Sammelrez: Die Französische Revolution 2014-4-134 - H-Soz-Kult

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Sammelrez: Die Französische Revolution 2014-4-134 - H-Soz-Kult
Sammelrez: Die Französische Revolution
Sammelrez: Die Französische Revolution
Kruse, Wolfgang (Hrsg.): Die Französische Revolution. Programmatische Texte von Robespierre
bis de Sade. Wien: Promedia Verlag 2012. ISBN:
978-3-85371-341-9; 176 S.
Lachenicht, Susanne: Die Französische Revolution. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2012. ISBN: 978-3-534-15162-2;
134 S.
Rezensiert von: Christina Schröer, Historisches Seminar, Albert-Ludwigs-Universität
Freiburg
Die Französische Revolution gehört in
Deutschland zu den Standardthemen der
schulischen ebenso wie der universitären
Lehre. Umso überraschender ist es, dass
aktuelle Literatur ebenso wie angemessen
präsentierte Quellensammlungen zum Thema nach wie vor Mangelware sind. Wer
eine ausführliche Einführung in deutscher
Sprache sucht, greift nicht selten auf Übersetzungen der französischen Klassiker aus
den 60er-Jahren zurück, die jedoch teilweise
ideologisch gefärbt sind und meist ohne
wissenschaftlichen
Anmerkungsapparat
daherkommen.1 Alternativ boten lange
Zeit nur wenige deutsche Historiker eine problemorientierte Einführung in die
Revolutionsgeschichte an2 ; leider werden inzwischen ausgerechnet besonders gelungene
Darstellungen, wie z.B. Rolf Reichardts „Blut
der Freiheit“, nicht mehr neu aufgelegt.3
Quellensammlungen präsentieren allzu oft
sehr knappe Textauszüge, die eher einen
ersten Gesamtüberblick verschaffen als fundierte Auseinandersetzung mit einzelnen
Themenbereichen ermöglichen.4
Auf diese Situation reagieren Wissenschaftsverlage und Universitäten bereits seit
einigen Jahren mit neuen Formaten und Publikationsformen.5 Auch die Bände von Susanne Lachenicht und Wolfgang Kruse sind
diesem Kontext zuzurechnen. Um es gleich
vorweg zu nehmen: Beide sind geeignete
Hilfsmittel für die Vorbereitung und Durchführung von Lehrveranstaltungen – mit unterschiedlichen Vorzügen, aber auch Problemen.
Entsprechend dem Reihenformat „Ge-
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schichte kompakt“ gestaltet Lachenicht ihre
Einführung als Kombination aus Texten,
Datenlisten, Merkkästen und Quellenauszügen; die lineare Gliederung wird ergänzt
durch weitere Untertitel am linken bzw.
rechten Seitenrand. Im Anschluss an eine
ausführliche Einführung in die Forschungsgeschichte bietet der größte Teil des Buches
einen chronologischen Überblick über die
Französische Revolution als Ereignis, von
ihrer Vorgeschichte und ihren Ursachen über
die verschiedenen revolutionären Schübe
zwischen 1789 und 1799 bis hin zu ihrem
Ausklang in der napoleonischen Zeit. Nach
einem Zwischenfazit würdigt darüber hinaus
ein Kapitel die Auswirkungen und Kontinuitäten der Französischen Revolution für
Europa sowie die Atlantische Welt. Besonders
hervorzuheben sind an diesem Zugriff die
ausführliche Abhandlung auch der späten
Revolutionszeit (Thermidor und Direktorium), die Ausweitung der Chronologie bis
1815 sowie die Ausweitung des geographischen Raumes vom Heiligen Römischen
Reich deutscher Nation, der Batavischen
Republik und der Schweiz über Italien und
die britischen Inseln bis nach Haiti und
„Spanisch-Amerika“ (S. 114ff.). Auf den
insgesamt 134 Seiten verstecken sich sehr viel
mehr Inhalte als es der Buchtitel vermuten
lässt.
In einer klaren Sprache stellt Lachenicht
sowohl im Hinblick auf die Ereignis- als
auch auf die Verflechtungs- und Wirkungsgeschichte große Expertise unter Beweis. Dennoch kann das Buch nur mit Einschränkun1 Vgl.
Albert Soboul, Die Große Französische Revolution. Ein Abriß ihrer Geschichte (1789–1799), Frankfurt
am Main 1983 (frz. Original Paris 1962). Noch häufiger
verwendet: François Furet / Denis Richet, Die Französische Revolution, Frankfurt am Main 1987 (frz. Original in 2 Bde. Paris 1965/66).
2 Vgl. z.B. Ernst Schulin, Die Französische Revolution, 4.,
überarb. Aufl., München 2004.
3 Rolf Reichardt, Das Blut der Freiheit. Französische Revolution und demokratische Kultur, 3. Aufl., Frankfurt
am Main 2002.
4 Z.B. Axel Kuhn, Die Französische Revolution, 6. Aufl.
Stuttgart 2013.
5 Vgl. u.a. Hans-Ulrich Thamer, Die Französische
Revolution, München 2004 (Beck‘sche Reihe); Wolfgang Kruse, Die Französische Revolution, Paderborn u.a. 2005 (UTB 2639); im Netz Angebote wie:
<http://www.historicum.net/themen/franzoesischerevolution/> (29.10.2014).
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gen für die Verwendung in der universitären Lehre empfohlen werden. Der knappe Gesamtumfang erlaubt es der Autorin nicht, allen Themen in ausreichender Form gerecht zu
werden: Viele Informationen werden nur aufgelistet (sowohl in den Zeitleisten als auch im
Text), nicht aber erklärt. Das Reihenformat bereitet die Inhalte zwar in einem ansprechenden Layout und in übersichtlichen Informationseinheiten auf. Angesichts der zu verarbeitenden Ereignisfülle sind allerdings die Unterbrechungen des Leseflusses durch eingeschobene Biografien, Merkkästen und Quellenzitate häufig eher störend als hilfreich; darunter leidet mitunter auch der roten Faden
der Darstellung. Und da es keinen wissenschaftlichen Anmerkungsapparat gibt, ist es
dem Leser nicht möglich, sein Wissen gezielt an anderer Stelle zu vertiefen was die
Verwendbarkeit des Buches als alleinige Prüfungsgrundlage problematisch macht. Hinzu kommt, dass allzu knappe Zusammenfassungen suggerieren Zusammenhänge und Intentionalitäten, die so nicht gegeben waren,
wenn z.B. Robespierre und Marat in einem
Atemzug als „spätere [. . . ] Führer [. . . ] der
sogenannten Jakobinerdiktatur“ (S. 51) vorgestellt werden, oder fälschlicherweise von
einer „Ausrufung“ der Republik (S. 46, 57
und 65) bzw. der Grande Terreur (S. 65)
die Rede ist. Einschränkende Formulierungen wie ‚sogenannt‘ oder ‚eigentlich‘ bedürften gerade für Studienanfänger einer ausführlicheren Erklärung (z.B. wird der Wohlfahrtsausschuss auf S. 62 korrekterweise für das
Jahr 1793 als „eigentliche Exekutive des revolutionären Frankreichs“ bezeichnet; parallel ist jedoch auf S.61 noch von einer „Regierung in Paris“ bzw. auf S. 65 von einer
weiteren „eigentlichen Regierung“ die Rede
– ohne dass klar wird, wer damit gemeint
ist). Auch bestimmte Schwerpunktsetzungen
sind diskussionswürdig, wenn etwa im Kapitel zur „Radikalisierung“ zwar wichtige Ursachen derselben angeführt werden (u.a. die
Flucht des Königs, Spaltung der Patrioten, Bedrohung von außen), der Radikalisierungsprozess selbst sowie dessen Trägerschichten
hingegen durch unpersönliche Formulierungen weitgehend im Dunkeln bleiben („Die Situation [. . . ] radikalisierte sich“, S. 51, „In Paris formierte sich [. . . ] der Widerstand“ sowie
„Bereits Ende 1791 hatte es eine Radikalisierung der Stadtverwaltung gegeben“, S. 54).
Anstatt hier Biografien nicht-radikaler Kräfte vorzustellen, wären zum Textverständnis
eher Hintergrundinformationen zur Pariser
Volksbewegung, zu den Sansculotten sowie
zum Jakobinerklub wünschenswert gewesen.
Lachenicht bezieht verdienstvollerweise
auch in den ereignisgeschichtlichen Kapiteln
an verschiedenen Stellen Forschungsmeinungen mit in die Darstellung ein, wie z.B.
die Kontroverse um die ‚Entgleisung‘ der
Revolution nach 1791 (S. 46). An anderen
Stellen, wie im Kapitel zur Terreur, vermisst man aber Hinweise auf nach wie vor
andauernde Kontroversen, die notwendig
wären, um die dargestellten Sachverhalte als
Positionierung in einer Forschungsdebatte zu
verstehen. Auch in den Kapiteln zur späten
Revolution sowie zur napoleonischen Zeit
werden Ergebnisse der neueren Forschung
nicht berücksichtigt.6 Angesichts der nach
dem Sturz Robespierres aufbrechenden
erbitterten Machtkämpfe zwischen nach
wie vor einflussreichen Jakobinern, NeoHébertisten und gemäßigten Republikanern,
ist es unverständlich, warum „das Pendel der
Revolution“ in dieser Zeit „von extrem links
nach extrem rechts“ (S. 70) umgeschlagen
sein sollte; ebenso wenig sollte der „rechte“
Flügel der parlamentarischen Räte in der
Direktorialzeit mit dem Lager der Royalisten
gleichgesetzt werden (vgl. S. 78). Die Ambivalenz der napoleonischen Zeit, die zwischen
Bewahrung und Verrat revolutionärer Errungenschaften schwankte, kommt infolge
der gewählten Gliederung in Innen- und
Außenpolitik nicht ausreichend zur Geltung.
Und zuletzt wäre es angesichts der grundsätzlich positiven Würdigung der Ergebnisse
einer Kulturgeschichte des Politischen wünschenswert gewesen, zentrale Konzepte
dieses Forschungsansatzes zu definieren, um
missverständliche Aussagen („[Es] entstand
eine neue politische Kultur, durch die Verbindung von Presseboom und politischen
Klubs.“, S. 34) weiter zu ergänzen und einen
einheitlicheren Begriffsgebrauch (vor allem
6 Vgl.
u.a. La République directoriale. Actes du colloque
de Clermont-Ferrand, 22–24 mai 1997, Textes réunis par
Philippe Bourdin et Bernard Gainot, 2 Bde., ClermontFerrand 1998 (Bibliothèque d’histoire révolutionnaire:
Nouvelle série 3).
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„politische Kultur“ und „Kulturrevolution“)
zu gewährleisten.
Die eingangs von Lachenicht formulierte
übergreifende Leitfrage („Aber war die Französische Revolution wirklich ein Epochenumbruch?“, S. 2) wird erst im Zwischenfazit wieder aufgenommen – und verneint:
„Viele zwischen 1789 und 1799 angestoßene, in der politischen Praxis getestete Veränderungen brauchten ein ganzes Jahrhundert, bis sie sich wirklich durchsetzten, bis
Frankreich dort ankam, was wir heute als
Moderne bezeichnen“ (S. 91). Im Fazit distanziert sich Lachenicht dann sogar grundsätzlich von den Unterscheidungskategorien
„modern/nicht modern“. Um die Rolle der
Revolution als Katalysator politischer und gesellschaftlicher Veränderungsprozesse besser
zu verstehen, gelte es eher allgemein nach
„Kontinuität und Wandel“ bzw. „Ursachen
und Auswirkungen“ (S. 122) zu fragen – eine
sinnvolle Anregung, die jedoch in dem vorgelegten Band nur teilweise umgesetzt wird.
Auch im zweiten Teil der Darstellung wird
zumindest indirekt nach ‚modernen‘ Errungenschaften und Werten gefragt, wenn für
Europa und den atlantischen Raum „Freiheit und Demokratie“ als wesentliche (wenn
auch nicht alleinige) „Motive, die zu Unabhängigkeitsbewegungen, Bürgerkriegen und
letztendlich zu staatlicher Unabhängigkeit“
(S. 97) führten, ausgemacht werden. Diese
„Motive“ sind anschließend Leitlinien der
Darstellung zu den verschiedenen europäischen und atlantischen Freiheitsbewegungen,
mehr noch als die ebenfalls angesprochenen
Fragestellungen der Kulturtransferforschung
oder des Konzepts der „entangled histories“.
Erst im Fazit werden die verschiedenen Argumentationsstränge zusammengeführt und abschließend das „Ineinander-verwoben-Sein“
(S. 121) der unterschiedlichen Revolutionen
explizit mit einigen Beispielen veranschaulicht.
Trotz der genannten Kritikpunkte ist die
Gesamtleistung der Autorin beeindruckend.
Lachenicht bewältigt eine imponierende Menge an Stoff. Besonders im zweiten Teil des
Buches gelingt ihr im Unterschied zu anderen Überblicksdarstellungen ein wirklicher
Perspektivwechsel. Der Band ist somit zu
empfehlen für „eine erste Begegnung mit
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dem Thema“, als erste „Arbeitsgrundlage für
Lehrende und Studierende“ oder „anregende
Lektüre für historisch Interessierte“, ganz wie
es die Reihenherausgeber im Vorwort wünschen (S. VII).
Wolfgang Kruse legt mit seinen „Programmatische[n] Texte[n] von Robespierre bis de
Sade“ seit langer Zeit die erste mit einer wissenschaftlichen Einleitung versehene Quellensammlung zur Französischen Revolution
vor. Ähnlich wie in seiner 2005 veröffentlichten Überblicksdarstellung entscheidet er sich
für einen konsequent systematischen Zugriff:
Es geht nicht darum, die Programmatik einzelner Phasen der Revolution herauszuarbeiten und zu vergleichen, sondern auch hier um
das – besonders in Deutschland nach wie vor
aktuelle – Forschungsinteresse ‚Aufbruch in
die Moderne‘.
Der Band ist ein großer Gewinn für die Vorbereitung und Durchführung von Lehrveranstaltungen. Leider wurden nicht alle Texte in
ihrer Gesamtlänge aufgenommen, doch stellt
die getroffene Auswahl gerade für Studierende mit mangelnden Fremdsprachenkenntnissen eine ausreichende Grundlage zur Anfertigung von Seminararbeiten dar. Das Vorwort
liefert auf knappem Raum wichtige Hintergrundinformationen, die freilich durch weitere Recherchen, vor allem zu den Biografien der Verfasser sowie zur Ereignisgeschichte
der Revolution, vertieft werden müssen. Hier
wären kapitelbezogene ausführlichere Einleitungen, z.B. in Form von kurzen Essays mit
Anmerkungsapparat, hilfreich gewesen.
Was die Auswahl der Autoren anbelangt,
trifft man viele alte Bekannte: Revolutionäre wie Sieyès, Robespierre, Condorcet, Marat,
Babeuf oder auch de Gouges finden sich zumindest auszugsweise auch in anderen Quellensammlungen. Kruse präsentiert jedoch
auch weniger bekannter Texte dieser ‚Klassiker‘ und ergänzt ihren Kreis durch weniger
bekannte Autoren. Seine Leistung als Herausgeber liegt in der Zusammenstellung, Gliederung und Betitelung der Textauszüge, die bestimmte Interpretationsrichtungen vorgeben,
ohne jedoch den Text zwangsläufig darauf zu
reduzieren. Sein Ansatz ist vor allem vergleichend: Zu verschiedenen Themenbereichen
werden Autoren aus unterschiedlichen Phasen der Revolution bzw. verschiedenen poli-
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tischen Lagern nebeneinandergestellt. Marat
beispielweise wird mit Texten aus den Jahren
1789 und 1791 in die Sammlung aufgenommen. Im Kapitel I („Aufstand und Revolution“) wird einer seiner Artikel aus der Frühphase der Revolution abgedruckt, in dem seine Rechtfertigung des Oktoberaufstandes von
1789 zu einer programmatischen Rechtfertigung des Aufstands schlechthin gerät. Sieyès
erscheint in Kapitel II („Verfassung und Demokratie“) als Gewährsmann für die Verfassungsidee der Revolutionäre der ersten Stunde (S. 41ff.); anschließend spiegeln Robespierres Plädoyer für das allgemeine Wahlrecht und Condorcets Überlegungen zur Begründung einer Republik die Aufspaltung
der Partei der Patrioten und die programmatische Weiterentwicklung der Revolution.
Vor allem in Kapitel III („Emanzipation entrechteter Bevölkerungsteile“) und IV („Emanzipation der Gesellschaft“) findet man bekannte Autoren; die Texte wurden jedoch so
ausgewählt, dass sie besonders unterschiedliche Aspekte der neuen politischen Kultur,
wie Pressefreiheit, Klubs oder Volksbildung
dokumentieren. Sehr begrüßenswert ist hier
auch die Übersetzung von Boissy d’Anglas
Plädoyer „Für die Trennung von Staat und
Kirche“ (S. 112ff.); diese Thematik hätte unter der gewählten Leitfrage gegebenenfalls
auch ein eigenes Kapitel verdient. In Kapitel
IV („Sozialreformen und Sozialismus“) zeigen Texte wie der von de Cournand, dass sozialreformerische Programme schon seit der
Frühphase der Revolution kursierten und –
von so unterschiedlichen Autoren wie Thomas Paine und Sylvain Maréchal – bis in
die Zeit des Direktoriums weiter neue Ideen entwickelt wurden. Innovativ ist die Integration eines Kapitels über „VI. Demokratisierung des Militärs, Antimilitarismus und
Völkerrecht“, ein Spezialgebiet Kruses.7 Die
Bezeichnung der Texte im letzten Abschnitt
(VII.) als „Programmatische Abgründe“ hätte eine ausführlichere Erläuterung verdient –
die Auswahl von Autoren wie Babeuf, Cambon oder de Sade bietet aber in jedem Fall ausreichend Stoff für Diskussionen. Der Auszug
aus Robespierres Parlamentsrede vom Februar 1794 (unter dem Titel „Tugend und Terror“) ermöglicht kapitelübergreifend auch einen vergleichenden Blick auf die programma-
tische Entwicklung des Autors.
Kruse bedient ein breites programmatisches Spektrum. Durch die Zusammenstellung von Stimmen aus dem gemäßigten bis
zum radikalen Lager wird dem Leser die
Dynamik und Vielschichtigkeit der Revolution unmittelbar vor Augen geführt. Dennoch auch hierzu einige kritische Bemerkungen: Die Bezeichnung der Textauswahl als
„programmatisch“ ist diskussionswürdig, zumal die Autoren ihre Stimme in sehr unterschiedlichen Kontexten erhoben (u.a. Presse und Verlagswesen, Parlament oder politische Klubs, aber auch Memoiren oder Manifeste von Untergrundorganisationen). Die
getroffene Auswahl bedeutet in jedem Kapitel auch eine Vorinterpretation des Herausgebers, der das „Programm“ der Revolution
erneut weitgehend auf Themenkomplexe der
klassischen Modernisierungstheorie, Partizipation, Emanzipation und Sozialreformen hin
zuschneidet. Da – wie ja auch Lachenicht formuliert – inzwischen in der Forschung weitgehend Konsens besteht, dass die Französische Revolution vor allem eine Revolution der
politischen Kultur bedeutete und eine katalysierende Wirkung auf bereits andauernde
Wandlungsprozesse hatte, erscheinen weitere Quellensammlungen wünschenswert, die
politisch und chronologisch ein noch differenzierteres bzw. breiteres Spektrum abdecken. Auch Online-Formate oder BibliotheksDatenbanken bieten hier bislang noch keinen
ausreichenden Ersatz, schon gar nicht in deutscher Übersetzung. Der „Aufbruch in die Moderne“ vollzog sich außerdem stets auch im
Wechselspiel zwischen Revolution und Gegenrevolution, Aktion und Reaktion.8 Gerade die späten 1790er-Jahre, die hier nur mit
wenigen Texten vertreten sind, böten sich für
Neuinterpretationen an. Die Schöpfer der Verfassung des Jahres III bemühten sich um eine besonders konsequente Anwendung der
Gewaltenteilung; das Direktorium verdichtete auch nach 1795 noch jakobinische Ideen zu neuen Programmen; ehemalige Monarchisten wie u.a. Benjamin Constant ent7 Wolfgang
Kruse, Die Erfindung des modernen Militarismus. Krieg, Militär und bürgerliche Gesellschaft
im politischen Diskurs der Französischen Revolution
1789–1799, München 2003.
8 Vgl. u.a. Jean-Clément Martin, Contre-Révolution, Révolution et Nation en France 1789–1799, Paris 1998.
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Sammelrez: Die Französische Revolution
wickelten bereits 1796 wesentliche Grundlagen eines realpolitisch ausgerichteten, liberalen Kurses; und auch das gegenrevolutionäre
„Programm“ nahm erstmals klarere ideologische Gestalt an. Die Revolution mag ein Standardthema der Geschichtswissenschaft sein.
Für Forschende und Lernende hält sie nach
wie vor eine Fülle von neuen Fragen und weiter zu bearbeitenden Themenkomplexen bereit.
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Kruse, Wolfgang (Hrsg.): Die Französische
Revolution. Programmatische Texte von Robespierre bis de Sade. Wien 2012, in: H-Soz-Kult
26.11.2014.
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Lachenicht, Susanne: Die Französische Revolution. Darmstadt 2012, in: H-Soz-Kult
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