Novartis und der indische Supreme Court
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Novartis und der indische Supreme Court
GesKR 3 2013 404 Daniel Daeniker* Novartis und der indische Supreme Court Deal Watch (Rechts-)politische Bemerkungen zu einem ebensolchen Urteil Inhaltsübersicht I. Übersicht II. Sachverhalt A. Glivec und sein Wirkstoff B. Prozessgeschichte III. Urteilsbegründung A. Gesetzgebungsgeschichte B. Erfindungshöhe C. Übereinstimmung des Landesrechts mit völkerrechtlichen Verpflichtungen D. Resultat IV. Tragweite des Urteils A. Richter als Helfershelfer der einheimischen Industrie B. Auswirkungen auf die Pharmaindustrie 1. Kurzfristiger Nutzen … 2. … und langfristiger Schaden? C. Ohne Innovation kein Fortschritt I. Übersicht Nach einem sieben Jahre dauernden Rechtsstreit entschied der indische Supreme Court am 1. April 2013, dass der Wirkstoff eines von Novartis hergestellten Medikamentes mit dem Markennamen Glivec1 keinen Patentschutz geniesse. Auf fast 100 Seiten erklärt Bundesrichter Aftab Alam, der drei Wochen nach Urteilsverkündung in Pension ging2, warum dieser Wirkstoff die indischen Standards der Erfindungshöhe nicht erfüllte3. Hersteller von Generika haben damit die Möglichkeit, Kopien von Glivec auf den in- und ausländischen Markt zu bringen, ohne den in anderen Ländern teilweise bis 2019 geltenden Patentschutz beachten zu müssen. Ganz unerwartet kam das Urteil nicht. Noch voraussehbarer waren die Reaktionen: Ranjit Shahani, Delegierter des Verwaltungsrates von Novartis Indien, gab anlässlich einer Pressekonferenz nach Urteilsverkündung bekannt, Novartis werde inskünftig auf Investitionen in Forschung und Entwicklung im indischen Markt verzich- ten4. NGOs wie die Erklärung von Bern5 oder Médecins Sans Frontières6 priesen den Entscheid als einen Durchbruch für die Vermarktung günstiger Medikamente und gegen die Monopolisierung von Erfindungen durch die Pharmaindustrie. Nachstehend sei allerdings nicht von der Instrumentalisierung eines Gerichtsentscheides durch Entwicklungshilfeorganisationen die Rede, sondern von den (rechts-)politischen Untertönen, die Einblick in das Selbstverständnis der Gerichte des Subkontinents erlauben. Zunächst seien einige Bemerkungen gemacht zur Entwicklung von Glivec und zur Prozessgeschichte (II.). Sodann sei die Würdigung durch den indischen Supreme Court erörtert (III.). Zum Schluss folgen einige Bemerkungen über die mögliche Tragweite des Urteils (IV.). Nicht im Fokus dieses Aufsatzes sind das indische Patentrecht und dessen Anwendung im internationalen Kontext, insbesondere im Lichte der TRIPS-Abkommen7. Dazu haben sich bereits berufenere Autorinnen und Autoren geäussert8. II. Sachverhalt A. Glivec und sein Wirkstoff Glivec ist der Handelsname eines von Novartis vertriebenen Medikamentes zur Behandlung der chronischen 4 5 6 7 8 * 1 2 3 Dr. Daniel Daeniker, Rechtsanwalt, LL.M., Homburger AG; Lehrbeauftragter an der Universität Zürich. In den USA wird Glivec als Gleevec vertrieben. Business Standard vom 2. Juni 2013. Novartis AG v. Union of India and Others, Civil Appeal Nos. 2706–2716 OF 2013, Urteil vom 1. April 2013. Buch_GesKR_3_2013.indb 404 Economic Times vom 1. April 2013. http://www.evb.ch/p19894.html. h t t p : / / w w w. m s f . c h / n e w s / d o s s i e r s / d o s s i e r- n o v a r t i s / e n bref/?uid=34. Agreement on Trade Related Aspects of Intellectual Property Rights, zu deutsch Abkommen über handelsbezogene Aspekte der Rechte am geistigen Eigentum, Anhang 1C des Abkommens zur Errichtung der Welthandelsorganisation (General Agreement on Trade and Tariffs (GATT), SR 0.632.20. Frederick Abbott, Inside Views: The Judgment In Novartis v. India: What The Supreme Court Of India Said (http://www.ip-watch. org/2013/04/04/the-judgment-in-novartis-v-india-what-the-supreme-court-of-india-said/); Valérie Junod, Que penser de l’arrêt Novartis c. Union of India?, in: sic! 2013, 390 ff.; Amy Kazmin, India: Patents and precedents, in: Financial Times vom 15. Mai 2013, S. 12. 24.09.13 10:03 GesKR 3 Daniel Daeniker – Novartis und der indische Supreme Court Imatinib gehört zu einer Gruppe von Stoffen, welche die damalige Ciba ab den frühen 1990er-Jahren in zahlreichen Ländern zum Patentschutz anmeldete. Die erste Patentanmeldung erfolgte im Jahre 1992 in der Schweiz. Als Erfinder wurde Jürg Zimmermann genannt. In vielen Ländern wurden entsprechende Patente erteilt, nicht jedoch in Indien, das damals keinen Patentschutz für pharmazeutische Wirkstoffe gewährte. Die Patenterteilung in den USA erfolgte 199610. Die ersten Patentanmeldungen bezogen sich auf die Grundform dieser chemischen Verbindungen, die sogenannten freien Basen. Im weiteren Verlauf der Entwicklung stellte sich heraus, dass die beta-kristalline Form des Imatinibmesylats besonders vorteilhafte Eigenschaften aufweist. Diese Form von Imatinib meldete die nunmehrige Novartis, nach der Fusion von Ciba und Sandoz, am 17. Juli 1998 in Indien zum Patent an11. Während die beta-kristalline Form von Imatinib in vielen Ländern – so auch in der Schweiz und den USA – ohne weiteres patentiert wurde, geriet das Erteilungsverfahren in Indien auf die lange Bank: Zunächst musst die indische Regierung den Indian Patent Act an die Erfordernisse der TRIPS-Abkommen anpassen12. Bis zu diesem Zeitpunkt schlummerte die Patentanmeldung in einer sogenannten mailbox procedure und harrte der weiteren Behandlung13. B. Prozessgeschichte Das 2005 in Kraft getretene neue indische Patentgesetz anerkennt pharmazeutische Wirkstoffe als dem Patentschutz grundsätzlich zugängliche Erfindungen. Es schliesst den Patentschutz jedoch für Arzneistoffe aus, die eine Abwandlung von bereits bekannten Substanzen darstellen, soweit diese Abwandlung zu keinem Wirksamkeitsvorteil führt: 9 10 11 12 13 Der Verfasser dankt Dr. Andri Hess für wertvolle Hinweise zur vorliegenden Fragestellung. Novartis v. Union of India, Rz. 5. Novartis v. Union of India, Rz. 8. Vgl. hinten Fn. 28. Novartis v. Union of India, Rz. 12. Buch_GesKR_3_2013.indb 405 «Section 3. What are not inventions. – The following are not inventions within the meaning of this Act – 405 … (d) … the mere discovery of any new property or new use for a known substance or the mere use of a known process, machine or apparatus unless such known process results in a new product or employs at least one new reactant…» Gestützt auf diese Bestimmung verweigerten die indischen Behörden im Jahre 2006 den Patentschutz für die in Glivec verwendete beta-kristalline Form des Imatinibmesylats. Novartis focht diesen Entscheid an. Deal Watch myeloischen Leukämie (CML) sowie weiterer bösartiger Erkrankungen. Der Wirkstoff von Glivec, Imatinib, blockiert die Aktivität in den erkrankten Zellen und unterdrückt damit die krankhaft gesteigerte Vermehrung der mutierten Blutstammzellen, die sonst bei der Leukämie häufig zum Tod führt. In Glivec gelangt die sogenannte beta-kristalline Form des Imatinibmesylat-Salzes zum Einsatz; um diese beta-kristalline Form ging es im vorliegenden Fall9. 2013 Das neu gegründete Intellectual Property Appellate Board (IPAB) urteilte am 26. Juni 2009. Dieser Behörde zufolge erfüllte die Anmeldung zwar die allgemeinen Patentierungserfordernisse der Neuheit und erfinderischen Tätigkeit, nicht aber die Voraussetzungen des eben zitierten Section 3(d) des Indian Patent Act. Das IPAB verweigerte den Patentschutz mit der lapidaren Bemerkung: «Since India is having a requirement of higher standard of inventive step by introducing the amended Section 3(d) of the Act, what is patentable in other countries will not be patentable in India.»14 Novartis gelangte in einem Spezialverfahren (special leave petition) direkt an den indischen Supreme Court, der im Spätsommer 2011 die Parteien anhörte15 und am 1. April 2013 definitiv den Erfindungsschutz von Glivec ablehnte: Das Gericht entschied, dass die in Glivec verwendete beta-kristalline Form des Imatinibmesylats gegenüber der Grundform, die seinerzeit in Indien keinem Patentschutz zugänglich war, keine patentwürdige Erfindung darstelle16. III. Urteilsbegründung Das Gericht fackelte nicht lange mit juristischen Überlegungen, sondern hielt bereits zu Beginn des Urteils Folgendes fest: «The Court was urged to strike a balance between the need to promote research and development in science and technology and to keep private monopoly (called an aberration under our Constitutional scheme) at the minimum. Arguments were made about India’s obligation to faithfully comply with its commitments under international treaties and counter-arguments were made to protect India’s status as ‹the pharmacy of the world›. … the Court was also reminded that an error of judgment by it will put lifesaving drugs beyond the reach of the multitude of ailing humanity not only in this country but 14 15 16 Zitiert in Novartis v. Union of India, Rz. 17. Novartis v. Union of India, Rz. 21. Novartis v. Union of India, Rz. 194 f. 24.09.13 10:03 GesKR 3 in many developing and under-developed countries, dependent on generic drugs from India.»17 Deal Watch 406 Nach dieser Einleitung lässt sich der Urteilsspruch des höchsten Gerichts bereits erahnen. Wer aber auf eine weitere Lektüre des Entscheides verzichtet, verpasst ein interessantes Schaustück, wie die indischen Gerichte das Ihre zur aktiven Gestaltung der Industriepolitik des Subkontinents beitragen. A. Daniel Daeniker – Novartis und der indische Supreme Court 2013 Kernstück des Indian Patent Act war Section 5, wonach bei articles of food, medicines and drugs and chemical substances nicht das Produkt patentfähig war, sondern lediglich der Prozess bzw. das Herstellungsverfahren23. Danach wendete sich das Blatt zugunsten indischer Gesellschaften. Ihr Gewicht in der einheimischen Pharmaindustrie nahm sprunghaft zu: Der Marktanteil indischer Gesellschaften im indischen Pharmamarkt wuchs von 32 % im Jahre 1970 auf 77 % im Jahre 200424. Unverblümt stellt denn auch der indische Supreme Court fest: Gesetzgebungsgeschichte Nach einleitenden Ausführungen zum Prozessverlauf würdigt das Gericht die Gesetzgebungsgeschichte des indischen Patentrechts. Keine Rede ist dabei vom Schutz, den Erfinder geniessen sollen, um überhaupt einen Anreiz für die Entwicklung neuer Arzneimittel zu erhalten18. Stattdessen weist der indische Supreme Court darauf hin, wie das traditionelle Patentrecht anlässlich der Unabhängigkeit Indiens den Interessen des aufstrebenden Landes im Wege stand. «At the time of Independence, … [it] was … generally felt that the patent law had done little good to the people of the country … The way the Act was designed benefited foreigners far more than Indians.»19 «During the period 1930 – 1937, the grant of patents to Indians and foreigners was roughly in the ratio of 1:9. Even after Independence, … the proportion of Indian and the foreign patents remained substantially the 20 same...» Gestützt auf diese Feststellungen empfahl ein Gesetzgebungskomitee unter der Leitung von Bundesrichter Ayyangar im Jahre 1959, für Indien als Entwicklungsland ein grundsätzlich anderes Regime einzuführen als für Industrienationen: «… the same patent law would operate differently in two countries at two different levels of technological and economic development, and hence the need to regulate the patent law in accordance with the need of the country.»21 Ziel des Patentrechts sollte es nicht sein, Erfinder in ihrer Arbeit zu schützen und Anreize zu schaffen, in Forschung und Entwicklung zu investieren, sondern vielmehr: «… to minimize, if not to eliminate, the abuses to which a system of patent monopoly is capable of being put.»22 Die Empfehlungen des Ayyangar-Komitees wurden 1959 veröffentlicht und führten, mit der gebotenen Gemächlichkeit in der Gesetzgebung, 1970 zum Erlass des Indian Patent Act. Dieser trat im April 1972 in Kraft. Ein «The fall and rise of the Indian pharmaceutical industry is explained as the result of certain factors, not the least important of which was the change in the patent law in the country, which made medicines and drugs and chemical substances non-patentable.»25 Mit dem Indian Patent Act wurde zwar lokalen Produzenten die Möglichkeit verliehen, unbehelligt anderswo entwickelte Produkte nachzubauen. Die damit einhergehende Erfolgsgeschichte der indischen Generika-Industrie blieb aber auf dem internationalen Parkett nicht ohne Widerspruch. Eine Anpassung an globale Standards war überfällig und erfolgte – zumindest auf dem Papier – mit Inkrafttreten des Agreement on Trade Related Aspects of Intellectual Property Rights (TRIPS). Die TRIPSVereinbarung ist Teil des General Agreement on Tariffs and Trade (GATT)26. Die Übergangsbestimmungen zum TRIPS-Abkommen gewährten Indien eine fünfjährige Gnadenfrist in der Umsetzung der entsprechenden Bestimmungen27 sowie weitere fünf Jahre Übergangsfrist mit Bezug auf Erzeugnispatente28. In der Zwischenzeit war Indien allerdings verpflichtet, für gewisse Produkte sogenannte exclusive marketing rights zu erteilen29. Mit Bezug auf Glivec hatte Novartis 2003 für die Dauer von fünf Jahren entsprechende Rechte erhalten. B. Das Patentgesetz in seiner Fassung von 2005 strich zwar die strittige Section 5, die gewissen Produkten den Patentschutz verwehrte29a, aus den Büchern29b. Auch das revidierte Gesetz enthielt indessen genügend Fallstricke, um Novartis den Patentschutz verweigern zu können. Formal erfolgte dies, wie erwähnt, gestützt auf Section 3(d) des Indian Patent Act, die wesentliche Weiterentwicklungen im Rahmen eines vorbestehenden Paten- 23 24 25 26 17 18 19 20 21 22 Novartis v. Union of India, Rz. 4. Vgl. demgegenüber hinten Fn. 42. Novartis v. Union of India, Rz. 31. Novartis v. Union of India, Rz. 35. Novartis v. Union of India, Rz. 37. Novartis v. Union of India, Rz. 38. Buch_GesKR_3_2013.indb 406 Erfindungshöhe 27 28 29 29a 29b Novartis v. Union of India, Rz. 52. Novartis v. Union of India, Rz. 48. Novartis v. Union of India, Rz. 49. Vgl. vorne Fn. 7. Art. 65 Abs. 1 und 2 des TRIPS-Abkommens. Art. 65 Abs. 4 des TRIPS-Abkommens. Art. 70 Abs. 9 des TRIPS-Abkommens; Novartis v. Union of India, Rz. 12 und 59. Vgl. vorne Fn. 23. Novartis v. Union of India, Rz. 24. 24.09.13 10:03 tes verlangt. Mit Bezug auf die beta-kristalline Form des Imatinibmesylats gelangte der indische Supreme Court zum Schluss, die verbesserten Eigenschaften liessen sich nicht im Sinne einer «therapeutic efficacy» nachweisen, sondern nur mit Bezug auf «advantageous or beneficial properties», was für den Patentschutz nicht ausreiche30. C. Übereinstimmung des Landesrechts mit völkerrechtlichen Verpflichtungen Ausführungen zur Frage, ob Section 3(d) eine taugliche Umsetzung der im TRIPS-Abkommen enthaltenen völkerrechtlichen Verpflichtungen darstelle, finden sich im Urteil des indischen Supreme Court nicht. Novartis hatte dies an anderer Stelle bereits geltend gemacht und drang mit diesem Argument nicht durch31. Extensiv wird dagegen dargelegt, dass im Rahmen der parlamentarischen Beratung im Abgeordnetenhaus (Lok Sabha) das Bestreben vieler Votanten im Vordergrund stand, am status quo so wenig wie möglich zu ändern32: Auch unter dem neuen Regime sollte India‘s status as «the pharmacy of the world» aufrechterhalten werden. Der indische Supreme Court verwendet dabei eine bemerkenswerte Methode der Gesetzesauslegung: Voten, die darauf abzielten, staatsvertragliche Verpflichtungen gar nicht erst ins lokale Recht umzusetzen, werden vom höchsten Gericht als subjektiv-historisches Element herangezogen33. Die völkerrechtskonforme Auslegung des Landesrechts wird mit diesem juristischen Kunstgriff nachgerade ins Gegenteil gekehrt. D. Resultat Im Ergebnis wurde der Patentschutz für Glivec verweigert34. Damit bleibt Novartis in Indien ohne Schutz für einen Wirkstoff, für dessen Entwicklung die involvierten Forscher international mehrfach ausgezeichnet worden sind und der längst Blockbuster-Status hat35. Bemerkenswert, aber letztlich im Rahmen der Entscheidfindung irrelevant ist ein Vorbehalt, dass das höchstinstanzliche Urteil nicht generalisierungsfähig ist: «We have held that the subject product … does not qualify the test of Section 3(d) of the Act but that is not to say that Section 3(d) bars patent protection for all incremental inventions of chemical and pharmaceutical substances. It will be a grave mistake to read this judgment to mean that Section 3(d) was amended with the intent to undo the fundamental change brought in the patent regime by deletion of Section 5 from the Patent Act.35a That 36 is not said in this judgment.» Im Sinne einer Begründung des Einzelfallentscheides mag diese Bemerkung ein willkommenes Trostpflaster für ausländische Pharmafirmen sein, doch wird sich seine Wirkung letztlich einzig an den in Zukunft gefällten Gerichtsentscheiden messen lassen können. A. 32 33 34 35 Novartis v. Union of India, Rz. 180. Urteil des Madras High Court in Sachen Novartis AG v. Union of India, 6. August 2007, zitiert in: Junod (Fn. 8), 393. Novartis v. Union of India, Rz. 75 ff. Novartis v. Union of India, Rz. 80 f. Novartis v. Union of India, Rz. 194 f. Daniel Vasella/Robert Slater, Magic Cancer Bullet: How a Tiny Orange Pill Is Rewriting Medical History, New York 2003, 152 f. Buch_GesKR_3_2013.indb 407 Richter als Helfershelfer der einheimischen Industrie Mit dem Entscheid in Sachen Glivec ist Novartis nicht allein auf der Verliererseite. Der indische Supreme Court hat in einem früheren Fall einer indischen Gesellschaft namens Cipla das Recht verliehen, von Hoffmann-La Roche patentierte Produkte zu produzieren37. Ebenso verweigerte der Delhi High Court der deutschen Firma Bayer den Schutz vor demselben Generika-Hersteller, der das Krebsmedikament Nexavar vertrieb38. B. Auswirkungen auf die Pharmaindustrie 1. Kurzfristiger Nutzen … Zweifelsohne stellt das Urteil des indischen Supreme Court für die Proponenten «erschwinglicher» Medikamente einen Etappensieg dar. Indische Generika-Hersteller erhalten damit auch in Zukunft die Möglichkeit, im Westen entwickelte Produkte zu tiefe(re)n Preisen herzustellen und an Patienten im In- und Ausland zu vertreiben, die sich anderweitig solche Produkte nicht leisten können – es sei denn, sie kommen in den Genuss der grosszügigen Entwicklungshilfeprogramme der Pharmaindustrie39. Es wäre allerdings naiv zu meinen, dass mit diesem Entscheid einzig dem Konsumenten geholfen wird. In erster Linie profitieren vom Urteil die indischen Generika-Firmen, die ihrerseits genauso kapitalistische Unternehmen sind wie die Innovatoren in Industrieländern. So gesehen, geht es hier eher um einen Kampf von millionaires 36 31 407 IV. Tragweite des Urteils 35a 30 2013 Deal Watch GesKR 3 Daniel Daeniker – Novartis und der indische Supreme Court 37 38 39 Zu Section 5 vgl. vorne Fn. 23 und 29b. Novartis v. Union of India, Rz. 191. F. Hoffmann-La Roche Ltd. v. Cipla Ltd, Mumbai Central 2012(52) PTC 1 (Del). Bayer Corporation & Anr v. Union of India & Ors, 2010(43) PTC 12 (Del). Kaum bemerkt von den NGOs unterstützt Novartis seit Jahren Patienten, die sich Glivec nicht leisten können, im Rahmen des Glivec International Patient Assistance Program (http://www.novartis. com/corporate-responsibility/access-to-healthcare/our-key-initia tives/oncology-patient-assistance-programs.shtml). 24.09.13 10:03 GesKR 3 408 against billionaires40 als um den Schutz mittelloser Patienten in der dritten Welt. Deal Watch 2. … und langfristiger Schaden? Langfristig stellt sich die Frage, was überhaupt noch als Generikum produziert werden kann. Salopp gesagt: Wenn nichts erfunden wird – sei dies in Industrienationen oder in Entwicklungsländern –, gibt es auch nichts mehr zu kopieren und günstig(er) zu vertreiben. Innovation im Pharmabereich ist nur möglich, wenn sie einhergeht mit einem Schutz der Innovation, um die zum Teil horrenden Entwicklungskosten für neue Produkte rechtfertigen zu können. Werden heute den Innovatoren Steine in den Weg gelegt, wird sich dies vielleicht nicht sofort, wohl aber in fünf oder zehn Jahren auch auf die Generika-Industrie auswirken. Diese wirtschaftliche Binsenweisheit findet im Urteil des indischen Supreme Court keine Berücksichtigung; zu sehr steht die Fixation auf David gegen Goliath im Vordergrund. Zu Unrecht, denn gerade ein Produkt wie Glivec wäre kaum entwickelt worden, wenn es keinen Mechanismus für Unternehmen gäbe, sich während der Dauer des Patentschutzes mittels «Monopolpreis» eine Entschädigung für die Entwicklungskosten zu sichern41. C. Daniel Daeniker – Novartis und der indische Supreme Court 2013 lungkosten rechtfertigt, wird letztlich einfach weniger in Innovation investiert. Gerade in der Schweiz, wo industrielle Innovation eine der treibenden Kräfte des Wirtschaftslebens ist43, erstaunt es bisweilen, mit welcher Härte, aber auch Naivität gegen big Pharma polemisiert wird. Zu sehr und zu oft wird verkannt, dass ohne big Pharma letztlich auch weder small noch big Generics überleben werden. Den Patienten, in Industrienationen ebenso wie in Entwicklungsländern, kann das nur zum Nachteil gereichen. Ohne Innovation kein Fortschritt Die Verfassung der Vereinigten Staaten von Amerika erlaubt den Erlass von Gesetzen, «To promote the Progress of Science and useful Arts, by securing for limited Times to Authors and Inventors the exclusive Right to their respective Writings and Discoveries»42 In bemerkenswert vorausschauender Weise hat die verfassungsgebende Versammlung bereits Ende des 18. Jahrhunderts erkannt, dass wissenschaftlicher Fortschritt – eben the progress of science – nur dann möglich ist, wenn dem Erfinder für eine gewisse Zeit das ausschliessliche Nutzungsrecht an seinen discoveries verliehen wird. Ohne dieses Exklusivrecht geht ein wesentlicher Anreiz verloren, einen Beitrag zum Fortschritt der Wissenschaft zu leisten. Wer im Namen der Ärmsten der Weltbevölkerung eine «gerechte» Nutzung von Erfindungen durchsetzen will, schneidet sich daher letztlich ins eigene Fleisch. Wenn Erfindungen keinen Schutz erhalten, der die Entwick- 40 41 42 Der Begriff stammt aus der U.S.-Sportszene, wo gut bezahlte Spieler regelmässig mit ihren Besitzern über Salärfragen streiten (vgl. etwa http://chicago.cbslocal.com/2011/ 01/29/nfl-lockout-is-milli onaires-against-billionaires/). So Sergio Aiolfi in der Neuen Zürcher Zeitung vom 2. April 2013. Article I Section 8 Clause 8 der U.S.-Verfassung vom 17. September 1787. Buch_GesKR_3_2013.indb 408 43 Wenig wird in der Schweiz darüber geschrieben, dass die WIPO unser Land seit Jahren als weltweiten Innovationsführer einstuft, neustens im Juli 2013 (http://www.wipo.int/pressroom/en/articles/2013/article_0016.html). 24.09.13 10:03