Novartis und der indische Supreme Court

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Novartis und der indische Supreme Court
GesKR 3
2013
404
Daniel Daeniker*
Novartis und der indische Supreme Court
Deal Watch
(Rechts-)politische Bemerkungen zu einem ebensolchen Urteil
Inhaltsübersicht
I. Übersicht
II. Sachverhalt
A. Glivec und sein Wirkstoff
B. Prozessgeschichte
III. Urteilsbegründung
A. Gesetzgebungsgeschichte
B. Erfindungshöhe
C. Übereinstimmung des Landesrechts mit völkerrechtlichen
Verpflichtungen
D. Resultat
IV. Tragweite des Urteils
A. Richter als Helfershelfer der einheimischen Industrie
B. Auswirkungen auf die Pharmaindustrie
1. Kurzfristiger Nutzen …
2. … und langfristiger Schaden?
C. Ohne Innovation kein Fortschritt
I.
Übersicht
Nach einem sieben Jahre dauernden Rechtsstreit entschied der indische Supreme Court am 1. April 2013,
dass der Wirkstoff eines von Novartis hergestellten
Medikamentes mit dem Markennamen Glivec1 keinen
Patentschutz geniesse. Auf fast 100 Seiten erklärt Bundesrichter Aftab Alam, der drei Wochen nach Urteilsverkündung in Pension ging2, warum dieser Wirkstoff die
indischen Standards der Erfindungshöhe nicht erfüllte3.
Hersteller von Generika haben damit die Möglichkeit,
Kopien von Glivec auf den in- und ausländischen Markt
zu bringen, ohne den in anderen Ländern teilweise bis
2019 geltenden Patentschutz beachten zu müssen.
Ganz unerwartet kam das Urteil nicht. Noch voraussehbarer waren die Reaktionen: Ranjit Shahani, Delegierter
des Verwaltungsrates von Novartis Indien, gab anlässlich
einer Pressekonferenz nach Urteilsverkündung bekannt,
Novartis werde inskünftig auf Investitionen in Forschung und Entwicklung im indischen Markt verzich-
ten4. NGOs wie die Erklärung von Bern5 oder Médecins
Sans Frontières6 priesen den Entscheid als einen Durchbruch für die Vermarktung günstiger Medikamente und
gegen die Monopolisierung von Erfindungen durch die
Pharmaindustrie. Nachstehend sei allerdings nicht von
der Instrumentalisierung eines Gerichtsentscheides
durch Entwicklungshilfeorganisationen die Rede, sondern von den (rechts-)politischen Untertönen, die Einblick in das Selbstverständnis der Gerichte des Subkontinents erlauben.
Zunächst seien einige Bemerkungen gemacht zur Entwicklung von Glivec und zur Prozessgeschichte (II.).
Sodann sei die Würdigung durch den indischen Supreme
Court erörtert (III.). Zum Schluss folgen einige Bemerkungen über die mögliche Tragweite des Urteils (IV.).
Nicht im Fokus dieses Aufsatzes sind das indische Patentrecht und dessen Anwendung im internationalen
Kontext, insbesondere im Lichte der TRIPS-Abkommen7. Dazu haben sich bereits berufenere Autorinnen
und Autoren geäussert8.
II.
Sachverhalt
A.
Glivec und sein Wirkstoff
Glivec ist der Handelsname eines von Novartis vertriebenen Medikamentes zur Behandlung der chronischen
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*
1
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3
Dr. Daniel Daeniker, Rechtsanwalt, LL.M., Homburger AG; Lehrbeauftragter an der Universität Zürich.
In den USA wird Glivec als Gleevec vertrieben.
Business Standard vom 2. Juni 2013.
Novartis AG v. Union of India and Others, Civil Appeal Nos.
2706–2716 OF 2013, Urteil vom 1. April 2013.
Buch_GesKR_3_2013.indb 404
Economic Times vom 1. April 2013.
http://www.evb.ch/p19894.html.
h t t p : / / w w w. m s f . c h / n e w s / d o s s i e r s / d o s s i e r- n o v a r t i s / e n bref/?uid=34.
Agreement on Trade Related Aspects of Intellectual Property Rights,
zu deutsch Abkommen über handelsbezogene Aspekte der Rechte
am geistigen Eigentum, Anhang 1C des Abkommens zur Errichtung der Welthandelsorganisation (General Agreement on Trade
and Tariffs (GATT), SR 0.632.20.
Frederick Abbott, Inside Views: The Judgment In Novartis v. India: What The Supreme Court Of India Said (http://www.ip-watch.
org/2013/04/04/the-judgment-in-novartis-v-india-what-the-supreme-court-of-india-said/); Valérie Junod, Que penser de l’arrêt
Novartis c. Union of India?, in: sic! 2013, 390 ff.; Amy Kazmin, India: Patents and precedents, in: Financial Times vom 15. Mai 2013,
S. 12.
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GesKR 3
Daniel Daeniker – Novartis und der indische Supreme Court
Imatinib gehört zu einer Gruppe von Stoffen, welche
die damalige Ciba ab den frühen 1990er-Jahren in zahlreichen Ländern zum Patentschutz anmeldete. Die erste
Patentanmeldung erfolgte im Jahre 1992 in der Schweiz.
Als Erfinder wurde Jürg Zimmermann genannt. In vielen
Ländern wurden entsprechende Patente erteilt, nicht jedoch in Indien, das damals keinen Patentschutz für pharmazeutische Wirkstoffe gewährte. Die Patenterteilung in
den USA erfolgte 199610.
Die ersten Patentanmeldungen bezogen sich auf die
Grundform dieser chemischen Verbindungen, die sogenannten freien Basen. Im weiteren Verlauf der Entwicklung stellte sich heraus, dass die beta-kristalline Form des
Imatinibmesylats besonders vorteilhafte Eigenschaften
aufweist. Diese Form von Imatinib meldete die nunmehrige Novartis, nach der Fusion von Ciba und Sandoz, am
17. Juli 1998 in Indien zum Patent an11.
Während die beta-kristalline Form von Imatinib in vielen
Ländern – so auch in der Schweiz und den USA – ohne
weiteres patentiert wurde, geriet das Erteilungsverfahren
in Indien auf die lange Bank: Zunächst musst die indische Regierung den Indian Patent Act an die Erfordernisse der TRIPS-Abkommen anpassen12. Bis zu diesem
Zeitpunkt schlummerte die Patentanmeldung in einer
sogenannten mailbox procedure und harrte der weiteren
Behandlung13.
B.
Prozessgeschichte
Das 2005 in Kraft getretene neue indische Patentgesetz
anerkennt pharmazeutische Wirkstoffe als dem Patentschutz grundsätzlich zugängliche Erfindungen. Es
schliesst den Patentschutz jedoch für Arzneistoffe aus,
die eine Abwandlung von bereits bekannten Substanzen
darstellen, soweit diese Abwandlung zu keinem Wirksamkeitsvorteil führt:
9
10
11
12
13
Der Verfasser dankt Dr. Andri Hess für wertvolle Hinweise zur
vorliegenden Fragestellung.
Novartis v. Union of India, Rz. 5.
Novartis v. Union of India, Rz. 8.
Vgl. hinten Fn. 28.
Novartis v. Union of India, Rz. 12.
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«Section 3. What are not inventions. – The following are
not inventions within the meaning of this Act –
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…
(d) … the mere discovery of any new property or new
use for a known substance or the mere use of a known
process, machine or apparatus unless such known process
results in a new product or employs at least one new reactant…»
Gestützt auf diese Bestimmung verweigerten die indischen Behörden im Jahre 2006 den Patentschutz für die
in Glivec verwendete beta-kristalline Form des Imatinibmesylats. Novartis focht diesen Entscheid an.
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myeloischen Leukämie (CML) sowie weiterer bösartiger
Erkrankungen. Der Wirkstoff von Glivec, Imatinib, blockiert die Aktivität in den erkrankten Zellen und unterdrückt damit die krankhaft gesteigerte Vermehrung der
mutierten Blutstammzellen, die sonst bei der Leukämie
häufig zum Tod führt. In Glivec gelangt die sogenannte
beta-kristalline Form des Imatinibmesylat-Salzes zum
Einsatz; um diese beta-kristalline Form ging es im vorliegenden Fall9.
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Das neu gegründete Intellectual Property Appellate
Board (IPAB) urteilte am 26. Juni 2009. Dieser Behörde
zufolge erfüllte die Anmeldung zwar die allgemeinen Patentierungserfordernisse der Neuheit und erfinderischen
Tätigkeit, nicht aber die Voraussetzungen des eben zitierten Section 3(d) des Indian Patent Act. Das IPAB verweigerte den Patentschutz mit der lapidaren Bemerkung:
«Since India is having a requirement of higher standard
of inventive step by introducing the amended Section
3(d) of the Act, what is patentable in other countries will
not be patentable in India.»14
Novartis gelangte in einem Spezialverfahren (special
leave petition) direkt an den indischen Supreme Court,
der im Spätsommer 2011 die Parteien anhörte15 und am
1. April 2013 definitiv den Erfindungsschutz von Glivec ablehnte: Das Gericht entschied, dass die in Glivec
verwendete beta-kristalline Form des Imatinibmesylats
gegenüber der Grundform, die seinerzeit in Indien keinem Patentschutz zugänglich war, keine patentwürdige
Erfindung darstelle16.
III. Urteilsbegründung
Das Gericht fackelte nicht lange mit juristischen Überlegungen, sondern hielt bereits zu Beginn des Urteils Folgendes fest:
«The Court was urged to strike a balance between the
need to promote research and development in science and
technology and to keep private monopoly (called an aberration under our Constitutional scheme) at the minimum. Arguments were made about India’s obligation
to faithfully comply with its commitments under international treaties and counter-arguments were made to
protect India’s status as ‹the pharmacy of the world›. …
the Court was also reminded that an error of judgment
by it will put lifesaving drugs beyond the reach of the
multitude of ailing humanity not only in this country but
14
15
16
Zitiert in Novartis v. Union of India, Rz. 17.
Novartis v. Union of India, Rz. 21.
Novartis v. Union of India, Rz. 194 f.
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in many developing and under-developed countries, dependent on generic drugs from India.»17
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Nach dieser Einleitung lässt sich der Urteilsspruch des
höchsten Gerichts bereits erahnen. Wer aber auf eine
weitere Lektüre des Entscheides verzichtet, verpasst ein
interessantes Schaustück, wie die indischen Gerichte das
Ihre zur aktiven Gestaltung der Industriepolitik des Subkontinents beitragen.
A.
Daniel Daeniker – Novartis und der indische Supreme Court
2013
Kernstück des Indian Patent Act war Section 5, wonach
bei articles of food, medicines and drugs and chemical
substances nicht das Produkt patentfähig war, sondern
lediglich der Prozess bzw. das Herstellungsverfahren23.
Danach wendete sich das Blatt zugunsten indischer Gesellschaften. Ihr Gewicht in der einheimischen Pharmaindustrie nahm sprunghaft zu: Der Marktanteil indischer
Gesellschaften im indischen Pharmamarkt wuchs von
32 % im Jahre 1970 auf 77 % im Jahre 200424. Unverblümt stellt denn auch der indische Supreme Court fest:
Gesetzgebungsgeschichte
Nach einleitenden Ausführungen zum Prozessverlauf würdigt das Gericht die Gesetzgebungsgeschichte
des indischen Patentrechts. Keine Rede ist dabei vom
Schutz, den Erfinder geniessen sollen, um überhaupt einen Anreiz für die Entwicklung neuer Arzneimittel zu
erhalten18. Stattdessen weist der indische Supreme Court
darauf hin, wie das traditionelle Patentrecht anlässlich
der Unabhängigkeit Indiens den Interessen des aufstrebenden Landes im Wege stand.
«At the time of Independence, … [it] was … generally
felt that the patent law had done little good to the people
of the country … The way the Act was designed benefited foreigners far more than Indians.»19
«During the period 1930 – 1937, the grant of patents to
Indians and foreigners was roughly in the ratio of 1:9.
Even after Independence, … the proportion of Indian and the foreign patents remained substantially the
20
same...»
Gestützt auf diese Feststellungen empfahl ein Gesetzgebungskomitee unter der Leitung von Bundesrichter
Ayyangar im Jahre 1959, für Indien als Entwicklungsland ein grundsätzlich anderes Regime einzuführen als
für Industrienationen:
«… the same patent law would operate differently in two
countries at two different levels of technological and economic development, and hence the need to regulate the
patent law in accordance with the need of the country.»21
Ziel des Patentrechts sollte es nicht sein, Erfinder in ihrer Arbeit zu schützen und Anreize zu schaffen, in Forschung und Entwicklung zu investieren, sondern vielmehr:
«… to minimize, if not to eliminate, the abuses to which
a system of patent monopoly is capable of being put.»22
Die Empfehlungen des Ayyangar-Komitees wurden
1959 veröffentlicht und führten, mit der gebotenen Gemächlichkeit in der Gesetzgebung, 1970 zum Erlass des
Indian Patent Act. Dieser trat im April 1972 in Kraft. Ein
«The fall and rise of the Indian pharmaceutical industry
is explained as the result of certain factors, not the least
important of which was the change in the patent law in
the country, which made medicines and drugs and chemical substances non-patentable.»25
Mit dem Indian Patent Act wurde zwar lokalen Produzenten die Möglichkeit verliehen, unbehelligt anderswo
entwickelte Produkte nachzubauen. Die damit einhergehende Erfolgsgeschichte der indischen Generika-Industrie blieb aber auf dem internationalen Parkett nicht ohne
Widerspruch. Eine Anpassung an globale Standards war
überfällig und erfolgte – zumindest auf dem Papier – mit
Inkrafttreten des Agreement on Trade Related Aspects
of Intellectual Property Rights (TRIPS). Die TRIPSVereinbarung ist Teil des General Agreement on Tariffs
and Trade (GATT)26.
Die Übergangsbestimmungen zum TRIPS-Abkommen
gewährten Indien eine fünfjährige Gnadenfrist in der
Umsetzung der entsprechenden Bestimmungen27 sowie
weitere fünf Jahre Übergangsfrist mit Bezug auf Erzeugnispatente28. In der Zwischenzeit war Indien allerdings
verpflichtet, für gewisse Produkte sogenannte exclusive
marketing rights zu erteilen29. Mit Bezug auf Glivec hatte Novartis 2003 für die Dauer von fünf Jahren entsprechende Rechte erhalten.
B.
Das Patentgesetz in seiner Fassung von 2005 strich zwar
die strittige Section 5, die gewissen Produkten den Patentschutz verwehrte29a, aus den Büchern29b. Auch das
revidierte Gesetz enthielt indessen genügend Fallstricke,
um Novartis den Patentschutz verweigern zu können.
Formal erfolgte dies, wie erwähnt, gestützt auf Section 3(d) des Indian Patent Act, die wesentliche Weiterentwicklungen im Rahmen eines vorbestehenden Paten-
23
24
25
26
17
18
19
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21
22
Novartis v. Union of India, Rz. 4.
Vgl. demgegenüber hinten Fn. 42.
Novartis v. Union of India, Rz. 31.
Novartis v. Union of India, Rz. 35.
Novartis v. Union of India, Rz. 37.
Novartis v. Union of India, Rz. 38.
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Erfindungshöhe
27
28
29
29a
29b
Novartis v. Union of India, Rz. 52.
Novartis v. Union of India, Rz. 48.
Novartis v. Union of India, Rz. 49.
Vgl. vorne Fn. 7.
Art. 65 Abs. 1 und 2 des TRIPS-Abkommens.
Art. 65 Abs. 4 des TRIPS-Abkommens.
Art. 70 Abs. 9 des TRIPS-Abkommens; Novartis v. Union of India,
Rz. 12 und 59.
Vgl. vorne Fn. 23.
Novartis v. Union of India, Rz. 24.
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tes verlangt. Mit Bezug auf die beta-kristalline Form des
Imatinibmesylats gelangte der indische Supreme Court
zum Schluss, die verbesserten Eigenschaften liessen sich
nicht im Sinne einer «therapeutic efficacy» nachweisen,
sondern nur mit Bezug auf «advantageous or beneficial
properties», was für den Patentschutz nicht ausreiche30.
C.
Übereinstimmung des Landesrechts mit
völkerrechtlichen Verpflichtungen
Ausführungen zur Frage, ob Section 3(d) eine taugliche Umsetzung der im TRIPS-Abkommen enthaltenen
völkerrechtlichen Verpflichtungen darstelle, finden sich
im Urteil des indischen Supreme Court nicht. Novartis
hatte dies an anderer Stelle bereits geltend gemacht und
drang mit diesem Argument nicht durch31.
Extensiv wird dagegen dargelegt, dass im Rahmen der
parlamentarischen Beratung im Abgeordnetenhaus (Lok
Sabha) das Bestreben vieler Votanten im Vordergrund
stand, am status quo so wenig wie möglich zu ändern32:
Auch unter dem neuen Regime sollte India‘s status as
«the pharmacy of the world» aufrechterhalten werden.
Der indische Supreme Court verwendet dabei eine bemerkenswerte Methode der Gesetzesauslegung: Voten,
die darauf abzielten, staatsvertragliche Verpflichtungen
gar nicht erst ins lokale Recht umzusetzen, werden vom
höchsten Gericht als subjektiv-historisches Element herangezogen33. Die völkerrechtskonforme Auslegung des
Landesrechts wird mit diesem juristischen Kunstgriff
nachgerade ins Gegenteil gekehrt.
D.
Resultat
Im Ergebnis wurde der Patentschutz für Glivec verweigert34. Damit bleibt Novartis in Indien ohne Schutz für
einen Wirkstoff, für dessen Entwicklung die involvierten
Forscher international mehrfach ausgezeichnet worden
sind und der längst Blockbuster-Status hat35.
Bemerkenswert, aber letztlich im Rahmen der Entscheidfindung irrelevant ist ein Vorbehalt, dass das
höchstinstanzliche Urteil nicht generalisierungsfähig ist:
«We have held that the subject product … does not qualify the test of Section 3(d) of the Act but that is not to say
that Section 3(d) bars patent protection for all incremental inventions of chemical and pharmaceutical substances. It will be a grave mistake to read this judgment to
mean that Section 3(d) was amended with the intent to
undo the fundamental change brought in the patent regime by deletion of Section 5 from the Patent Act.35a That
36
is not said in this judgment.»
Im Sinne einer Begründung des Einzelfallentscheides
mag diese Bemerkung ein willkommenes Trostpflaster
für ausländische Pharmafirmen sein, doch wird sich seine
Wirkung letztlich einzig an den in Zukunft gefällten Gerichtsentscheiden messen lassen können.
A.
32
33
34
35
Novartis v. Union of India, Rz. 180.
Urteil des Madras High Court in Sachen Novartis AG v. Union of
India, 6. August 2007, zitiert in: Junod (Fn. 8), 393.
Novartis v. Union of India, Rz. 75 ff.
Novartis v. Union of India, Rz. 80 f.
Novartis v. Union of India, Rz. 194 f.
Daniel Vasella/Robert Slater, Magic Cancer Bullet: How a
Tiny Orange Pill Is Rewriting Medical History, New York 2003,
152 f.
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Richter als Helfershelfer der einheimischen Industrie
Mit dem Entscheid in Sachen Glivec ist Novartis nicht
allein auf der Verliererseite. Der indische Supreme Court
hat in einem früheren Fall einer indischen Gesellschaft
namens Cipla das Recht verliehen, von Hoffmann-La
Roche patentierte Produkte zu produzieren37. Ebenso
verweigerte der Delhi High Court der deutschen Firma
Bayer den Schutz vor demselben Generika-Hersteller,
der das Krebsmedikament Nexavar vertrieb38.
B.
Auswirkungen auf die Pharmaindustrie
1.
Kurzfristiger Nutzen …
Zweifelsohne stellt das Urteil des indischen Supreme
Court für die Proponenten «erschwinglicher» Medikamente einen Etappensieg dar. Indische Generika-Hersteller erhalten damit auch in Zukunft die Möglichkeit,
im Westen entwickelte Produkte zu tiefe(re)n Preisen
herzustellen und an Patienten im In- und Ausland zu
vertreiben, die sich anderweitig solche Produkte nicht
leisten können – es sei denn, sie kommen in den Genuss der grosszügigen Entwicklungshilfeprogramme der
Pharmaindustrie39.
Es wäre allerdings naiv zu meinen, dass mit diesem Entscheid einzig dem Konsumenten geholfen wird. In erster
Linie profitieren vom Urteil die indischen Generika-Firmen, die ihrerseits genauso kapitalistische Unternehmen
sind wie die Innovatoren in Industrieländern. So gesehen, geht es hier eher um einen Kampf von millionaires
36
31
407
IV. Tragweite des Urteils
35a
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38
39
Zu Section 5 vgl. vorne Fn. 23 und 29b.
Novartis v. Union of India, Rz. 191.
F. Hoffmann-La Roche Ltd. v. Cipla Ltd, Mumbai Central 2012(52)
PTC 1 (Del).
Bayer Corporation & Anr v. Union of India & Ors, 2010(43) PTC
12 (Del).
Kaum bemerkt von den NGOs unterstützt Novartis seit Jahren Patienten, die sich Glivec nicht leisten können, im Rahmen des Glivec
International Patient Assistance Program (http://www.novartis.
com/corporate-responsibility/access-to-healthcare/our-key-initia
tives/oncology-patient-assistance-programs.shtml).
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against billionaires40 als um den Schutz mittelloser Patienten in der dritten Welt.
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2.
… und langfristiger Schaden?
Langfristig stellt sich die Frage, was überhaupt noch
als Generikum produziert werden kann. Salopp gesagt:
Wenn nichts erfunden wird – sei dies in Industrienationen oder in Entwicklungsländern –, gibt es auch nichts
mehr zu kopieren und günstig(er) zu vertreiben.
Innovation im Pharmabereich ist nur möglich, wenn sie
einhergeht mit einem Schutz der Innovation, um die zum
Teil horrenden Entwicklungskosten für neue Produkte
rechtfertigen zu können. Werden heute den Innovatoren
Steine in den Weg gelegt, wird sich dies vielleicht nicht
sofort, wohl aber in fünf oder zehn Jahren auch auf die
Generika-Industrie auswirken. Diese wirtschaftliche
Binsenweisheit findet im Urteil des indischen Supreme
Court keine Berücksichtigung; zu sehr steht die Fixation
auf David gegen Goliath im Vordergrund. Zu Unrecht,
denn gerade ein Produkt wie Glivec wäre kaum entwickelt worden, wenn es keinen Mechanismus für Unternehmen gäbe, sich während der Dauer des Patentschutzes mittels «Monopolpreis» eine Entschädigung für die
Entwicklungskosten zu sichern41.
C.
Daniel Daeniker – Novartis und der indische Supreme Court
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lungkosten rechtfertigt, wird letztlich einfach weniger in
Innovation investiert.
Gerade in der Schweiz, wo industrielle Innovation eine
der treibenden Kräfte des Wirtschaftslebens ist43, erstaunt es bisweilen, mit welcher Härte, aber auch Naivität gegen big Pharma polemisiert wird. Zu sehr und zu
oft wird verkannt, dass ohne big Pharma letztlich auch
weder small noch big Generics überleben werden. Den
Patienten, in Industrienationen ebenso wie in Entwicklungsländern, kann das nur zum Nachteil gereichen.
Ohne Innovation kein Fortschritt
Die Verfassung der Vereinigten Staaten von Amerika erlaubt den Erlass von Gesetzen,
«To promote the Progress of Science and useful Arts, by
securing for limited Times to Authors and Inventors the
exclusive Right to their respective Writings and Discoveries»42
In bemerkenswert vorausschauender Weise hat die verfassungsgebende Versammlung bereits Ende des 18. Jahrhunderts erkannt, dass wissenschaftlicher Fortschritt –
eben the progress of science – nur dann möglich ist, wenn
dem Erfinder für eine gewisse Zeit das ausschliessliche
Nutzungsrecht an seinen discoveries verliehen wird.
Ohne dieses Exklusivrecht geht ein wesentlicher Anreiz
verloren, einen Beitrag zum Fortschritt der Wissenschaft
zu leisten.
Wer im Namen der Ärmsten der Weltbevölkerung eine
«gerechte» Nutzung von Erfindungen durchsetzen will,
schneidet sich daher letztlich ins eigene Fleisch. Wenn
Erfindungen keinen Schutz erhalten, der die Entwick-
40
41
42
Der Begriff stammt aus der U.S.-Sportszene, wo gut bezahlte Spieler regelmässig mit ihren Besitzern über Salärfragen streiten (vgl.
etwa http://chicago.cbslocal.com/2011/ 01/29/nfl-lockout-is-milli
onaires-against-billionaires/).
So Sergio Aiolfi in der Neuen Zürcher Zeitung vom 2. April
2013.
Article I Section 8 Clause 8 der U.S.-Verfassung vom 17. September
1787.
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43
Wenig wird in der Schweiz darüber geschrieben, dass die WIPO
unser Land seit Jahren als weltweiten Innovationsführer einstuft,
neustens im Juli 2013 (http://www.wipo.int/pressroom/en/articles/2013/article_0016.html).
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