sind Sie im Zustand geistiger und körperlicher Unversehrtheit?
Sind Sie vorbestraft oder läuft aktuell ein Strafverfahren gegen Sie?“
„Nun lass mal die Pferde im Stall und die Hunde an der Leine“,
polterte Heiner los. „Und leg dich nicht noch mal mit mir an. Ja!“
Rabi Tami schüchterte das nicht ein, zumal ihm Didi ermunternd
zunickte. „Würden Sie meine Fragen persönlich beantworten, Herr
Faust?“ Er deutete auf das Logo seines Senders, das auf sein T-Shirt
geprägt war. „Ich vertrete den im Musikgeschäft führenden Sender
und wir sind verpflichtet, unseren Kunden Wahrhaftigkeit und Qualität zu bieten und sie vor Scharlatanerie und kranken Auswüchsen der
Branche zu bewahren.“
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„Der Scharlatan bist du“, blaffte Heiner. „Und du bist krank vor Neid
und falschem Ehrgeiz, weil du es in der ersten Staffel nicht über das
Cast hinaus geschafft hast. Ich bin nicht nachtragend, aber ich vergesse
nichts.“ Heiner rüttelte mich an der Schulter. „Wenn du, Rabi Tami,
nur eine Handvoll von dem Talent hättest, was dieser Junge hat, dann
hätte sogar ich dich eine Runde weiter gelassen.“
„Danke, Herr Hohlen“, sagte Rabi Tami. „Aber Ihr Wohlwollen als
Beleidigung zu werten, tue ich mir nicht an.“ Er grinste das schwärzeste Grinsen unter der Sonne jenseits von Afrika. „Aber vielleicht
dürfen wir uns davon überzeugen, dass Herr Faust noch über etwas
mehr Stimme verfügt, als es für Wahnsinn nötig ist? Soll ich Ihnen
meine Fragen noch einmal stellen, Herr Faust?“
Christo de me Phisto, mein Rechtsbeistand links von mir, schlug eine
Hand flach auf den Tisch vor uns und sprach Rabi Tami so direkt an,
als gäbe es nur den allein im Raum. „Mein Herr, wollen Sie meinem
Klienten Defizite in seiner geistigen Verfassung unterstellen? Wollen
Sie, ich verweise auf Ihre Fragen zuvor, eine persönliche Diffamierung
des Herrn Faust Junior anstreben? Wollen Sie Streit? Antworten Sie!“
Damit war Rabi Tami sichtlich verunsichert. Didi tat mit seinen
Zetteln beschäftigt.
„So braucht der’s“, sagte Heiner. „Und du machst uns keine Angst,
Rabatami Sabatami, denn du bist angestellt bei VAVI, aber VAVI bist
du nicht, auch wenn du dich aufbläst, als wärst du’s und würdest
unser Geschick spielen können.“
„Ich heiße Rabi Tami, Herr Hohlen“, sagte Rabi Tami und setzte sich.
Neben ihm erhob sich ein solargebräuntes, aber eindeutig weißhäutiges Double. „Elias Nelson Schröder, TVM“, stellte es sich vor. „Ich
habe nur eine Bitte an Herrn Faust.“
„Bitte“, antwortete Didi. „Oder gibt es diesmal schon Einwände
vorab?“
Heiner reagierte nicht. Mein Rechtsbeistand schüttelte den Kopf.
Und ich zuckte die Schultern.
„Bitte sagen Sie irgendwas, Herr Faust“, sagte Elias Nelson Schröder.
„Sprechen Sie! Damit nicht bezweifelt werden muss, dass sie überhaupt eine Stimme haben.“
Klatscher. Lacher. Und bevor ich den Beweis geben konnte, über
eine Stimme zu verfügen, meldete sich eine Frau aus den hinteren
Reihen. Sie war aufgeregt und schaffte es nicht, während sie sprach,
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ihre Brille aufzusetzen. „Ich verstehe das alles nicht“, sagte sie. „Und
die Stichelein, Ressentiments und juristischen Spitzfindigkeiten, die
diese Diskussion bislang dominieren, beleidigen mich, im Gegensatz
zu dem Titel. Allein singen zu können ‚Bist du verrückt, dann kannst
du glücklich sein’ und sich in diesem Du mit vielen eins zu wissen,
macht mich unvergleichlich selbstbewusst, weil es mir den Makel
nimmt, mit meiner Krankheit ins Abseits gedrängt zu sein. Und ich
danke allen, denen dieser Song zu verdanken ist.“ Die Frau hob ihre
ineinander gefalteten Hände über ihren Kopf als bekennende Geste.
„Und an welcher Krankheit leiden Sie, wenn ich fragen darf“, fragte
Didi.
„Ich leide nicht mehr“, antwortete die Frau. „Durch das Lied von
Herrn Faust ist mir meine Paranoia was wert.“
„Äh!“ Heiner wendete sich an mich. „Ich denk mal, das hast du nicht
gewollt?“
„Ich weiß überhaupt nicht, was ich gewollt habe“, antwortete ich
schnell. „Ich war bei meinem Vater und langweilte mich. Und Superstar werden zu wollen, war eigentlich mehr eine Ausrede dafür, dass
ich nicht wusste, was ich werden wollte, aber mein Vater hat drauf
bestanden, dass ich’s wissen müsste. Und da habe ich es eben so
gewollt.“
„Er hat eine eigene Stimme“, ließ sich Elias Nelson Schröder vernehmen. „Noch mal auf so was wie Mulli Vanulli reinzufallen, muss nicht
mehr befürchtet werden.“
„Wenn Sie sagen, Sie waren bei Ihrem Vater, Herr Faust“, sagte
Didi, „dann – ich nehme die Gerüchte über Ihre familiäre Herkunft
einmal wörtlich – meinen Sie denjenigen Faust, der uns als anerkannter nationaler Schülerplagegeist im Deutschunterricht mehr als nur
Kopfzerbrechen und schlechte Noten eingebracht hat?“
„Mein Klient meint, wenn er von seinem Vater spricht, den Betreiber
und Chef der Klinik für … Sie können das in der Handreichung
nachlesen, die Sie nach dem Ende dieser Veranstaltung beim Verlassen
des Raumes an der Tür ausgehändigt bekommen“, sagte mein Rechtsbeistand. „Im Übrigen, um weiteren Spekulationen und Schlagzeilen vorzubeugen, besteht zwischen Professor Faust und seinem Sohn
Justus ein intaktes Vater-Sohn-Verhältnis. Der Professor hat wesentlichen Anteil am großartigen Erfolg seines Sohnes.“
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„Zauber, Zauber, Zauberei“, sagte Rabi Tami. „Legt uns der alte Faust
ein faules Ei.“
„Und wo Faust ist, da stinkt’s nach Mephistopheles“, sagte Elias Nelson
Schröder. „Und diese Nummer, so, wie sie läuft, hat für mich alle
Zutaten, inklusive Herrn Hohlen und diesem zwielichtigen, schlitzohrigen Advokaten da vorn, eines faulen Zaubers. Und deshalb, Herr
Dietersen, die Frage an Sie: Wer oder was hat diese Pressekonferenz,
oder nennen Sie es schon Medien-News-Point, angeregt?“
„Äh!“ Heiner blies seinen Atem hörbar aus. „Noch mal, Kinder,
haltet den Ball flach. Ihr dreht mit eurer Krümelkackerei nichts mehr
zurück. Die Nummer ist ein Selbstläufer. Und ihr Fuzzis wart es, die
den Medien-News-Point zu ‚Wahnsinn’ gefordert habt. Soll ich euch
die Anrufe, Emails und SMS von VANI, TVM, LTR und so weiter
zeigen? Was ist los, Heiner, wir brauchen Futter, steht da. Faust Junior
allein sagt keinem was.“ Heiner boxte mir einen Ellenbogen in die
Seite. „Wir brauchen Storys, ein Gesicht, Sensationen. Also, Junge,
pack aus! Und merke dir! Mit einem lieben Papi machst du keine
Butter bei die Fische. Und übermorgen ist’s sowieso der Schnee von
gestern.“
„So ist’s ja auch nicht“, sagte ich. „Mein Vater und ich sind nicht
immer und in allem auf einer Welle. Ich habe sogar schon daran
gedacht, ihn umzubringen. Ich habe gedacht, dass es besser für mich
wäre und überhaupt, wenn es sich mit ihm erledigte.“
„Sie hatten den Wunsch, Ihren Vater zu töten?“ Didi ging zu mir auf
Abstand. „Wie alt waren Sie da?“
„Das ist noch nicht lange her“, antwortete ich. „Mein Vater war für
mich, als ich in sein Reich gelangte, ein fremder, alter Mann, der
seine senile Verbitterung nie wirklich ablegen konnte. Ja. Er war
eine Enttäuschung für mich und ich war eine Enttäuschung für ihn.
Sie sollten wissen, dass die Fauste unserer Linie äußerst feinnervige
Existenzen sind.“
„Sei still“, wurde mir von rechts wie links zugeraunt.
Und wieder meldete sich die Frau von FunTV. Rabi Tami, Elias
Nelson Schröder und andere setzten elektronische Nachrichten ab.
Die Frau sagte, sie fühle sich durch meine Aussagen und die Art und
Weise, wie kaltschnäuzig sie von mir vorgebracht wurden, geneppt
und gedeppt. „Wollen Sie denn ernsthaft behaupten, ein Sohn Johann
Heinrich Fausts zu sein?“, eiferte die Frau. „Jenem Doktor Faust,
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vor dem es nach Goethescher Machart einem Gretchen grauste und
einem Mephisto gelegentlich auch die Nackenhaare aufstellte wegen
seines erkenntnisgierigen Selbstverleugnertums?“
Mein Rechtsbeistand strich mit beiden Händen über seinen Nacken.
„Wenn Sie das behaupten, Herr Faust, schlussfolgere ich“, setzte die
Frau fort, „dass Sie zumindest von Schüben schizophrenen Betroffenseins heimgesucht werden, die Sie in eine Sphäre geistigen Hochgefühls versetzen, das Ihre Wahrnehmung der Wirklichkeit ins Phantastische manipuliert.“
„Mein Vater hatte auch Zweifel“, sagte ich. „Aber er hat sich Beweise
verschafft. Sogar unsere Blutgruppen sind identisch, sodass ich ihm
mit meinem Blut aushelfen konnte, als er’s bedurfte und …“
Christo de me Phisto schob mich samt Stuhl beiseite, stellte sich vor
mich und sagte: „Mein Klient ist von den Ereignissen dieses Tages
überfordert. Er ist in die Anforderungen des Erfolgs nicht eingeübt.
Seine Nerven sind überreizt. Ich erkläre seine Aussagen für nicht den
Tatsachen entsprechend.“
Das war mir nun doch zu weit hergeholt, dass mir der Rechtsbeistand
unterstellte, ich wisse nicht, was ich sagte. Und so schubste ich ihn auf
seinen Stuhl zurück, was mir ohne größere Schwierigkeit gelang. Und
es ging mir gar nicht mehr nur um mich, dass ich mich behauptete, es
ging auch darum, meinem Vater Johann Heinrich Faust den Platz zu
halten und ihn nicht durch meine Person in Zweifel zu ziehen. Und
ich sagte: „Es war mein Vater, der mir zuliebe seine Stellung ausnutzte
und den Tonsetzer Leverkühn darauf verpflichtete, mir einen Song
für den Superstar-Contest zu komponieren. Und seinen Freund und
Zuarbeiter, sein Name ist mir eben nicht verfügbar, mit dem er aus
privaten Gründen auf immer gebrochen hatte, hat er ebenfalls mir
zuliebe und uns zu Diensten reaktiviert. Ohne die aufopfernde Liebe
meines Vaters und sein vom sicheren Instinkt für mich inspiriertes
Engagement, wäre ich nicht hier. Der Superstar Justus Faust …“
„Noch bist du’s nicht.“ Heiner musterte mich. „Junge, du hast mir
unterschrieben, dass du alle Rechte an dem Titel hast. Text. Komposition. Arrangement. Wenn jetzt jemand – was hast du gesagt, wie
der Typ heißt, Keverlühn oder so? – Ansprüche anmeldet, hau ich dir
alle Kosten, die daraus entstehen, und Rechtsstreitigkeiten sind teuer,
aufs Kreuz. Und da rettet dich auch dein überalterter Advokat nicht.“
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„Herr Leverkühn ist verstorben“, sagte mein Rechtsbeistand. „Sein
möglicherweise rechterelevanter Anteil an dem Titel ‚Wahnsinn’ ist
zur Gänze an Herrn Faust Junior übertragen.“
Ein Zuruf: „Heißt der Herr Leverkühn mit Vornamen Adrian und ist
von hoher literarischer Gestalt?“
„Das eine wie das andere war eine Gegebenheit“, antwortete mein
Rechtsbeistand und beantragte eine Unterbrechung der Pressekonferenz, weil er einem persönlichem Bedürfnis nachkommen müsse!
Und dann verschwand er, ohne eine Reaktion abzuwarten.
Didi freute sich, das gab dem Sender Legitimation, einen Werbeblock
zu schalten, denn die Kosten für dieses musikjournalistische Event,
wie er es nennen möchte, was bisher abgelaufen war, wollten eingespielt sein.
Heiner machte einen geplätteten Eindruck. Er packte mich bei den
Handgelenken und forderte: „Guck mir in die Augen und versuche,
nichts zu denken!“
Ich dachte nichts, jedenfalls bemühte ich mich, dass mir so im Kopf
war, als denke ich an nichts, und blickte ihm in die Augen. Heiner
Hohlens Augen waren blau in der Iris, aber der Rand zum Augenweiß
war unscharf; die Augen vermittelten Wachheit und keinen Deut
Sensibilität.
„Mach die Augen zu“, forderte Heiner. Und er rüttelte so lange an
meinen Händen, bis ich die Augen geschlossen hatte. „Du wirst mein
Superstar, hörst du!“, sagte Heiner. „Also keine Flausen weiter und
keine Verarsche. Man darf dich für beklatscht halten, aber dass du’s
bist, muss keiner wissen. Verstanden?“ Ich nickte. Und Heiner sagte
und streichelte meine Unterarme dabei: „Dann mach die Augen
wieder auf und labre keinen Scheiß weiter. Papa und Mama sind
gegessen. Und die Psychoschiene, alles, was mit schwachen Nerven
und krummem Ego und fragwürdiger Libido zu tun hat, haben wir
nicht zu diskutieren. Dein Titel heißt ‚Wahnsinn’, das ist an Verrücktheit genug. Alles Weitere ist Pop und Geschäft.“ Heiner tätschelte mir
die Wangen und ich öffnete die Augen.
Vor uns am Tisch stand ein Mann, der mich sofort mit seinem Lächeln
nervte. Sein graues Haar war kurz geschnitten, sein Bart ebenso. Er
war elegant gekleidet. In der Brusttasche seines Tweed-Sakkos steckte
ein rosafarbenes Tuch. Die Schuhe waren italienische Handarbeit.
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Didi legte ihm eine Hand auf die Schulter und sagte. „Ich lasse euch
die fünf Minuten allein, Gunther.“
„Ist okay“, sagte Gunther und intensivierte sein Lächeln. Seine Zähne
im Unterkiefer bedurften dringend einer Überarbeitung. „Herr
Hohlen wird mich nicht verspeisen, obwohl er es doch gern möchte,
und Herr Faust wird es mir nicht verübeln, wenn ich ihm mit einem
Ratschlag von Nutzen bin.“
„Auch das noch“, stöhnte Heiner. „Der unvermeidliche Doktor
Krawallo, die bayrisch-fränkische Allzweckwaffe im Kampf gegen
Erfolg und Spaß und für den päpstlichen Erlass nullachtfuffzehn
extra, dass gefälligst wir uns dran halten und statt zu poppen, wir die
Hände falten.“
Krawallo lachte. Und das mochte durchaus ein gottgefälliges Lachen
sein, denn es war depersonalisiert und ohne individuellen Charme.
„Hohlen! Hohlen!“, sagte Krawallo. „Wie lange ist das her, dass ich
Ihnen eine unglaubliche Karriere prophezeit habe? Und meine Betonung liegt auf unglaublich im wortwörtlichen Sinn.“
„So, wie Sie aussehen, war das vor mindestens dreihundert Jahren.“
Heiners Handy klingelte. Er blickte auf das Display. Seine Miene
erstrahlte im Hohlenschen Flair. „Oh! Mein Mäuschen Arabica
Muschella will ihren Rappelbutz sprechen!“ Nun bot seine Miene
Ähnlichkeiten mit einem kleinen Jungen. „Ich lasse euch beide für die
akustische Schmuseeinheit mit meinem Muschella-Mädchen allein.
Aber, Krawallinchen, du polst mir den Knaben nicht um. Versprochen? Ich habe einen schwulen Superstar durchgebracht. Mit einem
zweiten zerreißt mich die vereinigte Kamarilla in der Luft.“
„Was die Mühe wert wäre.“ Krawallo nickte Heiner zu und grinste.
„Aber keine Bange. Ich bin seit Jahren in festen Händen und nicht
mehr in aller Munde.“
Heiner nickte Krawallo ebenfalls zu und entfernte sich, plauderte
dabei ins Handy. Ich sah, dass Kalliope und Theo, die weiter auf ihren
Plätzen in der zweiten Reihe verblieben waren, auf mich starrten.
Klausi und Max standen mit Didi zusammen am Ausgang, redeten
auf ihn ein und es gelang ihm nicht, sich ihnen zu entziehen. Den
schwarzen Pudel, nach dem ich, bestimmt von einer wortfremden
Hoffnung, Ausschau hielt, entdeckte ich nicht.
„Mich Ihnen vorzustellen hat Herr Hohlen unfreundlicher Weise
schon übernommen“, sagte Krawallo. „Dennoch, Gunther Krawallo
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mein Name, Dr. phil.“ Er zupfte das Stecktuch etwas aus der Tasche.
„Ich arbeite als freier Kulturjournalist für Medien im vorwiegend
süddeutschen Raum. Und, Herr Faust, um Ihnen jede Verdächtigung
zu ersparen, ich meine es gut mit Ihnen und nehme, was Sie sagen,
ernst, wenn auch nicht für bare Münze. Und deshalb bewundere
und bedauere ich Sie. Und ich rate Ihnen, lassen Sie das hier hinter
sich. Gehen Sie augenblicklich fort von hier. Zurück zu Ihrem Vater
werden Sie, wie ich ihre Geschichte deute, so ohne weiteres nicht
können. Aber letzt und endlich sind es die Mütter, bei denen wir uns
neu bergen, auch wenn es in ihrem Schoß nicht mehr sein darf.“
Ich getraute mich nicht, Krawallo ins Gesicht zu blicken. Denn mir
war wieder mal zum Heulen und zum Weglaufen sowieso. Und alles
war, das spürte ich wie den Mief in einem jahrelang unbewohnten
Gebäude, gegen mich. Der Mann vor mir war’s, trotz seiner offenkundigen Wohlmeinung, und all die andern ohne Ausnahme, da täuschte
mich keiner mehr. Und der Heiner war, trotz seiner anmaßenden
emotionalen Armut – oder war er’s eben darum? – der Ungefährlichste.
Kalliope fing einen Blick von mir. Sie wiegte ihren Kopf von Bedenklichkeit zu Mäkeligkeit. Ja, alles war gegen mich. Die Zeit, die den
Raum durchströmte und die ich gegen mich anbranden fühlte mit
einer stillen Gewalttätigkeit, sodass ich, verfügte ich auch über eine
bewaffnete Seele, dieser Gegnerschaft nicht gewachsen war. Und der
Raum war gegen mich, denn er erlaubte mir unterm Diktat der gegen
mich anstehenden Zeit, keine Wahrheit. Ich vermochte der Zersplitterung meiner Seele nichts entgegenzusetzen.
„Haben Sie mich nicht gehört, Herr Faust?“ Krawallo wollte mich
berühren, die Bewegung seiner Hand an meinen Arm deutete das
an, aber er unterließ es, als ich es bemerkte. „Sie sind zu sehr allein in
diesem Geschäft. Und Ihre Haut ist zu dünn. Und Ihr Rückgrat nicht
biegsam genug. Und Ihre Vita, und ich kann nur von dem schließen, was ich hier von Ihnen gehört habe, ist zu sperrig. Das lässt sich
nicht begreifen ohne Gebrauchsanweisung. So, wie Sie für sich das
Faustische behaupten, geht es in seiner in Ihnen gegründeten Exklusivität über die dem Klassischen an sich innewohnende und es bedingende hinaus. Ein monumentales Ich als Zeitgenosse, als Zeitgeist,
als imperfektisches Präsens in naturalis wird als feindlich empfunden. Denn die Moderne ist der Zukunft nie voraus, sondern, auch
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wenn’s sich gern anders erklärt, immer hinterdrein. Und Sie, Herr
Faust, sind der Zukunft, wenn auch nur um die Stärke eines Haares
aus dem Intimbereich, voraus, aber dem Imperfekt zu entkommen,
kann Ihnen Fausts wegen nicht erlaubt werden. Und, und dies ist
die Crux Ihrer faustischen Konditionierung, Ihr Wahnsinn ist, gleich
ob als Beschreibung Ihres Geisteszustands oder als Ihr Auftritt beim
Casting bei Heiner Hohlen, der Schlussstein allen Faustischen, weil
es darüber hinaus erkenntnismäßig keine irgend daseinsbedingende
Seinserscheinung faustischer Art mehr braucht. Verstehen Sie, was ich
Ihnen sagen will?“
„Sie sind der freundliche ältere Herr, von dem man besser nichts Süßes
nimmt“, sagte ich. „Aber ich passe doch gar nicht in Ihr Beuteschema.
Ich bin verheiratet. Und meine Frau wird bald unserer gemeinsamen
Tochter das Leben schenken.“
„Herr Faust! Mit mir müssen Sie nicht um die Inszenierung Ihres
Ichs feilschen. Ich bin mit Sicherheit der einzige Mensch im Umkreis
von tausend Meilen, der sich so weit im Faustischen auskennt, dass
er Sie und Ihre Geschichten zuordnen kann. Um es auf den Punkt zu
bringen.“ Krawallo rückte mir näher. „Die Zeit ist reif für einen Faust
Junior Ihres Formats. Denn sie zeugt und gebiert sich ihre Erlösergestalten immer dann, wenn sie nicht länger zu entbehren sind. Wahnsinn hat eben nicht nur Methode, sondern immer ein Gesicht mit
einem Namen dazu. Und er hat immer eine Geschichte, die mehr ist
als die Beschreibung von Ereignissen und deren Abfolge. Ein Faust,
wie Sie ihn bieten, der sich als solcher bekennt und – Sie können sich
doch ausweisen und Ihre Mutter heißt mit Vornamen Helena und
mit Ihrem Halbbruder Euphorion, er muss bei ihrer Geburt schon im
Mannesalter gewesen sein, sind Sie vielleicht auch bekannt? – nicht zu
widerlegen ist, ist Sinnbild der sinnentleerten Sinnhaftigkeit des sinnlosen Sinnens auf die Persönlichkeit des Heutigen. Habe ich mich
verständlich ausgedrückt? Und Ihr Vater und ich, in gewisser Weise
sind wir ja Landsmänner.“ Krawallo blickte mich an. Es war eine
Unruhe in seinem Blick wie in einem Wespenkorb, bevor die Wespen
ausschwärmen. „Ach, ich würde gern das Staunen Ihres Vaters erleben, wenn ich ihn durch die Nürnberger Altstadt führte. Könnten Sie
mir das vermitteln, Herr Faust? Ich würde mich mit einem angemessenen Beitrag zum Faustischen allgemein und exemplarisch an Ihrer
Person und Ihrem Erfolg in der Magazinbeilage der größten Tageszei-
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tung im süddeutschen Raum erkenntlich zeigen. Namen nennen wir
nicht. Auch die schleichendste Werbung bezüglich Heiner Hohlens
gerät ausnahmslos zum Schuss ins eigene Knie. Über die Macht des
Feuilletons muss ich Ihnen doch nichts dozieren.“
„Mein Vater ist, und ich weiß, dass ich mich wiederhole, nur meinetwegen noch einmal aktiv geworden“, sagte ich. „Und dass er meine
Mutter getroffen hat, war Zufall. Aber es sah nicht so aus, als würden
die beiden Stress miteinander gehabt haben. Und Euphorion habe ich
in der Anstalt meines Vaters kennengelernt, flüchtig nur. Er neidet
mir den Vater. Und für unsere Mutter, Helena ist’s, wie Sie wissen,
schämt er sich.“
„Ja, ja“, sinnierte Krawallo. „So ist’s mit dem elterlichen Erbteil. Ich
zum Beispiel werde von meinem Vater beneidet. Um ihn. Weil ich in
ihm einen Vater habe, der nicht schwor, mich umzubringen, als ich
ihm gestand, dass mein Gefallen an Frauen unterhalb der Gürtellinie
ein Ende hat; sein Vater hat in seinem Fall anders reagiert und ihn
ins Joch einer unglücklichen Ehe gezwungen. Ja. Und ich gestehe es
Ihnen, auch ich hatte einmal, da mag ich in Ihrem Alter gewesen sein,
eine innere Bewegung dem Faustischen zu, dass ich glaubte, zu spüren,
einer Berufung nachkommen zu müssen, die der Ihrigen vergleichbar
ist. Nicht, dass ich singen wollte oder mich auf irgend anderen populistischen Kokolores zu versuchen dachte, so weit runter würde ich
nie wollen. Aber ich favorisierte Tiger! Darf ich es Ihnen erklären?
Auch wenn ich es nicht aufs Faustische brachte, denn ein schwuler
Faust, gleich in welcher Rolle, ruiniert’s Faustische in pars und toto.
Obwohl, nicht alles, was zwischen Johann Heinrich und Mephistopheles gelaufen ist, war Wette, Geschäft und sonstige Bündelei.“
Etwas stieß gegen meinen Kopf. Eine Tonangel wurde ungeschickt
eingezogen. „Sorry“, sagte der vollbärtige Tonassistent. „Und danke,
das war sendereif gesprochen.“
Und auch Heiner kam zurück, seine Laune war unter null. „Hör mir
gut zu, Faustchen! Meine Muschalla hat irgendwas in den Nachrichten gehört, dass jemand geplaudert hat, dass du mal auf Drogen warst?
Und dass du heute, und dafür soll es Zeugen geben, einen promovierten Therapeuten krankenhausreif geprügelt hast? Junge, du bist der
lumpenfetzigste Blitzprominente allzeit.“ Heiner stieß Krawallo zur
Seite. „Dieser Herr ist kein Umgang für dich. Wir wuchten jetzt die
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zweite Runde hinter uns. Didi muss noch das übliche Blabla in den
Kasten bringen. Und danach gehst du bei mir an der Kette.“
„Ich hätte das mit den Tigern durchziehen sollen“, sagte Krawallo.
„Ich wollte so viel Tiger in die Welt bringen, meine Programme
dafür waren allesamt veritabel, bis sie die Menschheit unter Kontrolle
halten konnten. Meine Tiger sollten das Korrektiv der Zivilisation
werden. Und damit wären zumindest Sie, Herr Hohlen, uns erspart
geblieben.“
„Den Tiger, der mich verdaut, gibt’s nicht“, sagte Heiner. Er drückte
mich wieder auf den Platz in der Mitte des Podiums.
Mein Rechtsbeistand nahm wieder links von mir seine Position ein,
ich war Luft für ihn.
Didi eröffnete mit der Bemerkung, dass er es nicht versäumen
dürfe, eine anwesende, prominente Autorin zu begrüßen. Er ging
zu Kalliope. Die stand auf, verbeugte sich nach allen Seiten, obwohl
verstärkte Aufmerksamkeit sie betreffend nicht zu registrieren war.
„Kalliope von Scharich“, rief Didi. „Die angesagteste Kultautorin
nicht nur hier in der Hauptstadt. Sie hat uns den Frust als der Lust
zugehörig und deshalb als guten Makel und nicht als Minderwertigkeit begreifen lassen. Kalliope, ich begrüße dich!“
Didi und Kalli umarmten einander. Theo hielt seine Beine bewusst
ausgestreckt, damit die beiden in den unteren Regionen den Abstand
wahren mussten. Der Beifall war spärlich. „Kalliope, du weißt, wie
sehr ich dich schätze“, sagte Didi. „Und darum, bitte, sage du uns,
was du von, ich sage es salopp, ‚Wahnsinn’ hältst! Und du wärst ja
nicht hier, wenn’s dich nicht auf die eine oder andere Art aufregen,
anregen und erregen würde?“
Kalliope nahm Didi das Mikrofon aus der Hand. „Das ist schon
Wahnsinn mit dem ‚Wahnsinn’“, sagte sie. „Aber nicht der Song,
nicht der Interpret, nicht dieser sensationelle Einstieg in die Charts
sind es! Der wirkliche Wahnsinn ist, und ich bringe es auf die knappste Formel, Faust!“
Didi wollte das Mikrofon zurückziehen, doch Kalli gab es nicht her,
sodass er seinen Kopf senken musste. „Das ist mir zu knapp formuliert“, sagte er.
„Ich meine“, machte Kalliope weiter, „dass uns Faust seit heute wieder
etwas zu sagen hat. Im Alltag. Und nicht nur auf dem erhobenen
Forum eines Theaters oder eines literaturtheoretischen Versuchs. Das
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Faustische in uns wird in einer Art angesprochen, dass es zurückspricht. Das ist für mich die Sensation.“
Während Kalliope sprach, pochte Christo de me Phisto an meine
Schulter und flüsterte: „Mach dich auf eine Überraschung gefasst,
Justus. Wenn ich es richtig deute, haben die Scouts von Didi-Media
deinen Vater und deine Mutter ausfindig gemacht. Und das in einem
Stundenhotel in der Kurfürstenstraße und in eindeutiger Aktivität.
Und nun soll hier so was wie eine Familienzusammenführung stattfinden. Ich kann dagegen nichts tun.“ Ich zeigte mit keiner Regung,
dass ich meinen Rechtsbeistand verstanden hatte. „Sie machen ihre
Show, nicht deine oder unsere. Nicht mal Heiner soll informiert sein.“
In der ersten Reihe saß, wie er sich dort hatte platzieren können, war
mir entgangen, Dr. Krawallo. Er blickte mich so versonnen an, wie
man einen Nippes zum letzten Mal betrachtet, den man, obwohl er
unversehrt ist und keine andere Dringlichkeit dafür besteht, ausräumt
aus seinem Inventar; man wird das Stück in Erinnerung behalten,
aber nie wieder in die Einrichtung übernehmen. Und ich wusste:
Dieser Mann hatte sein Leben lang auf die Konfrontation mit seinem
Ich gewartet und er hatte sie in dem Gespräch mit mir vor Minuten
an diesem Tisch gehabt. Und das hatte ihm seinen eigenen Frieden
ermöglicht. Und ich sah ihn auf einem großen, im matten Glanz
seines streifigen Fells, mit erhabener Souveränität über alles dahin
schreitenden Tiger, dem zu den Seiten und ihm nach unzählbare
folgten, verschwinden. Wir nickten einander zu. So viel und so klare
Erkenntnis bis in den Grund brauchten keine Worte. Und sowieso
findet jeder Raum seine ihn ausdeutende Bedenklichkeit, wenn das
Geschehen in ihm als ein Ungeschehen seine substanzielle Größe
erweist.
„Kalliope, meine beste Freundin“, machte Didi weiter. „Ich stimme
dir zu. Dennoch – sieh dir, ich bitte dich, unseren Superstar in spe
genau an – verträgt Faust als phänomenales Subjekt einen solchen
Protagonisten? Oder ist, wenn Faust von jedermann in Gebrauch zu
nehmen ist, dies nicht auch seine Eliminierung? Ein Osterspaziergang
zum Vormittag und eine Höllenfahrt zum Abend und das die Woche
durch, Woche für Woche und noch einmal und noch einmal, da wird’s
doch zur Plage und zur Pein, das Klassische wird zum Gebrauchsmüll,
nimmt man’s vom Podest des beispielhaft Vollkommenen. Oder?“
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„Für alles, also auch fürs Klassische, gibt es einen Progress ins Entbehrliche“, sagte Kalliope. „Die Vermüllung des Kulturellen muss nicht
beklagt werden, sondern nur, und das nicht vielleicht, konsequenter betrieben sein. Aber einmal muss oder sollte, in jedem Fall ist es
ein imperativer Impuls, jeder sein faustisches Déjà-vu haben und es
durchstehen.“ Kalliope lehnte sich an Didi. „Du erlaubst, dass ich es
vortrage? Vielleicht findet der Superstar in spe eine Entsprechung für
sich darin?“
„Es geht hier und diesmal nicht um Sie und die Politur Ihres Ich’s,
Frau von Scharich“, sagte Heiner. Und an Didi gerichtet sagte er:
„Halten Sie uns beim Thema, Meister!“
Didi zuckte gegenüber Kalliope bedauernd die Schultern.
Und Kalliope sprach mich an. „Es ist ein Text, der das Bild deines
Vaters ergänzt und ihn uns näherrückt.“ Sie stieß Theo an. Der sprang
auf und verteilte so blitzeschnell, dass man’s geschehen lassen musste,
an jeden Anwesenden ein Blatt Papier. Und Kalli machte die Überrumpelung perfekt, indem sie sofort vorzutragen begann, was jeder
vom Blatt mitlesen konnte. Weder der Protest meines Rechtsbeistands, der infolge eines Hustenanfalls Christo de me Phistos nicht in
aller Konsequenz artikuliert werden konnte, noch Heiners Versuch,
den Regisseur mit Gestik zu instruieren, den Vortrag technisch zu
sabotieren, bremsten Frau von Scharich.
„Die Nacht mit Johann Heinrich F.“, sagte Kalliope von Scharich.
„Ich habe unmittelbar nach dem Erwachen nach dem Tag meines
neunzehnten Geburtstags geschrieben. Ich war, bis auf die körperliche Marginalie in meiner Vagina, durchdringend defloriert. Also
noch einmal: „Die Nacht …“, ich las auf dem Blatt mit, was Kalliope
vortrug, „… mit Johann Heinrich F. / der gehasste Geliebte liegt mir
zu Füßen / nicht / dass uns wieder einer das Licht ausbläst, bevor
wir es verschlungen haben / nicht / dass wer wieder will, wir sollten
uns verbeißen Fell in Fell und das Fleisch Pans verspeisen zur Vesper
zwischen den Lagern / nicht / dass die Liebe wieder schreit nach
jedem Stoß mit dem kleinen Säbel, weil’s der andere mitfickt so kalt,
so heiß und sein Saft der Sprengstoff in meinem Hymen ist / nicht
/ weil was uns eint, die Welt nicht teilen wird: Wir waren Stein und
wir sind Wort / von allen Ufern treibt’s uns fort / die Ohnmacht ist
uns Macht genug / wir wälzen uns in Schein und Trug. / Im Schädel
ist unser Reich und Hort / nicht / du schlugest mich an Himmels-
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wände / nicht / weil das All zu klein uns wär’ / nicht / dass der Raum
zu zeitlos wäre und raumlos uns die Zeit nicht so und neu gebäre /
nicht / dass ich im Schaum unserer Lust den Rest deiner zerfallenen
Seele köre als nimmersatte Nummerngöre / nicht / aber es trägt mit
zarten Schwingen dein Zauberwort mich ins Palais der Horen und
der Höllenzinnen / nicht / du hast’s in der Hand, was Faust verbirgt
und ich tanz nicht / nicht / nach Melodien, die jede irdentoll bezirzen : Wir wollten nicht in Stein und Wort / wollten am Ufer bleiben
und nicht fort. / Macht für Ohnmacht, was für Trug / im Gras sich
wälzen, der Seele wär’s genug. / Das Reich im Schädel als trauter Hort
/ nicht / im Morgen finden wir uns nicht / nicht / scharf genüge war
die Nacht und im Gefüge deiner Pracht zerrieb es sich in unseliger
Minneheuchelei / nicht / dass wir uns betrogen, es gab kein anderes Mal / nicht / weil, es wär’ gelogen, dass wir nahmen Liebe und
gaben Qual für Qual : Du hattest die Geschichte, lagst fest in aller
Zeit / nicht / ich wollt, dass es sie neu gewichte durch mich mit dir
und ohne Gerichte, doch war’s noch nicht bereit. Gretchen, sagtest
du, ich kehr zurück vorm neuen Buch. So verschwieg ich meinen
Namen, biss mir die Lippen dicht im samenschweren Tuch. Und wir
verleugneten nicht / nicht / den Rauch, der aufstieg hinter uns / nicht
/ : Gemeinsam.“
Damit beendete Frau von Scharich ihren Beitrag. Didi verdrehte die
Augen und atmete hörbar schwer, ob beeindruckt von der dichterischen Wucht des Textes oder erleichtert, dass Kalliope das Zeitfenster
der Sendung zwar strapaziert, aber nicht gesprengt hatte, erklärte er
nicht, sondern er kalauerte: „Das war ein Pfund großer Dichtung,
wenn auch nicht immer schön und wahr. Doch dringlicher ist die
Verpflichtung, was bedeutet’s unserem Superstar?“
Befreiende Lacher. Ein Pfiff. Kalliope gab sich düpiert. Sie tuschelte
erregt mit Theo, der sich gegen ein Ansinnen ihrerseits zu verwehren
schien. Didi wendete sich an mich: „Ja, Herr Faust, ich koloriere den
Beitrag von Frau von Scharich einmal wenig respektvoll und frage Sie,
ist Ihnen dadurch eine Seite Ihres Vaters entdeckt worden, die ihn
Ihnen näherbringt? Begreifen Sie dadurch etwas von sich, das für Sie
bislang verrätselt war?“
Ich wusste nicht, was Didi beantwortet haben wollte und welchen
Sinn es machen sollte, hier weiter meinen Vater abzuhandeln. Aber
mein Rechtsbeistand ergriff rechtzeitig das Wort. Er sagte: „Der
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Beitrag der Dame aus der zweiten Reihe war gleichwohl anmaßend
und unpassend und eine Zumutung für jedes moralische Empfinden.
Faust als Callboy, als Dienstleister eines manischen Unbefriedigtseins,
als Baustein einer kryptischen Perversion; das ist abzulehnen und
auch, auch wenn es als Dichtung zu beweisen sein sollte, justiziabel.“
„Ich meine, äh“, war von Heiner zu vernehmen, „wir stellen hier
einen angehenden Superstar vor und bieten kein Forum für die nachgereichten Ergüsse aus den Phasen eines, zugegeben etwas extravaganten, Jungmädchenwahnsinns. Ja.“
„Wenn ich Frau von Scharich richtig verstanden habe“, sagte Didi und
wendete sich Kalliope zu, die wie versteint auf ihrem Platz saß, „dann
wollte sie dem Wahnsinn, der der Anlass dieses Gesprächs ist, nicht
Vergleichbares oder Ergänzendes zur Seite stellen. Oder?“ Kalliope
reagierte nicht. „Sie wollte, so verstehe ich es, dem Wirken und dem
Prinzip des Faustischen, das auch unseren Superstar antreibt, einen
Nachweis schaffen. Oder, Kalliope? Wie sollen wir dich verstehen?“
Frau von Scharich erhob sich wieder. „Niemand soll mich verstehen“,
sagte sie. Ihre Stimme war gealtert, sie klang, als würden ihr die Laute
über der Zunge zerbrechen. „Ich muss hier raus“, stöhnte sie und
drängte sich rücksichtslos aus der zweiten durch die erste Reihe. „Mir
ist übel. Mich ekelt’s. Was hier abgeht ist Trash. Und du!“ Sie packte
Didi beim Sakko, zog ihn vor sich. „Du warst mal wer! Und was bist
du jetzt?“
„Ich mache eine Sendung“, sagte Didi und versuchte, aus Kalliopes
Griff zu entkommen. „Was wirfst du mir vor? Ich habe dir drei Minuten gegeben. Drei Minuten Sendezeit, weißt du, was das für eine
Chance ist?“
„Danke, Herr Showmaster!“ Kalliope stieß Didi zurück. „Drei Minuten sind eine Ewigkeit als Scham.“ Sie stellte sich vor die Mitte des
Podiums und direkt vor mich. „Sind wir noch live, Didi?“ Sie wirkte
verzweifelt. „Sage mir, dass wir noch live sind! Wir müssen diesen
Wahnsinn brechen. Gleich. Konsequent.“
„Ich warne Sie“, sagte mein Rechtsbeistand. „Wenn Sie den Ruf
meines Klienten finanziell relevant schädigen …“
„Halt’s Maul, Mephisto“, sagte Kalliope. „Einmal bricht die Zeit dem
Teufel das Genick. Du dienerst dich nicht mehr hoch.“
„Heh! Äh! Was ist hier los? Was geht hier ab?“ Heiner fuchtelte mit
den Armen. „Was ist das für ’n Film hier?“
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„Lasse es dir nicht kaputtmachen“, sagte Kalliope zu mir. „Vor allem
deinen Wahnsinn nicht. Glaube an das, was in deinem Kopf ist.“
„Auch an das, was in meines Vaters Kopf ist?“, fragte ich.
„Das erste Verbrechen an uns kommt immer von den Vätern, weil
sie’s den Mütter antun mit uns.“ Kalliope lächelte, obwohl sie sah,
dass Didi den Ordnern Zeichen gab, sie aus dem Raum zu schaffen.
„Aber wenn es Fausts Kopf ist, den du meinst, wirst du in der Unermesslichkeit seiner Dimensionen zerschellen. Denn dann ist im Kopf
des Vaters der Hort deines Selbst.“
„Das heißt, ich muss meinen Vater töten, damit mein Selbst freikommt?“
„Ja“, antwortete Kalliope von Scharich. „Du musst Faust töten. Das
ist dein Auftrag als sein Sohn.“
„Ein Scheiß ist das“, krächzte Heiner. „Geht das Gelaber über den
Sender, Leute?“ Er machte Anstalten, auf Kalliope loszugehen.
„Machen Sie sich davon, Frau von! Ihr Begattungstrauma ätzt.“
Die Ordner packten Kalliope von links und rechts, hoben sie an,
sodass ihre Füße keinen Halt fanden auf dem Boden, und trugen sie
hinaus.
Gejohle. Pfiffe.
Nun stand Theo auf. Er hielt den Kopf gesenkt und stimmte an: „Bist
du verrückt, dann kannst du …“ Und schon drei Takte später hatte
es alle erfasst und es klang: „In deinem Wahnsinn bist du …“ und
so weiter. Nur noch drei Schritte von der Tür entfernt, ließen die
Ordner, in denen ich jetzt erst die Kraftatzen aus der Anstalt wieder
erkannte, Kalliope los. Die drei standen dort und sangen, als würden
sie mit dieser Hymne sich auf einen Kampf einschwören. Didi dirigierte den chorischen Ausbruch, behielt dabei Theo im Blick und
achtete darauf, dass die Kamera ihn als Initiator des Rummels ins
Bild setzte. Heiner war aufgestanden, korrespondierte mit Didi, dass
die Wende, die es genommen hatte, genau das richtige für die Sache
war. Er versuchte, auch mich zum Mitsingen und Mittun zu animieren, aber was ablief, war nicht mehr meins. Mein Wahnsinn war mir
entglitten, ich gehörte nicht zu ihm und nicht mehr dazu und nicht
zu denen, die sich irgendwie darin verwirklichen konnten. Was die
andern packte und sie verführte, sich in Szene zu setzen, stieß mich
nun ab. Ich hatte einen neuen Schmerz am Leben, das empfand ich,
aber zu sagen, was es war und wie und warum es wehtat, da zu sein,
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war mir nicht möglich. „Leben tut hier nicht weh“, sangen die anderen. Und ich fühlte, dass mir ein ganz anderer Schmerz bevorstand als
jenes zage Weh vom Ungenügen in den Ansprüchen des Daseins. Ich
dachte an meine Frau und mein Kind. Ich sah Walpurgia vor mir. Sie
strampelte und versuchte, mit ihren Patschhänden in mein Gesicht zu
greifen. Sie war ein niedliches Kind, obwohl ihre Augen fast doppelt
so weit auseinanderstanden, als es die Norm war, und ihr Mund quallenartig breit unter einer knolligen Nase nach Luft schnappte. Ihre
Mutter Marie Anne ordnete unserer Tochter das spärliche, farblose
Haar hinter die Ohren. Warum meine Tochter mich nicht anblickte,
dafür fand ich keinen Grund. Und ich wollte sie vor die Leute führen,
meine Frau und meine Tochter, wollte mich in aller Öffentlichkeit zu
ihnen bekennen und nicht das Verhalten meines Vaters wiederholen,
aber die beiden Weibsbilder blieben stur. Sie folgten weder meinen
Winken noch Rufen und wenn ich sie greifen wollte und mit mir
nehmen, gelang es ihnen jedes Mal mit den bizarrsten Finten, mir
zu entkommen. Besonders Walpurgia gelangen Sprünge und Purzelbäume, die nicht zu erwarten waren. Sie war ein Kleinkind, wenn
auch mit physiognomischen Symptomen einer topischen Frühreife;
es mochte sein, dass die abenteuerlichen Gene ihres Großvaters in ihr
stärkere faustische Qualitäten entwickelten als in ihm selber. Und der
Erbteil mütterlicherseits war auch nicht zu unterschätzen. Und ich
sage: Marie Anne, nun bringe das Kind doch zur Vernunft und sei
auch du etwas angepasster! Mag’s dein Vater nicht, dass wir auffallen
vor den Leuten, sagt meine Frau und reibt ihre Nase an Walpurgias
Nase, die ferkelartig quietscht und grunzt vor Vergnügen. Wir dürfen
nicht so viel von deinem Vater erwarten, sagt meine Frau zu unserer
Tochter, die Söhne großer Männer sind oftmals großartige Kleinbürger, auch, wenn sie’s zum Superstar schaffen und exklusive Pressekonferenzen geben.
„Das gehört hier nicht her“, fuhr ich Marie Anne an. „Hier gelten
andere Maßstäbe für uns.“
„Haben Sie was gesagt, Herr Faust?“ Didi stand vor mir, bedeutete
mir, ins Mikro zu sprechen. „Was haben Sie gesagt? Sind Sie auch so
ergriffen von Ihrem Titel wie wir?“
„Nein“, antwortete ich.
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„Der Junge ist fertig“, sagte Heiner. „Der hat heute ein Programm
abgespult, das hätte auch einen Profi von der Rolle gespielt. Äh! Wir
sollten Schluss machen.“
„Ja“, sagte Didi. „Oder gibt es noch Fragen? Wenn es keine Wortmeldungen mehr gibt …“
„Ich habe noch eine Frage.“ Es erhob sich ein kleiner, untergewichtiger Mann. In seinen Brauen, an der Nase und an den Lippen blitzten
Piercings. Seine Stimme war, obwohl sie ohne besondere Charakteristik blieb, unangenehm.
Und ich sah Marie Anne mit unserem Kind in den Armen den Raum
durchqueren und ich wollte ihr folgen. Doch Heiner hielt mich
auf meinem Platz. „Das ist ein Mann von der New-Media-Group“,
flüsterte er mir zu. „Nicht unwichtig, der Bursche, den müssen wir
noch mitnehmen.“ Er nickte Didi zu, der ihn fragend ansah. Erst jetzt
bemerkte ich, dass mein Rechtsbeistand, der die linke Seite besetzt
gehalten hatte, nicht mehr anwesend war und dass auch Kalliope den
Raum verlassen hatte. „Bitte“, sagte Didi zu dem Mann, der sich von
einer Zehenspitze auf die andere hievte. „Aber fassen Sie sich kurz,
bitte!“
„Ja, Herr Faust, wir werden das Phänomen der Wirkung Ihres Titels
hier nicht ergründen, so viel dürfte außer Diskussion stehen. Deshalb
eine Frage zu Ihrer Persönlichkeit. Verfügen Sie noch über andere
Talente? Malen Sie zum Beispiel? Oder schreiben sie? Oder …“
„Ja“, sagte ich. „Ich habe schon mal was geschrieben. Einige wenige
Seiten. Siegfrieds Seufzer.“
„Wer ist Siegfried?“, fragte der kleine Mann.
Und Heiner raunte mir zu: „Vorsicht. Bleib bei deinem Wahnsinn, da
hältst du dich auf der sicheren Seite.“
„Ja“, sagte Didi. „Wer ist Siegfried, Herr Faust?
„Der mit dem Lindenblatt und der dicken Haut“, sagte ich. „Der
Held.“
„Sie haben die Nibelungen bearbeitet?“, fragte jemand aus dem Publikum. „Gibt es eine inspirative Verbindung zwischen Ihrem Titel und
diesem urdeutschen Mythos? Ich meine – es verblüfft mich, obwohl
es mit teutonischer Logik begründbar wäre, vom Siegfriedschen
Nibelungen-Mythos zum Faustischen zu denken – Wahnsinn ist eine
Kraft, die nicht weiß, was sie will und dennoch schafft.“
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Didi bemühte sich, den Frager ausfindig zu machen. Es gelang ihm
nicht. Zumal ein schwarzer Pudel, der von irgendwoher in den Raum
gelangt war und durch die Reihen stromerte, einige Unruhe stiftete.
Aber ich antwortete wieder mal drauflos wie immer, wenn’s um die
Seufzer gegangen war. „Das ging von meinem Vater aus. Er hatte
Probleme, sich damit abzufinden, dass ich Superstar werden wollte.
Aber gegen einen berühmten Sohn hatte er nichts. Schreib was,
verlangte er. Und da es ziemlich langweilig war in der Anstalt, das
Reich meines Vaters in Gänze zu beschrieben, ist hier nicht notwendig, und mein Freund, der Homunkulus Nikolaus, mir ebenfalls
zuredete und auch versprach, einen Text zu verfassen, habe ich es
gemacht. Aber meinem Vater hat’s nicht zugesagt. Und er wusste es
auch besser. Und hätte er mir vorher gesagt, dass er vor Ort gewesen
war, als das passierte mit Siegfried und dem übrigen Schmarrn, ich
hätte ihm besser eine Nacht beschrieben, die ein Schmetterling war
oder so was in der Art, wie es Nikolaus machte, ein bedenklicher
Raum ist ja in jedem Fall ein offener Raum. Aber Siegfrieds Seufzer!
Wie schon gesagt, mein Vater war enttäuscht. Aber ohnedem hätte er
Leverkühn womöglich nie darauf verpflichtet, für mich zu komponieren.“
„Klapp den Kopp zu“, ranzte Heiner mich an. „Und geh auf Tauchstation.“ Er rückte eine Stuhlbreite von mir ab. „Wenn hier einer sagt,
dass du krank bist, bist nicht nur du geliefert.“
Aber damit bremste er mich nicht. „Außerdem verfügte mein Vater
über hervorragende Musiker. Und für sein Reich ist mein Titel, so
sehe ich es von diesem Platz aus, der reinste künstlerische Ausdruck
exemplarisch kollektiver Empfindlichkeit, er ist seinem Volk vom
Maul abgeschaut, aber so nachgeplappert – so würde mein Freund
Nikolaus, der Homunkulus es gesagt haben, wäre er noch am Leben
–, dass es überall verstanden wird. Überhaupt ist, wenn ich das noch
sagen darf, im Reich meines Vaters die Verbindlichkeit der dort
Anwesenden effizienter. Man kennt sich nicht nur, sondern ist durch
Geschichten miteinander verbunden. Und diese Geschichten haben
allesamt existenzielle Wertigkeit. Zum Beispiel, ein Mörder! Oder ein
Chronist, zum Beispiel. Oder der Homunkulus. Sie bleiben mit ihrer
Geschichte über ihren Fall hinaus sozial-kultureller Fundus. Auch
wenn Leverkühn sich mit der Komposition für mich so in seinem
Anspruch auf Kunst verriet, dass er nicht weiterleben konnte im
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Gewohnten, bleibt er im faustischen Refugium in seinem Wert unangetastet. Oder, um noch ein Beispiel zu geben, Mephisto! Er ist dort
…“
„Halt! Stopp! Ich muss Sie unterbrechen, Herr Faust“, sagte Didi. Er
deutete ins Publikum. „Wir haben Wortmeldungen!“
Zwei Männer fragten gleichzeitig im gleichen Wortlaut. „Hat das
Reich Ihres Vaters eine Adresse, Herr Faust? Wenn ja, können Sie sie
uns bekannt geben?“ Und eine Frau fragte: „Gehören Sie einer Sekte
an? Mir ist es unheimlich mit Ihrer Darstellung. Ihr Titel hat mich
begeistert. Aber nach Ihren jetzigen Ausführungen!“ Und ein anderer fragte: „Herr Faust, an was glauben Sie? Haben Sie eine religiöse
Konfession? Wenn ja, welche? Denn, wenn ich Sie richtig verstanden
habe, wollten sie von Mephistopheles erzählen, vom Teuflischen also,
wie von einer Realität? Aber wir wissen doch, der Teufel oder Satan
ist ein Korrektiv zum Göttlichen. Mephistopheles ist – gleich Gott –
eine Erfindung, eine Verschriftlichung aus dem Grund einer idiopathischen Verletzung des allgemeinen Sensoriums und kein exemplarisches Individuum. Also, entweder Sie sind ein Scharlatan oder …“
Weiter konnte der Mann nichts ausführen. Der schwarze Pudel sprang
ihn in der Diagonalen des Raumes an, verbiss sich in seinen Hals,
zerrte ihn zu Boden. Dabei gab er keinen Laut von sich, schnappte
aber nach jedem, der ihm ans Fell wollte.
Sofort war Panik. Didi versteckte sich hinter Heiner, der als einziger völlig kaltschnäuzig auf seinem Platz blieb und sein Hohlensches
Grinsen zur Abwehr aufbot.
Gegen den Strom der aus den Raum Drängenden kämpften sich zwei
Streifenpolizisten herein. Sie traten auf den Pudel ein, brachten ihn
damit aber nicht dazu, von dem Mann abzulassen. Schließlich zog
einer seine Dienstwaffe, lud sie durch und setzte die Mündung des
Pistolenlaufs auf die Stirn des Hundes.
„Herr im Himmel“, sagte Heiner. „Das ist Horror vom Feinsten.“
Didi vergrub sein Gesicht an Heiners Nacken. „Ich bin geliefert“,
schnaufte er. „Ich kriege nie wieder eine Sendung.“
Heiner lockerte Didis Griff um seinen Hals. „Es müsste mit dem Teufel
zugehen, wenn unser Weltruhm nicht jetzt erst richtig anfängt!“ Und
er rief dem Polizisten zu: „Knall das Vieh ab!“
„Ich bring’s nicht“, rief der Bulle. „Ich drück ab, aber nichts!“
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Und dann knallte es doch und der schwarze Pudel war verschwunden. Es roch artgerecht nach schwefeligem Pulverdampf und einem
Aroma, wie ich es gelegentlich in den gekrümmten Zonen im Reich
meines Vaters wahrgenommen hatte und das aus der unsichtbaren
Asche der verlorenen Zeit entströmt.
„Ich war’s nicht“, stammelte der Polizist und drückte, um seine
Behauptung zu unterstreichen, wieder den Abzug. „Es funktioniert
nicht.“ Aber diesmal funktionierte es doch und der Schuss krachte
ungleich lauter als jenes Geräusch, mit dem der schwarze Pudel sich
verabschiedet hatte. Das Projektil schlug direkt über Heiner, Didi
und mir in die Decke. Zerbröselnden Putz rieselte auf uns herab. Und
Heiner sagte wieder: „Herr im Himmel! Das vergesse ich mein Lebtag
nicht!“
Didi war auf den Boden gesunken und wimmerte: „Ich kann mir ’n
Strick nehmen. Ich häng mich auf. Ich mach Schluss. Das ist mein
Ende.“
Der Mann, den der schwarze Pudel mit einem Biss in die Kehle zum
Schweigen gebracht hatte, kam wieder auf die Beine. Er war unverletzt, an seinem Hals war nicht die geringste Spur von einem Hundezahn. Er lief mit unsicheren Schritten auf mich zu, streckte einen Arm
vor, als wollte er mich aufspießen. „Siesiesie“, stammelte er. „Sie sind
der Teufel, Sie wollen den Wahnsinn zur Daseinsbestimmung etablieren, Sie wollen die Vernunft aus der Welt bringen, Sie, ja Sie, waren
das Untier, das mir an die Kehle gegangen ist, Sie sind, und der Deckmantel faustischen Gelocks verbirgt es nicht, obwohl’s eine bessere
Wahl nicht getroffen hätte, der Antichrist. Ein medialer Superstar
in Erlösermanier als letztlicher Weltenverderber, das sind Sie. Justus
Faust mit Namen und derart eingeübt ins Szenario des Verführerischen heutiger Notwendigkeiten, dass die Frage, wer dahintersteckt,
sich selbst verneint mit der Antwort: Was dem vorausging.“
„Nun halt mal die Luft an, Frotzel!“ Heiner stand auf, packte mich
beim Arm und zog mich hoch. „Wo ich bin, wo ich mich arrangiere,
geht’s immer, und wie auch immer die Sache sich konkret entwickelt,
um Trallala. Ich bin ein Pop-Titan und kein Monster-Philosoph, der
mit diesem Faustchen …“, er schüttelte mich, „… die Welt an den
Abgrund bringt.“
„Und du, Hohlen, du poppiger Titan!“ Der Mann schlug einen Fuß
gegen den Tisch, sodass dieser Heiner vor den Leib stieß. „Deine
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Schonzeit ist vorbei in meinem Blatt. Wir knallen deine blöde Fresse
ab heute so aufs Titelblatt, dass dein negativer Intelligenzquotient
daneben nicht mehr angegeben werden muss. Und merke dir, ich
heiße nicht Frotzel!“
„Äh“, machte Heiner. „Heißt du Fotzel?“
„Ich heiße Mrotzel“, kreischte der Mann. „Und das weißt du. Und
du weißt, wen wir erledigen wollen, den erledigen wir. Wir sind nicht
umsonst das auflagenstärkste Blatt in diesem Land.“
Heiner schüttelte sich. „Brrrr! So versucht dieser Frotzelito schon seit
Jahren, mir Angst zu machen“, sagte er zu mir. Er schob den Tisch so
heftig zurück, dass er Mrotzel mit der Kante unter dem Brustkorb traf
und dem die Luft weg blieb.
„Hilfe!“, schrie Mrotzel nun und blickte sich nach den Polizisten um.
„Polizei! Hilfe! Hohlen hat mich angegriffen. Ich bin verletzt. Hilfe!“
Aber die beiden Polizisten standen in der entferntesten Ecke und
tuschelten miteinander, um den Grund für die Anwendung der
Dienstwaffe fürs Protokoll zu verabreden. Sonst war nur noch Didi
anwesend. Und der sagte: „Wenn dich die Töle totgebissen hätte, Frotzel, oder wenn der Bulle statt in ’ne Decke, dich getroffen hätte, das
hätte den Richtigen erwischt. Aber wie lautet der Satz vom Unkraut,
das nicht vergeht?“
„Und Sie, Dietersen, können Ihre karierten Showhosen auch an den
Nagel hängen. Das wird ein Abwasch, Sie mit zu erledigen Und Sie!“
Mrotzel hielt mir einen Finger unter die Nase. „Sie sind ein Vatermörder, auch wenn Sie keinem Faust ein Messer in den Rücken stoßen.
Wenn Faust begreift, was für ein Früchtchen er mit Ihnen in die Welt
gesetzt hat, fährt er freiwillig Arm in Arm mit Mephisto höllenwärts.“
„Frotzel“, sagten Heiner und Didi unisono. „Du nimmst es wieder
mal zu ernst.“
„Strull drauf“, sagte Mrotzel. „Es ist ernst. Wenn so ein Typ und so
eine Geschichte so weit nach vorn kommt – ob als Superstar oder als
Superdog oder als Superlover ist ohne Bedeutung –, auch wenn so
krumme Hunde wie ihr dahinterstehen und mir nur zum Spaß, so
sollte es aussehen, eine stinkende Töle an den Hals springt, es ist ein
Zeichen der Zeit, dass das Nebensächliche sich erhebt und die Spreu
sich über den Weizen stellt und das neue Paradigma des Existenziellen ohne moralische und evolutionäre Konstanten auskommt. Mit
diesem Bürschlein …“, Mrotzel stieß mir einen Finger vor die Brust,
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„… ist das Faustische, der Trieb zur Erkenntnis und zum Wirken
über den Tag hinaus, erledigt. Wird er Superstar, kann Gott uns in
aller Legitimität seinen Himmel endgültig verriegeln und das Jüngste
Gericht als ultimativer Fun-Event von der Heiner-Hohlen-Holding
veranstaltet werden. Meine Herren und Hosenscheißer!“ Mrotzel
verbeugte sich. „Ich wünsche Ihnen weiterhin einen ertragreichen Tag
und dicke Eier.“ Mrotzel verließ den Raum.
Heiner rief ihm nach: „Grüße deine Chefs, Frotzel! Und richte unsere
Glückwünsche aus. Sie haben mit dir die Superbirne der Nation in
der Redaktion.“
Didi wurde über sein Headset kontaktiert.
Heiner zog mich mit sich. „Da bist du an deinem ersten großen Tag
ja richtig durchs Feuer gejagt worden“, sagte er. „Aber Heiner lässt
dich nicht verbrennen. Diese Klugscheißer und Buchstabenakrobaten
schüchtern einen Heiner Hohlen nicht ein. Frotzel wird morgen eine
Schlagzeile fürs auflagenstärkste Blatt dieses Landes liefern, die die
Superstarmania um dich noch mal pushen wird. Das Contra, das du
da kriegst, brauchen wir. Und wir geben contra zurück. Wir faken
‚Wahnsinn’ so lange, bis keiner mehr zwischen verrückt und nicht
verrückt unterscheiden kann.“
Didi drängte sich zwischen uns, legte Heiner wie mir eine Hand auf
die Schulter. „Kommt mit“, sagte er. „Ich habe eine Überraschung!“
„Heh!“ Heiner klatschte in die Hände. „Didi Dietersen, das Stehaufmännchen vom Dienst, hat wieder Betriebstemperatur!“
„Wenn der Hund richtig zugebissen hätte, wenn Frotzels Blut in
meiner Sendung geflossen wäre, dann wär’s das gewesen mit meiner
Sendung und meinen karierten Showhosen“, sagte Didi. „Aber so
lange es bei Worten bleibt! Es lässt sich alles widerrufen und widerlegen. Und vergessen wird’s sowieso. Erinnerst du dich, Heiner, wie
wir den großen Zampano Frido Haupt angeschmiert haben? Zum
Schluss hätte er geschworen, Luther und Münzer wären bei der Geburt
vertauscht worden und du, Hohlen, müsstest der legitime Nachfolger
von einem der beiden sein und die Reformationsgeschichte müsste
neu geschrieben werden.“
„Spaß war’s“, sagte Heiner. „Aber verstanden hat er ihn nicht. Überrasche uns, Didilittiti! Aber dann ist Feierabend.“
Didi bugsierte uns in einen Nebenraum. Der war eng, wir mussten
uns Schulter an Schulter stellen, um die Tür schließen zu können.
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Hinter uns war eine graue, kalte Wand. Vor uns eine Einsichtscheibe,
durch die wir in einen Raum blickten, der, wie der Raum aus dem
wir kamen es vor Minuten noch gewesen war, gefüllt war mit Fotografen und Medienvertretern aller Couleur, sogar Mrotzel schlüpfte
eben noch hinein.
Unmittelbar nach ihm wurden ein Mann und eine Frau in den Raum
geführt. Es war der Mann, der in einem Restaurant mit der Frau, die
nun neben ihm ging, abseits an einem Tisch gesessen hatte und die
ich da als meine Eltern Faust und Helena erkannt hatte. Blitzlichter zuckten. Es wurde auch eine Ansage gemacht, aber davon war
nichts zu verstehen. Als ich mich auf die Zehenspitzen stellte, denn
das konnte noch nicht alles sein, was zu diesem Teil der Show gehörte,
sah ich, dass der Mann einen gepflegten schwarzgelockten Pudel an
einer schwarzen, mit blitzenden Klunkern besetzten Leine führte und
dass die Frau Leckerli um Leckerli in sein triefendes Maul steckte.
„Läuft hier parallel noch was auf Superstar über 100?“, fragte Heiner.
„Wem ist das eingefallen, solche Mumien auflaufen zu lassen?“
„Das sind deine Eltern, Justus“, sagte Didi. „Erkennst du sie?
„Nein“, sagte ich. „Das sind nicht meine Eltern.“
„Was soll das denn?“ Didi wurde laut. „Natürlich sind das deine
Eltern. Beide haben sich zu dir als ihren Sohn bekannt. Und beide
sind gerührt und froh, durch die mit deiner Person heraufbeschworenen Umstände, wieder miteinander in Kontakt zu kommen. Sie
freuen sich darauf, dir gegenüberstehen zu können. Komm!“
„Das sind nicht meine Eltern“, wiederholte ich. „Meine Eltern sind
andere Menschen. Sie leben in anderen Gefilden. Und sie sind größer
als diese Figuren da. Und sie haben eine Ausstrahlung. Die Schönheit
meiner Mutter und der Wille meines Vaters sind Legende. Und nicht
die Altbackenheit und süßlich senile Entrücktheit dieser beiden. Und
nie und niemals würden mein Vater und ein schwarzer Pudel gemeinsam an einer Leine gehen.“
„Das war seine Bedingung für den Auftritt“, sagte Didi. „Wir haben
die Töle erst vor fünf Minuten aus dem Tierheim Lichterfelde bekommen.“
„Äh“, machte Heiner. „Bin ich noch echt oder bin ich meine eigene
Nummer? Das kannst du nicht machen, Dietersen! Du kannst
meinem Superbübchen nicht irgendeinen Faust samt Madam Helena
vorsetzen, nur weil die Masche Eiapopeia grad der Quotenhit ist.“
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„Es geht um Faust, Heiner. Aber das begreift einer wie du nicht. Nur
Faust macht ‚Wahnsinn’ zur Sensation. ‚Wahnsinn’ als Titel allein
macht uns keine Hütte so rammelvoll.“ Didi schubste mich an der
Schulter. „Du gehst jetzt da raus“, sagte er. „Und du umarmst deinen
Papa und deine Mama und ihr drückt ein paar Tränen ab.“
„Nein, das werde ich nicht tun. Niemals würde der Faust, der mein
Vater ist, sich so hergeben. Und niemals würde die Helena, die meine
Mutter ist, sich so als billige Zugabe neben ihm in der Öffentlichkeit
präsentieren.
„Junge!“, fauchte Didi. „Du singst Scheiße. Du spielst Scheiße auf der
Klampfe und du riechst auch nach Scheiße. Aber mit deiner Klatsche
bringst du’s rüber, dass es brummt. Und jetzt springe in die Spur,
damit wir auch morgen noch diesen Run haben. Dazu brauchst du
was, so was eben, in den Medien. Heute dein Problem, deine Eltern.
Nächste Woche deine Frau und dein Kind. Eine Woche später eine
Jugendsünde, vielleicht bist du missbraucht worden oder hast eine
versuchte Vergewaltigung zu gestehen? Egal, aber mit so was fressen
wir uns den Speckgürtel für die nächsten Monate an.“
„Ich bin dick genug“, sagte ich. Ein Sausen füllte meinen Kopf von
Ohr zu Ohr und ich konnte nur verschwommen sehen, dass ein Pulk,
in dem in vorderster Reihe Krawallo, Mrotzel und auch Theo von
Schrifter einvernommen waren, den Mann, der als mein Vater Faust
angeboten wurde, und die Frau, die neben ihm an seiner Seite als
meine Mutter gelten sollte, umstellte und dass eindeutig enthusiastisch auf beide eingeredet wurde.
„Daran müssen wir arbeiten“, sagte Heiner. „Das sagte ich schon, dass
du für die Show noch formatiert werden musst.“
„Warum willst du deine Eltern verleugnen?“, fragte Didi. „Ein Faust
Junior, das ist doch was! Als Justus Wieheißichnoch würde dein
Wahnsinn so ’ne Nullnummer wie das Holzbein meines Großonkels
aus’m Ersten Weltkrieg sein.“
„Ich will hier raus“, sagte ich. Ich sah, wie der Mann, der mein Vater
Faust sein sollte, eine beschwichtigende Geste gegen die ihn und
die Frau, die meine Mutter Helena gab, Umstellenden versuchte.
„Ich explodiere!“ Ich konnte nur noch röcheln. Meine Kehle wurde
verstopft, meine Augen verschleierten. Und mein Gehör war gänzlich
dahin. Meine Hände fühlten nichts und meine Zunge lag wie ein
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tauber, knotiger Klumpen in meinem Mund. „Ich geh kaputt an dem
hier.“
„Einen Moment noch halte ich’s aus“, sagte Didi. „Ich schalte uns
mal rein nach drüben. Dein Vater hat, so sieht es aus, was Wichtiges
zu sagen.“
Das Dröhnen in meinem Kopf wurde von einer quäkenden Stimme
durchdrungen, die von meinem bestellten Vater kam und die behauptete: „Ich wiederhole, unser Sohn Justus war, auch wenn die Deutungen der Umstände bislang anderes aussagen, ein Kind der Liebe.“
Die Frau neben ihm bestätigte das mit einem mehrmaligen Nicken,
ihren Blick hob sie dabei nicht. Und der Mann sagte weiter: „Sicher
waren wir, seine Mutter wie ich, ihm nicht jeder Zeit so als Eltern zur
Verfügung, wie es einem Kind notwendig wäre. Aber auch wir hatten
und haben, wenn ich das so sagen darf, einer Pflicht zu genügen.“
Auch dazu nickte die Frau neben ihm, aber in ihre Miene kam eine
Spur Wehmut. „Über meine beruflichen Beanspruchungen muss ich
Ihnen nichts ausführen“, setzte der Mann fort, „das ist in einschlägigen Publikationen nachzulesen; und dass ich auf den Hund gekommen bin …“, er zog den Hund mit herrischer Forsche vom Boden,
sodass die Klunkern auf der Leine glitzerten, „… dürfte Sie ebenfalls
nicht überraschen. Mein Sohn – unser Sohn – ist dennoch nicht, wie
es von nicht wenigen Vertretern ihrer Zunft dargestellt wird, wie ein
Bastard, wie ein Findelkind, wie sich selbst überlassen groß geworden.
Sein Wahnsinn ist Programm und er ist nicht das Produkt aus Schuld,
Scham und Abwehr. Und ich sage Ihnen nochmals: Justus Faust, der
Faust Junior, ist eine Antwort und nicht die Frage.“
Dr. Krawallo drängte sich vor. „Eine Frage an die Gattin, wenn’s
erlaubt ist?“
„Wir sind miteinander wie ein angetrautes Paar, das sollten Sie
wissen“, sagte der sich als Faust darstellende Mann. Er drückte die
Frau, die neben ihm stand, an sich. „Diese Frau hat sich und unseren Sohn alleinerziehend durchgebracht. Und das hat …“, dieser
Faust hatte ein demagogisches Talent, das der Faust, in dessen Kopf
ich einmal Hüsung und Zehrung hatte, nie auch nur hätte spielen
können. „mmm unseren Beifall verdient!“ Er schlug seine Hände
ineinander, tat sich dabei an den Beschlägen der Leine weh.
Es wurde nur gering applaudiert. Und Krawallo setzte nach: „Helena,
stimmt es, dass Sie Ihren Sohn vor fast zwei Jahren als vermisst gemel-
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det haben?“ Bevor eine Reaktion erfolgte, fragte er weiter: „Und
stimmt es, dass Ihr Sohn wegen Drogenkonsums straffällig geworden
war und dass er gegen Ihren damaligen Lebensgefährten, einen Polizisten, tätlich geworden ist?“
Die Frau, die als meine Mutter Helena dastand, schüttelte den Kopf,
blickte auf zu dem Mann, der als mein Vater neben ihr postiert war,
und sagte: „Davon weiß ich nichts.“
„Was soll das?“, fragte Heiner Didi. „Hast du nur hirnlose Jobber in
deiner Redaktion? Ist ’ne alte Regel des Geschäfts, die auch du kennst,
Dietersen, bringe nichts Normales in eine verrückte Nummer, es sei
denn, du willst sie kippen. Und das heißt, Didilidditi, du willst mich
mobben. Und das, Didi Dietersen, wird dir leid tun.“
Heiner hörte sich nicht mehr an, was Didi vorbringen wollte, er
schnappte mich beim Schlafittchen, zog mich mit sich und sagte:
„Dieser Faust hat bei mir unterschrieben. Er gehört mir.“
Ich hörte noch, dass der Mann, der im Nebenraum als mein Vater
Faust Rede und Antwort stand, sagte: „Natürlich befördere ich die
Anstrengungen meines Sohnes Justus, Superstar werden zu wollen,
weiterhin so, wie es mir möglich ist. Und, nein, ein Tonsetzer Leverkühn oder Keverlühn ist mir nicht bekannt. Und ich habe nie spirituelle Rituale versucht oder andere magische Prozeduren veranstaltet.
Aber, und darauf können Sie mich festnageln und -hämmern, das
Böse ist immer so böse, wie das Gute gut ist.“ Es wurden noch weitere
Erklärungen verlangt, aber davon hörte ich nichts mehr.
Heiner schleifte mich durch den Bau, schimpfte dabei, dass, wenn er
nicht alles selber mache, die minderjährige neokreative Mischpoke,
die den Mainstream mit der Muttermilch eingeflößt bekommt, den
medialen Aufreißer spielt und solche Dunkelmänner wie Krawallo
und Rabi Tami oder die Little-Grand-Dame von Scharich den feuilletonistischen Großadel geben, bald alles im Brei scheinheiliger und
scheinheller Wahrheitsmache verkommt. „Nein, mein Junge“, sagte
er. „Wir bleiben uns treu. Wir sind schlau genug, um mit unserer
Dummheit und unserer Klatsche unseren Reibach zu machen.“ Er
zog mich ins Freie, stieß mich mit dem Rücken gegen die Wand.
„Hör mir zu, mein Superbübchen! Und höre mir gut zu! Halte dich
an mich. Rede mit keinem. Lass deinen Vater und deine Mutter in der
Tiefkühltruhe und vergiss die beiden Komparsen, die Didi präsentieren wollte. Auch deine Frau und dein Kind gehen jetzt noch keinen
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was an. Du brauchst Fans und keine Relikte aus deiner Vergangenheit. Aber bleib so verrückt, wie du bist, und, falls du’s noch nicht
hast, richte dir ein Konto ein bei einer sicheren Bank.“ Heiner fuchtelte mit einem Finger unter meiner Nase. „Wir sehen uns morgen
früh. Und dann fängt’s an, dass ich dich schleife von eckig auf rund
und von rund auf glatt und von glatt auf glänzend. Und, äh, Mundgeruch, Ohrenschmalz, Körperduft, Brusthaar, das ist out, du musst
wissen, der Erfolg beginnt vor dem Spiegel. Also, man sieht sich!“
Heiner verschwand.
Und ich war zu auf allen Sinnen. Nur schwach hörte ich aus einem
vorbeifahrenden Auto aus voll aufgedrehten Boxen „Wahnsinn“. Und
ich schrie dem Wagen nach: „Ja! Ich bin verrückt. Aber ich bin’s nicht
genug. Es reicht nicht aus, den Schmerz nicht zu fühlen vom Leben
hier. Ich bin verrückt, aber den Wahnsinn habe ich nur erfunden.
Ich bin so verrückt, mir einen Wahnsinn zu erfinden, der mich nicht
erlöst. Ich hab mit mir um mich gespielt und ich habe mich an mich
verloren. Ich bin Sieger über mich und bin mir dennoch unterlegen.
Ich bin …“ Aber das schrie ich nicht mehr, flüsterte es vielmehr wie
zurück in mich, als könnte, wenn es hörbar würde, es zur unerhörten Anklage gegen mich verwendet werden; ich flüsterte also: „Ich
bin mein Verhängnis, weil ich bin. Und weil ich bin, muss ich sein.
Und Sein ist Leben. Und Leben tut weh. Hier. Und ich will nicht
da sein, wo mich mein Leben schmerzt. Ich will dahin zurück, wo
es nicht mehr wehtut. Mir nicht und keinem. Ich will zurück in den
Kopf auf den Schultern des Mannes, der mein Vater ist. Dorthin will
ich, wo’s Irre nicht feind macht, wo Wahn nichts umdunkelt, wo’s
psychotrope Klima keine Brutstätte ist fürs Kranksein und pathologischer Seelengymnastik, wo …“, und da flüsterte ich mir zu wie in
suggestiver Halluzination, als wäre ich im Wirken eines kosmischen
Zaubers dem Tatsächlichen entrückt und es ließ jemand die Worte
in mich fallen, nur damit sie zu meinem Mund herauskamen, „… in
der Dinge ewigen Schweigens sich offenbart der Schein der Welt als
loderndes Ereignis.“
Und darauf sprach jemand zu mir: „Vernommen hab ich’s und ich
glaube dir, doch wackrer Mann, sag an: Was soll das hier?“
Der Mann musste von der gegenüberliegenden Straßenseite auf mich
zugekommen sein. Zuerst glaubte ich Theo von Schrifter in ihm zu
erkennen, aber dann war’s doch, wenn er auch ohne Krone war und
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der Purpur seines Mantels nicht vom edelsten Zwirn, ein Kaiser, denn
seine Haltung und sein Schritt und insbesondere die Präsentation
seines Hauptes, das von seidigem bis in den Nacken reichendem Haar
bedeckt war, waren von eindrucksvoller Majestät.
Und wieder schüttete wer Worte in mich, die zu meinem Mund
herausdrängten: „Wer trug’s uns auf als eiligstes Geschäfte, bei dir
zu stehen? Ach, groß sind des Berges Kräfte, da wirkt Natur so übermächtig frei …“
Der Kaiser unterbrach mich: „Der Menschen Stumpfsinn schilt es
Zauberei.“ Der Mann war ein Schalk und schalkiger, als es einem
Kaiser angemessen war. Denn er kniff mich in die Wange und sagte:
„Eiei! Er kann’s wie’s Väterchen, der Bursch! Doch den Vätern nachgeplappert, macht ihnen nicht den guten Sinn zum Sohn. Komm,
bringen wir’s aufs Ende! Und mit der Reimerei belassen wir’s im alten
Text. Da hatte es schon Not genüge, den Takt und Rhythmus aufzuzimmern.“
„Ihr seid doch Kaiser“, sagte ich. „Und ein Kaiser kommt als Dichter
immer deppert daher.“
Der Mann lachte. „Du sprachst des Kaisers Worte, die ich dem zu
Munde gab in der Tragödie zweiter Teil auf dem Vorgebirge zu Trommeln und kriegerischer Musik, nachdem ich deinem Vater was reimte
auf Schweignis und Ereignis.“
„Das sagte ich“, sagte ich, „ich sagte es.“
„Und du brauchtest keine Trommeln oder kriegerische Musik dazu.
Ei!“ Nun kniff er mit beiden Händen in mein Gesicht. „Ei! Bursch,
du bist ein Sohn vom echten Blute seines Vaters. Mein Sohn, der
August, der einzig lebenstüchtige meiner Brut, lief mir in allem nur
nach, als Hosenscheißer schon und bis er nach Italien reiste; auf meine
Art, wie er’s sagte, wie ich an die vierzig Jahr zuvor, um mir gleichzukommen und einmal nur wenigstens auf den Blättern, die er in der
gleichen Schrift beschrieb wie ich, sich mir als wie von gleicher Größe
zu erweisen; aber er war nur zu feig, vor meinen Augen zu verenden
im Suff und unter den spöttelnden Blicken Ottiliens, seinem Weib,
die das Einzige war, mit dem er mich übertraf; solch Frau für ihn, das
war wie ein Streich des Schicksals gegen mich.“
„Wenn ihr kein Kaiser seid“, sagte ich, „was seid ihr dann?“
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„Vielleicht bin ich ein geheimer Rat? Vielleicht bin ich Klassiker?
Schlicht und Licht?“ Er spuckte aus. „Ich hab den Reim als Schleim
unter der Zunge. Vielleicht auch bin ich JWG und auch mir tat’s
Leben früher weh?“
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