KOHELET 11, 6-12,7 Bibelwoche 2006 Sonntag, 19. Februar 2006

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KOHELET 11, 6-12,7 Bibelwoche 2006 Sonntag, 19. Februar 2006
KOHELET 11, 6-12,7
Bibelwoche 2006
Sonntag, 19. Februar 2006
Liebe Predigthörerinnen, liebe Predigthörer.
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Bilder der Weisheit. „Alles zu seiner Zeit.“ Bilder für das Altern der Menschen. Ohne ich zu sagen, in das Altern der
Menschen einkehren im Lesen der Texte der anderen: „Je älter ich werde, um so mehr werde ich der inneren Intensität
des Lebens bewusst. Früher lag sie in der Berührung, begann mit der Annäherung, verkörperte sich in greifbaren Dingen,
hatte Gestalt, Farbe, Form. Heute lässt man sich von der Welt nicht mehr so schnell einfangen, da ist alles etwas ruhiger
geworden, die Leidenschaften haben sich verloren, die Stille macht das Leben intensiver, und plötzlich erkennt man, dass
im Grunde das Denken die Intensität des Lebens ausmacht, man sieht wie es durch den Menschen hindurchgeht, dauert,
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pulsiert ...“ Das Altern der anderen hat Sprache. Kann ich eintreten in den Sprachraum? Kommt dort zur Sprache, was
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keine Sprache hat? „Wo alle Wasser ins Meer laufen“ , kann ich mir die Sprache leihen? Also: „Der Mensch ist nicht nur
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ein Geschöpf der Erde, ihr Leibeigener, er ist immer auch ein Geschöpf des Himmels, das über die Erde hinausweist.“
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Der Körper als Grab. Wo „nichts Neues unter der Sonne geschieht“ . Wo gesagt ist: „Alle unsre Tage fahren dahin ..., wir
bringen unsre Jahre zu wie ein Geschwätz. Unser Leben währet siebzig Jahre, und wenn's hoch kommt, so sind's achtzig
Jahre, und was daran köstlich scheint, ist doch nur vergebliche Mühe; denn es fähret schnell dahin, als flögen wir
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davon.“ Und gesagt ist gesagt. Wo es heißt: „Der, für den 60 Jahre vorbei sind, für den ist alles vorbei.“ Wo die
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Lebensuhr tickt: „Wir lassen unsere Jahre wie einen Seufzer vergehen.“ Wo die Weisheit sich einschleicht: „Unsere Tage
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zu bestimmen, lass es recht kennen, dass ein Herz der Weisheit einkomme uns.“ Wo „noch nicht“ ist. Wo noch Frist ist.
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Lebensfrist. Lebenszeit. : „Ehe der silberne Strick zerreißt und die goldene Schale zerbricht.“
Freue dich deiner Jugend, ehe Alter und Tod kommen! Tage, von denen wir sagen, sie gefallen uns nicht. Sprichwörtlich
aus dem Herzen gesprochen. Unverdrängt. “Omnes codem cogimur“ schreibt Horaz in seinen Oden, was heißt „Alle
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müssen wir zum selben Ort hin“ . Reflexionen über das Alter sind Spiegelungen des Autors. Die Selbstfindung des
Menschen im Alter wird zur Selbsterfindung in Form weisheitlicher Dichtkunst. „Könnte nicht das Leben zum Kunstwerk
werden?“, fragt Friedrich Nietzsche. Betrachtende wie Lesende werden zu Interpreten. Menschen im Alter lehren
Menschen in der Jugend Lebenskunst, umgetriebenen von Beständigem und Unbeständigen. Vom Beben der Erde und
von der Zugehörigkeit der Erwählten zum Erwählenden. Wie von dem Scheitern des Menschen und dem Beten des
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gescheiterten Menschen „Vater in deine Hände befehle ich meinen Geist“ .
„Am Morgen säe deinen Samen, und lass deine Hand bis zum Abend nicht ruhen; denn du weißt nicht, was
geraten wird, ob dies oder das, oder ob beides miteinander gut gerät.
Es ist das Licht süß, und den Augen lieblich, die Sonne zu sehen. Denn wenn ein Mensch viele Jahre lebt, so sei
er fröhlich in ihnen allen
und denke an die finstern Tage, dass es viele sein werden; denn alles, was kommt, ist eitel.
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So freue dich, Jüngling, in deiner Jugend und lass dein Herz guter Dinge sein in deinen jungen Tagen. Tu, was
dein Herz gelüstet und deinen Augen gefällt; aber wisse, dass dich Gott um das alles vor Gericht ziehen wird.
Lass den Unmut fern sein von deinem Herzen und halte fern das Übel von deinem Leibe; denn Kindheit und
Jugend sind eitel.
Denk an deinen Schöpfer in deiner Jugend, ehe die bösen Tage kommen und die Jahre sich nahen, da du wirst
sagen: »Sie gefallen mir nicht«; ehe die Sonne und das Licht, Mond und Sterne finster werden und Wolken
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wiederkommen nach dem Regen , zur Zeit, wenn die Hüter des Hauses zittern und die Starken sich
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krümmen und müßig stehen die Müllerinnen , weil es so wenige geworden sind, und wenn finster werden, die
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durch die Fenster sehen, und wenn die Türen an der Gasse sich schließen, dass die Stimme der Mühle leiser
wird, und wenn sie sich hebt, wie wenn ein Vogel singt, und alle Töchter des Gesanges sich neigen; wenn man
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vor Höhen sich fürchtet und sich ängstigt auf dem Wege, wenn der Mandelbaum blüht und die Heuschrecke
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sich belädt und die Kaper aufbricht; denn der Mensch fährt dahin, wo er ewig bleibt , und die Klageleute gehen
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Kohelet 3
Hanns Cibulka, Swantow
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Kohelet 1
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Hanns Cibulka, Swantow
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Kohelet 1
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Martin Luther, Psalm 90
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Pap. Insinger I
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Martin Buber, Psalm 90
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ebd.
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Kohelet 12
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Horaz, Oden, 2, 3, 25; d. h. zum Orkus, zur Unterwelt
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Lukasevangelium 23
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Kohelet 2,24
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Regenzeit in Palästina
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Arme
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Alter als Lebenshaus nachlassender Kräfte
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Beine
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Zähne
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Augen
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Ohren
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der Mandelbaum blüht zuerst
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die Heuschrecke frisst sich im Frühsommer voll
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die Kaperfrucht platzt im Hochsommer
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umher auf der Gasse; ehe der silberne Strick zerreißt und die goldene Schale zerbricht und der Eimer
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zerschellt an der Quelle und das Rad zerbrochen in den Brunnen fällt.
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Denn der Staub muss wieder zur Erde kommen, wie er gewesen ist, und der Geist wieder zu Gott, der ihn
gegeben hat.
Es ist alles ganz eitel, spricht der Prediger, ganz eitel.“
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„Vanitas vanitatum, et omnia vanitas.“ Eitelkeit der Eitelkeit, und alles ist Eitelkeit. Unbeständigkeit der Unbeständigkeit,
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und alles ist Unbeständig. Windhauch. „Dunst der Dünste, ..., alles ist Dunst.“ Wirklichkeit. Schmerz. Unter dem
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ungeteilten Himmel. Ungebrochen. Fristen in seinen Händen. „Meine Zeit steht in deinen Händen.“ Mit dem
Kabarettisten Hanns Dieter Hüsch „das Schwere leicht gesagt“: „Ich bin vergnügt ... Gott nahm in seine Hände meine
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Zeit“ .
Ist Öffnung für die Würde des Menschen im Alter? Berührt das unsere Lebenskultur? Bleiben Menschen im Alter
menschenwürdig? Berührt das unseren Umgang mit dem nahen und mit dem fremden alten Menschen? Und ist in
unseren Herzen Lebensraum für Menschen „ehe der silberne Strick zerreißt und die goldene Schale zerbricht“? Wird der
Friede über alle Vernunft konkret, wo „der Staub wieder muss zur Erde kommen, wie er gewesen ist, und der Geist
wieder zu Gott, der ihn gegeben hat“? Bekommt der Friede ein Gesicht und kann er so einer werden, der in diesem Bilde
unsere Herzen und Sinne und die Herzen und Sinne der Völker in Christus Jesus bewahrt?
Ich sage: Ja. So sei es. Liturgisch gesprochen: Amen.
© Thomas M. Austel 2006
Gedenke deines Schöpfers in den Tagen deiner Jugend,
da noch die Tage des Übels nicht kamen
und anlangten die Jahre da du sprichst:
„Ich habe keinen Gefallen an ihnen“,
da noch nicht sich verfinsterte
Sonne und Licht,
Mond und Sterne,
und die Wolken kehrten wieder nach dem Regen.
Jenes Tags ists,
dass die Hüter des Hauses erzittern
und die starken Männer sich krümmen
und aufhören die Müllerinnen, denn zu wenige sinds,
und sich verfinstern jene, die zu den Luken hinaussehn,
und die Doppeltüren zur Gasse sich schließen
und der Laut der Mühle sich senkt
und nur zu einem Vogellaut er sich noch hebt
und alle Maiden des Gesangs sich ducken
[auch fürchtet man vor Steigungen sich,
und Schrecknisse sind unterwegs]
und der Mandelbaum blüht
und das Heupferd zur Last wird
und die Kaperfrucht birst
[denn der Mensch geht zu seinem Weltdauer-Haus,
und auf der Gasse ziehn die Klagemänner einher]; da noch nicht der silberne Ring gesprengt ward
und zerschellte der goldene Knauf
und der Eimer brach überm Sprudel
und das Schöpfrad zerschellte in die Zisterne,
und zurückkehrte der Staub an die Erde, gleichwie er war,
und der Geisthauch zurückkehrte zu Gott, der ihn gab.
Dunst der Dünste, spricht der Versammler, alles ist Dunst.
<[email protected]>
(Kohelet 12 übersetzt von Martin Buber, 1961)
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Friedhof, Grab
Lebenslicht
Lebenswasser
Kohelet 3,20; Genesis 3,19
Kohelet 1 und 12, Vulgata-Text
Martin Buber
Psalm 31
Hanns Dieter Hüsch, Das Schwere leicht gesagt, S. 45, Freiburg 1994

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